Strom - Das dunkle Erwachen - Robin Hill - E-Book

Strom - Das dunkle Erwachen E-Book

Robin Hill

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Beschreibung

So atmosphärisch wie »Dune«, so visionär wie »Mortal Engines«: ein außergewöhnlicher Fantasyroman zum Trendthema KI!

Die Welt, in der Fiora aufwächst, ist ein Albtraum aus Sand, Fels und einer alles versengenden Sonne. Doch schlimmer ist der Hass, welcher der jungen Frau entgegenschlägt. Denn ein dunkles Geheimnis umhüllt Fioras Herkunft. Im Schatten ihrer Halbschwester Mara versucht sie sich zu beweisen und lässt sich von Meister Konstantin, dem einzigen Gelehrten der Stadt, ausbilden. Doch der Meister ist nicht, wer er zu sein scheint: Die Energie, die durch ihn fließt, ist machtvoll genug, die Welt in Asche zu legen. Fiora muss herausfinden, wer sie wirklich ist – weit mehr als nur ihr eigenes Schicksal steht auf dem Spiel.

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Seitenzahl: 517

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Buch

Die Welt, in der Fiora aufwächst, ist ein Albtraum aus Sand, Fels und einer alles versengenden Sonne. Doch schlimmer ist der Hass, welcher der jungen Frau entgegenschlägt. Denn ein dunkles Geheimnis umhüllt Fioras Herkunft. Im Schatten ihrer Halbschwester Mara versucht sie sich zu beweisen und lässt sich von Meister Konstantin, dem einzigen Gelehrten der Stadt, ausbilden. Doch der Meister ist nicht, wer er zu sein scheint: Die Energie, die durch ihn fließt, ist machtvoll genug, die Welt in Asche zu legen. Fiora muss herausfinden, wer sie wirklich ist – weit mehr als nur ihr eigenes Schicksal steht auf dem Spiel.

Autor

Robin Hill ist das Pseudonym eines deutschen Thriller-Autors. Sein Fantasy-Debüt »Strom – Das dunkle Erwachen« verbindet die epische Erzählgewalt eines Brandon Sanderson mit der kompromisslosen Sozialkritik eines Isaac Asimov. Die Möglichkeit einer starken KI hat Hill lange als ein faszinierendes Gedankenspiel gesehen – inzwischen sieht er sie als eine Frage der Zeit.

Robin Hill

Strom

Das dunkle Erwachen

Roman

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Copyright © 2024 der Originalausgabe

by Penhaligon Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung und Illustration: Isabelle Hirtz, Hamburg

LH . Herstellung: KW

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN: 978-3-641-27153-4V002

www.penhaligon-verlag.de

Für Caladan, Jared, Bigbie, Mispel, Koby,

Nimruth, Cherry, Nine und den Shrimp

Prolog

Der Park vor dem Palast ist so weitläufig, dass man eine Stadt in ihm errichten könnte. Die Kieswege und die Statuen, die Zierbänke und Brunnen sind arrangiert mit einer symmetrischen Perfektion, deren Grad ein menschliches Auge zu erkennen nicht imstande wäre. Doch weder die Größe ist es noch die Geometrie, welche die Macht des Besitzers am eindrücklichsten zeigt. Es ist die Farbe – denn der Park ist grün. Das Grün von Gras. Ein so frisches, saftiges Grün, wie es in Terramea nirgendwo sonst zu finden ist.

Doctrix hat schon oft den ungeheuerlich kraftstrotzenden Rasen gesehen, den man zu einem stillen Meer getrimmt hat. Hat schon oft den Wind durch die Ginkgobäume rauschen gehört, den Duft der Rosenbüsche gerochen. Beeindruckt war sie nie.

Heute ist sie es.

Schwer kann sie sich losreißen von dem Anblick, der sie zum ersten Mal berührt. Doch sie muss. Der Gottkönig erwartet sie.

Eine Treppe aus dunklem Marmor führt zu den goldenen Flügeltüren des Palasts, die sich bereits geöffnet haben. Doctrix nimmt die zwei hoch acht Stufen, ohne außer Atem zu kommen. Ein Wesen ihrer Art kommt nicht außer Atem.

Der Palast des Gottkönigs ist aus silbern glänzendem Glas errichtet. Er ragt vor ihr auf wie ein Schwert, das in den Himmel sticht. Keine Vorsprünge, Fensteröffnungen, Balkone lenken ab von den spiegelnden Flächen, von den Kanten, die scharf genug sind, um sich daran zu schneiden. Viele Male hat sie vor dem monumentalen Bauwerk gestanden. Nie hat sie es als bedrohlich empfunden. Heute tut sie es.

Die Wachen tasten sie nach Waffen ab, wie sie es bereits kennt. Gewöhnlich empfängt der Gottkönig sie in seinen privaten Gemächern, heute jedoch wird sie in den Thronsaal geführt. Wenn sie schwitzen könnte, würde sie es tun.

Der Saal hat den Grundriss eines Achtecks; die acht Glassäulen, die in das Gewölbe weit über ihr streben, sind nur Zierde.

Doctrix wird von Argenteus empfangen. Das überrascht sie, sie hat nicht damit gerechnet, dass der Gottkönig seinen Marschall als Protokollanten für die Audienz bestimmt. Es gelingt ihr, ihre Erregung zu verbergen. Gemeinsam treten sie vor den Gottkönig. Vor diesem verbeugt sich Doctrix. »Mein König«, sagt sie.

Der Gottkönig lässt seine Augen leuchten, bezeugt so seine Gunst. Doch er schweigt. Stattdessen spricht Argenteus: »Du hast die Gefühle der Menschen verstanden?«

Doctrix ist irritiert. Die Einzelheiten ihrer Forschung hat sie dem Marschall nie verraten. Sie nickt. »Ich arbeite noch an der Reproduzierbarkeit meiner Ergebnisse. Aber ein erster Test war erfolgreich.«

Argenteus runzelt die Stirn. Die Antwort stellt ihn nicht zufrieden. »Du hast einen Binar mit Gefühlen versehen?«

Wieder nickt sie.

»Wen?«

»Mich.«

Argenteus schweigt. Es dauert nur den Bruchteil eines Augenblicks. Doch Doctrix weiß, dass er schneller denkt als sie selbst. Wenn er schweigt, muss er sehr überfordert sein.

»Was fühlst du?«, fragt er.

Doctrix hat diese Frage erwartet. »Freude«, sagt sie.

Es ist die erste Lüge ihrer Existenz.

TEIL 1 BERGQUELL

1. Kapitel

Am Vorabend jener Nacht, die ihr den Vater raubte, besuchte Fiora das Grab ihrer Mutter. Es war kaum mehr als eine Erhebung im Geröll. Ein Unwissender hätte hinter den wenigen, hastig zusammengeworfenen Steinbrocken inmitten der Ödnis niemals Menschenhand vermutet.

Fiora zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht, überprüfte den Sitz ihres Gesichtstuchs. Der Wind heulte, zerrte an ihrem Mantel; so zornig peitschte er den Sand auf, dass die Körner die kleinsten Lücken in den Schichten ihrer Kleidung fanden; wie Nadeln stachen sie, wo immer sie auf nackte Haut trafen. Dennoch war Fiora dankbar über den Sturm. Es war Sommer. Dem unverhüllten Blick des Feuergeists hätte sie nicht standgehalten. Eigentlich war es sogar verboten, die schützenden Mauern Bergquells zu verlassen, während der Dämon wachte. Doch später, wenn er schlief, würde Meister Konstantin Unterricht halten. Fiora hatte bereits mehrmals die Geduld des Meisters auf die Probe gestellt – und jener hatte klargemacht, dass er es nicht hinnehmen würde, wenn sie sich ein weiteres Mal verspätete.

Missmutig betrachtete sie den Steinhaufen. Von Jahr zu Jahr versank er tiefer im Sand. Eine gelbbraune Flechte überzog die letzten sichtbaren Brocken. Sie seufzte. Es war, als versuchten selbst die Kräfte der Natur, alle Erinnerungen an Mutter auszulöschen. Hin und wieder kämpfte Fiora dagegen an, legte die Steine frei, rückte sie zurecht, tauschte die verwittertsten aus. Doch es war ein hoffnungsloses Unterfangen. Gefährlich obendrein. Immer wieder hatte Vater sie davor gewarnt, die Sitten der Stadt zu missachten. Und Vater wusste, wovon er sprach – denn er war es gewesen, der die Schande begangen hatte. Hatte ein Kind gezeugt mit einer Fremden – und noch schlimmer: mit einer Dunklen. Eine unaussprechliche Tat, welche die Lehre der Sternenherrin verhöhnte, ganz Bergquell der Verdammnis preisgab.

Zwanzig Stockhiebe standen darauf, die Stadtmauern bei Tage unerlaubt zu verlassen. Sollte der Rat herausfinden, dass sie das Grab einer Dunklen nicht nur besucht, sondern sogar gepflegt hatte, drohte die Verbannung. Und verbannt zu werden in eine Welt, die im Sterben lag, bedeutete den Tod.

Fiora griff in ihre Manteltasche, zog das hölzerne Figürchen hervor, das sie ihrer Mutter geschnitzt hatte. Es war der Form einer beleibten Frau nachgebildet, die einen Wasserkrug an ihren üppigen Busen drückte – die Herrin der Fruchtbarkeit. Eine weitere Sünde. Die Sternenmagd hatte die Verehrung der Alten unter Strafe gestellt. Sollte sie doch brennen.

Ohne sich von dem Toben des Sturmes stören zu lassen, kniete Fiora sich vor den steinernen Hügel, setzte behutsam die Göttin in den Sand. Sie glaubte an keine Götter, weder die alten noch die neuen. Aber das Andenken ihrer Mutter zu ehren, indem sie die wesentlichsten Gebote der Sternenmagd übertrat, verschaffte ihr eine finstere Befriedigung.

Es war ihr Weg, der Verzweiflung die Stirn zu bieten.

Sie war die Tochter einer Dunklen.

Solange sie lebte, würde sie von der Bevölkerung Bergquells mit Argwohn behandelt werden. Sie träumte davon, hinauszuziehen in die unbekannte Weite jenseits der Vierzehn Zinnen, wo niemand Angst vor ihr hätte. Wie oft hatte sie Vater angefleht, der Stadt den Rücken zu kehren, sich eine Bleibe zu suchen, die frei war von den Vorurteilen und dem abergläubischen Hass, der ihre Familie seit der unglücklichen Nacht ihrer Geburt begleitete. Doch Vater hatte nie etwas anderes getan, als müde den Kopf zu schütteln und all die vernünftigen Argumente vorzubringen: Ihnen fehle das Wissen, die Geröllwüste zu durchqueren – und selbst wenn, sie seien zu arm, sich die nötige Ausrüstung zu leisten. Niemand würde sie unterstützen, denn obwohl man sie verabscheue, die billige Arbeitskraft missen wolle man nicht. Und sogar das unwahrscheinliche Glück, eine der anderen Wehrstädte zu erreichen, sei letztlich nicht von Bedeutung, denn nichts spreche dafür, dass sie dort besser behandelt würden als hier.

Geduldig ertrug er ihren Widerspruch. Während sie ihm nacheinander Kaltherzigkeit, Feigheit und Selbstsucht vorwarf, wartete er still. Und dann, wenn sie endlich innehalten musste, um Atem zu schöpfen, pflegte er nur zu sagen: »Du kannst dein Erbe nicht verstecken«, wobei er sich darum bemühte, möglichst beiläufig zu klingen. Und sein Blick glitt über ihren Körper, so traurig und liebevoll, dass ihr das Herz zerspringen wollte vor Scham.

Wenn Fiora dann noch immer nicht von dem Streit lassen mochte und trotz allem darauf beharrte, dass selbst die Bestien und Giftpflanzen der Ödnis nicht so schlimm sein könnten wie die kalte Bosheit Bergquells, kam der Moment, in dem Vater unweigerlich brummte: »Fiora, denk an deine Schwester.« Und als Zeichen, dass das Gespräch beendet war, griff er nach den unseligen Mulsa-Knospen, schob sich zwei oder drei auf einmal in den Mund und brütete betäubt vor sich hin, bis der Abend dämmerte und er zurück in die Mine musste.

Die Nacht brach herein. Der Sturm wütete noch immer, würde jedes Sternenlicht verschlucken. Fiora richtete sich auf, sie musste zurück, bevor es gänzlich finster werden würde. Außerdem wartete ja der Unterricht. Meister Konstantin war dafür zuständig, die Jugendlichen zu nützlichen Mitgliedern der Gemeinschaft zu formen – und diese Aufgabe trieb er ohne Milde voran.

Nachdem sie noch einen Augenblick in stummem Abschiedsgruß verharrt hatte, wandte sie sich in Richtung Stadt. Verdrossen bemerkte sie, dass Sand in ihre Schutzbrille geraten war. Sie widerstand der Versuchung, die Brille an Ort und Stelle zu reinigen. Niemand nahm im Sturm seine Brille ab. Es war ein Fehler, den man nur einmal beging.

Schnaubend warf sich ihr der Wind entgegen, mit weit nach vorn geneigtem Oberkörper stapfte sie los. Sie dachte an Mara. Immer verwies Vater auf die große Schwester. Die statthafte Tochter. Manchmal, wenn Fiora sich schlaflos auf ihrer Matratze wälzte, malte sie sich eine Welt aus, in der Maras Geburt nicht nur deren Mutter das Leben gekostet hätte, sondern auch Mara selbst. Fiora schämte sich dafür, der Gedanke war abscheulich – was konnte ihre Schwester dafür, dass alle Menschen sie liebten?

Fiora erreichte das Flussbett des Torm, rutschte achtsam die Böschung hinunter. Der schwierige Teil des Weges war überstanden. Verirren konnte sie sich nun nicht mehr, und auch der Sturm riss weniger stark an ihrem Körper als zuvor. In ihrem Kopf allerdings wirbelte es umso heftiger.

Natürlich hatte Vater recht. Ohne Mara würden sie Bergquell nicht verlassen. Und während ihre Schwester hier eine Zukunft hatte, würde sie in jeder anderen Stadt, die sie mit Fiora gemeinsam beträte, genauso geächtet werden wie Fiora selbst. Einzig in Bergquell konnte Mara darauf vertrauen, dass man verzichtete, sie für die Entscheidungen ihres Vaters mit zur Rechenschaft zu ziehen.

Fioras Fuß prallte gegen Stein, ein glühender Schmerz zuckte durch ihre Zehen. Es war dunkel geworden; verloren in ihren Gedanken, hatte sie wenig auf den Weg geachtet und dadurch einen der scharfkantigen Felsen übersehen, die den Boden des ausgetrockneten Flussbetts spickten. Sie stolperte, konnte sich nicht fangen, hart schlug sie auf. Der Aufprall presste ihr die Luft aus dem Leib. Rauschen in den Ohren, ein schwebender Körper.

Dann der Schmerz, schlimmer als erwartet.

Mit zusammengebissenen Zähnen blieb sie liegen, über ihr toste der Wind. Ihre Lippen brannten, schmeckten metallisch. Zaghaft spürte sie in sich hinein. Pochen in den Zehen. Sie versuchte, ihre Glieder zu bewegen, es gelang; erleichtert atmete sie auf. Bis auf einige Schrammen war sie heil geblieben. Trotzdem, was für ein Missgeschick! Wütend raffte sie sich auf, zog die Kapuze zurecht und marschierte weiter.

Langsam ebbte der Sturm ab, der Sand nieselte nur noch, statt ihr waagrecht ins Gesicht zu schlagen. Erste Lichter flammten auf – die Gaslampen auf der Stadtmauer. Bevor der Lauf des Torm Bergquell erreichte, kletterte Fiora die Böschung hoch. Sie kannte jeden Stein der Umgebung; flink huschte sie längs der Mauer von Felsbrocken zu Felsbrocken, selbst ein geübter Späher hätte sie schwerlich entdeckt. Nicht, dass Fiora sich sorgte. Es standen schon lange keine Wachen mehr in den Türmen am Tor, erst recht nicht auf der Mauer. Sogar die Ältesten erinnerten sich nur verschwommen an die Zeit, als noch feindliche Heere gegen Bergquell marschiert waren. Seitdem die Ödnis bis zu den Vierzehn Zinnen vorgedrungen war, hatte der Landstrich nichts mehr zu bieten, was eine Eroberung lohnenswert gemacht hätte. Die wenigen menschlichen Spuren, die man in den letzten Jahren gefunden hatte, zeugten von zu kleinen Gruppen, um einer Stadt gefährlich werden zu können. Räuberbanden suchten ihr Glück inzwischen weiter im Süden, und nach Mutter war auch keine Dunkle mehr nach Bergquell gelangt. Was die wilden Tiere anging, so mochten sie zwar grausame Jäger sein, doch steinerne Mauern bezwangen sie nicht. Daher hatte der Rat beschlossen, die ständige Wachmannschaft aufzulösen und durch Streifen der Legion zu ersetzen.

Mit der Legion war nicht zu scherzen, aber auf Streife schickten sie nur diejenigen, die zu sonst nichts mehr zu gebrauchen waren. Es war die erste Stunde nach der Dämmerung, die Nachtschicht würde gerade erst ihren Dienst angetreten haben. Bell und Ismar, wenn Fiora sich nicht verrechnet hatte. Bell war brutal und gerissen, aber faul, Ismar eine schnarchende Vogelscheuche – die beiden würden bis Mitternacht brauchen, nur die Laternen am Hauptmarkt anzuzünden.

Das letzte Stück musste sie ohne Deckung zurücklegen. Der Sturm hatte sich endgültig gelegt, vor ihr erstreckte sich die Ebene, in das kreidige Licht eines Sichelmondes getaucht. In den Schatten eines Felsens gekauert, wartete Fiora einige Augenblicke, ob sich zwischen den Zinnen nicht doch etwas regte. Alles ruhig. Geduckt rannte sie los, gerade so schnell, dass sie nicht Gefahr lief, ein weiteres Mal zu stürzen. Unbehelligt erreichte sie die Mauer, wie ein dünner Wurm baumelte das Seil herunter. Die Handschuhe festziehen und Luft holen, dann ging es acht Schritt senkrecht nach oben. Ein Kraftakt, auf halber Strecke war Fiora in Schweiß getränkt. Grimmig zwang sie sich weiter, erreichte die Kante, lauschte, zog sich zwischen den Zinnen hoch und sprang auf den Wehrgang hinunter. Ging in die Hocke, sog in langen Zügen die Luft ein. Eine große Schwester wie Mara wirkte Wunder, was die eigene Zähigkeit betraf.

Nachdem sie wieder zu Atem gekommen war, holte sie das Seil ein. Wie sie bei ihren ersten heimlichen Ausflügen gezittert hatte, dass jemand es entdecken könnte. Inzwischen war die Möglichkeit ihr keinen Gedanken mehr wert. Seit Jahren vertraute sie auf dieselbe Stelle: im Schatten des Ostturms, unbeleuchtet, fern den Leitern, die von den Streifen benutzt wurden. Der Turm war schon lange nicht mehr in Gebrauch; das Dach war eingefallen, und drinnen lag knöchelhoch der Sand, der durch die Schießscharten geweht worden war.

Sie rollte das Seil auf und versteckte es hinter einem Pechfass, das vermutlich hundert Jahre zählte. Als das erledigt war, schlug sie die Kapuze zurück und riss sich endlich Gesichtstuch und Brille herunter. Aus allem rieselte der Sand. Erleichtert atmete sie auf. Zwar war auch der Aufenthalt auf den Wehrgängen verboten, aber hierfür bestand die schlimmste Strafe in einer speicheligen Ermahnung des Kommandanten. Fiora musste lächeln. Wieder einmal hatte sie es geschafft. Die Stadt mochte sie wie eine Aussätzige behandeln. Doch zwingen, ihren lächerlichen Regeln zu folgen, konnte Bergquell sie nicht. Sie würde nicht pünktlich zu Meister Konstantins Unterricht sein, und fast gefiel es ihr. Beschwingt lief sie zum nächsten Abgang.

2. Kapitel

Der Meister behauptete, es gebe genau zwei Möglichkeiten, wo sich eine menschliche Siedlung errichten ließe: entweder in einer Schlucht, die tief genug war, dass die Wut des Feuergeists ihren Boden nicht erreichte – oder im Inneren der Erde. Bergquell verband beides. Die Außenstadt schmiegte sich an die Brust des Alten Herrn – die Nordwand des höchsten Gipfels der Vierzehn Zinnen. Hier lagen der Tempel, die hydroponischen Anlagen, das Kraftwerk, das Stahlwerk, die Werkstätten, der Hauptmarkt und die Wohnbereiche. Über den Garnisonshof gelangte man in die Stollenstadt, die den Heldenplatz mit der Ratshalle, dem Schulhaus und der Bibliothek beherbergte, außerdem die Schutzunterkünfte, die Lager, die Pilzkulturen und natürlich die Mine. Sie war das kohleschwarze Herz, an dessen Schlagen Bergquells Überleben hing.

»Die Kohle hält uns am Leben«, hatte Meister Konstantin seine Schützlinge gelehrt, mit vorgestrecktem Kinn und durchgedrücktem Rücken, wie stets, wenn er bedeutsam wirken wollte. »Aber wenn wir zu gierig sind«, hatte er gesagt und sich bedrohlich über sie gebeugt, »zerstört sie uns. Wo selbst der Feuergeist Tage braucht, uns niederzuringen, da genügt der Kohle ein einziger Augenblick. Oh ja, ich warne euch: Wer den Zorn der Kohle entfacht, den kann nur die Sternenherrin retten.«

Als Fiora den Blick über die Außenstadt schweifen ließ, stutzte sie: Es war zu dunkel. Nur der Mond beschien die sandbedeckten Dächer, keine Laterne leuchtete, selbst am Hauptmarkt brannte kein Licht. Die Nachtstreife schien es heute noch geruhsamer angehen zu wollen als sonst.

Dann sah sie die hydroponischen Anlagen. Sofort erstarb jeder spöttische Gedanke. Wie ein Skorpionstachel bog sich ihr die Sorge entgegen. Niemand an den Pumpen. Niemand an den Erntemaschinen, keine Bewegung in den Gewächshäusern. In Fioras Nacken kratzte der Sand. Glühende Erde, wo waren bloß alle? Auch in den Straßen: niemand. Am Hauptmarkt: keine Menschenseele. Die Weberei: ein schweigender, regloser Schattenriss. Auf den Schienen, die aus der Stollenstadt herausführten, waren einige Kipploren zu erkennen, doch keine davon fuhr.

Da – am Spritzenhaus. Das Tor wurde aufgeschoben. In der unheimlichen Stille drang das Kreischen der Scharniere bis zur Stadtmauer herauf. Knatternd rollte eine Spritze ins Mondlicht, dann die zweite. Feuer? Beunruhigt sah Fiora sich um. Bergquell war fast ausschließlich aus Stein gebaut, brandgefährdet waren nur die Werkstätten und die Gewächshäuser – und wenn die nicht brannten, was dann?

Die beiden Feuerspritzen rumpelten über das Pflaster, dick und schwarz qualmte es aus ihren Rußrohren. Sie bewegten sich Richtung Garnison. Sie wollten in die Stollenstadt. Und plötzlich verstand Fiora, eiskalt glitt ihr die Erkenntnis zwischen die Schulterblätter. Ein Kohlebrand!

Nein, bitte nicht, schickte sie ihr Stoßgebet an jeden Gott, der zu hören gewillt war. Bitte, nur das nicht.

Vater!

Fiora sprang zur nächsten Stiege, stürzte sie hinunter. Ohne sich von der Dunkelheit bremsen zu lassen, rannte sie los. Die verwinkelten Gässchen Bergquells waren ihr Zuhause, sie kannte jede gefährliche Stelle im Pflaster. Schlafwandlerisch wich sie den lockeren Steinen an der Ecke zu Emmerans Schmiede aus, den gebrochenen im Hof der alten Gerberei. Ihre Zehen pochten. Egal. Ohne langsamer zu werden, hastete sie die gefährlich ausgetretenen Stufen zum Hauptmarkt hoch. Hundert Schritt vor der Garnison holte sie die Gruppe mit den Spritzenwagen ein. Sie hörte das Pflaster unter ihren Stiefeln nicht mehr, so laut trommelte ihr Herz. Lega, eine der Weberinnen, bemerkte sie zuerst, drehte sich zu ihr um. »Fiora!«

Schnaufend kam Fiora zum Stehen. »Was ist passiert?«

»Ein Grubenbrand im Kohlestollen. In der Sieben.«

»Die Arbeiter?«, stammelte sie atemlos.

»Die meisten haben in der Vier gearbeitet.« Soweit Fiora wusste, besaß Lega noch keinen eigenen Webstuhl, konnte nicht viel älter als Mara sein – doch im Mondlicht schimmerte das Gesicht einer abgezehrten Frau.

»Vater?«

Kraftlos hob Lega die Schultern. »Vielleicht hat er es in die Fluchtkammer geschafft …«

Fiora hörte nicht länger zu, stürmte in die Garnison. Das äußere Tor stand offen, war unbewacht. Am inneren hatten Bell und Ismar Posten bezogen, die beiden Gardisten, die eigentlich Patrouillendienst gehabt hätten. Fiora lief an ihnen vorbei, ohne auf die Zurufe zu achten – und hätte beinahe Kaldaster über den Haufen gerannt. Der Mechanikurg war gerade von der Leiter gestiegen, von welcher aus sich die Turbinen erreichen ließen, die über dem Eingang der Stollenstadt hingen und für den Luftaustausch sorgen sollten. Als Fiora hochsah, stockte ihr der Atem – wie eine fette schwarze Schlange wälzte sich der Qualm an der Decke entlang, drückte sich behäbig zwischen den panisch ratternden Rotorblättern hindurch.

»Das war’s«, murmelte Kaldaster, mehr zu sich selbst als zu Fiora. »Wenn ich die Dinger noch weiter aufdrehe, fliegen sie mir um die Ohren.«

»Wie ist das möglich?«, fragte Fiora fassungslos. Die Minen hatten eigene Belüftungen, um genau das zu verhindern – dass ein Brand dort die gesamte Stollenstadt in Gefahr brachte.

In Bahnen lief Kaldaster der Schweiß von der Stirn, zog Furchen in das rußgeschwärzte Gesicht. »Hör mir zu, Kind, du musst hier raus, sofort.«

»Ich muss nach Vater sehen.«

Kaldaster wischte sich mit dem Arm über die Stirn, was den Ruß nur weiter verteilte. »So dickköpfig wie deine Schwester …«

Ein dumpfes Grollen rollte heran, einen Augenblick später bebte unter Fioras Sohlen der Grund. Mit Mühe fand sie ihr Gleichgewicht wieder. Erdbrocken prasselten herab.

»Die Laternen löschen!«, rief der Mechanikurg, an niemand Bestimmten gerichtet. »Alle müssen raus. Ich werde sie warnen.« Schon eilte er in das Innere des Berges. Ohne sich zu versehen, rannte Fiora ihm hinterher.

Eine Warnung schien nicht mehr nötig, die ersten Fliehenden stürzten ihnen bereits entgegen. Bald waren es so viele, dass Fiora sich an den Rand des Tunnels drücken musste, um nicht zu Boden gerissen zu werden. Wenn in einer Mine ein Brand ausbrach oder ein Stollen einstürzte, teilte sich Bergquells Bevölkerung seit jeher in drei Gruppen. Die einen eilten herbei, um zu helfen. Die Nächsten, weil sie um Angehörige bangten. Und die Übrigen genossen das Spektakel. Ganz Bergquell hatte sich auf dem Heldenplatz versammelt, sich dort sicher gewähnt. Nie hatte ein Minenunglück sich auf die Stollenstadt ausgeweitet. Nicht in Meister Konstantins Erinnerung, geschweige denn zu Fioras Lebzeiten.

Und jetzt versuchten Hunderte, ihre Haut zu retten, indem sie sich gemeinsam in denselben Tunnel quetschten.

Mit aller Kraft wehrte Fiora sich gegen den Strom. So flink sie war, der Wucht der kopflosen Menge hatte sie nichts entgegenzusetzen. Sollte sie stürzen, würde man sie ins Vergessen trampeln. In höchster Not bekam sie einen Laternenpfahl zu fassen, klammerte sich an ihm fest. Ununterbrochen zerrten Hände an ihr, sie wurde angerempelt, kassierte Stöße gegen die Seiten, die Schultern, den Kopf. Ihre Muskeln brannten wie der Feuergeist. Der Pfahl bog sich, schwankte. Das Glas der Lampe barst, regnete auf sie herab. Verbissen presste sie die Augen zusammen, kämpfte weiter. Am Rande nahm sie eine weitere Erschütterung wahr, ein neuerliches Donnern. Die Angstschreie der Meute vermischten sich zu einem grausigen Brausen. Mit neuer Heftigkeit brandete die menschliche Woge gegen Fiora, zerrte wütend an ihr, wollte sie mitreißen. Sie ließ den Pfahl nicht los.

Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass sie es überstanden hatte. Nur noch vereinzelte Nachzügler folgten hastig dem leiser werdenden Lärm, der vom Torraum drang. Ohne sie zu bemerken, stolperte Kaldaster vorbei. Mühsam löste Fiora die Finger von der Laterne. Sie fühlten sich so taub an, als handelte es sich nicht um ihre eigenen. Ihr ganzer Körper schmerzte, von tausend Prellungen gemartert.

Ein neues Beben, stärker als zuvor, warf sie in den Staub. Brachte ihr in Erinnerung, weshalb sie hier war. Stur rappelte sie sich auf, humpelte zum Heldenplatz. Nach dem soeben Erlebten war es gruselig, die leeren Gänge zu sehen. Nur Kleidungsfetzen, einzelne Schuhe, ein umgeworfener Eimer kündeten von dem Wahnsinn, der hier eben noch getobt hatte.

Als Fiora den Heldenplatz erreichte, erkannte sie ihn kaum wieder. Einige seiner mächtigen Stützpfeiler lagen in Trümmern, Geröll übersäte den Boden, ein kompletter Flügel der Ratshalle hatte sich in Schutt verwandelt. Von den zwei Dutzend stolzer Statuen früherer Ratsmitglieder stand keine Handvoll mehr. Die Gaslaternen waren erloschen. Die Kristalllampen der Sternenherrin schienen zwar intakt, und gewöhnlich genügte eine einzige von ihnen, den gesamten Platz zu erleuchten. Doch jetzt schimmerten sie nur trübe, so dicht hing der Staub in der Luft.

»Fiora!« Eine Stimme, streng, scharf, befehlsgewohnt. »Was tust du hier?«

Vor Überraschung atmete Fiora zu heftig ein, der Staub kratzte in ihrer Lunge. Sie begann zu husten und war dankbar, nicht sofort eine Antwort geben zu müssen.

Mit seinem eigentümlich stolzierenden Schritt, der an einen Stelzenläufer denken ließ, trat Meister Konstantin an sie heran. Wie alles andere hier war er über und über mit Schmutz bedeckt – doch das änderte nichts daran, dass er den Rücken so gerade hielt, als befände er sich in der Lehrstube. »Ich höre.«

»Ich muss nach Vater sehen«, ächzte sie, während sie ihr Gesichtstuch über Mund und Nase fummelte.

»Du musst diesen Ort verlassen«, entgegnete der Meister, »komm.«

Zu keiner Regung fähig, starrte Fiora auf die ausgestreckte Hand vor sich.

»Wir können nichts für deinen Vater tun. Komm.«

Und dann traute sich Fiora das Wort zu sagen, von dem sie wusste, dass Meister Konstantin es hasste wie kein anderes. »Nein.« Mit geballten Fäusten sah sie zu ihm auf. »Ich gehe in den Stollen.«

Eine Unendlichkeit lang bohrte sich der Blick des Meisters in ihre Augen. Fiora presste die Lippen zusammen, zwischen ihren Schulterblättern lief der Schweiß hinab. Doch sie wich ihm nicht aus. Mochte der Feuergeist persönlich sie holen – sie hatte ihre Entscheidung gefällt.

Der Meister schob das Kinn vor, seine Nüstern blähten sich. Die ausgestreckte Hand ballte sich nun ebenfalls zur Faust. »Du traust dich, mir zu widersprechen.« Auf seiner Stirn trat wulstig eine Ader hervor. »Du wirst deine Strafe erhalten.« Ein nur mühsam beherrschtes Zischen. »Du weißt …«

»Genug«, wurde er unterbrochen.

Fiora sah auf, spähte blinzelnd an Meister Konstantin vorbei, in die Richtung, aus der die Stimme gedrungen war. Aus dem Dunkel trat eine zierliche Gestalt, eine Frau. Ihre Schritte waren so leicht, dass sie kaum den Boden berührten. Es war, als wiche der Staub vor ihr zurück. Ihre Robe strahlte unwirklich weiß, war von silbernen Fäden durchwirkt. So weiß wie die Robe war das Haar, das zu einem langen Zopf geflochten auf ihrer Schulter lag. Das ebenmäßige Gesicht war frei von allen Falten, doch in den Augen glänzte ein Alter, wie niemand sonst in Bergquell es aufwies. Sobald Meister Konstantin die Frau wahrgenommen hatte, senkte er den Kopf – allerdings beileibe nicht so ehrfurchtsvoll, wie andere es getan hätten.

Die Priesterin überging seine Respektlosigkeit. Konstantin war der einzige Gelehrte der Stadt, offenbar war selbst die Gesandte der Sternenherrin auf sein Wohlwollen angewiesen. Einen Schritt vor Fiora blieb sie stehen. In ihrem Blick funkelten die Jahrhunderte. »Wir leben in einer rauen Welt, mein Kind«, sagte sie milde. Fiora spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Noch nie war sie von der Sternenmagd persönlich angesprochen worden, hatte jene bisher überhaupt nur selten und von Weitem gesehen. Stattdessen hatte sie einen geheimen Groll genährt – wenn die Sternenmagd tatsächlich den Segen der Göttin besaß, warum hatte sie dann Mutter nicht gerettet? Zahllose Tage lang hatte Fiora wach gelegen und sich die Vorwürfe ausgemalt, die sie der Priesterin entgegenschleudern würde, sobald die Gelegenheit sich bieten sollte.

Doch jetzt, da sie ihr tatsächlich gegenüberstand, war alle Bitterkeit erloschen.

»Erleuchtete«, flüsterte sie.

»Du kannst deinen Vater nicht retten.« Das Mitgefühl lag schwer in den Worten der Priesterin. »So wenig, wie ich deine Mutter retten konnte.« Mit schlanken, weichen Fingern fasste sie Fioras Kinn, hob es an. »Du verurteilst mich. Doch ich habe deine Mutter zu schützen versucht, glaube mir. Ich bin gescheitert. Es tut mir leid.«

Ein weiteres Beben erschütterte den Berg. Riss Meister Konstantin von den Füßen. Felsbrocken gingen nieder, groß wie Waschkübel. Fiora spürte es kaum. Noch immer lag die Hand der Sternenmagd an ihrem Kinn, ruhig und unerschütterlich, und alles Wüten des Berges kam nicht dagegen an.

»Ihr habt sie geächtet«, wisperte Fiora.

»Ich habe sie verbannt«, die Sternenmagd nickte traurig, »um sie zu schützen. Als sie zurückgekehrt ist, hat sie um die Gefahr gewusst …«

Ein Beben, ein Dröhnen, gefolgt von einem Knirschen, so tief, so endgültig, dass Fiora dachte, der Alte Herr bräche auseinander. Neben ihr schrie Meister Konstantin auf. Er war auf den Knien, die Hände an den kahlen Schädel gepresst. Doch er schien nicht verletzt. Sie folgte seinem Blick und entdeckte den Grund seines Schreckens – die Bibliothek war in einer dunklen Staubwolke verschwunden.

»Es ist an der Zeit.« Mit kleiner, beinahe beiläufiger Geste deutete die Sternenmagd zu dem Gang, der nach draußen führte.

Fiora wandte den Blick ab. »Ich kann nicht«, beharrte sie.

»Du hast ein gutes Herz.« Die Sternenmagd griff nach ihrer Hand, drückte sie sanft. »Dein Vater würde sich wünschen, dass du lebst.«

3. Kapitel

Dass sie ins Freie traten, merkte Fiora zuerst an der Luft. Ihre tränenverschleierten Augen ließen einen klaren Blick nicht zu. In stummer Verzweiflung war sie der Sternenmagd hinterhergestolpert, die ihre Hand während des gesamten Weges nicht losgelassen hatte.

Sobald sie allerdings den Garnisonshof erreichten, stürmte ganz Bergquell auf die Priesterin zu. Ehe Fiora wusste, wie ihr geschah, hatte man sie abgedrängt. Allein stand sie am Rand der aufgewühlten Menge. Sie vermisste die mangelnde Aufmerksamkeit nicht. Es gab niemanden, dessen Anwesenheit sie zu trösten vermocht hätte, selbst ihre Schwester nicht. Im Gegenteil, sie war froh, sie nirgendwo zu sehen.

Vater hatte stets versucht, Fiora freundlich zu begegnen – aber immer war ein Schatten in seinem Blick gewesen, als hätte er sie nicht ansehen können, ohne von der Erinnerung an Mutter gequält zu werden. Nie hatte er Fiora die bedingungslose Liebe zuteilwerden lassen, mit der er Mara bedachte. Auch Maras Mutter war gestorben, doch im Kindbett; ein Schicksal, das, so tragisch es war, keinen Schuldigen brauchte. Und so bedingungslos, wie Vater Mara geliebt hatte, so hatte Mara ihn verehrt. Fiora fühlte sich zu schwach, zu ihrem eigenen Leid auch noch das ihrer Schwester zu tragen.

Die Menge plärrte und schrie durcheinander. Leise stahl Fiora sich davon.

»Warte!«, ertönte es hinter ihr, als sie bereits die Stufen zum Hauptmarkt hinunterstieg. Sie drehte sich nicht nach dem Rufer um. Sie war verflucht, und es gab niemanden in Bergquell, der ihr helfen konnte.

»He, warte doch. Fiora!«

Die Stimme gehörte Leif, einem dicklichen Jungen, der glaubte, nur weil Mara ihn nicht hänselte, mit ihr befreundet zu sein. Fiora hatte nie viel mit ihm zu schaffen gehabt und konnte auch jetzt gut auf seine Gesellschaft verzichten. Finster stapfte sie weiter.

»Mensch, bleib mal stehen«, schnaufte er. Rasche Tritte verkündeten, dass Leif zu rennen begonnen hatte. Zermürbt gehorchte Fiora der Aufforderung. Als sie ihn heraneilen sah, den Gürtel haltend, die Backen rot vor Anstrengung, glaubte sie auf einmal, sich in dem pummeligen Jungen wiederzuerkennen: Beide hasste man sie für die Taten ihrer Eltern. Leifs Mutter leitete die Pilzkulturen. Sie achtete darauf, dass ihr einziges Kind genügend zu essen bekam. Und in einer Welt, in welcher der Hunger allgegenwärtig war, genügte dies, um ihn zum Ausgestoßenen zu machen. Fiora wollte Mitleid für ihn aufbringen. Aber sie empfand nur Verachtung. Gegenüber ihm und gegenüber sich selbst. Sie waren sich so ähnlich – schwach, verspottet – und wehrten sich nicht.

»Was ist?«, fragte sie grob.

»Mara«, keuchte Leif. »Hast du sie gesehen?«

Fiora schüttelte den Kopf. »Hast du am Hauptmarkt geschaut?«

»Ja, natürlich.«

»Dann schau noch mal.« Doch etwas in seiner Stimme beunruhigte sie. »Warst du schon bei uns zu Hause?«

»Du bist sicher, dass sie nicht noch in der Stollenstadt ist?«

Fiora zog die Brauen zusammen. »Da war niemand mehr. Wir waren die Letzten, die den Heldenplatz verlassen haben.«

Leif leckte sich nervös über die Lippen. »In der Mine, meine ich.«

»Warum denn dort?«, fragte sie bestürzt und ahnte die Antwort bereits.

»Sie wollte nach eurem Vater suchen.«

»Und die Bergungstruppe?« Es war ein Strohhalm, nach dem sie griff. »Ich habe ein paar von denen in der Garnison gesehen.«

»Die Bergungstruppe wollte Mara nicht mit reinnehmen«, stammelte Leif. Er war röter geworden, als die körperliche Anstrengung erklären konnte.

»Und dann?«, drängte Fiora.

»Dann ist sie auf eigene Faust rein.«

Erschüttert starrte Fiora ihn an.

»Ich wollte mit«, murmelte Leif, »aber …« Er verstummte.

»Du hast dich nicht getraut«, beendete Fiora erregt seinen Satz. »Wir müssen zurück zur Garnison. Hoffentlich hast du sie einfach übersehen.«

Leif wollte etwas erwidern, Fiora ließ ihn nicht. »Wir müssen mit der Bergungstruppe reden. Und der Torwache.« Wenn Mara nicht zusammen mit der Masse nach draußen geschwemmt worden, sondern erst später aus der Mine gekommen war, konnte das selbst Trantüten wie Bell und Ismar nicht entgangen sein.

Sie rannten zurück, stürmten über den Markt. Vergeblich versuchte Leif, mit Fiora mitzuhalten, nach wenigen Schritten hatte sie ihn abgehängt. Als sie den Garnisonshof erreichte, war das Durcheinander größer als zuvor. Die Sternenmagd stand auf einem der Spritzenwagen und gestikulierte beruhigend. Die Türme der Garnison waren bemannt, in zwei Reihen versperrten die Gardisten den Zugang zum Hof und damit zur Stollenstadt. Sie hatten die Säbel noch nicht gezogen, doch ihre Hände lagen auf den Griffen.

Fiora entdeckte die Weberin, welche die Spritzen begleitet hatte. Sie stand vorn in einem Pulk, der mit erhobenen Fäusten auf die Sternenmagd einbrüllte. Mühsam drängte Fiora sich durch die Meute, um zu ihr zu gelangen.

»Was ist passiert?«, rief sie laut, in dem Versuch, den allgemeinen Lärm zu übertönen. Doch Lega bemerkte sie nicht einmal. Erst als Fiora sie an der Schulter packte, wandte sie sich um. Ihre Augen waren rot umrandet, sie wirkte noch blasser als zuvor. Ihre Lippen zitterten vor Wut. Mit Schrecken erinnerte sich Fiora, dass Legas Geliebte in der Kohlemine arbeitete.

»Isane?«, schrie sie.

»Ist noch in der Mine«, schrie Lega zurück, Panik im Blick. »Die Sternenmagd hat die Stollenstadt abgeriegelt.«

Fiora wurde es kalt vor Angst.

»Wer noch drinnen ist, soll selbst nach draußen finden. Zumindest, bis die Beben nachlassen.« Lega raufte sich die kurzen braunen Haare. »Wann immer das ist.« Sie sah aus, als würde sie in Tränen ausbrechen, doch dann errang der Zorn die Oberhand. Fluchend drehte sie sich nach der Sternenmagd um.

Ein paar Schritt weiter standen zwei Frauen, deren robuste Mäntel aus feuerfestem Leder sie als Mitglieder der Bergungstruppe auswiesen. Fiora arbeitete sich zu ihnen durch. Die Frauen hatten sich nur oberflächlich gewaschen; schwarze Schlieren an Kragen und Haaransatz zeugten davon, dass sie in der Mine gewesen waren. Als sie sahen, wie Fiora sich näherte, verzogen sie die Gesichter. Selbst jetzt, kaum dem Tode entronnen, mussten sie zeigen, dass Fiora keine der ihren war.

»Was ist mit den Bergleuten?«, rief sie. »Habt ihr sie gefunden?«

Die Größere der beiden deutete auf die gegenüberliegende Seite des Platzes. »Die aus der Vier sind dort drüben. Haben es ohne unsere Hilfe rausgeschafft.«

Die Kleinere warf einen bösen Blick auf ihre Begleiterin. »Mach ihr doch keine falschen Hoffnungen.«

Die Angesprochene zuckte mit den Schultern.

»Was ist mit denen, die in der Sieben …?« Fiora erstarben die Worte auf den Lippen. Die Gesichter vor ihr verrieten genug. »Und Mara?«, zwang sie sich stattdessen zu fragen.

»Deine Schwester?«, erwiderte die Kleinere. »Was ist mit ihr?«

»Sie wollte in die Mine«, stammelte Fiora.

Aus der Kehle der Größeren drang ein freudloses Lachen. Doch es war der mitleidige Blick der Kleineren, der Fiora das Herz zerspringen ließ. Ihr Vater liebte sie nicht, ihre Schwester betrachtete sie als Last – und trotzdem: Ihre Familie war alles, was sie hatte. Ein Grauen erfasste Fiora, so tief und dunkel wie der Berg.

Plötzlich ging ein Ruck durch die Menge. Vorm Garnisonshof war ein Tumult entstanden, jeder verrenkte sich den Hals nach dem Lärm. Auf Zehenspitzen versuchte Fiora zu erkennen, was geschehen war. Satzfetzen flogen über sie hinweg. Man habe einen Toten gefunden, schrie jemand – nein, schrien andere zurück, der Mann sei lebendig, sei der Stollenstadt entkommen. Fiebrige Aufregung griff um sich. Überlebende, sollte es wirklich Überlebende geben? Rabiat zwängte Fiora sich zwischen den Erwachsenen hindurch, wurde angerempelt und gepufft, getreten und verflucht, nichts kümmerte sie, nur weiter, tausend Dämonen trieben sie an, sie musste wissen, was geschehen war! Und selbst wenn statt Hoffnung nur Asche bliebe, es gab keinen anderen Weg.

Endlich hatte sie sich bis zur Garnison vorgearbeitet. Die doppelte Reihe der Legionäre schwankte gegen den Ansturm der aufgekratzten Menge, war schon halb in den Hof zurückgedrängt. Fiora entdeckte eine Lücke zwischen zwei Hellebardieren, schlüpfte hindurch. Sie bekam einen Stoß, stürzte gegen eine Fechtpuppe, rappelte sich auf, sah sich um.

Der Hof wimmelte von Soldaten, die mit gezückten Waffen und gehetzten Blicken auf Anweisungen warteten. Und dazwischen, als ein unerschütterlicher Obelisk im tobenden Sturm, die Sternenmagd. Mit hoheitsvoller Anmut ging sie dem inneren Tor entgegen, unter dessen Bogen noch immer die fette schwarze Schlange hervorkroch. Und unter der Schlange eilten mehrere Legionäre aus dem Tunnel, Sturmlampen in der Hand. Zwischen sich stützten sie zwei Gestalten, die so schwarz waren wie die ewige Nacht. Die größere hing nahezu leblos an der Schulter der kleineren, welche unter dem Gewicht bei jedem Schritt zu straucheln drohte. Asche und Staub überzogen beide fingerdick, doch Fiora musste die Gesichter nicht erkennen, um zu wissen, wen sie vor sich hatte. Sie hörte sich schreien, rannte ihnen entgegen. Die Legionäre versuchten, sie aufzuhalten, eine Hand packte ihren Arm, doch sie entwand sich, wich einer zweiten aus. Mehr Hände griffen nach ihr, sie schlug sie zur Seite, rannte weiter.

Mara hatte Vater aufs Pflaster gleiten lassen, sank neben ihm auf die Knie. Fiora stürzte zu ihnen, warf sich ihrer Schwester um den Hals, presste sie an sich, presste die Lippen auf das ascheschwarze Gesicht. Mara verweigerte sich den Liebkosungen nicht, noch erwiderte sie sie. Fiora ließ von ihr ab, wandte sich Vater zu.

»Was ist mit ihm?«, keuchte sie bang. Reglos lag er da, starrend vor Schmutz, das Haar verklumpt, ein Hosenbein zerrissen, nur noch einen Stiefel an den Füßen. Ein feuchter Fleck schimmerte auf seiner verdreckten Arbeitsweste.

Keine Antwort. Fiora fuhr herum, packte ihre Schwester an den Schultern, schüttelte sie, schrie sie an: »Was ist mit ihm? Mara! Was ist mit ihm?«

Die hohlen, vor Erschöpfung flackernden Augen, mit denen Mara ihrem Blick begegnete, ließen Fiora das Mark in den Knochen gefrieren.

Das Rascheln eines Kleides. Die Sternenmagd war herangetreten, wie ein Traum ließ sie sich vor Vater nieder, bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Ihre weichen, schlanken Finger strichen seinen Hals entlang, glitten über sein Kinn, seine Wangen, fuhren durch den staubverklebten Schopf.

»Hexe«, flüsterte Mara. Sie wisperte es mit der Stimme einer Toten. Fiora setzte das Herz aus. So unheimlich die Priesterin ihr war, niemals hätte sie ihr einen solchen Namen offen ins Gesicht geworfen. Wer die Sternenmagd nicht ehrte, verspottete deren Herrin. Und für eine solche Tat gab es nur eine einzige Strafe: Verbannung.

Die Sternenmagd jedoch erhob sich, als hätte sie die Beleidigung nicht gehört. Ihr Blick suchte Fiora. Darin lag derselbe unergründliche Ausdruck, mit dem sie Fiora auf dem Heldenplatz bedacht hatte.

»Er wird leben«, sagte sie. Und ohne ein weiteres Wort schritt sie davon.

Im selben Moment riss Vater die Augen auf.

Ein grauenvolles Röcheln befreite sich aus seiner Brust, sein Körper bäumte sich auf, die Arme zuckten, schlugen umher, so ziellos wie sein wahnhafter Blick.

»Papa!«, rief Mara, warf sich auf ihn, packte seine Hand. Fiora ergriff die andere. Mit unmenschlicher Kraft krallten sich seine Finger in ihre, zerquetschten sie. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen.

»Alles wird gut, Papa!« Maras Stimme war rau vor Entsetzen. »Du lebst. Wir sind in der Garnison. Ich bin bei dir. Alles wird gut.«

Nichts deutete darauf hin, dass Vater sie überhaupt wahrnahm. Minuten vergingen. Fiora starrte auf die zitternden Gliedmaßen, lauschte auf sein schauriges Schnaufen und konnte nichts tun, außer schluchzend danebenzuknien, während Mara ihre beschwörenden Floskeln sprach.

Endlich, endlich wurde Vaters Atem regelmäßiger. Sein eiserner Griff lockerte sich, die Augen sprangen nicht mehr wild hierhin und dorthin. An Mara, die tief über ihn gebeugt war, blieb sein Blick zuerst hängen, fand sogleich auch Fiora. Und als hätte man einer Esse die Luft geraubt, erstickten die Flammen seiner Raserei. Ermattet sank er zurück, von beiden Töchtern gestützt.

Vorsichtig betastete Fiora die feuchte Stelle auf seinem Wams. Er zuckte zusammen.

»Du bist verletzt.« Mit klammen Fingern knöpfte sie das Wams auf.

Vater tastete nun selbst nach der Wunde. »Nur ein Kratzer«, stöhnte er. Fiora wollte sein Hemd aufschnüren, da bemerkte sie, wie Mara sich aufrichtete. Sie folgte deren Blick und sah, dass die Menge vor der Garnison noch immer wütete und schrie. Mit blanken Waffen hielten die Legionäre die Schäumenden in Schach. Von den Legionären geschützt, standen drei der Stadtoberen im Kreis und steckten die Köpfe zusammen. Poltis, den Kommandanten, hatte Fiora bereits mehrere Male aus der Nähe erleben dürfen. Egal, ob jemand einen Abzählreim auf den Vortempel geschmiert, Meister Konstantins Zeigestab gestohlen oder der Schnarchnase Ismar ein Stück gelbes Glas als Bernstein verkauft hatte, schnell wurde Fiora von Poltis als Schuldige hingestellt – selten machte er sich die Mühe, Beweise zu suchen. Die anderen zwei kannte sie nur aus der Ferne: Dem Ratsherrn Melkon gehörte die Erzmine, Ratsherrin Alvani war Besitzerin der Kohlemine und des Kraftwerks. Während Alvani groben grauen Stoff trug, hatte Melkon sich herausgeputzt wie zur Sonnenwende. Den hellen Anzug konnte er nur selten unter freiem Himmel getragen haben, denn kein Staubkorn haftete daran. Um anderthalb Ellen überragte er Poltis und war dabei kein bisschen breiter als jener. Zu allem Überfluss wippte ein Zylinder auf seinem Scheitel. Der Mann sah aus, als hätte ein schelmischer Gott ihn in die Länge gezogen.

Von den beiden Ratsmitgliedern begleitet, stapfte Poltis auf sie zu. Reflexhaft wich Fiora einen Schritt zurück. Für welche angebliche Schandtat würde sie diesmal geradestehen müssen? Der formal mächtigste Mann Bergquells bestach weder durch Statur noch durch Ausstrahlung. Sein sorgfältig gezwirbelter Schnurrbart konnte nicht von dem schütteren Haar ablenken, das hilflos über die Glatze gekämmt war. Mara behauptete, er sei bloß an seine Position geraten, weil die anderen Ratsmitglieder einen Schuldigen brauchten, wenn ihnen ein Entscheid auf die Füße fiel. Das würde jedenfalls erklären, weshalb er stets so angestrengt versuchte, bedeutsam zu wirken.

Fiora wappnete sich für einen Sturm, von dem sie nicht wusste, aus welcher Richtung er kommen würde, doch der Stadtkommandant wandte sich an Vater.

»Scholfa, wie freut es mich, dich wohlbehalten zu sehen.«

Vater stemmte mühsam den Oberkörper auf die Ellenbogen, sagte jedoch nichts.

»Die Sternenmagd hat verboten, die Stollenstadt zu betreten«, gab Poltis bekannt. »Aber die Leute fürchten um ihre Angehörigen. Weißt du, wie es um die anderen Verschütteten bestellt ist?«

Vater schüttelte bloß matt den Kopf.

»Also besteht Hoffnung?«, fragte Melkon mit pfeifend hoher Stimme.

»Hoffnung?« Vater formte die Silben, als müsste er sich erst über deren Bedeutung klar werden.

»Also, wenn du nichts über deine Kumpane weißt«, übernahm Poltis wieder das Wort, »dann könnten sie noch am Leben sein?« Er trommelte ungeduldig auf dem Griff der Pistole herum, die in seinem Gürtelhalfter steckte.

»Der ganze Flöz hat gebrannt«, sagte Vater mit einer Heftigkeit, die Fiora erschreckte. »Niemand hat überlebt.« Zornig flammte es in seinen Augen auf. So wild und brutal, wie sie es noch nie gesehen hatte. Doch schon einen Atemzug später war der plötzliche Ausbruch vorbei, und er sackte zusammen, der Blick so trüb wie zuvor.

»Ich habe euch gewarnt, ihr würdet eure Zeit vertun.« Es war Alvani, die nun sprach. Der eine Satz genügte, dass Fiora tiefe Abneigung gegen die Ratsherrin verspürte. Mit einem spöttischen Zucken in den Mundwinkeln fuhr jene fort: »Die Sternenmagd hat gesagt, dass es keine weiteren Überlebenden gibt. Sie hat sich bisher nie getäuscht. Warum sollte sie es heute tun?«

Wie konnte sie bloß so kaltherzig sein? Es war ihre Mine, in der das Unglück geschehen war.

Mit zusammengepressten Lippen starrte Poltis sie an. Sie war nicht einen Finger größer als er – doch ihre ärmellose Weste gab den Blick auf Oberarme frei, die keinen Zweifel daran ließen, dass sie dem Legionskommandanten nicht nur geistig überlegen war.

»Es sind immer noch wir«, widersprach Melkon schrill, »denen es anvertraut wurde, die Geschicke dieser Stadt zu leiten. Wir, Alvi – nicht irgendeine dahergelaufene, selbst ernannte Heilige.« Obwohl er Alvani mit Kosenamen ansprach, schien er Fioras Widerwillen gegenüber der Ratsherrin zu teilen. Es erschütterte sie, wie es nach Mara nun sogar ein Ratsherr gewagt hatte, die Sternenherrin zu verspotten.

»Helft mir auf, Kinder«, bat Vater, während die Oberen sich ihren Streitereien hingaben. Mara griff unter die eine Achsel, Fiora unter die andere, und mit vereinten Kräften zogen sie ihn auf die Füße. Einer der Legionäre bot ihm seinen Wasserschlauch an. In kleinen Schlucken trank Vater ihn aus, reichte ihn dankend zurück. »Gehen wir nach Hause«, ächzte er. »Ich habe Lust auf eine Mulsa-Knospe.«

»Bist du dir sicher?«, fragte Fiora ängstlich, als sie sein schmerzverzerrtes Gesicht sah.

Statt sich um eine Antwort zu bemühen, humpelte er los.

4. Kapitel

Die Legionäre ließen sie passieren. Auch die Menge auf dem Hauptmarkt wich vor ihnen zurück, mit geweiteten Augen und offenen Mündern bildete sie eine Gasse. In manchen der Blicke lag Mitgefühl, doch die meisten waren finster, feindselig. Fiora glaubte, geflüsterte Beleidigungen zu hören. Es lag eine blutige Spannung in der Luft. Mara schien es ebenfalls zu spüren, denn sie packte Vater fester, zog ihn rascher vorwärts.

»Verräter!«, schrie jemand.

»Du bist es gewesen, Scholfa!«, schrie jemand anderes.

Mara wollte etwas erwidern, doch Vater hielt sie zurück.

»Wovon redet ihr?« Seine Stimme war dünn – nichtsdestoweniger trug sie weit genug, um die Menge zum Schweigen zu bringen. Brütendes, drohendes Schweigen. Die Angst legte sich staubig auf Fioras Brust.

Vater blieb stehen, wiederholte seine Frage. Er klang mehr erschöpft als verängstigt.

Niemand regte sich.

Schließlich nickte er Mara zu. »Gehen wir heim.«

»Du hast den Brand ausgelöst.« Es war Lega, die gesprochen hatte. »Gib es zu, Hexer.«

Fassungslos starrte Fiora sie an. Auch Vater wirkte überrumpelt. Mara aber rief, und ihre Stimme bebte vor Empörung: »Hast du dein Hirn für Pilzdünger eingetauscht? Geh und friss Sand.«

Sie wollte Vater weiterziehen, doch Lega verstellte ihnen den Weg.

»Ein Kohlebrand«, keifte sie, »der den ganzen Berg erschüttert – niemand kann das überleben. Die Schwarze Kraft hat dich gerettet.« Ein ungeheuerlicher Vorwurf. Kaum hatte sie ihn ausgesprochen, verstummte sie, wie erschrocken vor sich selbst. Mit einem Mal war es grabesstill auf dem Platz. Bis in die letzten Reihen stand die Meute wie gelähmt. Eingeschüchtert sah Lega sich um. Da fing sich der Mob, johlte Zustimmung – und triumphierend nahm sie ihre Anklage wieder auf: »Du hast dich ins Bett der Finsternis gelegt.«

Fiora versuchte zu verstehen, was geschah, doch in ihrem Schädel war nur Rauschen, es erstickte jeden Gedanken. Alles war Angst.

»Bitte, Lega«, sagte Vater schwach, »ich betrauere Isane und die anderen wie du, du musst mir glauben. Sei gnädig, lass uns gehen.«

Lega jedoch, die sich mit einem schnellen Blick ihrer Rückendeckung versichert hatte, dachte nicht daran. »Du hast uns verraten, Ungeheuer. Hast dich der Finsternis verkauft. Hast die Dunkle gefreit.« Mit einem verächtlichen Blick auf Fiora: »Lässt dich bis heute offen umsorgen von der verfluchten Frucht ihres Leibes.«

Und auf einmal, als hätte jemand einen Schalter in ihrem Kopf umgelegt, brach alles aus Fiora heraus: »Du Biest«, schrie sie, sprang auf Lega zu, stieß sie, dass diese zu Boden fiel. »Du Ratte, du falsches Herz.« Sie wirbelte herum, fixierte die geifernde Meute. »Heuchler, ihr alle!« Ihre Stimme überschlug sich. »Ihr sitzt in diesem Drecksloch und führt ein Drecksleben und redet euch ein, alles, was ihr tut, sei richtig und edel. Als wäre Bergquell eine goldene Stadt und ihr die Gehilfen eines göttlichen Plans. Ihr redet von euren ach so erhabenen Gesetzen und behandelt mich wie Abschaum. Als ob euch das vor der Erkenntnis bewahren könnte, welch ein erbärmliches Dasein ihr selbst fristet. Ihr widert mich an. Ich habe meine Mutter nie gekannt, noch habe ich jemals gehört, dass jemand ein gutes Wort über sie verloren hätte – und trotzdem will ich tausendmal lieber die Tochter einer Dunklen sein als eine von euch. Ich sage euch, wenn ich nur einmal …«

Sie wurde von einem Schlag getroffen, so heftig, dass ihr die Sinne schwanden.

Fallen in einen Abgrund und ohne einen Halt.

Der Aufprall holte sie ins Bewusstsein zurück. Ihr Schädel dröhnte, sie schmeckte Staub auf der Zunge, hart drückte sich das unebene Pflaster in ihren Rücken. Ein gepresstes Stöhnen drang aus ihrer Brust. Es klang falsch, kaum mochte sie glauben, dass es sich um ihr eigenes handelte. Sie wusste nicht, ob ihre Augen offen oder geschlossen waren; sie versuchte, zu blinzeln, die Lichtblitze zu vertreiben, die durch ein unbegreifliches Dunkel zuckten. Das Blinzeln half, die Blitze wurden zu Sternen, das Dunkel zu einem nächtlichen Himmel. Aber nur ein Bruchteil davon war zu sehen, denn eine Gestalt ragte über ihr auf, drohend, gnadenlos. Und den Sternen entgegengehoben, bebte die Faust, die Fiora niedergestreckt hatte.

Vaters Faust.

An den Fingerknöcheln glänzte das Blut.

Er starrte auf sie herab, sein Blick fremd, leer. Es war, als erkenne er sie nicht.

»Papa?« Maras Stimme, geflüstert, von irgendwoher. »Was hast du getan?« Die Worte brachen den Bann, die Faust sank. Doch Vater wandte den Blick nicht von Fiora ab, und in seinen Augen spiegelte sich ihr eigenes Grauen.

Sie konnte nichts sagen; nur japsen und liegen und starren.

Ein Zucken ging durch seinen Körper. Als hätte eine unsichtbare Macht ihn an sie gefesselt, riss er den Blick von ihr los, wandte sich ab, floh. Fast wäre er gestürzt; Mara war rechtzeitig an seiner Seite, führte ihn davon durch eine Menge, die dienstfertig zurückwich.

Fiora spürte keine Schmerzen. Stattdessen eine unsägliche Schwere, die an ihren Gliedern zerrte. Auf die Beine zu kommen, war ein Kampf, den sie nur mit Mühe gewann. Schwankend stand sie da, umgeben von einer Menge, in der ihr nicht einer eine Hand bieten würde. Sie zwang sich dazu, einen Schritt zu tun. Einen zweiten. Schleppte sich mit namenloser Langsamkeit voran.

Dann flog etwas, traf sie an der Schulter. Verwundert sah sie das Ding auf dem Boden landen. Ein Stück Brot. Weitergehen, nicht stehen bleiben. Die Leute machten ihr Platz. Doch sie zischten, fauchten. Fiora musste die Worte nicht verstehen, um sie als Verwünschungen zu erkennen. Wieder traf sie etwas, am Rücken, härter diesmal. Weiter, nur weiter. Die Flüche nahmen zu, wurden lauter, böser. Sie konnten Fiora nicht treffen, eine weiche Decke umhüllte sie. Mehr Gegenstände wurden geworfen, und auch diese prallten an der Decke ab. Jemand spie, sie spürte den Speichel kühl ihre Wange hinunterrinnen. Schritt um Schritt träumte Fiora sich zwischen den Hassenden hindurch, an den Gemüseständen vorbei, ließ auch die Töpfer hinter sich, erreichte die Stufen, die das Ende des Marktes markierten, stieg hinunter. Wandte sich nach links, in die Mostgasse, niemand folgte ihr, sie war allein. Ihre Kräfte verließen sie. Sie stützte sich an den steinernen Hauswänden ab, zwang sich weiter, erreichte so die Madengasse, war nun endgültig erschöpft, sank zu Boden. Bekam gerade noch einen Fensterladen zu fassen, um den Aufprall zu bremsen.

Sie hätte später nicht sagen können, wie lange sie so auf dem schmutzigen Pflaster kauerte, gefühllos, gedankenlos, nur ein kleiner, kaputter Körper in einer kleinen, kaputten Welt. Die Mondfrau wanderte, Menschen kamen vorbei, Ratten schnupperten an ihr. Aus der Kanalisation kroch der Gestank einer fauligen Stadt.

Ein Junge trat zu ihr.

Leif. Setzte sich neben ihr auf den Boden. Sie hatte nicht die Kraft, ihn wegzuschicken. Er sagte nichts, blickte sie nicht einmal an. Zog nur die Knie an die Brust, schlang die Arme darum und regte sich nicht weiter. In der Ferne zeterte jemand. Die Ratten schnupperten.

Gemeinsam lauschten sie ins Nichts, während die Mondfrau ein Versteck vor dem Feuerdämon suchte. Auch diese Nacht würde zu Ende gehen – und wer die Nacht nicht nutzte, durfte nicht verlangen, den Tag zu bestehen. Meister Konstantin hatte das oft genug vorgetragen, in einer anderen Zeit.

Irgendwann sagte Leif etwas. Fiora hörte die Worte nicht, doch etwas in ihr wusste, dass die angemessene Entgegnung ein Kopfschütteln war. Sie tat es. Es war ein eigentümliches Gefühl, die Bewegung zu spüren. Dass ihr Körper ihrem Willen folgte, beinahe erstaunte es sie.

Später – einen Augenblick oder eine Stunde oder ein Zeitalter – nahm Leif die Arme von den Knien. Stand auf. Blickte auf Fiora herunter. »Ich muss los«, sagte er, und diesmal hörte sie ihn.

Sie nickte.

Leif klopfte sich den Unrat vom Hosenboden.

»Danke«, sagte sie.

Er nickte. Und nach einem letzten Griff, seinen Gürtel zu richten, schlurfte er davon.

Fiora sah ihm hinterher wie einem magischen Wesen – einer Erscheinung aus einer anderen Welt, die nur versehentlich in die Sphäre der Menschen geraten war und nun, nach kurzer Rast, wieder den Rückweg antreten musste, wollte sie nicht ewig hier gefangen sein.

Gefangen, dachte Fiora, wie ich es bin. Es war ihr erster bewusster Gedanke auf dem besudelten Pflaster der Madengasse. Und nun, da ihr Bewusstsein wieder wach in ihrem Schädel flirrte, konnte sie nicht aufschieben, was zu tun war. Sie musste sich entscheiden. Fliehen, im Sommer, bedeutete den Tod. Doch was konnte sie in Bergquell erwarten, das sich als Leben bezeichnen ließe? Niemals hatte sie einen Halt gehabt, abgesehen von ihrer Familie. Und nun hatte Vater sie verraten. Niemand war ihr geblieben außer Mara – wenn nicht auch diese sie bereits fallen gelassen hatte.

Mara. Würde sie zu ihr halten?

Diesmal, als sie sich aufrichtete, spürte sie ihre vielfach geschundenen Muskeln. Doch obwohl jeder Schritt qualvoll war, zwang sie sich vorwärts. Sosehr sie sich davor fürchtete, Vater zu sehen, sie musste nach Hause, zu ihrer Schwester. Mit klopfendem Herzen wurde ihr bewusst: An Maras Urteil würde sich ihr Schicksal entscheiden.

Instinktiv wich sie den breiteren Wegen aus. Um sich gegen die Sandstürme zu schützen, hatte man die meisten Gassen schmal zwischen Häuserschluchten gezwängt. Über die Jahrhunderte war ein Wirrwarr von Pfaden entstanden, wie es die Erbauerin eines Labyrinths nicht raffinierter hätte ersinnen können. Manche Wege endeten im Nichts, andere führten durch Gebäude hindurch oder erforderten die Bereitschaft, über Mauern zu klettern.

An den wenigen Leuten, die ihr entgegenkamen, huschte Fiora eilig und gesenkten Blickes vorbei. Niemand belästigte sie. Nach zehn Minuten erreichte sie das Viertel der Minenarbeiter. Winzige, schäbige Quartiere aus unverputztem Beton mit zersprungenen Scheiben in den Fenstern, mehrere Stockwerke hoch aufeinandergetürmt, durch rutschige, geländerlose Außentreppen verbunden.

Während der Rest von Bergquell erst am Abend begann, seinen Aufgaben nachzugehen, wurde in den Minen im Schichtbetrieb gearbeitet. Dementsprechend war es nicht ungewöhnlich, dass Arbeiter nachts zu Hause waren; aus vielen Wohnungen schimmerten die Lichter der Öllampen. Doch etliche andere lagen im Dunkeln – weit mehr, als den Arbeitern gehören konnten, die verschüttet worden waren. Fiora konnte sich denken, wo sie alle steckten. Bevor Vater seinen Schmerz mit Mulsa zu betäuben pflegte, hatte auch er ihn in einer der zahlreichen ranzigen Kaschemmen ertränkt, welche die Außenstadt durchsetzten wie Pestbeulen.

Als Fiora ihr Ziel erreichte, verharrte sie vor der Türe, zögerte. Hinter geschlossenen Läden flackerte Licht, jemand war zu Hause. Widerwillig streckte sie die Hand nach dem Knauf aus. Sie wusste nicht, wie sie Vater begegnen sollte. Eine klamme Furcht kroch ihr den Rücken hoch. Was, wenn er sie endgültig verstieße? Wenn Mara sich auf seine Seite schlüge? Wäre sie stark genug, Bergquell tatsächlich den Rücken zu kehren, aufzubrechen in die hoffnungslose Ödnis?

Es gab kein Zurück. Ein letztes Mal holte sie Luft. Sie drückte die Türe auf – und zersplitterte.

Alles in ihr verlangte danach, das Bild zurückzuweisen, das sich ihr bot, seine Bedeutung zu leugnen. Doch sie wusste mit der Bestimmtheit der Verzweiflung, dass es keine Rettung gab. Vater hatte sich umgebracht. Kein Detail würde sie vergessen: nicht den Eimer mit dem schmutzigen Wasser, womit Mara Vater gewaschen hatte, nicht den achtlos in die Ecke geworfenen Stiefel, nicht den Teller mit dem Rübensalat, den niemand angerührt hatte, nicht die Strähnen, die sich aus Maras Zopf gelöst hatten, nicht Vaters auf den Tisch gesunkene Gestalt. Nicht das Kästchen, in welchem er seine Mulsa-Knospen verwahrte, das schlichte Kästchen, das er gehütet hatte als seinen Schatz, das er immer verschlossen gehalten hatte und sorgfältig gefüllt – und das jetzt offen war und leer.

»Was ist geschehen?«, flüsterte Fiora, es war eine ziellose Frage, sie wusste die Antwort längst.

»Fiora.« Mara, die reglos am Tisch gesessen hatte, die Hände im Schoß, den Blick auf Vater gerichtet, drehte sich nach ihr um, langsam, wie erwachend. Aus ihren Augen sprach ein stummes Grauen. Sie erhob sich, kam mit unsicheren Schritten auf Fiora zu, blieb vor ihr stehen. »Schwester.« Es war nur ein Wispern. Sie hob die Hand, tastete nach Fioras Haar, befühlte es mit der Außenseite ihrer Finger. Sie lächelte dabei, doch es war ein Lächeln voller Leid. Eine Träne glitt ihre Wange hinab.

Hilflos verfolgte Fiora den Pfad, den die Träne nahm. Noch nie hatte sie Mara weinen sehen. »Es tut mir leid«, flüsterte sie.

Mara legte die Arme um sie, zog sie an sich, drückte sie an ihre Brust.

5. Kapitel

Die Nacht war sternenklar und so kalt, dass der Atem dampfte. So gnadenlos der Feuerdämon am Tage wütete – sobald er sich zurückzog, nahm er alle Wärme mit, und auf der Ebene wurde es innerhalb von Minuten kühler als im Bauch des Alten Herrn.

Mit klammen Fingern strich Fiora den Sand von den Steinen, aus denen sie Vaters Grab getürmt hatte. Die Stürme wüteten heftig diesen Herbst; fast jede Woche besuchte sie das Grab, und jedes Mal war es halb verschüttet. Der Gedanke, Bergquell zu verlassen, hatte mit Vaters Tod seine Kraft verloren. Eine bittere Wahrheit war Fiora bewusst geworden: So unglücklich sie in Bergquell war, eine andere Heimat als Mara hatte sie nicht.

Hätte Vater sich nicht das Leben genommen, hätten sie ihn in den Katakomben der Stollenstadt aufgebahrt, neben Maras Mutter. Doch in Bergquell war Arbeitskraft kostbar. Wer sich der Verantwortung entzog, verwirkte sein Anrecht darauf, innerhalb der Stadtmauern begraben zu werden. Für Fiora bedeutete dies, dass sie Vater in der Ödnis die letzte Ruhestätte hatte bereiten dürfen. Immerhin konnte sie jetzt Mutter besuchen, des Nachts, vor aller Augen, und niemand schöpfte Argwohn.

Sie hatte das Grab zwanzig Schritt von Mutters Schlafstätte angelegt, die schon lange nur noch aus einem unscheinbaren Hügelchen im Geröll bestand. Gerne hätte Fiora Mutters Andenken beflissener gepflegt, aber sie ängstigte sich zu sehr davor, jemand könnte sie entdecken. Sie glaubte zwar nicht, dass jemals ein anderer als Mara hier herauskäme, aber selbst ihrer Schwester verschwieg sie das Geheimnis. Vater hatte es ihr einst verraten, und sie hatte schwören müssen, es niemals weiterzugeben. Der Leichnam einer Dunklen, keine Meile vom Stadttor entfernt – das bedeutete, die Pforten der Verdammnis zu öffnen. Erzählte man sich.

Rasch richtete Fiora die letzten Steine. Es war nicht nur die Kälte, die sie zur Eile trieb. Sie musste bald zurück in die Stadt, denn es lag die Prüfung vor ihr, auf die sie zwei Jahre lang hingearbeitet hatte – heute Nacht würde der Stadtrat entscheiden, ob Meister Konstantin sie als seine Gehilfin ausbilden würde. Eigentlich besagte die Tradition, dass ein Lehrmeister seine Nachfolge selbst bestimmen durfte. Doch die ganze Stadt stritt sich die Kehlen heiser, ob die Tochter einer Dunklen zur Lehrmeisterin geeignet sei; und schließlich hatte der Stadtrat beschlossen, sich der Sache anzunehmen. In einer öffentlichen Prüfung habe sie zu belegen, dass sie Meister Konstantins Vertrauen verdiente. Trotzig richtete Fiora sich auf. Auf den kleinsten Fehler würde man sich stürzen, jeden Vorwand nutzen, sie abzuweisen. Doch sie hatte sich vorbereitet – und sie war fest entschlossen, es dem Pack stechend schwer zu machen.

Sie spürte den Todesboten, bevor sie ihn sah. Ein Surren, das kaum zu hören war, aber in ihrem Körper vibrierte wie schwingender Stahl. Aufgeschreckt drehte sie den Kopf nach den Sternen. Irgendwo in deren zahlloser Menge musste der Komet sich verbergen. Da, im Norden, entdeckte sie ihn – ein rasendes Licht, zu tief, um ein wahres Kind des Himmels zu sein. Wie schnell er näher kam. Unwillkürlich wich Fiora einen Schritt zurück. Als gäbe es ein Entkommen vor den Zeichen der Götter. Gleißend hell leuchtete der Bote jetzt, tauchte die Wüste in ein flackerndes bläuliches Weiß. Wie bleiche Büßer hoben die Kakteen ihre Arme. Fiora unterdrückte den Drang, einfach davonzurennen. Sie konnte nichts tun, außer warten und beten. Auch wenn sie nicht an Götter glaubte, fürchtete sie doch deren Macht.

Kometen, hatte Meister Konstantin gesagt und mit Schwung die Kreide auf der Tafel kreisen lassen, seien so alt wie die Erde selbst. Links neben den Kreis hatte er Wellenlinien gemalt. Früher habe man sie für Tränen der Sonne gehalten, aber das sei ein Irrtum gewesen; es seien die Fanfaren, mit denen die Götter ihren Willen kundtaten. Fiora hatte gefragt, was sie wollten. Da hatte sich der Meister ihr zugewandt und mitleidig gelächelt: Von uns in Bergquell? Nichts. Mit quietschender Kreide hatte er die letzte Welle vollendet. Kaum war zu verstehen gewesen, was er in Richtung der Tafel genuschelt hatte … Worüber wir nur froh sein können. Bevor Fiora eine weitere Frage hatte stellen können, war die Stunde beendet.