Sturm über Lich - 2022 - Stefan Koenig - E-Book

Sturm über Lich - 2022 E-Book

Stefan Koenig

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Beschreibung

Mit „Sturm über Lich – 2022“ erweitert Stefan Koenig seinen fiktionalen Thriller »Freie Republik Lich – 2023« um eine literarische Verarbeitung von politischer Moral und hausgemachter Klimakatastrophe. Die Natur spielt im Sommer 2021 verrückt, und wir haben es gerade erlebt – mit diesem Rückblick beginnt Koenigs neue Geschichte. Der Inheidener See und vier junge Leute aus der Logistikbranche, die von einem sommerlichen Badeausflug nicht mehr zurückkommen, spielen ebenso eine Rolle wie eine Villa auf dem Hügel am Guckertsweg. Hier ist man sich sicher, dass das Grauen über Lich mit dem Logistikmonster kam – aber dass dies nur der Anfang ist. In der Villa verkehrt ein seltsamer Herren-Club. Man erzählt sich Stephen-King-mäßige Geschichten und zieht Parallelen zur Gegenwart, die aus den Fugen geraten ist. Mit einem schrecklichen Wintersturm im Januar 2022 bricht von einem Tag auf den anderen ein weiteres Unheil über die liebliche Kleinstadt in der Mitte Deutschlands herein. Neben der Naturkatastrophe bestimmen plötzlich auch Mord, Intrigen und dämonische Kräfte das Leben der Bewohner. Das Böse scheint von einem Fremden, Niko Lamor, auszugehen. Denn dieser Mensch, wenn er denn einer ist, stellt eine Forderung, die den Licher Bürgern erst einmal schleierhaft bleibt … Und was sagt der Autor? Stefan K.: „Ich denke, meine Leserschaft kann Tatsachenberichte von Romanen unterscheiden, und es besteht nicht die geringste Gefahr, dass sie die Wirklichkeit verbiegen. Aber wie es halt mit Märchen so ist – sie enthalten ein gehöriges Spektrum von dem, was wir tatsächlich in der Realität täglich erleben, fühlen, verstehen. Tatsache ist, dass es uns alle erwischen kann. Wer Ohren hat zu hören, der höre. Die Warnrufe der Natur erschallen. Wer Augen hat zu sehen, der sehe. Die Warnblinker der Natur rotieren. Zu alledem ist die Demokratie in Gefahr. Wir alle, oftmals selbstverliebt in die guten Märchen, die wir uns zusammenstricken, um unsere Sorgen zu vergessen, können den Tatsachen nicht ausweichen. Und dennoch liefert uns eine Geschichte genau den Stoff, der uns an Orte führt, die wir noch nicht kennen. Und an Geschehnisse, die uns erstaunen oder erschaudern lassen. Eine Ablenkung. Für einen Moment. Für einen wichtigen Moment.“

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Seitenzahl: 509

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Stefan Koenig

Sturm über Lich - 2022

Fantastischer Zeitreise-Roman

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Utopia

Das völlig unnötige Vorwort

Der, die, das. Wer, wie, was?

Wer nicht fragt, bleibt dumm.

Schicksalstage

Ein Schneemann im Sommer

Dem Tod ins Auge schauen

Die Flut

Die Villa und der Fremde

Kurz vor Weihnachten

Lamor

Als das Unglück begann

Im Rathaus

Der Sturm und der Mord

Das Protokoll & zwei Tote mehr

Im »Sonnenschein«-Kinderland

Zappelnde Beine & eine Spritze

War es Zufall?

Postskriptum

Zu guter Letzt

Dank

Statt eines Nachwortes:

eine kleine Werbepause …

Wieso, weshalb, warum?

Teil 1

Teil 2

Es folgt nun

Impressum neobooks

Utopia

Stefan Koenig

Sturm über Lich

2022

Eine fantastische

Roman-Zeitreise

Ergänzungsband zu

Freie Republik Lich - 2023

© 2021 by Stefan Koenig

Mail-Kontakt zumAutor:

[email protected]

Die Geschichte zählt,

nicht der Erzähler.

Stellt euch einmal uns‘re Welt vor

Ohne Krieg, ohne Gewalt

Ohne Bosse, ohne Herrscher

Jeder ist dem Ander‘n Halt

Ohne Ehrgeiz, ungehetzt

Alle leben nur im Jetzt

Ohne Himmel, ohne Hölle

Einfach nur im Jetzt und Hier

Diese Welt gehört uns allen

Ohne Grundbesitz und Gier

Stell dir vor wir leben sie

Diese schöne Utopie

Nennt mich gerne einen Spinner

Der nicht passt in uns‘re Zeit

Doch ihr lebt in einem Albtraum

Mein Traum ist die Wirklichkeit

Eine Welt ganz ohne Grenzen

Und statt Wettbewerb und Neid

Teilen wir endlich gleichberechtigt

Uns‘re Freude, unser Leid

Wäre diese Welt nicht hier

Wüssten wir doch nichts von ihr

Nein, der Mensch ist nicht so schlecht

Wie‘s die Herrschenden gern hätten

Es ist unser aller Recht

Uns vor diesem Trug zu retten

Und wir wollen, dass uns‘re Welt

Sich nicht an deren Regeln hält

Nennt mich gerne einen Spinner

Der nicht passt in uns‘re Zeit

Doch ihr lebt in einem Albtraum

Mein Traum ist die Wirklichkeit

Nennt es weltfremd, nennt es Wahnsinn

Doch ich träume nicht allein

Ist denn nicht allein die Liebe

Grund und Sinn von allem Sein?

(Konstantin Wecker)

___________

Noch immer widme ich das Buch

all jenen Licher Bürgern,

die sich nicht damit abfinden können,

dass über ihre Interessen hinweg

entschieden wurde.

Und natürlich widme ich es meinen treuen

Leserinnen und Lesern, immer in der Hoffnung,

dass sie noch gut schlafen können.

Das völlig unnötige Vorwort

Ich glaube zu wissen, dass auch Sie Vorworte nicht mögen. Vielleicht hassen Sie sie nicht, denn – Sie erinnern sich gewiss der Worte von Arnold Aurora – nur wer nicht geliebt wird, hasst. Nur wer nicht geliebt wird!

Aber Sie … Sie mögen es einfach nicht. Sie mögen nicht das Palaver vor der schönen Geschichte. Nicht mögen und hassen – das sind wirklich zwei völlig verschiedene Zustände. Und dennoch: Wer garantiert Ihnen hier überhaupt eine „schöne Geschichte“?

Eine Bitte vorab: Lassen Sie sich weder vom Autor noch von seiner Story belästigen. Ich fände es äußerst unfair, wenn Sie nach zwanzig oder dreißig Jahren kommen und sagen, man hätte Sie damals, 2021, als junger Leser/ junge Leserin missbraucht. Hätte Ihnen eine Geschichte aufgezwungen, mit der Sie ins Bett gegangen sind, um sodann nur unter Albträumen zu leiden. Literarische Nötigung! Wäre es nicht echt unheimlich, wenn Sie nicht den Mut fänden, dieses Buch sofort zur Seite zu legen? Haben Sie heute den Mut, NEIN zu sagen! Ich an Ihrer Stelle hätte es schon längst getan. Ich hasse unnötige Worte. Ja, nur wer nicht geliebt wird, hasst!

Und es gibt tatsächlich jenen L.H., der mich nicht liebt, von dem ich Ihnen noch berichten muss.

»Verdammt noch mal, schreib ein Vorwort!«, raunte mir beim letzten Buch mein zweites Ich zu. Anscheinend habe ich sogar ein drittes Ich, denn genau dieses Raunen vernahm ich gerade eben, in diesem Moment. Ich gebe auf und gebe statt. Und wie immer, ich bleibe dabei: Ich schreibe hier und kann nicht anders. Ich fühle mich – noch immer und wie jeder wahre Irre – der Wahrheit verpflichtet. Mein Wort in Gottes Ohr!

Ihr Stefan Koenig Im November 2021

Bitte vergessen Sie nicht,

dass es sich bei dem vorliegenden Werk

um eine frei erfundene Story handelt.

Keine Angst also!

Personen-Namen, Straßen-Namen,

die Ihnen vielleicht

durchaus bekannt vorkommen mögen,

gehören nicht

zu real existierenden Personen oder Orten.

Jedenfalls gibt es sie so nicht, nicht so!

Orte, Ereignisse und Romanfiguren

sind allesamt Erfindungen.

Nackte Illusionen.

Faktische Fiktionen.

Fiktive Fakten.

Lich – gibt es diesen Ort wirklich?

Ich bin mir in nichts mehr sicher.

Vielleicht wissen Sie mehr.

Der, die, das. Wer, wie, was?

„Also, Sie mit Ihren Ideen! Woher nehmen Sie bloß Ihre ganzen Einfälle?“ Diese Frage höre ich am häufigsten, aber gleich danach kommt diese: „Spielen bei Ihnen immer irgendwelche Monster mit?“ Wenn ich letztere verneine, bin ich mir nie ganz sicher, ob die fragende Person aufatmet oder tief durchschnauft, um mir ihre Enttäuschung nicht ins Gesicht zu brüllen.

Wie Sie bereits wissen – vielleicht aber auch nicht, denn ich kann nicht davon ausgehen, dass Sie all meinen bisherigen Mist gelesen haben – bin ich für einen Licher Verlag tätig, in dem auch mein guter Kollege Benjamin Carl arbeitet. Wir sind inzwischen gute Freunde, und es war Ben, der nach meinem letzten Roman meinte, ich sollte mir Gedanken über die nächste Veröffentlichung machen.

Es mag Ihnen seltsam vorkommen, dass man nur einen Monat nach der Veröffentlichung einer tornadoartigen Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruhen könnte, den nächsten Tatsachenbericht in der Pipeline hat. Doch das liegt nicht am Berichterstatter – es liegt an den tatsächlichen Begebenheiten. Denken Sie bitte daran: Der Ursprung ist die Geschichte, nicht der Erzähler! Ich gehöre auch nicht zu jener Sorte Autoren, die ihre ach so wertvollen Manuskripte ein Jahr lang in der Schublade lassen und gelegentlich herausholen, um sie dann im Café sitzend mit wichtigtuerischer Miene zum x-ten Mal zu lesen, bis sie endlich langsam wie eine Schildkröte ihrer Veröffentlichung entgegenkriechen.

Als ich Ben nach einiger Zeit die ersten hundert Seiten von »Sturm über Lich« zu lesen gab, war er zweifach verblüfft. Einmal, weil einige Seiten auf die Rückseiten von Druckerei-Rechnungen kopiert waren, zum andern, weil das Manuskript nach Bier stank, da meine Liebste zwei Monate zuvor, anlässlich meines Geburtstags, versehentlich eine Maß Weißbier darüber ausgeschüttet hatte. Ich hatte das Manuskript aus ökologischen Gründen getrocknet. Ein Neuausdruck kam nicht in Frage – kein Baum sollte wegen einer umgestoßener Maß Weißbier gefällt werden. Außerdem liebe ich den Geruch von Weißbier auf Manuskriptpapier. So hat jeder seine Vorlieben.

Während der nächsten zwei Wochen las Ben die fertiggestellten Seiten. Er war so etwas wie mein Lektor, und da er ebenso penibel ist wie ich, nahm er sich entsprechend Zeit. Kratz an einem Verlagsmitarbeiter, auch wenn er nur aushilfsweise dort tätig ist, und du entdeckst einen allwissenden Heiligen, der dir jeden Furz hinterherrecherchiert.

Ich hielt mich ein paar Tage in Lich auf, um dort für den Verlag Manuskripte anderer Autoren zu sichten. In unseren Pausen zog ich es vor, mit Ben über die Text-Einreichungen zu diskutieren. Aber diesmal wollte er mit mir nur über mein Manuskript sprechen. Sollte ich wirklich einen Zeitrückgriff machen und nach dem 2023er-Streich jene spezielle Katastrophe von 2022 aufgreifen, obwohl ich sie im ersten Bericht über die »Freie Republik Lich – 2023« nicht erwähnt hatte?

Die Entscheidung fiel an der Ampel oberhalb der Braugasse, Ecke Volksbank, als wir auf die gegenüber liegende Parkseite wechseln wollten. Ben und ich standen dort und warteten auf Grün und sahen junge Mütter, die beim Döner auf der anderen Straßenseite ein schnelles Mittagessen besorgten. Und Ben sagte: „Ich denke, du solltest noch vor Weihnachten damit rauskommen. Denn wenn der Sturm im Januar über uns hereinbricht, ist es zu spät.“

Nun, das gefiel mir und schien logisch. Aber er sagte es widerstrebend, und ich fragte ihn ganz direkt, was denn los sei.

„Wenn du erst ein Buch schreibst über ein Logistikmonster, das nur durch eine aus dem Ruder gelaufene Natur überwältigt werden kann, und anschließend eins über ein neuerliches Desaster, dann wirst du abgestempelt“, sagte er.

„Abgestempelt?“, fragte ich verwundert. Ich sah keine nennenswerte Ähnlichkeit zwischen Monsterspinnen und einem tödlichen Wintersturm. „Abgestempelt als was?“

„Als jemand, der nur Katastrophenstorys schreiben kann“, sagte er noch widerstrebender.

„Oh“, meinte ich erleichtert. „Ist das alles?“

„Warte ein paar Jahre, bis du deinen Ruf weg hast“, sagte er. „Dann wirst du schon sehen.“

„Ben“, sagte ich amüsiert, „meine Leser kennen alle meine Seiten – auch und gerade meine authentischen Zeitreisen. Sie lassen sich nichts vormachen.“

Die Ampel sprang auf Grün. Ben klopfte mir auf die Schulter. „Ich denke, dein neuer Bericht wird gut, aber ich glaube dennoch, dass du manchmal Scheiße nicht von Schuhwichse unterscheiden kannst.“

Ich machte einen auf beleidigt, denn das kam bei Ben immer gut an. Während wir in unserer Mittagspause durch den Park schlenderten, blieb Ben plötzlich stehen, kratzte sich am Kopf und sagte: „Du hast deinen Lesern damals nicht die ganze Wahrheit gesagt. Das kommt nicht gut an.“

Ich dachte einen Moment nach, bevor ich ihm antwortete: „Es ist tatsächlich so, dass die vollumfängliche Wahrheit nicht immer verkraftet wird. Weder vom Autor, noch von der Leserschaft.“

„Du meinst also hauptsächlich jene Leute, die du mit deinen Zeitreise-Erlebnissen unterhalten und zugleich von irgendwas überzeugen willst. Denn ob du etwas verkraftest oder nicht, interessiert kein Schwein!“, sagte Ben etwas unwirsch und wenig vornehm.

Er hatte Recht. In der Hauptsache konnte ich meinen Kunden, also der Leserschaft, die unterhalten werden wollte, nicht die ganze Wahrheit zumuten.

Tatsächlich war es so, dass ich – als ich über die Freie Republik Lich des Jahres 2023 berichtete – im Kurzdurchlauf die Jahre 2018 bis 2022 der Geschichte vorangestellt hatte. Natürlich fühle ich mich gegenüber den Leserinnen und Lasern – »Laser«, ein alter, abgestandener Witz von mir, von dem ich mich trotz aller guten Vorsätze noch immer nicht lösen kann – zur reinen Tatsachenberichterstattung verpflichtet.

Aber wie Sie bereits wissen, gibt es Dinge im Universum, die sind einzigartig. Wenn sich jedoch eine Einzigartigkeit an die andere reiht, hegt man gelegentlich den Verdacht, es könnte sich um eine Serie von Ungeheuerlichkeiten handeln – so wie ein Serientäter zuerst als Einmalkiller erscheint und erst mit weiteren Taten zum Serienkiller wird. Verhält es sich so eventuell auch mit den Naturphänomenen, von denen ich Ihnen berichte? Haben wir die Natur zum Serienkiller gemacht?

Ich finde schon. Denn ich wusste sehr genau, was damals im Januar 2022 geschehen war – beziehungsweise was geschehen würde. Doch ich wollte es Ihnen nicht berichten, wollte es Ihnen nicht zumuten.

Und so sagte ich zu Ben, während wir weiter in Richtung der Licher Brauerei schlenderten: „Vielleicht klingt es in den Ohren meiner Leser wie eine billige Ausrede. Autoren sind tatsächlich niemals um Ausreden verlegen – ebenso wie unsere Politiker, Investoren, Kassen- und Privatärzte, Logistikmanager, Kapitalanlage-, Unternehmens- und Steuerberater und …“

„… willst du wirklich die Liste fortsetzen?“, unterbrach mich mein guter Kollege.

„Ist es dir nicht zumutbar?“, fragte ich ihn.

„Es ist echt unzumutbar! Ich fasse es nicht, einfach too much!“, rief er aus.

„Siehst du!“, sagte ich triumphierend. „Genauso wenig wollte ich damals die Leser emotional überfordern. Wir dürfen nicht nur heulen. Wir müssen auch verändern. Und dazu brauchen wir Kraft. Die Kraft der Tränen und des Lachens.“

„Schreibst du wieder über die vergangene Zukunft?“

„So, oder so ähnlich“, sagte ich und ließ Ben im Ungewissen. Wir mussten beide lachen.

Was wir zu diesem Zeitpunkt wahrlich nicht wussten: Im Januar 2022 verging uns das Lachen. Es verging uns gründlich.

Wer nicht fragt, bleibt dumm.

Die Mittagspause war zu Ende. Während wir in Richtung der Altstadt zurück zum Verlagsbüro spazierten, machte mich Ben darauf aufmerksam, dass ich die beteiligten Romanfiguren nicht zu kurz kommen lassen dürfe. Nicht wenige Leser würden vielleicht überhaupt nicht wissen, wer weshalb welche Rolle bislang in der Licher Geschichte gespielt habe – aus dem einfachen Grund, weil sie die Story über die Freie Republik gar nicht gelesen hatten. Selbst die, die die Story kannten, hätten gewiss schon wegen der vergangenen Zeitspanne nicht mehr alle Namen und Zusammenhänge parat.

„Findest Du eine Aufstellung der Personen und die Erläuterung wirklich sinnvoll?“, fragte ich ihn und verzog das Gesicht.

„Mir jedenfalls würde so etwas helfen“, meinte Ben. „Ich blättere gerne mal nach vorne, um mir die Namen der wichtigsten Protagonisten und die damit zusammenhängenden Funktionen im Romangeschehen wieder einmal vor Augen zu führen.“

„Na ja, wer diesen personellen Vorspann nicht lesen will, kann die Seiten ja einfach überblättern“, gestand ich Bens Vorschlag zu, hatte aber nicht gerade ein berauschendes Gefühl, die gesamte Vorgeschichte in personeller Hinsicht noch einmal zusammenfassen zu müssen.

„Du solltest ja nur das Herausstechende und für die neue Geschichte das Nötigste hervorkramen“, sagte Ben. Er sah mir wohl meinen missmutigen Gesichtsausdruck an und klopfte mir wieder einmal ermutigend auf die Schulter.

Am gleichen Abend setzte ich mich hin und tat wie mir empfohlen.

Die Sache selbst:

Hinter dem Rücken der Licher Bürger wurde von den Stadtvätern in stiefväterlicher Weise in einem atemberaubenden Schnellverfahren und mit bösen verwaltungstechnischen Tricks die Bebauung eines naturbelassenen, supergroßen Geländes durchgepaukt. Es handelte sich um den Baugrund »Langsdorfer Höhe«. Das Gelände hieß im Volksmund seitdem Wüstenberg – benannt nach dem Immobilienhai Dr. Werner Wüst, dessen Aktiengesellschaft laut eigenen Angaben steueroptimiert für Großanleger tätig ist. (Sie dürfen ruhig recherchieren!) »Steueroptimiert« soll in diesem Zusammenhang heißen: Es fällt kein Cent für die Kommune ab, der man das Gelände abgeknöpft hat.

Die Akteure in dieser hinterfotzigen Sache:

Dr. Werner Wüst, etwa Mitte Fünfzig, ein landesweit tätiger Investor. In diesem Fall ein Immobilienunternehmer und Baulöwe, dessen Geschäftsprinzip es ist, zu billigsten Konditionen bei den willigsten Bürgermeistern Land aufzukaufen, um es zu teuren Konditionen höchst profitbringend an die an Amazon angebundenen oder amazontypischen Logistik- und Verkaufszentren weiterzuvermieten. Es ist weitaus profitabler, auf dem flachen Land von flach regierten Landeiern Land abzukaufen, als nahe der Autobahnen das Dreifache investieren zu müssen – was den Gewinn entsprechend schmälert.

Sein Großmieter ist dieses Mal die MyClo-AG des Dr. Clowalla, mit dem Dr. Wüst partnerschaftlich verbunden ist und dem er einen Mietvertrag andreht, obwohl noch keine Baugenehmigung vorliegt.

Für seine windigen Geschäfte benötigt der wüste Unternehmer eine Handvoll hauptberuflicher politischer Amateure – eine Herde kleiner Wüstlinge, die ihm, dem großen Unternehmer, Respekt und Gehorsam zollen. Das bekommt ein Draufgänger wie Dr. Wüst am besten durch Drohungen, kombiniert mit Versprechungen und Gefälligkeiten hin. Wie sonst?

Aus Sicherheitsgründen trägt er eine schusssichere Weste unter seinem langweiligen Anzug. Zu seinem bärenstarken Beschützer und Sicherheitschef auf dem Wüstenberg hat er Hulk Hogan gemacht.

Seine gefolgstreue Herde besteht aus dem Bürgermeister Arturo Groß, Anfang fünfzig, Kontaktlinsen mit bestem Sichtkontakt zu Dr. Wüst. Der Sozialdemokrat Groß ist eitel und selbstherrlich, wechselt sicherheitshalber öfter seine Sekretärinnen und lächelt im Dienst äußerst selten, und wenn, dann verbissen. Er verspricht sich von dem Deal eigene Vorteile und gaukelt der Bevölkerung und seiner eigenen Partei vor, man würde den Bürgern, der Stadtkasse und der örtlichen Kaufkraft einen Gefallen tun. Er ist ein Spezialist in Versprechungen und Prognosen – wie fast alle Politiker … und wie Werner Wüst. Pech (für die Stadt), wenn nichts von alledem eintrifft – aber dann ist er schon über alle Berge und hockt auf einem noch höher vergüteten Posten.

Jetzt braucht Wüst noch eine Figur aus anderen verwandten Gefilden. Zum Beispiel von der CDU, eine Figur, die sein Vorhaben – wie sollte es anders sein – bravourös unterstützt. Gut, wenn es eine Frau ist. Möglichst eine, die in großen wirtschaftlichen Deals unerfahren ist. Seine Wahl fällt auf Ingrid Steegher, die Erste Stadträtin. Sie tut alles, um den Deal durchzuboxen und versteht es, rechtlich klare Linien zu einer rasanten Schlangenlinie umzubiegen. Sie ermöglicht einen Kaufvertragsabschluss zu einem viel zu frühen Zeitpunkt, im September 2018, ohne Legitimation durch den Magistrat. Die Bürger wissen in jenen Tagen noch nichts von jenem ominösen Kaufvertrag.

Verwaltungsrechtlich korrekt hätte es anders laufen müssen: Die Vertreter der Bürgerschaft, die Stadtverordneten, werden ordentlich, wahrheitsgemäß und umfänglich vom Investor und dem verhandlungsführenden Bürgermeister über das Großprojekt informiert. Aufgrund dessen beschließen sie eventuell, dass ein Kaufvertrag geschlossen werden soll. Daraufhin beauftragt der Magistrat den Bürgermeister mit der Vorbereitung eines solchen. Dieser legt anschließend einen städtebaulichen Vertrag vor, in dem die Bedingungen für den Investor festgelegt werden.

Und dann erst kommt der Bebauungsplan in die Fahrspur – und zwar gemäß den Festlegungen in den vorangegangenen Verträgen. Aber es ging wie Kraut und Rüben durcheinander. Gewollt? Oder aus mangelnder Erfahrung?

Es etabliert sich eine Bürgerinitiative gegen das unsolide Vorhaben. Die Vertreter der Bürgerinitiative legen gegen dieses Kraut-und-Rüben-Verfahren sofort Beschwerde bei der Landrätin ein. Sie stellt lapidar fest: „Das kann man nachträglich heilen.“ Ein verwaltungsrechtlicher Treppenwitz.

Unterdessen macht die Erste Stadträtin gemeinsame Sache mit ihrem treuen CDU-Parteisoldaten Detlef Hofbauer, der, weil die Partei es will, als strenger Einäugiger dem städtischen Bauausschuss vorsteht und Dr. Wüst (Die Wirtschaft! Die Wirtschaft!) zu Füßen liegt.

Nun müssen nur noch, gewissermaßen im Nachhinein, die Stadtverordneten „überzeugt“ werden. Man kann nicht alle mit Gefälligkeiten bedienen. Es würde herauskommen. Mit fingierten Angaben „überzeugen“ aber kann am besten und naturgemäß ein allseits anerkannter Stadtverordnetenvorsteher. Der Stadtverordneten-Boss heißt Klaus-Dieter Lügge, ein Parteigenosse des Arturo Groß.

Er ist äußerst erfindungsreich, wenn es um Ablenkungsmanöver geht, und er weiß seine entscheidende Stimme im entscheidenden Moment für das Wüst-Imperium einzusetzen. Als es um die Abstimmung über die Zulassung eines Bürgerentscheides geht, spricht er sich des Scheins halber vor der versammelten Bürgerschaft für einen Volksentscheid aus, verhindert ihn aber geschickt im selben Moment. Und er denkt, keiner merkt’s.

Die Sozialdemokraten sind in sich gespalten – einerseits die kritischen, noch an sozialen und ökologischen Werten orientierten, andererseits die karrieristischen Ja-Sager und Mitläufer inklusive der Karteileichen. Um sie alle auf Trab zu halten, gibt es einen lokalen Parteichef und Fraktionsvorsitzenden. Er heißt Jonas Cäsar, war in früherer Zeit unter der Landrätin Annika Tänzer beschäftigt, die noch eine besondere Rolle in diesem Spiel einnehmen sollte. Sein Job beim Landkreis unter Annika war es, in der Glaskugel zu lesen. Er bezeichnete sich als Demographie-Beauftragten. Und er war seit jeher ein enger Vertrauter des Arturo Groß. Beide einigen sich auf einen karrieristischen Deal.

Da Groß mit dem Durchpeitschen des Logistikmonsters bei den Bürgern verbrannt ist, tritt er auf Anraten von Dr. Wüst nicht mehr für eine dritte Wahlperiode an. Im Gegenzug bekommt er einen neuen hochbezahlten Vorstands-Job in einer gemeinnützigen Einrichtung in einem abgelegenen Residenzstädtchen, abseits von Lich. Er übergibt den Stab an Cäsar, der so tut, als habe er mit allem nichts zu tun. Hat er aber.

Cäsar tritt zur Wahl an; ebenso wie ein CDU-Mann, Herbert Will, der so tut, als sei er gegen das ungeliebte Logistikzentrum. Ein Mitbewerber aus dem Kreis der kritischen Widersacher landet dadurch nur auf Platz drei. Es kommt somit lediglich zu einer Stichwahl zwischen Cäsar und Will, der aber kurz vor der Wahl nicht mehr so recht will. Besser gesagt: Er wird von seiner Partei urplötzlich aus dem Rennen genommen. Im Prinzip bleibt ein einziger Bewerber auf dem Wahlzettel übrig: Jonas Cäsar. Ein perfekter Coup, ein Deal zwischen Sozial- und Christdemokraten, ganz im Sinne der Wüst’chen Interessen. Cäsar ist nun der neue, etwas jovialere Groß, scheinbar unverbraucht, nicht verstrickt in Machenschaften – so scheint es.

Dann gibt es – wie immer in solchen Fällen – ein kleines, aber fleißiges Duo an ergebenen Leserbriefschreibern. Es sind der über achtzigjährige Gerald Alt und sein zehn Jahre jüngerer Freund Peter Hartbusch-Niebergall. Sie sind die ehrenamtliche Propaganda-Abteilung von Wüst & Co.

Die wichtigste Rolle bei einem so gewaltigen Bauvorhaben jedoch spielt die Bauaufsicht.

Die Bauaufsicht.

Das zuständige Organ der gründlichsten aller Prüfungen!

Die Bau-Aufsicht!

Der zuständige Chef heißt Rüdiger Halbersach, ein Beamter, der keine halben Sachen macht.

Die Bauaufsicht hat einen natürlichen Feind – das Amt für Umwelt und Naturschutz.

Aber Rüdiger hat eine altbewährte Freundin aus alten Arbeitsverhältnissen in der Landkreisverwaltung. Es ist die besagte Landrätin Annika Tänzer, und sie ist jetzt die Chefin beider Behörden. Flugs unterstellt sie der Einfachheit und der Beschleunigung halber die Naturschutz­behörde der Bauaufsicht. Jetzt ist der Bock der Gärtner und der Garten kann im Wüst‘chen Sinne beackert – oder eben verwüstet – werden.

Wäre nur noch zu klären, welcher Art Verbindung zwischen der Landrätin und dem Wüst-Imperium bestehen könnte. Doch greifen wir der neuen Geschichte nicht vor.

Nun noch schnell zu all den anderen:

Daniela Demuth, erst die absolut treue, dann die gefeuerte Sekretärin von Arturo Groß. Gefeuert und ersetzt von der nächsten, die auch bald gefeuert wird, damit kein Insiderwissen über die geheimen Absprachen nach außen dringt. Aber Arturo unterschätzte Wikileaks. Später arbeitete Daniela Demuth für die Regierung der Freien Republik.

Arnold Aurora, der in jenem Jahr noch lebte und voller Tatendrang und humanistischer Ideen glühte. Ich hatte ihn auf einer Demo kennen gelernt. Damals, 2019, war er 27 Jahre alt gewesen. Er hatte dort eine feurige Rede gehalten, die es in sich hatte. Zwei Jahre später wurde er Präsident unseres neuen Gemeinwesens und rief am 9. April 2023 vom Balkon unseres historischen Rathauses aus die Freie Republik Lich aus.

Nur fünf Monate später, am 11. September 2023, wurde er von einem Scharfschützen des Wüst-Imperiums erschossen, als er zu Verhandlungen am Tor des Logistikzentrums erschienen war und mit seiner weißen Friedensfahne wedelte. Er war zu gutgläubig gewesen.

Arnolds etwas jüngere Schwester, die nur unter dem Familienname AURORA als Sängerin bekannt ist, ließ beim Staatsakt für unseren ermordeten Präsidenten ihre wunderschöne Stimme erklingen – mit »Runaway« verabschiedeten wir uns von jenem jungen charismatischen Mann, der uns enorm fortschrittliche Impulse mit auf den Weg gegeben hatte. Wir heulten wie die Schlosshunde.

Wer noch eine Rolle spielte: Stella, meine warmherzige Freundin mit den schönen Augen, Optikerin von Beruf, Anfang vierzig.

Vanessa, ihre fünf Jahre jüngere Arbeitskollegin.

Stellas Nachbarin Jenny und ihr Hund Charly, der kleine Havanese, der, wenn er sein Frauchen ausführt und mit ihr am Wüstenberg Gassi geht, immer das grau-blaue Monster anbellt.

Unsere Nachbarin Lilli mit ihrem Sohn Felix und unser Nachbar Bernardo mit seinem Sohn Jonas, einem Freund von Felix.

Jupp Maier, Rechtsanwalt, er hat seine Kanzlei bei Stella um die Ecke, auch hatte er früher mal Krach mit mir, besserte sich aber und wurde später unser Justizminister in der Freien Republik.

Ludwig Henrich, parteiunabhängig, 82 Jahre alt, jung im Kopf, gewiefter Taktiker und kluger Stratege. Nach der Ermordung von Arnold Aurora wurde er als dessen Nachfolger in das Amt des Präsidenten gewählt.

Udo Müller, erst als Abgeordneter der Freien Wähler im Stadtparlament, dann tritt er aus, weil ihm der Zoff um das Monsterprojekt geschäftlich in die Quere kommt. Er ist ein perfekter Lebensmittel-Logistiker und betreibt den RUWE-Markt. Ohne ihn wären wir im damaligen Niemandsland aufgeschmissen gewesen. Seine Frau Petra leitet im RUWE die Poststelle. Beide sind in unserer Republik zwei Jahre später in wichtigen Funktionen tätig.

Und natürlich all die anderen Personen, zumeist Mitstreiter der Bürgerinitiative gegen das Logistikmonster. Sie gründeten die BFL und nannten sich fortan »Bürger für Lich«:

Edith Neuer-Süß, die den wüsten Leserbrief-Schreibern Alt & Hartmut-Niebergall gekonnt konterte. Sie war von der ersten Proteststunde an dabei, ebenso wie ihr Mann, Bernd Neuer. Er war der BFL-Initiator und spätere Fraktionsvorsitzende. Er übernahm zu Zeiten unserer Republik keinen Regierungsposten, da seine Frau zur Premierministerin gewählt worden war. Vetternwirtschaft drohe. Das wolle er nicht, sagte er.

Lothar Balser, der BFL-Vorsitzende, Anfang sechzig, ein umgänglicher Mensch, er grillt gerne.

Die Tierärztin Claudia zu Solms-Arnsburg, unmittelbare Nachbarin am Wüstenberg, hartnäckig gegen die Entwertung ihres Grundstücks kämpfend. 2023 wurde sie die resolute Verteidigungsministerin unserer Freien Republik.

Dr. Herbert Schmittmann aus der Hungener Straße, ein weiterer Tierarzt und Kollege von Claudia zu Solms-Arnsburg. Für ihn haben ökologische Gesichtspunkte Vorrang vor der Profitsucht.

Michael Beilert, Politaktivist der BFL und Inhaber eines Computerladens in der Oberstadt.

Marietta und Heiner Koschka, die treffende Leserbriefe schreiben können, in denen sie die sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Probleme verständlich auf den Punkt bringen.

Professor Dr. Ralf Naumann aus Villingen, der unser Gesundheitsminister wurde.

Michael Sieps von den Grünen, Stadtrat, und ehrlicher Kämpfer für ökologische Belange.

Und nicht zu vergessen: mein Freund Benjamin Carl, früherer Vermessungsingenieur, der jetzt wie ich im gleichen Verlag arbeitete. Er engagiert sich auch im Kirchenvorstand der evangelischen Gemeinde.

Dann all jene, die einfach nur ihren Job machten:

Frau Peppler, die alte Grundschullehrerin.

Frau Fremdel, die manchmal auf die Nachbarkinder aufpasst, wenn die Eltern Überstunden machen müssen.

Carlo Mannschmitt, Mittfünfziger, Stellas Vermieter und passionierter Jäger, der ganz Lich mit Proteinen versorgte, als die Grenzen rund um uns dicht gemacht wurden. Sein neunzehnjähriger Sohn Michel, der eine Koch-Ausbildung im Landhaus Arnsburg absolvierte und Lebensmittel über die Grenze schmuggelte.

Alice Knauer, zu erkennen an ihrem selbstgestrickten giftgrünen Hosenanzug, betrieb ein merkwürdiges Trödellädchen und glaubte an seltsame Dinge – bis zu ihrem unerwarteten Ableben.

Dieter Strähle, Lagerarbeiter bei RUWE.

Es fehlen nur noch einige Medienvertreter und der Club der Unbelehrbaren. Aber das ist jetzt halb so wichtig.Ich merke, Sie werden ungeduldig. Es wird Zeit …

Endlich.

Die Geschichte beginnt.

Und denken Sie bitte daran:

Die Geschichte zählt.

Und nicht der Erzähler.

Letzter Warnhinweis:

Lesen gefährdet die Dummheit!

Schicksalstage

Ein Schneemann im Sommer

Als erstes fiel mir im Juni 2021 – knapp acht Monate vor dem schrecklichen Januar-Ereignis des Jahres 2022 – jener Schneemann aus Holz auf. Felix hatte ihn zusammen mit seinem Freund Jonas gezimmert. Bernardo, der Vater von Jonas, handwerklich immer am Werkeln, hatte ihnen das Holz beschafft, hatte ihnen Bau-Tipps gegeben, und Lilli, die alleinerziehende Mutter von Felix, hatte schließlich die weiße Farbe besorgt.

Warum sie mitten im Sommer einen Schneemann bauten, hatte ich die beiden sechs- und achtjährigen Jungs gefragt. Der ältere hatte geantwortet: „Schau dich mal um, Stefan! Weil es sowieso kein richtiger Sommer ist!“

Ich hatte mich umgeschaut. Der Himmel war grau und hing voller Regen, der bald niederprasseln würde.

„Und weil wir nicht wollen, dass Schneemänner immer sterben müssen“, hatte Felix ergänzt.

Und weil es im kommenden Winter heftig schneien und stürmen wird und solch ein Holzschneemann vielleicht das Extremwetter überstehen könnte, hätte ich fast hinzugefügt. Aber solche idiotischen Prophezeiungen offenbart man nicht kleinen Jungs, eher seiner Liebsten. Aber Stella, die uns, oben vom Balkon aus, zwar sehen, aber nicht verstehen konnte, hatte keinen Sinn für solch abstrusen Humor. Deshalb blieben meine Gedanken bei mir. Und bei Frau Knauer – doch dazu komme ich gleich.

Schneemänner sollen nicht immer sterben!, wiederholte ich in Gedanken die Worte von Felix. Doch der darauf folgende Gedanke knüpfte urplötzlich an einen alten Nachkriegsfilm aus dem Jahr 1959 an: »Hunde, wollt ihr ewig leben«. Der Titel war eine Anspielung auf ein Zitat von Friedrich dem Großen, der seinen fliehenden Soldaten im Zorn zugerufen hatte: „Ihr verfluchten Racker, wollt ihr denn ewig leben?“ (Kriegsherren – heutzutage auch kriegerische Frauen, die keineswegs unschickliche Kriege führen, sondern nur »Verantwortung übernehmen« – kalkulieren seit jeher fest mit dem Todes- und Opferwillen ihrer soldatischen Knechtinnen und Knechte, oder wenn sie es unbedingt in Genderdeutsch haben möchten: Mägdinnen und Mägder.)

Okay, lassen wir das. Sprachverhunzung ist das eine, und Vergangenheit ist Vergangenheit. Aber dieser Holzschneemann hier – das war für mich Zukunft. Alleine deshalb, weil die beiden Jungs ihn gebaut hatten.

Der Schneemann stand bei uns hinten auf dem großen Privatparkplatz (Nur für Mieter, ansonsten werden Sie abgeschleppt! Abgeschleppt!). Nun ja, auch im nahegelegenen Café wurde gelegentlich abgeschleppt – allerdings in gegenseitigem Einverständnis. Felix und Jonas hatten den weißgetünchten Holzschneemann unweit des Wiener Cafés aufgestellt, wobei er den vorübergehenden Cafébesuchern als Wegweiser diente. Die Kids hatten ihm in die linke Holzhand ein Stück Torte (von der Schichtung her musste es Schwarzwälder-Kirsch sein) und in die rechte eine Eiswaffel gesteckt. Ein kindliches Tribut an die Eisdiele vor unserem Wohnhaus und an das Süßmaul-Café hinter dem Parkplatz.

„Ihr solltet euer Werbegeschenk beim Café und bei der Eisdiele bekannt machen, vielleicht gibt es dafür ein kleines Dankeschön“, sagte ich.

„Das haben wir schon bekommen.“ Felix lachte schelmisch.

„Wir waren beide zuerst im Café, wo wir uns beide ein Stück Kuchen aussuchen durften“, sagte Jonas.

„Und am nächsten Tag waren wir in der Eisdiele. Da konnten wir uns zwei Kugeln Eis aussuchen. Ich habe Erdbeer- und Schokoladeneis genommen. Und Jonas suchte sich Himbeere und Maracuja aus“, sprudelte es aus Felix hervor. Wenn der Sechsjährige sprach, überschlug sich manchmal seine Stimme, denn er war bei seinen spielerischen Aktionen immer ein Vollblutakteur. Der zwei Jahre ältere Jonas war etwas zurückhaltender, und so ergänzte sich das Gespann sehr gut.

Lilli kam hinzu und auch Stella kam von oben herunter, um mit mir in das Krimskrams-Lädchen von Alice Knauer zu gehen. Sie wollte sich ein Astrologie-Buch aus der vorvorigen Jahrhundertwende 1800/1900 besorgen. Frau Knauer hatte ihr das in Schweinsleder eingebundene, abgegriffene Exemplar irgendwann einmal empfohlen, als sie über die „Evidenz von Sternzeichen“ schwadroniert hatten. Evidenz von Sternzeichen – Alice Knauers Ausdrucksweise passte sich der akademischem Ausstrahlung ihrer Kauf-Opfer an. Stella war Optikerin.

„Wenn ihr nichts dagegen habt, begleiten wir euch. »Alice und ihr Wunderland« ist für die Jungs fast wie das Horrorhouse im Disney Park“, sagte Lilli und sah uns erwartungsvoll an. Natürlich hatten wir nichts dagegen. Wir gingen gemeinsam zu Frau Knauers geheimnisvollem Lädchen. Die Jungs freuten sich höllisch. Sie hatten in den letzten Monaten bei jedem Vorübergehen ihre Nasen an der Schaufensterfront plattgedrückt. Jetzt durften sie seit langem wieder einmal hinein.

„Lockdown ist fertig“, wie Felix es ausdrückte.

Frau Knauer hatte ihr Geschäft monatelang wegen Corona geschlossen gehabt. Das Gewerbeamt hatte dafür gesorgt, weil sie ihr abgestandenes Heilwasser auch als antivirale Medizin angeboten hatte. Corona – Sie wissen schon, ein Geschäft, immer ein Verkaufsschlager, irgendwie, von Bezos und Gates über CDU/CSU-Volksvertreter bis eben hin zu Frau Knauer. Und irgendjemand hatte das Gesundheitsamt informiert, das jedoch überfordert war und der Einfachheit halber die Gewerbeaufsicht alarmierte.

„Und die finden immer einen Grund“, hatte Stella gemeint. Ich glaubte damals, dass Stella gelegentlich mit dem Heilwasser und dessen angeblicher Wirkung liebäugelte. Nur ich stand wohl zwischen dem Wasser und ihr. Frau Knauer hätte es ihr wahrscheinlich für viel Geld längst angedreht. Ich bin noch heute der Überzeugung, dass Stella sich hätte überreden lassen, wenn Alice Knauer behauptet hätte, das Heilwasser ersetze die Impfung. Doch bevor ich darüber weiter sinniere, und Sie und mich vielleicht in die Verlegenheit bringe, über Sinn und Zweck der Corona-Impfung zu spekulieren, breche ich die Gedanken, die damals die Welt bewegten, ab.

Frau Knauers offiziell als »Antiquitätengeschäft« ausgewiesener Laden hieß nur „Das Lädchen“. Die Frau war stadtbekannt und komisch. Sie betrieb den vergammelt anmutenden Laden in einer der kleinen versteckten Gassen in der Altstadt. Hier verkaufte sie allerlei kuriose Antiquitäten, ausgestopfte Tiere, selbstgebrauten Wein aus Brennnesseln, versetzt mit angeblichem Propolis, Gläser mit eingelegten Insekten, Knollen und Blättern sowie das erwähnte abgestandene Wasser als Heilmittel.

Man munkelte, sie sei einmal dabei ertappt worden, wie sie mit einem Marmeladenglas einfach das Weihwasser aus dem Weihbecken der katholischen Kirche geschöpft habe. Ungeachtet dessen war ihr großes Vorbild Alice Schwarzer, der sie wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah.

Viele Licher behaupteten, diese antiquierte Dame mit ihrem selbstgestrickten giftgrünen Hosenanzug habe sich den Vornamen selbst verpasst, einfach nur aus Bewunderung für ihre feministische Favoritin. Tatsächlich, so wurde weiter gemunkelt, heiße Frau Knauer eigentlich Cäcilie mit Vornamen und benehme sich aber so, als sei sie die Zwillingsschwester von Schwarzer. Ich hatte keine Ahnung, ich konnte und wollte mich dazu nicht äußern, mich interessierte es erstmal nicht. Aber Tatsache war, dass sie wie Alice Schwarzer aussah.

Erst neulich war sie mir in der Hintergasse begegnet und ich hatte sie etwas murmeln hören, hatte sie wohl verwundert angeschaut und sie war stehen geblieben. „Ja, da wundern Sie sich. Es wird uns alle treffen. Der Schnee wird uns erdrücken! Der Wintersturm fegt uns alle hinweg! Hinweg!“

Puh, das also war meine Information, als ich den Holzschneemann gesehen und mir die idiotische Vorhersage dieser Prophezeiungsextremistin ungewollt ins Bewusstsein gerutscht war.

Nun also betraten wir das Lädchen, hinter dessen Tante-Emma-Theke die Inhaberin stand, ihre Arme sehnlichst nach uns ausgestreckt, behangen mit mehreren bunten Ketten, bekleidet mit dem für sie typischen giftgrünen Hosenanzug. Vermutlich besaß sie ihn gleich in mehrfacher Ausfertigung. Die beiden Jungs schwärmten sofort aus in die hintere Kammer zu den ausgestopften Tieren.

*

Ich denke, Sie alle, verehrte Leserinnen und Leser, kennen den südlich von unserem schönen Lich gelegenen Inheidener Badesee. Der Ort selbst ist durchaus ein unspektakuläres Dorf ohne besondere Vorkommnisse – das kann man gut oder schlecht finden. Doch eine außergewöhnliche Sache, die sich im Umfeld dieses unscheinbaren Örtchens ereignete, sorgt in einschlägigen Kreisen noch heute für Gesprächsstoff. Hierzu ist anzumerken, dass die Angelegenheit nie durch die Presse oder durch andere Medien gegangen war – allein dies ist ein Vorgang, der mich damals stutzig machte. Aber Stopp – ein einziges Presseorgan hatte doch etwas darüber geschrieben. Meiner Erinnerung nach war es die BILD.

Es ist die Geschichte von vier jungen Leuten, die im neuen Logistikzentrum arbeiteten.

Am Rande des Licher Industriegebiets, auf der Langsdorfer Höhe, waren im Sommer 2021 noch nicht allzu viele Mitarbeiter des Logistikzentrums beschäftigt. Der Hauptbetrieb sollte sich noch bis ins kommende Jahr hinein auf dem bisherigen Standort in Kassel abspielen. Erst in einem monatelangen, fließenden Übergang würde das Licher Großzentrum mit Leben und somit mit unvermeidbaren Turbulenzen erfüllt werden.

Sven und Dirk waren Freunde. Dirk war mit seinen fünfundzwanzig Jahren als Disponent bei MyClo eingestellt, nachdem ihm das Medizinstudium eine zu hohe Messlatte gesetzt und er es nach drei Semestern abgebrochen hatte. Im Konzern oblag ihm nun die Zuteilung von Ressourcen und Waren, die Einteilung der Lagermitarbeiter, studentischen Aushilfen und Staplerfahrer.

Seine Freundin Tanja war zwei Jahre jünger und arbeitete in der Buchhaltung – ebenso wie ihre gleichaltrige Freundin Nicole, die seit ihren gemeinsamen Kasseler Tagen Svens feste Freundin war. Alle vier hatten sich gemeinsam von MyClo-Kassel nach MyClo-Lich wegbeworben. Sie wollten hier die Ersten sein. Beim Neuaufbau an vorderster Front dabei sein – für einen zehnprozentigen Gehaltsaufschlag. Es hatte geklappt.

Der siebenundzwanzigjährige Sven war als einer der jüngsten Logistikmanager bei MyClo angestellt. Andere Disponenten, Fahrer, Sachbearbeiter, Lagermitarbeiter, Staplerfahrer, Buchhalter, Qualitätsbeauftragte, Werkstattleiter und weitere Mitarbeiter würden nach und nach aus Kassel dazu kommen. Keine Massenwanderung, nein, aber ein paar unvermeidliche Fachkräfte und ein kleines Heer von einhundert Handlangern auf Niedriglohnbasis. Noch herrschte kein Vollbetrieb, und so wunderte sich Sven, als er beim Einkauf im RUWE-Markt die Leute schimpfen hörte, dass LKW-Staus das Stadtbild rund um Lich beherrschten und die Luft verpesteten.

Ja, gut, es stimmte teilweise – da hatte es in den letzten Wochen vermehrt Staus gegeben; lange Schlangen von umgeleiteten Lastwagenkolonnen waren zu sehen gewesen. Aber das war nicht ihnen, sondern den Unfällen und Baustellen auf der A 5 geschuldet. Vielleicht lag es auch an irgendwelchen anderen Logistikstätten in Mittelhessen, doch Sven wusste genau, dass sein Licher Arbeitsplatz mit keinem einzigen Stau weltweit in Verbindung zu bringen war. Jedenfalls nicht im Moment. Sven war empört.

„Das hat nicht im geringsten mit unserem Logistikzentrum zu tun“, hatte Sven einer Kundin beim Anstehen an der Kasse erklärt. „Ich muss es wissen, ich arbeite da!“ Aber sie hatte ihm nicht geglaubt.

Sven und Nicole hatten oben auf Lichs Anhöhe, nahe der Asklepios-Klinik, ein Appartement angemietet, direkt neben dem von Dirk und Tanja. An jenem Abend saßen sie zusammen und Sven berichtete, was er gerade im RUWE-Markt erlebt hatte.

„Ich kann den Schwachsinn nicht mehr hören“, erregte sich Dirk. „Umweltzerstörung, Naturkatastrophen – alles soll menschengemacht sein? Und für alles sind natürlich wir verantwortlich, die Logistikbranche. Dabei gab es doch schon immer Klimakatastrophen, Stürme, Hochwasser, Dürren. Die Umwelt steht sich einfach oft selbst im Weg. Die Natur spielt von Natur aus verrückt! Ja, wollen denn die Technikfeinde und Öko-Nörgler allein von Luft und Liebe leben – oder brauchen die nicht auch etwas zwischen die Zähne?“

„Reg dich ab, Kumpel“, sagte Sven. „Wir müssen diese Freaks nicht ernst nehmen. Lasst uns den Sommer genießen, so lange er noch warm ist.“ Sven musste über seinen Scherz lachen. Denn von »warm« konnte wahrlich keine Rede sein.

„Ich würde jetzt so gerne mal schwimmen gehen“, sagte Nicole. „Picknick an einem schönen Badesee – aber das Wetter …“

„Das Wetter muss mitspielen“, wandte Tanja ein, und Nicole nickte zustimmend.

In diesem Moment musste sie an Dr. Wüsts Worte denken: „Sie müssen mitspielen!“ Er hatte es mit absoluter Bestimmtheit in der Stimme gesagt. Tanja und ihr war nicht entgangen, dass da dieser unbekannte Mann – er hieß Arturo Groß – anhand eines merkwürdig dünnen Beratervertrags ein merkwürdig hohes monatliches Beraterhonorar kassierte.

Sie schob den Gedanken beiseite. Zu oft hatte sie sich mit ihrer Freundin über diese Personalie unterhalten und was wohl passieren würde, wenn die Sache bei einer Betriebsprüfung vom Finanzamt unter die Lupe genommen würde. Wären sie persönlich vielleicht für solche krummen Dinger haftbar zu machen? Sie hatten sich vorgenommen, die Angelegenheit in der Grabeskammer ihres Kurzzeitgedächtnisses verschwinden zu lassen. Sie waren schließlich nur Buchhalterinnen.

„Ich habe letzte Woche den Inheidener See erkundet; bin eine Runde mit dem Motorrad unterwegs gewesen“, informierte Dirk die Freundesrunde. „Herrlich zum Schwimmen und mehr … da gibt es ein geiles Floß …“ Er lachte vielversprechend. Und alle freuten sich mit ihm.

„Dann also bis zum ersten schönen Sommertag!“, meinte Nicole. „Und jetzt könnten wir zur Abwechslung mal Monopoly spielen.“

Die erste und bis dahin einzige echte Sommerwoche begann am Sonntag, dem 13. Juni und endete pünktlich nach sieben Tagen. Am Dienstag, dem 15. Juni, entschlossen sich die vier Freunde recht spät zu einem Badeausflug. Es waren nur dreizehn Kilometer von Lich bis zum Inheidener See, und weil die Dämmerung im Sommer naturgemäß spät hereinbricht, gab es noch einen guten Rest Tageslicht am Himmel, als sie am See ankamen. Sie waren in Svens Golf gefahren. Sven fuhr schon nüchtern recht schnell. Wenn er getrunken hatte, raste er, als wenn ihm der Teufel im Nacken säße. Und er hatte getrunken.

Er bugsierte den Wagen an den Schlagbaum, der die unberechtigten Fahrer davon abhielt, das Seeufer mit ihren PKW zuzuparken. Sven hatte sich in den vergangenen Tagen über den Segelclub eine Berechtigungskarte besorgt, die er in den Schlitz einschob und die ihnen nun den Weg freimachte. Um diese Zeit war niemand mehr am See, und Sven brauste mit aufgeblendetem Licht den kleinen Asphaltweg entlang, als sei er auf dem Nürburgring.

Kurz hinter dem Segelclub und »Sonjas Wurstbude« fuhr er den Wagen knapp bis an den Uferbereich und sprang hinaus, noch ehe das Gefährt völlig zum Stillstand gekommen war. Ungeduldig streifte er sich das Hemd über den Kopf und trat an den Zaun, um nach dem Floß Ausschau zu halten, das sich irgendwo auf dem See befinden musste. Inzwischen war auch Dirk etwas zögernd ausgestiegen.

Die Fahrt hierher war Dirks Idee gewesen, gewiss; allerdings hatte er nicht erwartet, dass Sven ihn beim Wort nehmen würde. Nun ja, jetzt waren sie hier. Die beiden Mädchen auf dem Rücksitz machten sich zum Aussteigen bereit.

Sven ließ seinen Blick über das Wasser schweifen, von links nach rechts, von rechts nach links. Er hat die Augen eines Scharfschützen, dachte Dirk, und der Gedanke war ihm irgendwie unangenehm.

Schließlich hatte Sven gefunden, was er suchte. „Da ist es!“, schrie er und ließ die Hand auf die Motorhaube des Golf nieder sausen. „Genau wie du gesagt hast, Dirk!“ Er lief auf den Zaun zu und schrie: „Wer als Letzter im Wasser ist, ist ein Feigling!“

„Sven…“ Dirk wollte noch etwas sagen, aber Sven hatte sich bereits über den Zaun des Segelclubs geschwungen und lief am Ufer entlang, ohne sich nach Dirk oder Tanja oder Nicole umzusehen. Er hatte nur noch Augen für das Floß, das in einer Entfernung von etwa fünfzig Metern im See verankert war.

Dirk warf einen Blick hinter sich, wo die Mädchen saßen. Er hatte das Bedürfnis, sich bei den beiden zu entschuldigen, weil er sie in so etwas reingezogen hatte. Aber die Mädchen sahen Sven nach, sie kümmerten sich gar nicht um ihn. Dass Nicole seinem Freund Sven hinterherblickte, war ganz in Ordnung, Nicole war schließlich Svens Mädchen, aber auch Tanja sah Sven nach, und Dirk verspürte so etwas wie einen Stich.

Eifersucht.

Er schälte sich aus seinem T-Shirt, legte es neben Svens Hemd und sprang über den Zaun.

„Dirk!“, rief Tanja, aber Dirk hob nur den Arm und machte eine Bewegung im Zwielicht des Sommerabends. Komm‘ schon, sollte das heißen, und Dirk hasste sich ein bisschen für die ungelenke Art, in der er es tat. Tanja war jetzt unschlüssig, ob sie das Ganze nicht abblasen sollte. Die Vorstellung, an einem späten Sommerabend in einem einsamen See herumzuschwimmen, passte so gar nicht in ihren Plan. Eigentlich wollte sie mit Dirk und Sven einen unterhaltsamen Abend in einem der Apartments nahe des Asklepios-Hügels verbringen, das die beiden Pärchen gemietet hatten. Dirk mochte sie, das war ihr klar, aber Sven war stärker als Dirk. Sie war scharf auf Sven. Es war ein verdammt irritierendes Gefühl.

Sven hatte im Laufen seine Jeans geöffnet, und irgendwie schaffte er es weiter zu rennen, während er die Hose über die schlanken Hüften streifte; es war ein Gag, den Dirk nie hinkriegen würde, und wenn er tausend Jahre übte. Sven rannte weiter, er trug jetzt nur noch seine knapp geschnittene Unterhose, das Spiel der Muskeln auf seinem Rücken und auf seinem Gesäß war zu sehen. Dirk kam sich klein und hässlich vor, als er seine Levis gleiten ließ. Was Sven vorführte, war Ballett; was er machte, waren komische Verrenkungen.

Sven sprang ins Wasser. „Kalt!“, prustete er. „Jungfrau Maria, ist das kalt!“

*

Frau Knauer sprach weniger zu mir, als zu den beiden Frauen: „Erst war es der schwarze Frühling und jetzt ist es der kalte Sommer! Und dann kommt das Eis und der Sturm! Sie sollten sich darauf vorbereiten, meine Damen.“

„Und was wird aus meiner Wenigkeit, wenn ich bescheiden fragen darf?“ Ich wollte einfach nur wissen, wie sie auf die Männerwelt zu sprechen war.

„Ihnen biete ich meinen Kräuterlikör an. Zwei Flaschen reichen über die Sturmperiode hinweg“, sagte sie mit fletschenden Zähnen, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Dann wandte sie sich Stella zu und blätterte das Astrologie-Buch auf. Lilli schaute mit hinein, und obwohl mich solche antiken Bücher außerordentlich interessieren, wollte ich mich nicht aufdrängen. Außerdem rechnete ich damit, dass Stella das Buch sowieso kaufen würde. Also ging ich nach hinten zu den beiden Jungs.

Ich kam an einer Wand vorbei, die mit den unterschiedlichsten Bildern vollgepflastert war. Und dann sah ich das Bild, das auf dem Boden stand, angelehnt an ein Bügelbrett. Ich ging auf die Knie, und mir blieb die Luft weg. Es war ein Aquarell und in technischer Hinsicht sehr professionell gefertigt. Aber das war mir eigentlich egal. Technik interessierte mich nicht – eine Tatsache, die die Rezensenten meiner Bücher gebührend vermerkt hatten. Was mir an Kunstwerken allein zusagte, war der Inhalt. Und je beunruhigender er war, umso besser. Gegensätze, Widersprüche und scheinbar Unerklärbares zogen mich an. Auf dieser Skala lag das Bild weit oben.

Ich kniete zwischen zwei Wäschekörben, die mit einem für Knauers Lädchen typischen Wirrwarr an kleinen Gerätschaften gefüllt waren. Ich fuhr mit den Fingern über die Verglasung und warf einen kurzen Blick in die Runde, ob noch andere faszinierende Bilder mit gleicher Ausstrahlungskraft herumstanden oder an der Wand hingen. Ich konnte kein weiteres entdecken – nur die für Flohmärkte übliche Ansammlung von Kunstgegenständen: altgriechisch anmutende Gipsfiguren aus irgendeiner vergangenen Massenproduktion, Clownsfiguren mit tränenden Augen, Marionetten-Hexen auf Besenstielen reitend und in Gips gegossene Engelköpfe mit abblätternder Goldfarbe.

Ich betrachtete wieder das gerahmte Aquarell und malte mir in Gedanken schon aus, wie ich Stella überreden konnte, das Bild gleich mitzunehmen und bei uns im Flur aufzuhängen.

Es zeigte eine schneebedeckte Straße vor unserer historischen Stadtkirche. Die Bäume auf dem Kirchplatz seitlich der kleinen aber feinen Bäckerei Böhm waren mit einer dicken Schneeschicht überzogen. Die weißbeladenen Äste hingen weit herunter. Der Himmel über der Kirche und dem benachbarten Stadtturm bestand aus einer Bluterguss-farbenen Masse verschiedener Grün- und Blautöne. Und dann fiel, so schien es mir, Schnee vom Himmel. Ich richtete mich auf und trat einen Schritt zurück. Erst waren es kleine harmlose Flocken, dann aber wurde es ein Schneetreiben und ich sah nichts mehr, hörte nur noch ein Rauschen in meinen Ohren, als würde es stürmen, und dann rief einer der Jungs – ich glaube, es war Felix – nach mir.

„Stefan komm mal her. Wie gruselig …“

Die Jungs standen staunend vor einem ausgestopften Wolf, der sein Maul aufriss und seine Reißzähne zeigte. Dazwischen hing eine ausgestopfte Ratte. Ein Verdacht kroch in mir hoch. „Habt ihr die Ratte dem Wolf ins Maul gesteckt?“, fragte ich und schaute von Felix zu Jonas. Beide kicherten und mein Verdacht bestätigte sich. Einem Fuchs hatten sie den Kopf einer alten Porzellanpuppe – ich glaube, es war sogar eine recht wertvolle Käthe-Kruse-Puppe – zwischen die Zähne geklemmt.

Einem alten Besteckkasten hatten die zwei Lausebengel mehrere Kochlöffel entnommen und sie an ein Zwölfender-Geweih gehängt. In die aufklappbare Puppenstube aus den 1950er-Jahren hatten sie eine verrostete Mausefalle gestellt, die sie unter einem Beistelltisch gefunden hatten. Jungs in diesem Alter neigen zu solchen Streichen in diesen Geschäften, wenn man sie einen Moment aus den Augen lässt.

In einem weiteren Verkaufsraum hatte Frau Knauer einen übergroßen Tisch mit einer Märklin-Eisenbahnanlage aufgebaut. Felix, Jonas und ich standen davor und staunten über die vielen lebensecht gestalteten Miniaturdinge. Auf der Platte waren die Sachen jahreszeitlich arrangiert und reichten vom Frühling über Sommer und Herbst bis zum Winter. Da war ein Berg mit einer Seilbahn, in dessen Sesselliften Skifahrer saßen, zwei Skifahrer hingen absturzgefährdet und hilflos am Sessel in schwindliger Höhe über einem Wald, dessen Tannenbäume wie Stacheln eines Fakir-Brettes den Skifahrern entgegen ragten.

Und dann sah ich im Bereich des sommerlichen Arrangements jener Miniaturanlage einen kleinen Ort, eingeklemmt in einer Schlucht, überflutet von Hochwasser, rundum zerstörte Häuschen, gepflastert mit umgestürzten Bäumen, im Wasser stehenden Lastwagen, Bussen und umhergewirbelten Autos. Menschen lagen herum – auf den Straßen, zwischen den zerstörten Häusern. Sie trieben dahin in einem überschäumenden Fluss. Dann fiel mein Blick woanders hin. Etwas davor, vielleicht ein winziger Zeitabschnitt zuvor, etwa im Frühsommer, erkannte ich plötzlich den romantisch daliegenden, dunkelblauen Badesee mit dem Floß, auf dem ein junger Schwimmer in Badehose stand, während vor ihm auf dem Wasser drei Personen in Bauchposition schwammen, scheinbar tot.

*

Dirk zögerte, aber nur in Gedanken, und in Gedanken dauerte es bei ihm sowieso immer ziemlich lange. Das Wasser hat vielleicht sechzehn Grad. Höchstens achtzehn, dachte er. Immerhin war ein wenig vom abgebrochenen Medizinstudium hängen geblieben. Er kannte sich aus, man konnte bei so etwas wirklich einen Herzschlag bekommen. Aber wie gesagt, er zögerte nur in Gedanken, in der physischen Welt bewies er Mut. Er sprang ins Wasser, und in der Tat blieb sein Herz stehen, zumindest schien es ihm so. Er rang nach Luft und spürte, wie seine Haut im eiskalten See gefühllos wurde. Eine verrückte Idee, jetzt zu schwimmen, dachte er. Und dann: Aber es war deine Idee, »Pancho«!

Dirk hatte die amerikanische Zeichentrickserie aus den Siebzigern – sie hieß »Sancho und Pancho« – auf einer CD seiner Mutter entdeckt und geliebt. Es waren zwei Frösche, die täglich darum bangen, nicht von Vögeln gefressen zu werden. Pancho war der Dummfrosch und Sancho hingegen der großmäulige Klugschwätzer. In der Serie war Pancho dem Klugschwätzer treu ergeben, was dieser oft schamlos ausnutzte. Und so war es im wirklichen Leben der beiden Logistikmitarbeiter.

Pancho machte ein paar kräftige Schwimmstöße auf Sven zu.

Die beiden Mädchen saßen im Wagen und sahen sich an. Tanja grinste. „Wenn die’s können, können wir’s auch“, sagte sie und schälte sich aus ihrem LaCoste-Shirt. Ein durchsichtiger BH kam zum Vorschein. „Wir Frauen haben dafür doch eine Extra-Fettschicht, oder?“

Sie setzte über den Zaun und rannte auf das Wasser zu, im Laufen streifte sie ihre Cordhose ab. Wenig später folgte ihr Nicole, so wie Dirk seinem Vorgesetzten Sven gefolgt war.

Bevor die beiden Paare zum See gefahren waren, hatten sie sich am frühen Abend in Svens und Nicoles Wohnung getroffen. Es war Dienstag, die letzten Arbeiten bei ihrem Logistikhändler MyClo auf dem Gelände des Immobilieninvestors Dr. Wüst waren erledigt. Sven verdiente am besten, und so kam es, dass er der Einladende war. Der Kühlschrank war ausreichend gefüllt gewesen und genug Bier kaltgestellt. Über seine und Nicoles Anlage ließen sie House Music laufen.

Sie hatten etwas getrunken, bis sie in Stimmung kamen, schließlich hatte Sven eine Idee: „Mal sehen, wie es wirkt, jeder nur einen einzigen Minitropfen pro Würfel!“ Er ging zum Süßigkeiten-Schrank und holte ein Fläschchen und vier Würfelzucker hervor. Mit einer Pipette („Nur eine halbe Portion!“, rief er) träufelte er etwas aus der kleinen braunen Flasche auf die Würfel. „Weniger als ein Tropfen, ich schwör!“, rief er enthusiastisch.

„Wirkt es sofort?“, fragte Tanja.

„Das kann über eine Stunde dauern, je nachdem“, antwortete ihr Nicole.

Und dann war das Gespräch auf den komischen Sommer gekommen, der bis zum heutigen Tag noch immer kein richtiger Sommer war. Im Radio war für das kommende Wochenende schwerer Niederschlag im Westen des Landes angesagt worden. Gewissermaßen kühles herbstliches Wetter, zu früh für’s Jahr.

Aber Mittelhessen war nicht der Westen Deutschlands. Es war eindeutig die Mitte unseres Landes – und die Mitte des EU-Europas – und deshalb begehrtes Ansiedlungsobjekt der Logistikbranche: nur 500 Kilometer bis zu den osteuropäischen Staaten, und ebenso viele Kilometer bis in die angrenzenden südlichen, westlichen und nördlichen Länder.

Dirk hatte bezweifelt, dass man mit vier Tagen Vorlauf eine Wetterprognose zu stellen vermochte.

Tanja hatte den Vorschlag gemacht, dass Wetterheinis, die im Sommer Herbstwetter voraussagen, erschossen gehörten, und niemand hatte ihr widersprochen.

Nicole meinte wehmütig, als sie noch Kind war, hätten die Sommer ewig lange gedauert; aber seit sie erwachsen war (»eine zittrige, senile Dreiundzwanzigjährige«, hatte Sven gespottet, und Nicole hatte ihm dafür unter dem Tisch einen Tritt versetzt), seien die Sommer von Jahr zu Jahr kürzer geworden.

„Mir ist es damals so vorgekommen, als wäre ich Tag und Nacht am See in der Nähe meines Elternhauses gewesen, als hätte unsere Clique Tag und Nacht gegrillt und auf der erfrischend feuchten Wiese am Strand des Sees zur gestreamten Musik getanzt“, sagte Nicole. Sie ging zum Kühlschrank, inspizierte sein Inneres, das tatsächlich bis zum Platzen aufgefüllt war, und fand hinter einer Reihe blauer Tupperware-Dosen eine Packung mit Mars-Riegeln. Eine der Tupperware-Dosen ging auf, als sie nach der Mars-Packung griff, und heraus fielen prähistorische Chilischoten, die mit einer unansehnlichen Kruste verziert waren.

Dirk machte sich als Disponent ganz gut, und Sven spielte wirklich gut Fußball, aber weder der eine noch der andere hatten eine Ahnung, wie man einen Haushalt führte. Chilischoten und Lebensmittel-Organisation waren nicht ihr Ding. In klassischer Manier oblag dies den Mädels. Traditionen sind so zäh, so schrecklich zäh, dachte sich Nicole.

Während sie die Mars-Packung aufriss, erzählte sie: „Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich das erste Mal bis zu einem Badefloß geschwommen bin. Ich saß dann zwei Stunden auf dem Floß und hatte Angst zurück zu schwimmen.“

Sie hatte sich neben Sven gesetzt, und Sven hatte den Arm um sie gelegt. Sie lächelte, als sie sich an das Abenteuer erinnerte, und Dirk kam auf einmal der Gedanke, dass Nicole aussah wie jemand furchtbar Berühmtes, jedenfalls wie jemand, der einigermaßen berühmt war. Allerdings fiel ihm nicht ein, wer das war. Erst später, unter weniger angenehmen Begleitumständen, sollte er darauf stoßen.

„Mein Bruder musste dann zum Floß schwimmen und mich mit einem Autoschlauch an Land holen. Mann, war der wütend! Und ich hatte auf dem Floß einen Sonnenbrand bekommen, das glaubt ihr nicht.“

„Das Floß – also ein anderes Floß – ist noch da“, sagte Dirk, um etwas zu sagen. Ihm war aufgefallen, dass Tanja schon wieder zu Sven hinübersah. Dirk fand, in der letzten Zeit sah sie Sven etwas zu oft an.

Doch jetzt sah Tanja ihn an. „Wer weiß, ob die Badesaison wegen Corona nicht ausfällt. Vielleicht ist der See gesperrt.“

„Aber das Badefloß ist draußen; ich habe es mit eigenen Augen gesehen!“, sagte Dirk. „Ich war vor kurzem am See gewesen, und da hab ich’s gesehen. Es sah aus wie …“ Er zuckte die Schultern und fuhr fort: „…wie ein Stück echter Sommer, das sie in der verfickten Coronazeit vergessen haben.“

Er hatte gehofft, dass jemand über die Bemerkung lachen würde, aber den Gefallen taten sie ihm nicht, nicht einmal Sven.

*

An jenem Abend, als die vier jungen Leute unweit unserer Wohnung in ihrem Appartement einen fatalen Entschluss fassten, saßen Stella und ich auf unserem Balkon bei einem Gläschen Rotwein und sprachen über einen neu entfachten Leserbrief-Krieg. Und wieder ging es um das Logistikmonster, wie die Kritiker des Wüst-Imperiums den Klotz auf der Langsdorfer Höhe nannten.

Wie sich einige meiner Leser gewiss erinnern, hatte ich im Mai meinen Thriller »Tod in Lich« veröffentlicht. Aber bitte fragen Sie in keiner Buchhandlung danach; suchen Sie bitte auch nicht im Internet nach diesem Titel; die Auflage ist ausverkauft, und ich werde aus guten Gründen keiner weiteren Auflage zustimmen – ich habe genug mit aktuellen Storys am Hut. Jedenfalls erzählte ich in diesem Thriller die Geschichte des zu billigsten Konditionen hinter dem Rücken – und auf dem finanziellen Rücken! – der Bürger erworbenen Logistikzentrums. Ich erzählte von den furchtbaren Wetterkapriolen, von LKW-Staus und allerlei ökologischen und Gesundheitsschäden.

Dr. Werner Wüst spielte in meinem Thriller den Betreiber jenes Logistikmonsters und hieß Dr. Dietrich Dreist. In meiner Geschichte trug er immer eine schusssichere Weste unter dem schicken tristen Anzug, ich denke Sie erinnern sich. Ich war mir sicher, dass dies genug verfremdet war. Er sah es wohl anders.

Der Chef des Wüstimperiums ließ seine Kettenhunde auf mich los und so schrieb als erstes ein gewisser Landolf Himmler unter dem Kürzel L.H. einen Leserbrief in der Mittelhessischen Allgemeinen:

Oh mein Gott, jetzt haben die Logistik-Verteufler eine neue Bibel. Und dafür mussten, während alle vom Klimawandel reden, Bäume sterben. Ich habe noch nie so einen hanebüchenen Mist gelesen. Man hat das Gefühl die größten Licher Querulanten und Besserwisser standen hinter dem Autor und haben diktiert. Hiermit wird niemandem ein Gefallen getan, dieses Werk ist Hetze der übelsten Machart. Die Licher Normalbürger können es nicht mehr hören und lesen erst recht nicht.

Wo waren denn die Gegner im Mai 2018, als bekannt wurde, dass dieses Logistikzentrum gebaut werden soll? Im Urlaub? Oder chillender Weise auf dem Sofa? Ich könnte hier jetzt noch stundenlang fortfahren und erklären wieso, weshalb und warum dieses Buch nichts taugt, aber damit vergeude ich nur meine kostbare Lebenszeit – genauso wie die Querulanten, die nichts anderes mehr machen als Stimmung … ganz, ganz schlimme Stimmung. Kurzum: Es ist das Buch eines Taugenichts.

L.H., Lich

Um mit Himmlers Worten zu reden, sagte ich zu Stella: „Das ist nun wirklich hanebüchener Mist, aber es ist genau der Verschwörungs-Stoff, aus dem man Romane strickt: Solche Leserbriefe benötigt ein Roman. Widersprüche, Missverständnisse und viele Dummheiten beleben eine Geschichte – ohne das geht es gar nicht. Ich müsste Herrn Himmler aus Dankbarkeit mein handsigniertes, in Gold gebundenes Buch zum Geschenk machen – mit den Worten: Diese Bibel, Herr Himmler, hat der himmlische Vater für Sie verfassen lassen, nur für Sie!“

Stella sah es weniger Story-technisch und mehr von der logischen Seite: „Da gibt es also laut L.H. eine ganze Menge chillender Querulanten, die sich mit all ihrer chillenden Kraft zwar gegen ein harmloses Logistikmonster stemmen, aber dann setzen sie sich über alle ihre eigenen Bedenken hinweg und fahren einfach in Urlaub. Währenddessen werden ohne ihr Wissen und ohne ihr Zutun hinter ihrem Rücken Verträge verhandelt – wahrscheinlich kannten die Rathausverantwortlichen die Urlaubspläne von hunderten Licher Protestbürgern. Überhaupt Urlaub! Belastet das die Umwelt nicht völlig unnötig? Und dann, während diese Protestlümmel auf ihrem Sofa chillen und ihren Traumurlaub genießen, diktieren sie stundenlang einem beschränkten Autor den Stoff, aus dem das Leben ist.“

Ich wiederholte murmelnd einen der Vorwürfe, die an mir hängen geblieben waren: „Und dieser Typ lässt Bäume fällen, damit sein Buch die Stadt erschüttert.“ Ich machte eine Gedankenpause und musste mit einem Mal an das Unwetter und die starke Gewitterfront über Lich denken, die uns erst kürzlich heimgesucht hatte. Ich hatte mich vor einem der ersten Unwetter rechtzeitig bei Stellas Nachbarin Lilli, ihrem Sohn Felix und seinem Freund Jonas in Sicherheit bringen können. Stella sah mich prüfend an.

Schließlich sagte ich: „Außerdem habe nicht ich die Bäume gefällt, sondern der Sturm. Und wenn solche Ignoranten wie …“

Stella unterbrach mich. „Bitte nicht vertiefen. Zur Sache, Schätzchen: Ich dachte das Buch ist aus Recyclingpapier.“ Sie sagte es so bestimmt, dass ich unbedingt auf das Recyceln zu sprechen kommen wollte, was sie jedoch gekonnt mit einem einzigen Satz zu verhindern wusste: „Schweif jetzt bitte nicht ab, du chillender Querulanten-Autor.“

„Ich glaube, Herr Himmler hat sich höllisch verschrieben. Wenn er wirklich mich im Blick hatte, dann meinte er wahrscheinlich einen »schillernden Autor«.

„Ja, das kommt eher hin“, sagte Stella und gab mir über den Tisch hinweg einen Kuss. Das liebte ich an ihr. Sie küsst nicht nur gut, sondern auch oft, und jeder Kuss gibt mir eine Vorstellung von der realen Kraft der Liebe – und erinnert mich an die frühen Jahre der Hippie-Zeit, in denen mit dem Schwert der Liebe die Kriegsschwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden sollten. Hoffnungen, Visionen, Illusionen? Jedenfalls Stoff fürs Überleben, oder?

Meine Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als Stella noch einmal Landolf Himmlers letzten Satz vorlas: „Es ist das Buch eines Taugenichts.“

„Endlich habe ich eine ordentliche Rezension!“, sagte ich.

Wir lachten so laut, dass Isabelle, unsere Nachbarin, aus ihrer Balkontür trat und zu uns herüberschaute. „Darf ich mitlachen?“

„Du darfst“, antwortete ich und bot ihr ein Glas Chianti an. Ich wusste, dass Isabelle nicht nein sagen würde. Sie arbeitet als Krankenschwester in der Licher Klinik – „Schwerstarbeit“ hatte sie mir gesagt – und nach getaner Arbeit ermutigte sie sich jeden Abend mit einem Gläschen Sekt. Sie kommt aus Rumänien, und Sekt war für sie erst hier erschwinglich. Nun also Rotwein statt Sekt.

Ihr Balkon ist direkt an unseren angebaut, aber mit einer halbhohen Schutzwand abgetrennt. Stella und ich rückten unsere Stühle und das Abstelltischchen an die Trennwand, und so konnten wir gemeinsam anstoßen und uns über die Leserbriefschlacht unterhalten. Ich erzählte ihr von Herrn Himmlers himmlischer Theorie und wir lachten gemeinsam. Isabelle holte eine etwas zerfledderte Zeitung aus ihrem Papierkorb und zeigte mir die Leserbriefseite. „Da steht auch etwas über dein Buch. Total positiv. Aber das wirst du ja schon gelesen haben.“

Hatte ich aber nicht.

Sie reichte mir den Ausschnitt rüber und ich las Stella laut vor: Dieser Thriller ist ein fantastisches Fantasieprodukt und stützt sich dennoch auf Tatsachen. Die mögen strittig sein oder auch nicht – in einem Thriller spielt das (wie in der Literatur generell) keine Rolle. Dieser Zeitreise-Roman in die Zukunft ist einfach spitze. Ich habe – wahrscheinlich im Unterschied zu einem anderen Kommentator – das Buch vollständig gelesen und zwar mit Begeisterung. Es war unterhaltsam, mit einer überraschenden Handlung. Es war ein bisschen wie: Man macht die Tüte mit den Chips auf, die man noch nicht kennt, ist begeistert vom Geschmack. Und auch wenn man versucht sich zu zügeln, die Tüte immer wieder kurz schließt und weglegt, macht man sie doch danach gleich wieder auf, bis sie leer ist. Sehr zu empfehlen.

Angela Ludwig, Lich

„Na, wenn da nicht Bestechung im Spiel war. Wie viel hast du der Dame bezahlt?“, fragte Stella.

Ab diesem Punkt drehte sich unser Gespräch um jene Passage, in der unser Ex-Bürgermeister Arturo Groß als bestochener Politiker in meine Geschichte eingegangen war. Stellas Optik-Kollegin Vanessa – mit ihren 35 Jahren fünf Jahre jünger als meine Liebste – hatte ihr eine sehr verständliche Frage gestellt, als die Zwei beim Griechen saßen. Im „Moustaki“ essen die beiden öfter zu Mittag.

„Woher will Stefan denn wissen, dass unser damaliger Bürgermeister in einen Bestechungsskandal verwickelt war?“

„Da solltest du Stefan besser selber fragen“, hatte Stella geantwortet.

„Hat er dir nicht die Hintergründe erzählt? Solch ein Vorwurf ist doch ein ganz schöner Hammer.“

Natürlich hatte Stella alles, was sie von mir wusste, ihrer Kollegin erzählt. Sie hatte tatsächlich die Substanz meiner Argumente recht nachvollziehbar wiedergegeben. Und sie war keine Politologin.

„Das interessiert mich natürlich auch“, sagte unsere Nachbarin. „Wie funktioniert Bestechung in Deutschland und wie erkennt man es?“

„Wie funktioniert es denn in deiner Heimat?“, stellte ich die Gegenfrage.

„Wir in Rumänien sehen es an den großen Autos oder neuen Villen, die unsere kommunalen Könige plötzlich voller Prunksucht vorführen. Sie stellen ihren Reichtum gerne aus. Das finanzieren all jene Unternehmen, die zuvor mit großen Aufträgen zu überteuerten Preisen aus EU-Töpfen beglückt wurden. Subventionen, die von den örtlichen Verfügungsberechtigten nach Gutsherrenart verteilt werden. Und die politischen Verfüger wollen auch etwas davon abhaben, so läuft das eben.“

„Das ist hier bei uns ganz anders“, sagte Stella und schenkte Isabelle und mir Chianti nach. „Oder etwa nicht, Stefan?“

In solchen Angelegenheiten ließ sie mir gerne den Vortritt. Das war mir gar nicht recht, denn damit wurden eigentlich sehr einfache und durchschaubare Sachverhalte ins Reich eines sogenannten Expertenwissens verbannt. Nach dem Motto, »mein Liebster hat Politik studiert – er muss es wissen«. Das ist freilich völlig daneben, denn zur Beurteilung von allgemeinpolitischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen bedarf es keines Spezialisten.