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2004 – drei Jahre nach 9/11 * Eine Lügenstory vor der UN fliegt auf, verursacht von einem Asylanten in good old Germany * Die entführte Natascha Kampusch gewöhnt sich an den Entführer * Ein Kiez-Zuhälter packt aus * Dönermorde sind keine Dönermorde * Ein Festival mit Regen, Matsch und Sturm * Wie der Verfassungsschutz einen Mord deckt * Gustl Mollath sitzt in der Forensik-Falle * Natascha versucht den Suizid * Baulöwe Schneider kassiert sein Urteil * Sina ist die Verführung pur * Die Kindheit eines Zuhälters * Architekten beweisen: Die WTC-Türme wurden gesprengt * Nordstream wird gebaut * Glukose überlisten * Amazon verhindern * Natascha Kampusch gelingt die Flucht * Deutsche Soldaten possieren feixend mit afghanischen Totenschädeln * US-Kriegsverbrechen in Bagdad * Madame Bovery, das Callcenter der lustigen Telekom & andere Scherze * Prof. Otte sagt die US-Immobilienkrise und den Crash voraus * Milliardärin Klatten fällt auf einen Liebesbetrüger herein und spendiert ihm Peanuts in Höhe von 7,5 Millionen € * Wort des Jahres: Klimakatastrophe. Die TV-Mutation zum Doofen-Fernsehen * Rüstungswerbung & Panzer im CDU-Blättchen.
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Seitenzahl: 448
Veröffentlichungsjahr: 2025
Stefan Koenig
Verführerische Zeiten - 2044 etc.
Zeitreise-Roman Band 19
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Verführerische Zeiten - 2004 etc.
Meine Kids wollen mich verkuppeln
Kontaktanzeigen-Chaos
Chaos-Maker im Pentagon
Abi-Feier mit Bibelsprüchen
TV-Urgesteine im TV-Steinbruch
Sina und der nahende Mr Big
Joggen muss sein
Ein rotes Tuch
Die entführte Natascha
Event-Gastronomie & Gastritis
Ein Zuhälter namens Harry Hupp
Osama-Popanz Bin Laden
Schönheits-OP’s und die Pechnasen
Durch die Wüste aus Matsch
Bekenntnisse eines gut brüllenden Baulöwen
9/11 und die irren Folgen
Der Observer beweist Mut
Eifersucht und die Suche nach Liebe
Liebestolle Tage & Nächte
Großprojekte & Leipziger Allerlei & Dönermorde
Lesen & Leseübungen im Urlaub
Launen eines Entführers
Im Netz der Forensik
Advent, Advent, ein Kerzlein brennt
Die Weihnachtszeit & die bucklige Verwandtschaft
26. Dezember 2004
Albtraum & Prosit Neujahr
2005
Vielsagende Verhöre
Im Namen des Volkes
Der Fall des Asylbewerbers Oury Jalloh
Joggen oder Gesichts-Yoga?
Natascha wird siebzehn
Frühling wird’s & ADHS kommt
Das Urteil im Baulöwen-Prozess
Die blaue Pille & vieles andere
Lügenbaron George W. Bush und die Architekten
Ich setze auf die Liebe
2006
Flugzeuge einfach abschießen?
Verrückte Videoüberwachung
Guantanamo muss weg! Und bleibt doch …
Natascha flieht
Gustl Mollath im Würgegriff der Psychiatrie
Endlich frei – Monika Weimar
Harry Hupp ist tot
2007
Nataschas Nachhall
Sina – und ihre Joberfahrung
Gepfefferte Wirtschaftskrise
Die Verschwörung fliegt auf
Millionen-Deal um die Liebe
Alte Bekannte
Statt einer Nachbemerkung
Dank
Falls es Sie interessiert …
Impressum neobooks
Stefan Koenig
Verführerische Zeiten
2004 etc.
Zeitreise-Roman
Band 19
© 2025 by Stefan Koenig
Lektorat:
Markus Bender, Lohra
»Liebe ist«
Songtext von Nena
Du guckst mich an
Und ich geh mit
Und der ist ewig, dieser Augenblick
Da scheint die Sonne
Da lacht das Leben
Da geht mein Herz auf
Ich will′s dir geben
Ich will dich tragen
Ich will dich lieben
Denn die Liebe ist geblieben
Hat nicht gefragt ist einfach da
Weglaufen geht nicht
Das ist mir klar
Du und ich das ist ganz sicher
wie ein schöner tiefer Rausch
Von der ganz besonderen Sorte
und wir haben ein Recht darauf
Uns immer wieder zu begegnen
Uns immer wieder anzusehen
Wenn die große weite Welt ruft
Werd‘ ich sicher mit dir gehen
Liebe will nicht
Liebe kämpft nicht
Liebe wird nicht
Liebe ist
Liebe sucht nicht
Liebe fragt nicht
Liebe ist so wie du bist
Gute Nacht mein Wunderschöner
Und ich möchte mich noch bedanken
Was du getan hast
Was du gesagt hast
Das war ganz sicher nicht leicht für dich
Du denkst an mich
In voller Liebe
Und was du siehst geht nur nach vorne
Du bist mutig
Du bist schlau und ich wird‘ immer für dich da sein
Das weiß ich ganz genau
Du und ich wir sind wie Kinder
Die sich lieben wie sie sind
Die nicht lügen und nicht fragen
Wenn es nichts zu fragen gibt
Wir sind zwei
Und wir sind eins
Und wir sehen die Dinge klar
Und wenn einer von uns gehen muss
Sind wir trotzdem
Immer da
Wir sind da
Liebe will nicht
Liebe kämpft nicht
Liebe wird nicht
Liebe ist
Liebe sucht nicht
Liebe fragt nicht
Liebe fühlt sich an wie du bist
Liebe soll nicht
Liebe kämpft nicht
Liebe wird nicht
Liebe ist
Liebe sucht nicht
Liebe fragt nicht
Liebe ist so wie du bist
Für uns alle
Viel Lesespaß und die eine oder andere
neue oder alte (erinnernde) Erkenntnis
wünscht Ihnen
Stefan Koenig
Lich, im Herbst 2025
Ich belausche meine Kids nicht, schon gar nicht, wenn sie sich über mich unterhalten. Aber was kann ich dazu, wenn sie in Karolas Zimmer mein Liebesleben planen, während ich nebenan die Kleiderschränke lautlos auf Aussortierbares durchforste. Das Ankleidezimmer trennt von Karos Zimmer nur eine Trockenbauwand aus Gipskarton.
„Paps sollte endlich eine Frau kennen lernen. Mama hat jetzt einen Freund. Das ist doch voll ungerecht, wenn Paps nur noch arbeitet und nicht mal mehr jemanden zum Kuscheln hat ... Ich …“
Puh! »Jemanden!«Legt mir doch einen Teddybär ins Bett, hätte ich am liebsten laut gerufen. Doch in solchen Situationen bleibt man instinktiv still, um den Fortgang der Gedanken hinter der Wand nicht zu stören.
„… ich mach‘ mir echt Sorgen um ihn.“
Es war zweifellos die besorgte Stimme von Karola. Mit ihren 21 Jahren hatte meine Tochter die Hochschulreife seit zwei Jahren in der Tasche, während Luca in zwei Wochen seine Abi-Feier im heiligen Rahmen des Evangelischen Laubachkollegs feiern würde. Ich würde dabei sein. Denn mich hatte der Schulelternbeirat Dieter Döhmler wieder einmal als Betreuer des Sektstands eingeplant.
Einen guten Schluck Sekt hätte ich jetzt gebraucht, denn nebenan höre ich Luca antworten: „Schade, dass er nicht auf Maria abfährt. Die kann so gut kochen!“
Das war die ehrliche, unverstellte Stimme des familiären Feinschmeckers, dem es keinesfalls um mein persönliches Schicksal ging. Mein Sohn war Pragmatiker und Mathematiker – jedenfalls sehr berechnend. Maria war unsere russlanddeutsche Haushaltshilfe. Und weil Gourmet-Luca, wie ihn Karo manchmal nannte, der Verfressenste unseres vierköpfigen Familien-Clans war, steckte ihm Maria gelegentlich eine Extrawurst beim gemeinsamen Mittagessen zu. Kein Wunder, dass er sie fest an mich, also an sich, zu fesseln gedachte.
Aber trotz aller Kochkunst und trotz allem geheimdienstlichem Wissen in der Verschlusssache »Wladimir Wladimirowitsch Knackarsch Putin« ist Maria einfach nicht mein Typ. Und ich nicht ihrer. Obwohl sie mich gewiss irgendwie mag.
„Dein Papa sein nicht tiepische deutsche Maaann. Das ieste große Glück für euch“, hatte sie einmal meine beiden Großen belehrt.
„Und was ieste für diech eine tiepische deutsche Maaann?“, hatte ausgerechnet Luca sie mit seinen schwachen Leistungen im Deutsch-Leistungskurs nachgeäfft.
„Machen dich nur lustig“, hatte sie Luca gekontert. „Tiepische deutsche Maaann ist Adolf Hitler; hat braune Hemd, hat Schäferhund und Glatze und nix Frau.“
Luca hatte ihr in allem widersprochen und die historische Wahrheit vom Kopf wieder auf die Füße gestellt. Von wegen Glatze und keine Frau. So also hatte der übliche Komödienstadel am Mittag sein High Noon in unserem Landhaus am Laubacher Ramsberg erlebt.
Aber jetzt machen sich meine beiden Großen Gedanken zu meinem Liebesleben, während sie die Kleine noch in der Schule wissen. Denn die zehn Jahre jüngere Jenny durfte natürlich nicht mitbekommen, wie arg ich unter Liebesentzug »leiden« musste – jedenfalls diagnostizieren das Karo und Luca einstimmig: „Paps muss mal wieder das Ausgehen lernen. Vielleicht ‘ne Disco?“, höre ich Luca sagen.
„Ich glaube, wir sollten ihn unauffällig fragen, welche Tanzschule er uns empfiehlt und ob er sich vorstellen kann, auch mal wieder einen Tanzkurs zu besuchen. So in dieser Richtung, weißt du?“
Ich höre Luca irgendetwas zustimmend murmeln. Am Abend, als ich unsere Elfjährige ins Bett gebracht habe, ist es dann so weit.
„Papa, sag mal, wann warst du eigentlich zuletzt tanzen?“, fragt Karo so unbefangen wie möglich.
„Gar nicht mal so lange her“, antworte ich prompt, denn ich hatte mir bereits eine Antwort zurechtgelegt. „Erst vor zwei Wochen habe ich mal die Disco im AlpenMax besucht.“
„Waaas?“, ruft Luca aus. „Du warst tatsächlich in einer Disco? Im berüchtigten AlpenMax?“
„Warum berüchtigt? Was ist an dieser Disco berüchtigt?“ Ich schaute unschuldig und vorgeblich unwissend in die erstaunten Gesichter meiner beiden Kids, die jetzt schon so erwachsen scheinen.
Karo studierte damals Medizin und lernte eine Menge Vokabeln einer Geheimsprache, die sich Latein nannte. Das lag ihr. Auswendig lernen war ihr Ding, und Latein hatte sie sowieso bereits in der Oberstufe drei Jahre lang gehabt.
Luca hatte seit jeher die Französisch-Kurse belegt und träumte von einem Beruf als Architekt in Paris. Wahrscheinlich wollte er ein Gourmet-Restaurant auf dem Eiffelturm bauen. Träume sind Schäume, hatte ich gedacht – denn Langfristprognosen konnte ich nicht stellen … Wie hätte ich auch ahnen können, dass er zwanzig Jahre später als Architekt in Paris unterwegs sein und vorzugsweise in Gourmet-Restaurants verkehren würde.
Was Luca jedoch derzeit architektonisch und bautechnisch bewerkstelligte, war die Anfertigung eines Hühnerstalls mit rustikal gestalteter Hühnerherberge. Vielleicht war es das, was ihn bewegte, als er jetzt vom AlpenMax als einem berüchtigtem Disco-Schuppen spricht.
„Na ja“, sage ich, „euer Vater hat sich schon mal auf die Pirsch begeben. Aber das muss ich euch ja nicht unbedingt sofort auf die Nase binden, finde ich.“
Karo lacht, fast unverschämt ungläubig, bevor sie ihre Frage herausschiesst: „Wann, bitte, soll das denn gewesen sein? Wir hätten das doch mitgekriegt. Du musst uns nichts vormachen!“
„Es war genau vor zwei Wochen, als ihr alle drei übers Wochenende bei eurer Mutter und Gerry zu Besuch wart.“
Karo und Luca schauten dumm aus der Wäsche. „Und wie war’s, Fieberzustände, Bluthochdruck?“, fragt meine Medizinstudentin.
„Diagnose: Dortiger Zustand stabil. Sensorische Wahrnehmung wie als Zwanzigjähriger. Altersspektrum zwischen Dreißig und Mitte Fünfzig, so dass ich gerade noch ins Spektrum des Verträglichen passte.“
„Und? Chancen gehabt?“ Luca sieht mich milde lächelnd an.
„Ehrlich gesagt: Nein. Ich kam mir komisch vor. Nicht wegen des Alters …“
„… aber wegen deines Tanzstils“, unterbricht er mich.
„Nein, nicht deshalb. Das Tanzen hat Spaß gemacht und ich ging unter im Gedränge der komischen Gestalten und Zuckungen.“
„Sag schon, was war das Hindernis?“, will Karo wissen.
„Ich kann es dir nicht ganz so genau sagen, doch ich denke, dass dort einfach nicht die Leute verkehren, die mich interessieren.“
Ich musste meinen beiden ja nicht unbedingt erzählen, was sich so alles rundum beobachten ließ. Eine der hübschesten sexy Bienchen, die auf der Tanzfläche von Blütenstempelchen zu Blütenstempelchen flog, verzog sich während der Tanzpause unauffällig mit einem Typen, den sie erst kurz zuvor angetanzt hatte, nahm ihn bei der Hand und verschwand kurzerhand mit ihm in der Damentoilette. Nach etwa zehn Minuten traten beide glücklich strahlend aus der Tür, und er zog sich noch entschlossen den Hosenlatz zu.
Keine schlechte Sache. Vielleicht nichts für Genießer und Hygienefans – aber immerhin etwas für Abenteurer und gute Kunden bei Hautärzten und Urologen. Aber davon musste ich meiner Medizinstudentin und meinem Hühnerstall-Architekten wahrlich nichts erzählen. Sollten sie doch selbst ihre Erfahrungen machen.
„Papa, ich glaube, für dich kommt nur eine Bekanntschaft über ein traditionelles Medium in Frage“, durchbricht Karola die nachdenkliche Stille.
„Traditionelles Medium? Nein, eine Partnerschaftsvermittlung kommt für mich nicht in Betracht!“
Karo schüttelt entschieden den Kopf und sagt: „Ich meine eine traditionelle Kontaktanzeige in einer überregionalen Tageszeitung.“
„Wenn es euch zufriedenstellt, dann verspreche ich euch, ein aktiver Kontaktanzeigenleser zu werden.“
„Du musst aber auch selbst eine Anzeige aufgeben“, wirft Luca ein.
„Außerdem solltest du dich mit den aktuellen Liebesstaffeln der TV-Serie Sex and the City bekannt machen. Darüber sprechen heute die Leute, insbesondere die, die sich verlieben wollen.“ Liebe? Sex? Hormone? Karo scheint sich neuerdings für das medizinische Fachgebiet der Endokrinologie zu interessieren.
„Davon habe ich schon gehört. Nun, auch das verspreche ich: Ich mache mich kundig, um für alles in unserer dörflichen City gewappnet zu sein.“
„Du nimmst es nicht ernst“, wandte Karo nun besorgt ein.
„Doch“, antworte ich. „Ich werde mir eure Ratschläge ernsthaft durch den Kopf gehen lassen.“
„Dann denke bitte auch mal über dein kleines, aber unnötiges Bäuchlein nach“, sagte Karola. „So ein Bauchfett törnt eine Frau nicht nur ab, sondern ist auch total ungesund. Dafür gibt es Fitness-Studios, und man kann vor der Haustür mit dem Joggen starten – auch das ist voll im Trend.“
„Es ist absolut in“, ergänzt Luca, abitursicher, naseweis. „Und später kann man auch zu zweit joggen oder zusammen ins Fitnessstudio gehen. Zu zweit macht doch alles viel mehr Spaß, sagt man.“
Na so was! Hatte auch er schon »Sex and the City« mit Sarah Jessica Parker, Kim Cattrall, Cynthia Nixon, Kristin Davis und Chris Noth gesehen?
Oh ja, meine beiden erwachsenen Kids sind so lebenserfahren, genau seit sie Achtzehn geworden sind. Kontaktanzeigen – keine allzu schlechte Idee.
Seit geraumer Zeit lese ich gelegentlich und heimlich ganz gerne – und mit wohlig-gruseligem Gefühl – Kontaktanzeigen. Man muss sich doch darüber informieren, was so auf dem Markt läuft. Wer weiß, vielleicht sucht ja irgendeine Frau genau nach mir. Das will man doch wissen. Und es steht einem doch auch zu, oder? Nur: Müssen das die eigenen Kinder wissen?
Wie ich jedoch in den letzten Monaten feststellen musste, suchen die Frauen ständig einen Mann, der mit ihnen irgendwohin reist. Diese Zeit habe ich nicht. Ich habe drei Kids unter meinen Fittichen und kann nicht einfach mein Nest verlassen, um unentwegt zu verreisen. Ich habe die Kontaktanzeigen in der Frankfurter Rundschau, in der FAZ und im Zeit-Magazin rein wissenschaftlich ausgewertet und kam zu dem Ergebnis, dass – statistisch gesehen – rund 70 Prozent aller Frauen für ihr Leben gerne durch die Welt ziehen. Am Liebsten möchten sie nach Spanien in die pralle Sonne und abends bei einem Glas Rosé Berge von Tapas verspeisen, möglichst ohne zuzunehmen.
Auch die Sehenswürdigkeiten von Venedig, Florenz, Paris und natürlich die an Sehenswürdigkeit zwar armen, aber an Meerwasser reichen Malediven stehen hoch im Kurs. Unweigerlich bringen solche Vorhaben die abschreckendsten Seiten von uns Männern zum Vorschein: Sonnenbrand auf der Glatze. Nicht enden wollender Durst auf ein kühles Blondes. Noch und nöcher Schweißflecken, Stinkesocken und Fressattacken nach all den unzureichenden Tapas-Vorspeisen.
Wollen Frauen das wirklich mit einem neuen Mann an ihrer Seite erleben? Und wenn ja, warum? Ganz einfach: Weil sie sauschlau sind. Auf einer Urlaubs-Expedition lernt man nämlich Menschen und Männer am besten kennen. Bei einem Frühstück auf dem heimischen Balkon kann ein Maskulinum ungeniert das Blaue vom Himmel erzählen, selbst wenn es total bewölkt ist. Seine Beziehungsfähigkeit kann er für die Besucherin niemals auf seinem Balkon unter Beweis stellen. Egal, wie die Sonne vom Himmel brennt.
Erst auf einem Kamelritt in der Westsahara bei 48 Grad kann das Maskulinum beweisen, dass er seiner Reisebegleiterin konzentriert zuzuhören vermag, wenn sie ihm – hoch auf dem Kamel thronend – aus einem Reiseführer Wichtiges über die historische Region im Nordwesten Afrikas vorliest. Dies überprüft sie beim abendlichen Dinner im First-Class-Hotel, zu dem er sie eingeladen hat, indem sie ihn Wort für Wort abfragt.
Darüber hinaus erfährt man auf Reisen erstaunlich intime Details des potentiellen Partners, zum Beispiel die Dauer eines Toilettengangs, für deren Erforschung man ansonsten mehrere Feldversuche über Monate hinweg bräuchte. Die Reisesucht der Frauen in Kontaktanzeigen hat also einen durchaus nachvollziehbaren Grund. Nicht umsonst heißt es auch »Frauenbewegung«, damit ist eben diese kuriose Reisesucht gemeint.
Darüber habe ich mit meinen offiziell erwachsenen Kids natürlich nicht gesprochen, zumal sich darunter eine junge Frau befindet. Es steht mir nicht zu, meine Kinder in irgendeiner Weise politisch zu beeinflussen, gerade wenn es sich um Kontaktanzeigenpolitik handelt. Leider verhält es sich im umgekehrten Falle nicht ganz so liberal.
Als sie mich eine Woche später fragten, ob ich mal in das Anzeigenportal unserer Zeitung hineingeschaut hätte und ich dies bejahte, fragte Karola: „Gab es auch Anfragen in puncto Tanzen?“
„Neben gemeinsamen Urlaubszielen suchen viele gleichzeitig nach jemandem, der außerdem gerne exotische Tänze tanzt – Tango etwa oder Milonga, Merengue, Zamba, Chacarera oder auch den in der Region von Rio de Janeiro typischen Carnevalito“, antwortete ich.
„Das ist doch erste Sahne!“, meinte Luca.
Ich schaute ihn offenbar mit solch großen Augen an, dass er hinterherschob: „Oder etwa nicht?“
„Ich tanze gerne frei und eher selten klassische oder schweißtreibende tropische Tänze – und sehr selten tanze ich historische Tänze – wie zum Beispiel den Minnetanz. Somit falle ich aus sämtlichen Rastern tanzwütiger Damen, angefangen bei den weiblichen Mittelalterfans bis hin zu den argentinischen und brasilianischen Tanzcracks.“
Jetzt sah mich Karo mit offenem Mund an. „Dann gib halt selbst mal eine Anzeige auf und frage, für welche Literatur oder für welche Autorin oder für welchen Autor sich jemand interessiert. Das ist dir doch gewiss wichtig.“
Ich inserierte also genau mit dieser Fragestellung und erhielt nach zwei Wochen Warte- beziehungsweise Bedenkzeit eine neue statistische Grundaussage. Bevorzugt wurden Reiseführer, Reiseberichte und Romane von Reisenden in fremde Länder unter abenteuerlichen Bedingungen. Erst dann folgten Elke Heidenreich und Rosamunde Pilcher.
Überhaupt entspreche ich so gut wie nie den Erwartungen der inserierenden Weiblichkeiten. Ich bin weder James Last noch James Bond, weder Eigentümer großer Ländereien oder Industrieanlagen, und ich bin auch kein Professor oder Radiologe oder beides in einem. Schon gar nicht bin ich alles auf einmal: Komponierender Abenteurer auf großen Pferde-Ländereien mit schriftstellerischem Talent und mit einem dickem Konto aus Automobilexporten unter besonderer Berücksichtigung meiner Hochschultätigkeit als praktizierender Radiologe.
„Frauen sind manchmal ganz schön anspruchsvoll“, sagte ich in resümierendem Ton.
Da war aber was los!
Karo war plötzlich keine Medizinerin, sondern Feministin von Beruf. Eine politische Männerdiskriminierung folgte der anderen. Gott sei Dank war die elfjährige Jenny bei ihrer Mutter zum Wochenendbesuch. Wenn ich glaubte, mein Sohn – bekanntlich auch ein Mann – würde mich verteidigen, da hatte ich mich ganz schön geschnitten.
In der nächsten Wochenendausgabe suchte ich eine Kontaktanzeige, in der eine Frau einen normalen Stubenhocker sucht, der täglich vier Arbeitsstunden am PC sitzt, um Geschichten über das Leben zu schreiben und nur einmal im Jahr für zwei Wochen verreist, weil er sich in seinem Zuhause und in seiner Region und bei seiner Arbeit wie im Urlaub fühlt, der also hochzufrieden und glücklich ist und sich weder um Tanzkünste vom Miozän bis zur Moderne schert noch sechs Mal im Jahr den Jakobsweg abwandert, aber gerne Terra X guckt und dabei karamellisiertes Popcorn futtert. Doch solch eine Kontaktanzeige konnte ich selbst mit einer Lupe nicht finden.
Ehrlicher Weise muss man davon ausgehen, dass Typen wie ich nicht unbedingt gefragt sind. Außer bei uns zu Hause.
Welche Typen sind also gesucht? Sie müssen Hirn, Herz und Humor haben, angereichert mit Bildung und Charakter. Aber wie viel Bildung und Charakter werden gewünscht? Zu viel von beidem macht einen Mann unausstehlich, finde ich. Aber meine Meinung zählt ja nicht, weil ich keine Frau bin!
„Schaut mal, was hier so gefordert wird“, sagte ich zu meinen beiden Ältesten und blätterte die Kontaktanzeigen durch, um ihnen daraus vorzulesen. Sollen sie doch selber beurteilen: „Eine »gut sit. Witwe« sucht jemanden für schwungvollen, geistigen u. kulturellen Austausch (z. B. ü. Kunst, Politik u. Psych.).“
„Was bedeutet »gut sit.«?“, fragte Luca.
„Na, was schon?“, schnauzte ihn seine Schwester an, als sei er nicht bald schon ziemlich hochschulreif.
Ich sah mich zu einer ehrenrettenden Antwort für Luca genötigt, um ihn nicht allzu dumm dastehen zu lassen: „Wahrscheinlich bedeutet es einfach »gut sitzend«. Viele Frauen lieben doch lange Nachmittage im Café, was gutes Sitzfleisch erfordert.“
Auch da war wieder was los!
Tatsächlich würde ich gerne mal eine gut sitzende Witwe kennen lernen und mit ihr vielleicht ein wenig über »Psych« palavern. Bei einer solch gut verwitweten Sitzenden (man denke an die »Sitzende Frau« von Pablo Picasso) weiß man jedenfalls, woran man ist.
Eine Anzeige darunter ist die Intention der Suchenden gar nicht so leicht aufzuklären, da bedarf es schon eines speziellen Geheimdienstes mit entsprechender Entschlüsselungstechnik: »Abendstille am See, Sonnenuntergang, Blumenwiese, Schmetterlinge und Bienensummen, Schilf und das Spiel von Libellen. Sehnsucht nach dir. Leben, Erleben, Neues, die Vergangenheit hinter sich lassen, Sinnlichkeit und Zärtlichkeit, lebendiges Sein. Melde dich.«
„Das klingt doch hochromantisch und hat einen komfortablen literarischen Einschlag. Wäre das nichts für dich?“, fragte Karola.
Kann ich ihr aufrichtig antworten? Darf ich ehrlich auf ihre Frage eingehen? Es ist nämlich so: Ich habe Angst vor solchen Frauen mit derart pseudolyrischen Einlassungen. Mich beschleicht eine unheimliche Beklemmung – Herzrasen mit anschließenden Herzrhythmusstörungen nicht ausgeschlossen. Und so antwortete ich: „Ich verspüre nur Langeweile bei diesem Text, liebe Karo.“
„Vielleicht solltest du jetzt wirklich mal selber eine Kontaktanzeige schreiben“, meinte Luca. „Allein die Antworten sind doch eine spannende und unterhaltsame Angelegenheit.“
„Ich finde auch, du solltest das mal ausprobieren“, schloss sich Karo an.
„Na gut, versprochen. Aber vorher muss ich noch Sex and the City gucken und mich im Joggen üben, um meinen Sport- & Sex-Appeal zu steigern.“
Meine beiden grinsten mich ziemlich ratlos an.
Genauso ratlos war ich in der Folgewoche, als ich bei der Suche nach einer Textvorlage die schönste Kontaktanzeige eines Mannes las. Sie war kurz und brachte es auf den Punkt: „Trinke Ihren Sekt. Komme zu Ihnen.“
Natürlich erzählte ich Karo und Luca nichts von diesem Kurztext und auch nicht, was ich mir als Werbetext, der mit elf Anschlägen ein klein wenig länger ausfiel, ausgedacht hatte. Bestimmte Wortschöpfungen, die man auch Synonyme nennen könnte, vermied ich aufs Tunlichste, zum Beispiel »interessant« (bin kurzsichtig, aber nicht langweilig).
Oder »Genießer« (musst mit meinem kleinen Bauch leben). Doch auch »liebenswert« schien mir unangebracht (meine Kinder meinen, ich sei zunehmend vertrottelt, aber liebenswert). Ich ließ all diese Füllwörter weg und schrieb einen Entwurf: „Junger Mann (54) sucht aktive Partnerin ab 35“. Das ließ viel offen und damit viel hoffen.
Gerne aber hätte ich gewusst, wie die Kurzanzeige des Sekttrinkers angekommen war und wer darauf geantwortet hatte.
Am 3. Juni tritt der Chef der US-Geheimdienstes, George Tenet, zurück. Er hatte schon lange vor dem inszenierten Anschlag des 11. September 2001 eng mit Bushs wichtigsten Beratern, der konspirativ operierenden Clique um Rumsfeld, Cheney, Wolfowitz, Bolton, Rice und Colin Powell zusammengearbeitet, um geheime Pläne auszuhecken. Gemeinsam mit Powell hatte er in der Öffentlichkeit den Kopf für eine welterschütternde Lüge vor der U.N. hingehal-ten.*
* Vgl. »Blendende Zeiten – 2001 etc.«, S. 19 ff.
Er hatte bewusst Falschinformationen über Massenvernichtungswaffen im Irak mit Hilfe gefälschter Satellitenbeweise verbreitet und Ängste geschürt, um die Begründung für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nach den Plänen der Bush-Rumsfeld-Cheney-Clique zu liefern. Man weiß ja: Die Wahrheit ist das erste Opfer eines Kriegs. Aber damals glaubte man den Amis noch. Umso blamabler, als alles aufflog.
Natürlich musste man Tenet auch aus der Schusslinie nehmen, da offensichtlich geworden war, wie tief er, sein Dienst und die Cheney-Clique in die Anschläge von 9/11 verstrickt waren. Immerhin hatten sie nicht nur die notwendigen Warnungen unterlassen – im Gegenteil, sie hatten dafür gesorgt, dass sämtliche Warnungen nicht wahrgenommen werden konnten und die von ihnen veranlassten militärischen Tarnmanöver genau am Tag des Anschlags stattfanden, sodass kein für die Flugabwehr Verantwortlicher zwischen Manöver und Anschlag zu unterscheiden vermochte.
Jeder, der sich mit den Abläufen des 11. September in den letzten drei Jahren beschäftigt hatte, konnte keinen Zweifel an der Mitwirkung von staatlichen Diensten hegen, die verdeckt an der Mitwirkung des ungeheuerlichen Verbrechens gearbeitet hatten.
Ich selbst hatte zu diesem Zeitpunkt meinen Glauben an die objektive Berichterstattung noch nicht verloren und sah die islamistisch gesteuerten Terrorflieger in die Zwillingstürme rasen. Dann der plötzliche Zusammenbruch und die riesige Schutt- und Staubwolke und die mit Zementstaub bedeckten fliehenden Menschen.
Das alles war zu einem emotionalen Bild verschmolzen; es hatte mich noch immer nicht bewegen können, der Logik meines Freundes Hörbi zu folgen: „Kara“, nannte er mich bei meinem alten Spitz- und Jugendnamen, wenn er mir etwas eindringlich anraten wollte, „Mensch Kara, denk doch einmal nach! Die Amis opfern auch 3000 eigene Leute, wenn es ihrer Jahrhundert-Agenda dienlich ist. Da sind 3000 Opfer nix. Gar nix!“ Und dann erinnerte er mich an all die vielen Widersprüche, die bislang bekannt geworden waren. *
* Mehr dazu ebd.
Am interessantesten – und glaubwürdigsten – fand ich Hörbis Bericht über die Hintergründe von Colin Powells Rede als US-Außenminister vor dem UN-Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 5. Februar 2003.
„Wie ist es deinen Informationen zufolge gekommen, dass Powells Lügen aufgeflogen sind?“
„Das ist eine etwas längere Geschichte“, sagte Hörbi, als wir uns in unserem Kultur- und Polit-Club, dem »Club Voltaire« bei einem kühlen Bier bei sommerlichen 28 Grad trafen. „Von vorne: Powell zeigte Satellitenfotos und Tonbandaufnahmen, um zu beweisen, dass der Irak über mobile Labore zur Herstellung von Biowaffen verfüge. Es gäbe Informanten, die den Bau eines Jagdbombers bezeugen könnten und er zeigte Fotos, worauf ein Mirage-Flugzeug zu erkennen ist, aus dem während des Fluges Rauch oder Gas entströmt.“
Hörbi unterbricht kurz, damit wir uns Brezeln mit Butter zum Bier bestellen können. Eine Studentin bringt sie uns an den Tisch. Hörbi kennt sie, seit Else, die gute Club-Fee, endgültig ihren Platz hinter der Theke verlassen hat. Sie unterhalten sich und wir erfahren, dass es Elses Mann, Heiner Halberstadt, einem bekannten Frankfurter Stadtpolitiker, im Moment nicht so gut geht.
„Wie kam Powells Lügenstory denn nun zustande?“, frage ich ungeduldig.
„Nun ja, der Außenminister hält vor dem UN-Sicherheitsrat noch ein kleines Röhrchen mit Pulver darin hoch, das als Symbol für Milzbrandsporen gelten soll und behauptet, Saddam könnte davon 25.000 Liter besitzen. Natürlich ist nichts davon im Gläschen, aber es zeigt die psychologische Beeinflussungstechnik, die hier so primitiv angewandt wird. Und all diese Bilder, Vorstellungen, Beschreibungen und Angaben beruhen einzig und allein auf den Angaben eines vorgeschobenen Mannes namens Rafid Ahmed Alwan.“
„Ein Araber, nehme ich an“, sage ich.
„Ja, er kam 1999 mit 32 Jahren als irakischer Flüchtling in das Aufnahmelager Zirndorf nach Süddeutschland. Ein Weg, um aus dem Aufnahmelager endlich heraus zu kommen, führt direkt zum deutschen Auslandsgeheimdienst BND. Der hat in Zirndorf eine Außenstelle und befragt irakische Asylbewerber.
Alwan erzählt von seiner Arbeit im Chemical Engineering and Design Center (CEDC), er erzählt von Bio-Anlagen und von seinem Job in der Military Industrialisation Commision, die für die Entwicklung der Waffensysteme zuständig sind. In Pullach werden sie auf Alwan aufmerksam, ein Experte will wissen, dass die CECD eine Tarnfirma von Saddams angeblichem, geheimem Waffenprogramm ist.
Es finden mehre Gespräche zwischen diesem Experten und dem Flüchtling statt. Der Iraker liefert dem BND einige Steilvorlagen für die aggressive Bush-Cheney-Clique: die Information von dem mobilen Waffenlager. Die Giftküche für die Werkstoffe seien auf LKW montiert, um sie leichter verstecken zu können. Dies sei auch der Grund, warum die UN-Inspektoren bislang nichts gefunden hatten.
Die Berichte über die Gespräche gehen nach Washington. Auch die Briten, Franzosen und Israelis werden eingeweiht. Aber Letztere melden Zweifel an den Aussagen des Irakers an. Doch die Amis und die Deutschen wollen ihm glauben.“
„Ist denn etwas an Alwans Geschichte dran?“, frage ich.
„Als erstes muss man wissen, dass Rafid Ahmed Alwan sofort vom BND einen Tarnnamen erhielt. Er hieß ab sofort »Curveball«. Nach dem 11. September 2001 gewinnt Curveball ein ganz neues Gewicht. Für Amerika ist er eine Art Kronzeuge gegen Saddam Hussein und liefert die letzten Argumente, um den Irak anzugreifen.“
„Das sagt ja noch nichts über Alwans Glaubwürdigkeit“, wende ich ein.
„Abwarten und Tee trinken“, sagt Hörbi, bevor er fortfährt: „Tatsache ist bis dahin, dass nur der BND Curveball interviewt hat. Die Amerikaner würden das auch gerne tun, aber Curveball weigert sich. Sie wissen über ihn nur das, was der BND im Februar 2001 seinen CIA-Kollegen berichtet hat.
Die Amerikaner dringen jedoch auf eine persönliche Befragung, Curveball indes verweigert sich noch immer. Am 20.12.2002 ruft Bundeskanzler Schröder sein Sicherheitskabinett zusammen, um zu beraten, wie man den Amerikanern helfen kann. Die Deutschen liefern nun alle Informationen. Aber mit einem Begleitbrief, der an den CIA-Chef George Tenet geht. Darin heißt es, dass die »Erkenntnisse«, die man gewonnen habe, »nicht als verifiziert gelten können«. Die Amerikaner stört das nicht.
Erst nach dem Krieg macht man sich – außerhalb Washingtons – die Mühe, die Informationen zu überprüfen. David Kay, der Anfang der neunziger Jahre Waffeninspekteur für die Uno im Irak war, glaubt Curveball anfangs. Als er jedoch feststellt, dass Alwan die einzige Quelle der Deutschen ist, sollen zwei seiner früheren Inspekteure die Familienangehörigen von Rafid Ahmed Alwan aufsuchen. Zum ersten Mal wird die Lebensgeschichte von Curveball überprüft.“
Ich unterbreche Hörbi, weil ich es mir nicht verkneifen kann, auf das Versagen des deutschen Auslandsgeheimdienstes hinzuweisen: „Unglaublich, dass der BND nicht auf diese einfache Idee kam!“
Hörbi lacht und sagt: „Tjaja, ganz lustig. Aber vielleicht war auch alles Absicht und mit den Amis genauso abgesprochen. Es stellte sich nämlich heraus, dass Alwan frei Schnauze gelogen hatte. Er war schlecht in der Schule, auch hatte er für das CECD nicht bis 1998 gearbeitet, sondern nur bis 1995. Sein alter Chef nennt ihn einen Betrüger, unpünktlich, unzuverlässig und erzählt, dass Alwan Gelder der Firma für sich einbehalten und abgezweigt hat. Auch sei er ein schlechter Ingenieur gewesen. Der wahre Grund, warum Curveball 1999 nach Deutschland floh, war ein Haftbefehl – er hatte Ausrüstungsgegenstände im Wert von 1,5 Millionen Dinar bei einer Fernsehproduktion, bei der er die Technik wartete, geklaut.“
„Und jetzt?“, frage ich. „Was macht Curveball jetzt?“
„Er lebt weiter hier und wird nach wie vor vom BND geschützt. Interessant finde ich, dass erst die Eigeninitiative des UN-Waffeninspekteurs die Sache auffliegen ließ.“
Wir trinken unser Bier aus. Der Sommerabend war herrlich. Auch herrlich ernüchternd, was die Sache der Münchhausen-Dienste und ihrer Zulieferer betraf.
Jetzt, am 6. Juni, ist Horst Köhler, der bis Anfang März noch Chef des Internationalen Währungsfonds war, seit zwei Wochen im Amt. Die Bundesversammlung hatte ihn in Berlin als den Kandidaten der Konservativen mit 604 Stimmen zum neuen und neunten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Er hatte sich damit gegen die von den Grünen und der SPD favorisierte Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan, die 15 Stimmen weniger erhalten hatte, durchgesetzt.
Schwan war in meinen Studienjahren am Otto-Suhr-Institut an der FU Berlin bereits Assistenzprofessorin gewesen und galt nicht unbedingt als progressiv. Ihre flachen Kursangebote hatten mich wenig interessiert. Da war Professor Elmar Altvater schon eher von progressivem Format, ein Wissenschaftler, der seine Arbeit der Friedens- und kritischen Kapitalismusforschung widmete. Aber die Zeiten hatten sich nun mal geändert und vielleicht auch Frau Schwan, die mir – jedenfalls jetzt und im Vergleich zu Köhler – etwas sozialer gestrickt schien.
Am Freitag, dem 18. Juni, begann um 18:00 Uhr die Abi-Feier von Luca. Dieter Döhmler hatte mich Ende Mai angerufen und zur Mitwirkung verpflichtet. Immerhin ist er der erste Schulelternbeirat und ich nur der zweite. Ich muss gehorchen. Aber muss ich deshalb pünktlich sein? Außerdem ist Dieter viel wichtiger als ich, der ich aus seiner Sicht viel zu kreative und somit unnütze Schreibarbeit verrichte. Er ist Vorsitzender vieler anderer Vereine und Seilschaften, vom Tennisverein bis zum Kuratoriumsbeirat der Diakonie.
„Wegen der anstehenden Abi-Feier für unsere Söhne, du weißt schon“, hatte er gesagt, und ich ahnte, dass der Sektstand wieder einen trinkfesten Betreuer benötigt. So war es. Und Dieter pochte auf Pünktlichkeit. Ich bin immer pünktlich, und genau das weiß er auch. Doch dieses Mal werde ich unpünktlich sein. Damit er mich endlich einmal von meiner menschlichen – und schriftstellerischen – Seite kennen und schätzen lernt.
Dieter stellt andere gerne als dümmer dar, wenn er spürt, dass er selbst nicht immer der Schlaueste ist. Und er stellt andere gerne als vergesslich dar, wenn er in seinem tiefsten Innern selbst um seine Vergesslichkeit weiß. Er erhöht sich gerne, indem er andere erniedrigt.
Aber nicht mit mir!
Ich lese mir jetzt noch einmal sein Erinnerungsfax im Geheimdienststil durch: „Freitag, 18. Juni, 18:00 Uhr, Sektstand, Wechselgeld (!), Anzug, bitte absolut pünktlich!“
Ich nehme mir vor, erst um 18:30 Uhr zu erscheinen und werde sagen, dass ich beim Romanschreiben über dem Schreibtisch eingeschlafen bin. Man kann ja mal verschlafen, oder? Damit würde ich unserem Großen Vorsitzenden im Nachhinein eine Self fullfilling Prophecy bescheren. Das bestätigte ihn. Das wäre ein Triumph für ihn – und ein heimlicher für mich. Und ich hätte immerhin eine halbe Stunde gespart.
Falls er mich nach dem Titel meines imaginären Romans fragen würde – was er geflissentlich unter-lässt, denn er hat so schrecklich viel zu tun und liest Romane »nur im Urlaub«, wie alle, die gar keine Romane lesen -, dann würde ich den Titel locker aus dem Ärmel schütteln können:
DAS ATTENTAT.
Wenn er dann fragt, um wen es dabei geht, werde ich ihm zwei Namen zur Auswahl geben: „Kennedy oder Döhmler“, und ich werde in liberaldemokratischem Ton hinzufügen: „Du entscheidest.“
Karo, Jenny und Emma machten sich schick. Sie werden erst eine Viertelstunde vor 19:00 Uhr zu Lucas Abiturfeier im Kolleg-Auditorium erscheinen. Luca ist schon seit zwei Stunden dort. Wahrscheinlich üben sie singen oder verfassen die letzten gehässigen Pamphlete gegen ungeliebte Pauker.
Ich sollte zum Aufbau des Sektstandes bereits um 18:00 Uhr bereitstehen. Wie ich mit mir eigenmächtig vereinbart habe, komme ich endlich einmal pünktlich eine halbe Stunde zu spät. Einfach deshalb, weil ich Döhmlers Self fullfilling Prophecy endlich fullfillen will.
Er tut sehr verwundert, und ich leiere meine Ausrede herunter: Zu viel geschrieben, überm Schreibtisch, direkt vorm PC-Monitor, eingeschlafen, Strahlenbelastung, jetzt langsam im Wachzustand.
„Ist dein Text so langweilig, dass du darüber einschläfst?“, sagt er bissig, als wolle er mittels seines Plädoyers einem beweisresistenten Richter eine Ohrfeige verpassen.
„Ich schreibe gerade an einem Thriller, wobei ein erfolgloser Jurist einen anderen erfolglosen Juristen, der an einem langweiligen Plädoyer schreibt, hinterrücks ermordet. Und der Arbeitstitel lautet: DAS ATTENTAT.“
Er schaut mich fragend an.
Ich sage trocken: „Vielleicht geb‘ ich dem Thriller auch den Titel »Der Prozess«. Dann könntest du darin mitspielen.“
„Sehr schön, das hast du von Kafka abgeschrieben“, sagt Dieter und zählt mir das Wechselgeld vor.
Dann betritt schon die Erste Lady des Evangelischen Unternehmens, Frau Direktorin Dr. Jennifer Räuter, die Bühne und legt los. Wir erfahren in langen fünfzehn Minuten alles über das Evangelium, über das Lernen im Allgemeinen, den Rohstoff Bildung im Besonderen, die Jugend und die Menschheit im Großen und Ganzen.
Manchmal streut sie islamische, hebräische oder lateinische Sprachbrocken dazwischen, ich kann es nicht unterscheiden. Als zweite Dame des kollegialen Lernpalastes tritt die Vertrauenslehrerin, Frau Buntrock, ans Rednerpult. Sie nimmt Bezug auf einige Bibelstellen, ich glaube es war die Wiesen- oder Bergpredigt, aber ich kann zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr zuhören, denn zwischenzeitlich hat mich der Sekt mehrere Male angelächelt, und es wäre unhöflich gewesen, dies zu ignorieren.
Nach einer Tanzeinlage irgendeiner Ballettgruppe und der anschließenden Pause, in der meine Tätigkeit gefordert ist, komme ich allmählich wieder klar und höre mir Dr. Hurtigmann an, der schon bei Karolas Abiturfeier sein gesammeltes mathematisches Wissen in einer Mischung aus Stochastik und Bibelweisheiten in das staunende Auditorium geworfen hatte. Seine Aufgabe bei solchen Festivitäten ist es wohl, der Gans die Eingeweide zu entnehmen, ihr sodann die ganze Füllung zu verpassen und dann alles zuzunähen.
Na ja, so läppert sich die Feier über eine unendlich lange Zeit von 120 Minuten hin. Fast wäre ich ein weiteres Mal in Versuchung gekommen und fühlte schon mit zarten Fingerspitzen an diesen verführerisch-schlanken Sektgläsern. Doch was mich davor schützt, sind die blitzenden Bewacherblicke meiner Noch- und dennoch Ex-Frau Emma. Lucas Mutter und unsere Tochter Karo sitzen unweit des Sektstandes und wechseln sich wie abgesprochen in der scharfen Beobachtung meiner Wenigkeit ab.
Die Abiturienten-Sprecherin ist dieses Mal tatsächlich ein Sprecher, ein echter Junge! Er redet sehr gutmütig und verständnisvoll und dankt seinem Dasein und Hiersein und dem Dasein und Hiersein seiner Lehrer in äußerster Dankbarkeit. Meine Güte, was waren meine Mitschüler und ich dagegen damals für ein aufrührerischer Haufen gewesen – und wie wir unsere Pauker zerpflückten. Nun ja, das waren ja auch allesamt Nazis, bis auf wenige Ausnahmen.
Damals ließ sich gut gegen die alten falschen Säcke ankämpfen, aber heute … was hätte ich bei all den weichköchelnden Lehramtsweicheiern wohl anbringen können? Ihre moderne Falschheit? Ihr hinterfotziges Liberaltheater? Dass sie schuld waren am Elend der Verelendung unseres Landes und seiner Menschen … was man so auf den ersten Blick gar nicht sieht? Dass sie nichts zum Begriff »Entfremdung« zu sagen hatten? Nichts zu den Kriegen der Amis?
Die Fragen führen mir vor Augen, dass Sekt nicht immer der beste Ratgeber ist, auch nicht, wenn man ihn nur heimlich trinkt.
Da jetzt der Elternsprecher, mein Vorgesetzter, Advokat und Notar Dieter Döhmler, angesagt ist, bitte ich Emma, mich würdig und im Sinne unseres frischgebackenen Abiturienten Luca am Sektstand abzulösen. Ich will flüchten. Nicht noch eine dieser dämlichen Döhmler-Reden! Emma vertritt mich gerne. Im Gegensatz zu mir ist sie trinkfest.
Fünf Tage nach diesem weltbewegenden Ereignis – weltbewegend zumindest für die frischgebackenen Hochschulzugangsberechtigten, die sich noch große Hoffnungen machen dürfen – rufe ich meinen Bruder Günter in Bad Soden an. Aus Gründen.
„Hallo, Bruderherz“, beginne ich beherzt, „es ist mir eine traurige Pflicht, dir die ganze Wahrheit mitzuteilen.“
„Ich ahne schon“, lacht Günter ins Telefon. Wir beide rufen uns nur übers Festnetz an. Günter hat noch kein Handy, hat aber davon schon einmal gehört.
„Es tut mir wirklich leid, und ich weiß, dass der Überbringer schlechter Nachrichten normalerweise geköpft wird. Aber deshalb rufe ich ja aus sicherer Ferne an.“
„Also, sag schon, alter Palaver-Hannes!“
„Es ist so …“, stammele ich rum, „… die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ist heute bei der Europameisterschaft schon in der Vorrunde ausgeschieden.“
„Im Unterschied zu dir hab‘ ich das Spiel gesehen. 1: 2 Niederlage gegen Tschechien.“
„Das klingt sehr gefasst. Eigentlich dachte ich, ich müsste dich trösten.“
„Das kannst du ruhig. Denn ich bin echt untröstlich, unser Nationaltrainer Rudi Völler hat seinen Rücktritt verkündet. Echt traurig. Wie hat es nur so weit kommen können?“
„Eine rein rhetorische Frage, mein Lieber, denn wie du ganz genau weißt, hätte ich die Mannschaft trainiert, dann …“
Ich kam nicht mehr weiter, denn ich hörte laut die Stimme seiner Frau aus dem Hintergrund rufen: „Essen ist fertig. Alle an den Tisch, bitte!“
„Ich muss Schluss machen“, sagte Bruderherz. Ich konnte ihm gerade noch einen guten Appetit wünschen und er möge alle lieb grüßen. Dann machte es schon Klick. Wenn Aliena »alle« an den Tisch rief, dann bedeutete es, dass ihre Söhne Daniel und Alex samt Familie zu Besuch waren. Ich mochte sie sehr, aber wir hatten viel zu wenig Kontakt, obwohl uns nur 60 Kilometer trennten.
Noch mehr Fitness als bisher ist angesagt. Karo und Luca drängen darauf, damit ich möglichst attraktiv in ein neues Liebesleben gleite. Neuerdings gehe ich nicht nur drei Mal pro Woche für je zwei Stunden ins Sport-Studio, sondern es muss ein ganz bestimmter Tag darunter sein: immer der Donnerstag. Weshalb? Wegen eines neuen prominenten Mitglieds unserer Fitness-Riege.
Wer also ist die Prominenz, habe ich mich gefragt, als mich Nicole, die Studiochefin, geheimnisvoll auf den Neuen aufmerksam machte. Ich konnte es kaum glauben: Einer der singenden Amigos. „Es ist Bernd Ulrich. Er ist so alt wie du.“
„Ich kenne die Amigos. Ein Bandmitglied, Withold Piwonski, war einmal die Woche bei uns zu Hause, um Karo und Luca in Klavier und Gitarre zu unterrichten. Er war stets gut drauf und humorvoll.“
„Ich habe von ihm noch nicht gehört“, sagte Nicole.
„Das war wohl vor deiner Zeit. Er war von 1985 bis 2000 Mitglied der Amigo-Band.“
Dass Bernd Ulrich in ein Fitness-Studio geht, in dem halb so alte Menschen wie er Klimmzüge machen und an Geräten ihre Rücken- und Bauchmuskulatur stärken, spricht sehr für ihn. Und auch für mich, finde ich. Doch da gibt es auch die Dinos über Siebzig. Wenn man sie auf ihr Alter anspricht, um sie zu bewundern, wiegeln sie ab als sei das Nebensache.
Die Alten werden eben immer jünger. Und ein bisschen zänkischer und ungeduldiger. Sie wollen nicht mehr den ganzen langen Tag am Fenster sitzen und auf Amseln, Tauben oder Falschparker warten. Sie wollen auch nicht mehr rauschende Aufnahmen von Zarah Leander anhören. Sie stehen auf Yvonne Catterfeld, und hier im Sportstudio hecheln sie nun mit mehr oder minder gebrochenem Herz durch den Tag. Catterfeld belegt mit Du hast mein Herz gebrochen einen der ersten Plätze in den Top-Charts. Allerdings hinter Juli mit der Perfekten Welle.
Luca liegt derweil mit gebrochenem Versprechen und in perfekter Glotzhaltung vor dem TV und glotzt »Shrek – Der tollkühne Held«. Eigentlich sollte das heute unterbleiben. Eigentlich. Zufällig schaue ich – quasi im Vorübergehen – einen kleinen Ausschnitt mit.
Shrek und der Esel kommen gerade in Duloc an. Die animatronischen Duloc-Puppen begrüßen sie mit dem Lied »Willkommen in Duloc« – ein Song, der den Neuankömmlingen Regeln und Erwartungen nahelegt. Mir prägt sich jedenfalls die Zeile ein: „Bitte nicht auf den Rasen gehen. Putz deine Schuhe. Wisch dir … das Gesicht ab.“
Ich weiß nicht, warum ich in diesem Moment an Marcel Reich-Ranicki denken muss. Vielleicht, weil er gestern im TV Das Literarische Quartett in Shreks Duloc-Land verwandelte. Meine Güte, wie er sich da so shreklich radebrechend und ebenso hemmungs- wie kenntnislos über den Dreck im Fernsehen beschwerte! Ganz besonders gehen ihm Atze Schröder und Helge Schneider auf den Wecker, die er beide verwechselt, aber was macht das schon für einen Unterschied?
Dann stieß ein ehrwürdiger Senior der deutschen Schreibszene namens Günter Grass zum Quartett-Spiel hinzu. Er kritisierte den selbstverliebten Kritiker für dessen ungalante Schimpfe. Reich-Ranicki selbst habe mit seiner krawalligen TV-Präsenz über die Jahre die Literaturkritik in den Keller hinunter trivialisiert. Damit sei er Teil des von ihm verachteten Systems.
Dafür fuhr Grass bei mir einen Achtungserfolg ein. Mir fiel bei dieser Gelegenheit allerdings auf, dass sich die Generation der 40-Jährigen auffällig aus diesem Streit heraushielt. Vielleicht haben sie sich schon – im Gegensatz zu uns Mittfünfzigern – an den täglichen TV-Schmuddel gewöhnt. Wenn ich einen 40-Jährigen fragen würde, warum er sich heraushält, bekäme ich wahrscheinlich die trügerische Antwort: „Aus Respekt vor dem Alter!“
So eine Antwort könnte Herr Reich-Ranicki nicht ertragen und würde sie hundert Pro in der Luft vor einem Millionenpublikum, das vor sich hindämmert, zerreißen. Man muss sich vor diesem merkwürdigen Literaturkritiker mit seinen sehr merkwürdigen Verrissen sehr in Acht nehmen. Manche setzen ihre Hoffnung auf sein Alter. Ob sie dabei die berühmte Altersweisheit oder den nahenden Tod vor Augen haben, bleibt dem Betrachter des literarischen Schauspiels verschlossen.
Es gibt jedoch durchaus ältere Herrschaften, denen man echte Achtung entgegenbringen sollte. Nehmen wir als Beispiel die Scorpions. Sie verhalten sich zur modernen Popmusik in etwa wie mit Fischpaste und Mayonnaise gefüllte »Russische Eier« zu dem in farbigen Brigitte-Rezepten favorisierten Safran-Risotto. Sie wissen ein beinhartes Riff aus der E-Gitarre ebenso zu schätzen wie den entschlossenen Männergriff um das Stehmikro, das breitbeinig und in gestreiften Leggings zu Boden gerungen wird.
Im Gegensatz zum Ranicki-reichen Literaturpapst sind die Scorpions nicht mit höheren Weihen versehen, sondern sehr bodenständig. Sie sind Veteranen einer Kultur der musikalischen Bronzezeit und immer noch on The Road, meistens im Ausland – Taschkent, Ulan-Bator und solche Sachen. Hoffentlich kann man mit den Scorpions noch lange rechnen, anders als mit dem Literaturpapst.
Egal, wie immer man zu hoffen wagt: Show-Urgestein Dieter Bohlen kommt immer wieder zurück. Genau genommen ist er niemals weg. Man würde es sich ja wünschen. Neulich stellte er sein Buch auf einem Musikkanal vor, es trägt den Titel »Nichts als die Wahrheit«. Er erteilte den jungen Zuschauern wichtige Ratschläge für die rasante Reise durch ein abenteuerliches Leben. Sie dürften die Schule nicht schwänzen und sollten sich anstrengen.
Bohlen ist so alt wie ich, 54, die meisten Eltern der hippen Teenies sind 44. Wenn die ihren Kindern erzählen, sie sollten in der Schule gefälligst lernen, werden sie als Spießer belächelt. Sie kommen statusmäßig nicht an Dieter heran. Weder haben sie so schön Bruzzzler-braun gebräunte Haut, noch sind ihre Zähne so schön weiß, und hauptsächlich haben sie noch nie so schön gesungen wie Dieter: »Cheri Cheri Lady«!
Es gibt freilich auch sehr gemeingefährliche Dinos. Einer davon ist zum Beispiel Hartmut Mehdorn. Man sollte ihn nicht anlächeln, denn er deutet dies schnell als Zustimmung für seine bösen Bahn-Vorhaben – als unterstützten die Bahnkunden absichtlich die Verspätungen und Zug-Ausfälle und den Personalmangel, weil die Privatisierung dies »leider zwingend erfordert«. Als wollten die zahlenden Bahnkunden freiwillig zurücktreten hinter die Renditesucht der Bahnaktionäre.
Vergangenen Mittwoch hat er meinen Lieblings-ICE von Fulda nach Berlin einfach halbiert. Mehdorns Vorwand: aus betriebsbedingten Gründen. Die US-Präsidenten führen immer nationale Sicherheitsgründe an. Sind auch dieselben Typen von Menschen. Aber Mehdorn macht es gewiss auch, um gezielt Kunden wie mich zu drangsalieren und mir die Lust am bequemen Reisen im Speisewaggon der Deutschen Bahn zu verderben. Den Speisewaggon hat er nämlich extra rausnehmen lassen.
Vermutlich sitzt er wie die früheren sowjetischen Schurken, die James Bond ärgern wollten, in seiner Berliner Hochhauszentrale und drückt mit satanischer Leidenschaft auf Knöpfchen herum, um mich zu spät oder gar nicht von Laubach nach Berlin kommen zu lassen. Oder um mich vor ewig verschlossenen Bahnschaltern oder kaputten Ticket-Automaten stehen zu lassen. Oder er gibt falsche Zuginformationen, falsche Fahrtzeiten, falsche Bahngleise und falsche Zugverbindungen an. All solche falschen Sachen spricht er mit plärrender Stimme in das Lautsprecher-Mikro auf den Bahnhöfen. Überall hört man seine verlogene Stimme. Ich hasse Menschen wirklich sehr ungern, aber Mehdorn …
Jedenfalls wird er noch lange im Amt bleiben, wie Bohlen und Reich-Ranicki. Solche Leute stehen generell auf dem Standpunkt, dass die Jüngeren einfach noch zu jung sind. Beziehungsweise nicht alt genug, was aufs Gleiche rauskommt. Aber ihrer Argumentationsschläue sind da keine Grenzen gesetzt.
Noch einmal zurück zu meinem Amigo, der in den gleichen Fitnessladen geht wie ich. Sicherlich ist er nicht mehr der Schnellste und Wendigste, aber abgehängt hat er mich und die anderen auf alle Fälle. Mit seinen oberstylishen Sportklamotten. Ganz in weiß mit Regenbogen über einer Gitarre und dem Aufdruck »Amigo«. Einfach mega.
Den Befehlen meiner um mein Liebesleben besorgten Kids folgend, schaue ich mir neuerdings auf ProSieben die TV-Serie Sex and the City an. Das soll mich nach meinem zweijährigen Liebesentzug wieder fit machen. Die Protagonistinnen sind vier New Yorker Frauen, deren amouröse und sexuelle Erlebnisse und Freundschaften ebenso wie ihre Auseinandersetzungen, Diskussionen und Gedanken zu fast allen Fragen menschlicher Beziehungen dargestellt werden. Ein fast schon philosophisches Programm, finde ich. Ich bin also sehr gespannt, was mir geboten wird.
Um nur einen kleinen Einblick in diese Serie zu geben, habe ich mir mühelos die Mühe gemacht, eine Art posttraumatisches-Drehbuch zu einer Episode zu schreiben. Und hier we go:
Handlungsstrang: Eine Party und entsprechender Party-Smalltalk. Jahreszeit: Winter. Handlungsort: Das Haus von Bob Milo, dem berühmten Hollywood-Filmstar. Er wohnt auf der anderen Seite des Hollywood-Hügels, und um dort hinzugelangen, müssen die Partygäste – die Serien-Protagonisten rund um Carrie (gespielt von Sarah Jessica Parker) – ihre Autos stehen lassen und mit Schneemobilen weiterfahren. Haus und Garten sind mit Lichterketten geschmückt, obwohl es schon Februar ist.
Innenansicht Haus: Es ist wie eine Art Grotte angelegt, mit Zierkarpfen und einer Brücke, über die man ins Wohnzimmer gelangt. Bob Milo hält Audienz vor dem Kamin. Seine Freundin und seine zukünftige Exfrau sind da und sehen fast wie Zwillinge aus, nur dass die Ehefrau zehn Jahre älter ist als die Freundin. Bob Milo trägt einen Pullover und eine lange Skiunterhose. Er ist ungefähr einen Meter fünfzig groß und hat Filzpantoffeln an, die vorne spitz zulaufen, sodass er wie ein Wichtelmännchen aussieht.
„Ich trainiere sechs Stunden pro Tag“, erzählt er gerade, als Stanford ihn unterbricht. Stanford ist Carries schwuler Freund, häufig im Scherz als ihr Ehemann bezeichnet; ein liebenswerter, aber nicht besonders attraktiver Mann, der sich seiner Nachteile in der körperbetonten Schwulenszene sehr bewusst ist. „Entschuldigen Sie“, sagt Stanford, „aber wer hat Ihren Jet ausgestattet?“
Milo mustert ihn ungehalten.
„Nein, ich meine es ernst“, sagt Stanford. „Ich überlege, selbst einen Privatjet zu kaufen, und will sichergehen, den richtigen Ausstatter zu beauftragen.“
Carrie sitzt an einem Tisch und futtert sich durch einen Berg Steinscherenkrabben und Shrimps. Sie unterhält sich mit ihrer sexy Freundin Samantha Jones (Kim Cattrall), die sexuell sehr emanzipiert ist. Man sieht sie häufig in aberwitzigen Stellungen mit den verschiedensten Männern. Beide Mädels genießen ihren bösartigen Klatsch, flüstern sich ständig bissige Bemerkungen über die Partygäste zu und lachen und werden immer gehässiger.
Carrie ist die Autorin einer regelmäßigen Kolumne in der Zeitung New York Star. Diese Kolumne Sex and the City beschäftigt sich hauptsächlich mit den verwirrenden Dating- und Liebesritualen der New Yorker Singlewelt. Carries sexualphilosophische Fragestellungen bilden die Rahmenhandlung der Serie.
Carrie liebt ausgefallene Outfits und vor allem Schuhe und gibt das meiste ihres Gehalts dafür aus. Auch ihre Frisur ändert sich etwa einmal pro Staffel. Sie ist dem Singleleben keineswegs abgeneigt, doch wenn sie sich verliebt, wird sie regelrecht besessen davon, über den Mann und die gemeinsamen Probleme zu sprechen, womit sie ihre Freundinnen manchmal in den Wahnsinn treibt. Trotz allem sucht Carrie die große Liebe und wird sich immer wieder schmerzlich bewusst, wie weit sie davon entfernt ist. Aber dennoch gerät sie stets in die anziehende Nähe von John James Preston alias Mr Big (gespielt von Chris Noth).
Mr Big sitzt neben Carrie und unterhält sich mit Jack, von dem sich Carrie früher getrennt hat. Um Jack drapieren sich zwei Frauen. Ich bin so froh, dass ich mich mit dem nicht mehr rumärgern muss, denkt sich Carrie und widmet sich wieder ihren Shrimps.
Und dann gibt es ein klein wenig Tumult, als eine Blondine auf die Gruppe zukommt, dabei mit den Armen fuchtelt und etwas mit komischem Akzent plappert. Oh-oh, die Stimme kenn‘ ich doch, denkt Carrie und beschließt, die Person zu ignorieren.
Die Frau kommt zu ihnen und setzt sich Mr Big praktisch auf den Schoß. Sie lachen zusammen über irgendetwas. Carrie dreht sich nicht um. Dann sagt jemand zu Mr Big: „Wie lange kennt ihr euch schon?“
„Ich weiß nicht. Wie lange wohl?“, fragt die Blondine Mr Big.
„Vielleicht zwei Jahre?“, meint Mr Big.
„Wir haben einander im Le Palais entdeckt. In Paris“, sagt die Frau.
Jetzt endlich dreht sich Carrie um. Sie lächelt gequält. „Hallo, Ray“, sagt sie. „Was hast du da gemacht? Ihm in irgendeiner Ecke einen geblasen – deine Spezialität?“
Einen Augenblick lang herrscht schockiertes Schweigen, dann brüllen alle los vor Lachen, bis auf Ray. „Wovon sprichst du? Was meinst du damit?“, fragt sie mit ihrem dämlichen Akzent.
„Das war ein Witz“, sagt Carrie. „Verstehst du nicht?“
„Das ist wohl deine Art von Humor, Schätzchen. Ich finde das nicht lustig.“
„Ach, wirklich?“, sagt Carrie. „Tut mir ja schrecklich leid. Alle anderen finden es offensichtlich zum Brüllen. Wenn du dich jetzt bitte vom Schoß meines Freundes entfernen würdest, könnte ich endlich mit meinem Gespräch fortfahren.“
„Das hättest du nicht sagen sollen“, meint Mr Big. Er steht auf und geht davon.
Soweit also meine posttraumatischen Aufzeichnungen einer Episode aus einer Staffel aus einer der in diesem Jahr in Deutschland meistgesehenen amerikanischen TV-Serien. Ich habe viel gelernt und bin nun bereit für ein neues Liebesleben in einer völlig neuen Zeit. Soll ich meinen beiden älteren Kids nun dankend um den Hals fallen? Ich entscheide mich tunlichst für Taten und hole meinen relativ ehrlichen Text-Entwurf für eine Kontaktanzeige für die Rubrik ER sucht SIE hervor: „Junger Mann (54) sucht aktive Partnerin ab 35“. Das lässt, wie gesagt, viel offen und damit viel hoffen. Aber nun habe ich gerade die Sache mit Mr Big mitgekriegt und denke, dass es vielleicht nicht schlecht wäre, darauf Bezug zu nehmen. Es ist eine instinktive Entscheidung, und so schreibe ich mich zudem fünf Jahre jünger: „Mr Big (49) sucht Carrie (ab 35).“Ich adressiere den Brief an die Zeitung und werfe ihn noch am selben Abend in den Briefkasten bei uns um die Ecke.
Geschafft.
Jetzt heißt es warten und sehen, was kommt.
Mit allem muss man alleine klarkommen.
Auch Sina muss alleine klarkommen. Und auch sie denkt, dass es Zeit wäre, wenn sie wieder einen Partner an ihrer Seite wüsste, jemand, dem sie sich anvertrauen könne, auf den sie sich verlassen, mit dem sie lachen und weinen könne, der sie zu schätzen wisse und der sie liebte. Aber wie will man heutzutage an einen Mann kommen, wenn man beruflich so heftig eingespannt und oft auf Reisen ist? All diese flüchtigen Bekanntschaften sind nichts wert. Viele Männer verdrehen ihren Kopf nach ihr, aber bei keinem fängt sie Feuer.
Sie hat sich auf ihrer Reise zur Prêt-à-Porter nach Paris im Zug eine Infektion eingefangen und liegt zu Hause mit Fieber im Bett. Ihr Blick fällt auf ihren Fernseher, der seit ihrem Einzug in die neue Langenselbolder Wohnung noch immer nicht läuft. Jetzt wäre es praktisch, wenn sie mal Glotze gucken könnte. Die Programmeinstellung muss ein Fachmann vornehmen.
Sie blättert die Tageszeitung auf und schaut die Anzeigenrubriken durch. Unter »Handwerk« findet sie ein TV-Fachgeschäft in ihrer neuen Stadt.
„Ich bringe meinen Fernseher nicht zum Laufen, bin technisch nicht versiert“, sagt sie ins Telefon.
Nachdem sie die Zusage eines Techniker-Besuchs für den nächsten Tag erhalten hat, blättert sie zwei Seiten weiter und stößt auf die Rubrik »ER sucht SIE«. Gleich darunter steht an dritter Stelle eine Chiffre-Anzeige, deren Aussage sie erstaunen lässt. Die Annonce nimmt Bezug auf ihre Lieblingssendung mit Mr Big und Carrie Bradshaw und deren Liebeleien und auf die teilweise verrückte und faszinierende Mode, die in dieser Serie zum Einsatz kommt.
Wenn sie ihren Kolleginnen und Kollegen gesteht, dass sie diese amerikanische Soap gerne sieht, begründet sie es sachlich und mit offenem Lächeln allein damit, dass sie mit den aktuellen Modetrends unbedingt auf dem Laufenden bleiben müsse.
Süffisantes Gegenlächeln ist ihr dann gewiss.
Der Text der Anzeige ist, was die Textlänge betrifft, äußerst dürftig. Doch der Inhalt hat es – jedenfalls für Sina – in sich: »Mr Big (49) sucht Carrie (ab 35)«.
Mit den Jungspunten hat es sich ausprobiert. Nur, ihr Alter passt nicht so richtig. Sie ist drei Jahre unter dem angegebenen Altersspektrum. Aber ist das wirklich so wichtig? Nein, sagt sie sich und wirft ihre Antwort in den Briefkasten.
Zwei Wochen später schickt mir die Zeitung Sinas Antwort auf meine Chiffre-Annonce zu: „Hi Mr Big, hier ist Carrie. Ich warte auf unser Date.« Eine Telefonnummer erleichtert mir die Kontaktaufnahme. Wir finden unsere Stimmen sympathisch und verabreden uns in einem Café ihres Städtchens. Aber das hat noch eine Woche Zeit, finde ich, weil ich geschäftlich unterwegs bin, sage ich.
„Das ist mir sehr recht“, antwortet Sina. „Ich muss diese Woche die Prêt-à-Porter vorbereiten, danach fahre ich zu dieser Modemesse nach Paris, um die Kolleginnen bei der Präsentation unserer Kollektion zu unterstützen. Wir könnten uns dann in zwei Wochen treffen. Halten wir das aus?“
„Und ob“, sage ich und bin heilfroh.
Und das hat seinen Grund darin, dass Karola und Luca mich derzeit etwas zu klein für mein Gewicht finden. Nun bin ich aber ausgewachsen, sodass ich dummer Weise nur etwas an meinem Gewicht ändern kann. Es stimmt, ich habe in letzter Zeit wieder viel zu viel geschrieben und dabei blöd herumgesessen. Das geht nach aller bisherigen Erfahrung einher mit einer gewissen Gewichtszunahme.
Nun ja, wenn ich ehrlich bin, handelt es sich nicht bloß um eine lächerliche Gewichtszunahme, sondern um eine gewaltige Gewichtsexpansion. Eigentlich liegt es weniger an den Mahlzeiten, die ich für meine drei Kids täglich zubereiten muss – mir geht das ewige Kochen eher langsam auf die Nerven, und somit esse ich eher spärlich, jedenfalls im Vergleich zu meinen drei gefräßigen Süßen. Die drei vermuten, dass es an mangelnder Bewegung liegt.
„Sport wäre jetzt ganz gut“, sagt Luca.
„Ich mache doch Fitness!“, entrüste ich mich.