Sturmflutnacht - Andrea Weil - E-Book

Sturmflutnacht E-Book

Andrea Weil

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Am Morgen nach einer Sturmflut wird ein Pferd samt Reiterin tot am Strand angespült. Marietta soll sich in die Nordsee gestürzt und umgebracht haben. Doch Kaja, Besitzerin des Reithofs, glaubt nicht daran. Sie kannte Marietta, die gerade mit ihrem Erstlingsroman einen Überraschungserfolg gefeiert hat, als echte Pferdeliebhaberin. Der Polizei traut Kaja nicht über den Weg, also folgt sie ihrem Bauchgefühl und fängt an, eigene Ermittlungen anzustellen. Dabei sticht sie in ein Wespennest aus Vertrauensbruch, Neid und Gier.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 322

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Kurzbeschreibung

Am Morgen nach einer Sturmflut wird ein Pferd samt Reiterin tot am Strand angespült. Marietta soll sich in die Nordsee gestürzt und umgebracht haben. Doch Kaja, Besitzerin des Reithofs, glaubt nicht daran. Sie kannte Marietta, die gerade mit ihrem Erstlingsroman einen Überraschungserfolg gefeiert hat, als echte Pferdeliebhaberin. Der Polizei traut Kaja nicht über den Weg, also folgt sie ihrem Bauchgefühl und fängt an, eigene Ermittlungen anzustellen. Dabei sticht sie in ein Wespennest aus Vertrauensbruch, Neid und Gier.

Andrea Weil

Sturmflutnacht 

Ein Nordsee-Krimi

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2021 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2021 by Andrea Weil

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera.

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon

Lektorat: Christin Ullmann

Korrektorat: Tatjana Weichel

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-392-2

www.instagram.com

www.facebook.com

www.edelelements.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Nachwort und Danksagung

1Der Schimmelreiter

Ein Meer, das nicht gelegentlich damit drohte, einen vom Deich zu pflücken und mit sich zu reißen, war für Kaja kein Meer.

Mit einem Grollen, das in jeder Faser ihres Körpers nachdröhnte, rannten die Wellen gegen den Deich an, sprangen übereinander hinweg wie übermütige Raubtiere. Gischt und Schaum spritzten hoch und Kaja ins Gesicht. Dann verloren die Wellen an Kraft, liefen knapp unter der Deichkrone aus, mit einem Zischen, enttäuscht, dass ihnen ihre Beute entgangen war. Der Wind riss Kaja die Kapuze vom Kopf, zerrte an ihren roten Dreadlocks und zerfetzte die Wolkendecke. Für einen Moment blitzte der fahle Mond hervor, nur zu einem Drittel voll. Kaja warf den Kopf zurück und heulte mit den Elementen um die Wette. Die nächste Böe trug den Schrei davon, fast ungehört, und ließ ihren Atem stocken. Sie wischte sich über das nasse Gesicht und lachte.

Ein kleiner Schwarm Möwen trieb dicht an ihr vorbei, ihre gellenden Schreie durchstachen für einen kurzen Moment das Wutgebrüll des Meeres und das Toben des Sturms. Kaja breitete ihre Arme wie Flügel aus und wirbelte um die eigene Achse. Nur einmal abstoßen und sie könnte genauso fliegen wie die Vögel, ganz bestimmt!

Wieder ein Windstoß, er riss an ihrem Ölzeug, sie taumelte auf den Hang neben dem Trampelpfad und kämpfte um ihr Gleichgewicht, um nicht in die weit aufgerissenen, schwarzen Mäuler der Wellen zu stürzen.

Mit klopfendem Herzen erreichte Kaja wieder die Mitte der Deichkrone, raffte den steifen, gelben Mantel enger am Hals zusammen und zwang sich, ruhiger zu atmen. Idiotin! Stadtkind! Es hat seinen Grund, dass selbst die Einheimischen bei Sturmflut nur rausgehen, wenn es sich nicht vermeiden lässt.

Aber Kaja konnte nicht anders. Wenn die Fensterläden klapperten, der Wind auf dem Schornstein spielte wie auf einer Panflöte und sich die Pferde im Stall ängstlich zusammendrängten, dann zog es sie nach draußen. Selten fühlte sie sich so lebendig wie in diesen Momenten, als ob sie die Kraft des Sturms mit ihrem ganzen Körper aufsaugen könnte. Deshalb war sie hierhergekommen, aus Frankfurt am Main, weit weg von zu Hause. Um das Salz auf den Lippen zu schmecken, und notfalls auch Sand zwischen den Zähnen, und um komplett durchgebeutelt zu werden. Bis sie zurückkehrte ans warme Kaminfeuer, wo ein Tee auf sie wartete, den Kalle ihr bei allem Grummeln längst bereitgestellt hatte.

Langsam war es so weit, Kaja konnte kaum mehr die Spitzen ihrer neongrünen Gummistiefel sehen. Die zwei Handbreit Hose zwischen Schaft und Mantel klebten an ihren Beinen. Das Wasser hatte außerdem seinen Weg durch den zu weiten Kragen gefunden und sickerte in den Wollmantel, den sie unter dem Ölzeug trug. Der Weg zurück nach Dagebüll würde eine gute halbe Stunde dauern. Ernüchtert drehte Kaja sich um, nun die linke Seite den tobenden Elementen zugewandt, und stapfte los. Eine Handvoll Möwen segelte dicht am Boden über den Deich. Fast streiften sie die einsame Wanderin, bevor sie im Schutz des Binnenlandes verschwanden. Kaja sah ihnen hinterher, als es in ihrem Augenwinkel aufblitzte.

Etwas kam ihr auf dem Deich entgegen. In diesem Moment zog sich der Mond hinter eine Wolkenbank zurück und erschwerte ihr die Sicht. Ein Reiter?

Kaja machte einen Schritt zur Seite, sicherheitshalber landeinwärts. Da war die Gestalt auch schon auf ihrer Höhe, so dicht, dass sie sich fast streiften. Ein Schimmel, nein, die Flanken waren dunkler gefleckt, ein Apfelschimmel. Der Reiter obenauf hatte seine Jacke nicht geschlossen, sie peitschte hinter ihm her wie eine Fahne, und zwei Augen unter dem Helm blitzten Kaja kurz an, ohne Erkennen. Der Hufschlag auf der aufgeweichten Grasnarbe wurde verschluckt vom Dröhnen des Meeres.

Einen Moment blieb Kaja wie erstarrt stehen und schaute dem Pferd hinterher, das wie von allen Geistern gehetzt den Deich entlanggaloppierte. Verdammte Scheiße, wer tat seinem armen Tier das an und jagte es bei diesem Wetter nach draußen? Am Deich war Reiten sowieso verboten, ob oben oder auf den asphaltierten Wegen davor und dahinter – sowohl Nationalpark als auch Küstenschutz hatten da zu Recht Bedenken. Der Reiterhof konnte in Teufels Küche kommen. Das sagte Kaja all ihren Reitschülerinnen tausendmal am Tag! Ihren Schülerinnen … Ja, das Pferd hätte Mira sein können, aber warum sollte Marietta … Die war wirklich alt genug, um es besser zu wissen!

Kaja fischte in der Manteltasche nach ihrem Handy, doch das zeigte kein Netz an. Wie immer, sobald ein bisschen Wind wehte! Sie steckte das blöde Teil wieder ein und lief los, zügigen Schritts in Richtung des heimischen Stalls.

Als endlich die Scheinwerfer der Mole näher rückten und rechts im Dunkel hinter dem Deich die ersten erleuchteten Fenster auftauchten, atmete Kaja auf. Selbst den Pseudoleuchtturm als Landmarke hatte sie bei diesem Wetter irgendwie verpasst. Am letzten Abgang vor den Metallzäunen, die die Baustelle des Badedeichs absperrten und sich leise kreischend aneinander rieben, bog Kaja auf ihre Warft ab. Die Lampe über dem Holzschild, das sie an der Stirnseite ihres Hauses angebracht hatte – ein halbrunder Bogen mit dem Schriftzug „Hof Sturmwolke“, darunter die Umrisse eines Buchs mit einem stilisierten Pferd auf dem Cover –, wippte im Wind. Obwohl das Wasser mittlerweile die warmen Wollschichten besiegt hatte und ihr in den Nacken sickerte, wo es sich mit Schweiß vermischte, ließ Kaja das Haus rechts liegen und steuerte sofort den Stall an. Das Schiebetor war geschlossen und eingehakt. Kaja hob den Riegel, stemmte sich gegen das Holz und schlüpfte zusammen mit einem Windstoß durch den Spalt, um ihn gleich wieder hinter sich zuzuschieben. Der warme Dunst von Heu, Pferd und Pferdeäpfeln umfing sie in der Notbeleuchtung.

Kaja tastete nach dem Lichtschalter. Noch bevor sich ihre Augen an den grellen Schein der nackten Glühbirne gewöhnt hatten, hörte sie Ares’ gedämpftes Begrüßungswiehern. Im Vorbeigehen tätschelte Kaja die schwarze Nase, die sich ihr über die Boxenwand entgegenreckte, hielt sich aber nicht weiter auf, auch wenn der Hengst sie dafür später mit Verachtung strafen würde. Die Ponys in den beiden Gemeinschaftsboxen schnaubten und suchten die Nähe des einzigen Menschen. Der Sturm schlug gegen die Tore, und ausnahmsweise beschwerten sich die Tiere nicht darüber, dass der Zugang zur Weide verschlossen war. Rechts hinten befanden sich weitere Boxen für Privatpferde. Kaja bog um die Ecke – und atmete bewusst tief durch.

Die Tür zu Miras Box stand offen. Das Halfter hing am Führstrick am Gitter, darunter lagen Putzzeug und Hufkratzer verstreut. Verfluchte Marietta und ihre Anfälle! So eine Dramaqueen!

Noch einmal checkte Kaja ihr Handy, das weiter tot blieb. Sie drehte sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Rannte fast, aber nahm sich die Zeit, das Licht auszuschalten und die Tür wieder sorgsam zu verschließen. Nicht noch mehr Unfug heute Abend.

Die Haustür war nicht abgeschlossen. Kaja riss sie auf und stürmte am Treppenaufgang vorbei den Flur entlang zur Küche, ignorierte das Wasser, das vom Mantelsaum auf die Dielen tropfte, und das quatschende Geräusch, das ihre Stiefel machten.

„Wo ist dein Handy?“, rief sie, noch bevor sie die Hand an der Klinke hatte. „Hast du Empfang?“

Die altmodische Küche, die sie von den Vorbesitzern geerbt hatten, war hell erleuchtet, die in allen Regenbogenfarben gestrichenen Holzschränke glänzten matt. Das saubere Geschirr stapelte sich auf dem Abtropfgestell und an der Backsteinwand hingen riesige Suppenkellen, Bratenwender und Messer. Auf dem massiven Holztisch stand ein Stövchen mit Kerze und einer Kanne Tee, aus deren Tülle es sacht dampfte. Daneben lagen irgendwelche Maschinenteile auf ölfleckigen Tüchern. Kein Kalle.

„Hey, du Bisamratte.“

Kaja fuhr herum, als ihr Freund im gegenüberliegenden Türrahmen des Wohnzimmers auftauchte, in T-Shirt, Jeans und trotz der Kühle barfuß. Das Grinsen unter seinem dunkelblonden, zu zwei Wikingerzöpfchen geflochtenen Bart erlosch sofort, als er ihren Gesichtsausdruck sah. „Was ist?“

Mit zwei Schritten war Kaja bei ihm. „Hast du Netz?“

„Nein“, sagte Kalle und tastete gleichzeitig nach seinem Handy in der Hosentasche. „Nein“, wiederholte er, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte. „Natürlich nicht, bei dem Wetter.“

„Shit“, fluchte Kaja. Sie mussten sich endlich mal Festnetz zulegen für so einen Fall! „Mira und Marietta sind irgendwo draußen, sie sind am Deich an mir vorbeigesaust, völlig durchgedreht.“

„What the fuck! Spinnt die?“ Kalle zog an einem Bartzopf. Er hatte weniger Erfahrungen mit Pferden als Kaja und behandelte sie, als könnten sie bei jedem Tropfen Regen sofort sterben. „Ich hab sie vor eineinhalb Stunden noch im Stall gesehen, als ich gefüttert hab. Sie wollte eigentlich nur ein bisschen putzen, um Mira zu beruhigen.“ Er fluchte wieder. „Ich hätte aufpassen sollen! Noch mal nachschauen, aber sie hat versprochen, die Tür zu verschließen und …“

Kaja küsste ihn flüchtig – sie musste sich dafür nicht recken – und sagte: „Hat sie auch. Und Marietta ist dreiundzwanzig und erwachsen. So.“ Sie schob Kalle von sich. „Jetzt hör auf mit Mimimi und rück den Autoschlüssel raus.“

„Ich fahre mit.“

„Einer sollte hier sein, wenn sie zurückkommt.“ Falls sie zurückkommt.

„Dann fahre ich. Du bist klatschnass, du holst dir den Tod.“

„Gib mir den verdammten Schlüssel!“ Kaja reckte das Kinn vor. Sie hasste es, wenn er den Beschützer spielen wollte.

Kalle holte Luft. Die Zeit drängte, das wussten sie beide. Mira war ein Pferd, das sich vor seinem eigenen Schatten erschreckte, sie hatte Marietta mehr als einmal abgesetzt in den vergangenen eineinhalb Jahren, in denen sie den Hof führten. Das Mädchen humpelte möglicherweise irgendwo durch den Sturm, während das Pferd herumirrte, sich ein Bein brach, mit den Zügeln verhedderte oder am Stacheldraht den Bauch aufriss. Also seufzte Kalle nur und suchte seine Jacke, um den Schlüssel aus der Tasche zu kramen.

Der neunzehn Jahre alte Nissan, sonnengelb, sah vielleicht nicht aus wie ein Geländewagen, war aber hochbeinig genug, um nicht gleich an jeder Bodenwelle aufzusetzen. Der Wind schob von der Seite und Kaja musste das Lenkrad mit beiden Händen festhalten, um in der Spur zu bleiben. Auf dem Deich zu fahren war völlig unmöglich. Mit einem Pferd konnte man vielleicht noch die Schafzäune überwinden – viel zu gefährlich, du dumme, dumme Person!, schimpfte Kaja innerlich weiter auf Marietta ein –, nicht aber auf vier Rädern. Ganz davon abgesehen, was sie alles kaputt machen könnte an dem Bauwerk, das verhinderte, dass sie alle absoffen. Zum Glück waren die Dämme gerade erst Stück für Stück auf neun Meter erhöht worden. Nur am Dagebüller Badestrand bauten sie noch den letzten Abschnitt –wahrscheinlich nahm der Sturm heute einiges von dem frisch aufgeschütteten Material gleich wieder mit.

Den Weg zum Meer hin hatte die Flut natürlich überspült, also blieb nur die Straße hinter dem Deich, von der aus Kaja herzlich wenig sehen konnte von dem, was oben abging. Immerhin standen die Tore, sonst mit Vorhängeschlössern gegen ignorante Touristen gesichert, offen, wahrscheinlich, um den Hilfs- und Rettungskräften den Zugang zu erleichtern, sollten sie bei dem Wetter irgendwo am Deich eingreifen müssen. Bei jedem asphaltierten Übergang nutzte Kaja die Gelegenheit, fuhr zur Krone hinauf, stieg aus und spähte in die wirbelnde Nacht hinaus. Der Mond tat ihr nicht den Gefallen, sich durch die Wolken zu kämpfen, und die Wellen schluckten das Scheinwerferlicht nach wenigen Metern. Das Jaulen des Windes übertönte ihre Rufe, kaum dass sie aus ihrem Mund heraus waren. Wie es erst den Leuten auf den Halligen da draußen ging? Normalerweise sah man die Lichter in der Ferne blinken, aber selbst die waren verschwunden. Einmal glaubte Kaja, in der Ferne zwei Deichgänger zu erkennen, und überlegte, zu ihnen zu laufen und sie zu fragen, ob sie die Reiterin gesehen hatten. Im nächsten Moment war sie sich nicht mal mehr sicher, ob ihre Augen ihr nicht einen Streich gespielt hatten, also ließ sie es bleiben.

Je weiter sie fuhr, desto unruhiger wurde Kaja. Wer sagte, dass Marietta am Deich geblieben war? Sie konnte überall hin geritten sein! Vielleicht Schutz gesucht haben, nachdem sie wieder zu Verstand gekommen war, während Kaja immer weiter in die falsche Richtung fuhr. Wie sollte sie inmitten dieses Mahlstroms ein einzelnes Pferd finden?

Am Hauke-Haien-Koog umrundete sie einmal den See, scheuchte eine Schar Wildgänse auf, die sich mit lautem Protestgeschnatter weiter landeinwärts mitreißen ließen, und stoppte kurz an dem leerstehenden Bauwagen, den die Jugendlichen der Umgebung manchmal als Treffpunkt benutzten. Aber auch hier keine Spur von Marietta oder Mira.

Bis sie endlich Schlüttsiel erreichte, war viel zu viel Zeit vergangen. Sicher hatte das galoppierende Pferd längst einen ordentlichen Vorsprung. Die Schleusentore standen weit offen und Wasser toste ins Speicherbecken im Hinterland. Kaja bildete sich ein, zu spüren, wie es an der Straße unter ihren Reifen hinwegspülte. Wieder parkte sie und kämpfte sich zum Fährhaus hinauf. Einen Moment blieb sie stehen, vergaß fast zu atmen. Am Ende des Landungsstegs explodierte die Brandung geradezu im Scheinwerferlicht, feuerte die weiße Gischt haushoch empor, bis sie in glitzernden Kaskaden wieder herunterregnete. Kaja schauderte und wusste nicht, ob aus Ehrfurcht oder Angst.

Hotel und Restaurant waren immer noch geschlossen, allerdings gab es nebenan einen Warteraum für Fährgäste. Touristen waren hier so spät am Abend und so früh im Jahr keine gestrandet, aber wie Kaja gehofft hatte, nutzte ein Deichgänger den Glasbau, um sich kurz aufzuwärmen. Freiwillige wie dieser behielten bei Sturmfluten im Auftrag des Katastrophenschutzes die dreihundert Kilometer Küste im Auge.

„Nee, en Peerd, dat har ik sehn“, war leider alles, was der Mann in dunkelgrünen Watthosen über dem Rollkragenpulli beitragen konnte. Ein Pferd hätte er gesehen, so viel Platt verstand Kaja gerade noch. Dann bot er ihr Tee aus seiner Thermoskanne an. Sie lehnte dankend ab und steuerte den Weg nach Fahretoft an.

Es war nach halb zehn, als sie ins Neubaugebiet und den Christian-Jensen-Weg einbog. Bevor sie klingelte, trat Kaja auf den millimeterkurzen, wintergelben Rasen und ging ein Stück um das weitläufige, helle Holzhaus herum, in der Hoffnung, auf der Brachfläche dahinter einen zitternden Apfelschimmel zu entdecken. Leider nicht. In Mariettas Haushälfte waren die Rollläden oben, die Fenster dunkel. Deshalb drückte Kaja den Klingelknopf, über dem „Familie Rain“ stand.

Mariettas Mutter öffnete so schnell die Tür, als hätte sie im Hausflur gelauert. Selbst so spät trug sie die blonden Haare, die sie an ihre Tochter vererbt hatte, perfekt hochgesteckt, dazu einen weißen Hausanzug. Ihre dezent geschminkten Augen in dem blassen Gesicht weiteten sich.

„Oh Gott, was ist passiert?“

„Eigentlich hatte ich gehofft, Sie könnten mir das sagen. Hat sich Marietta gemeldet?“ Vielleicht klang Kaja etwas harscher als beabsichtigt. Das passierte ihr manchmal mit dieser Familie.

„Nein, warum?“ Frau Rain schlug die Hand vor den Mund. „Ich habe ihr gesagt, es ist zu gefährlich, bei dem Wetter zum Hof zu fahren. Es ist nur ein Pferd, das ist es nicht wert, dein Leben zu riskieren, habe ich gesagt. Sie kümmern sich schließlich, nicht wahr? Aber Marietta wollte unbedingt selbst nachsehen …“

Kaja verbiss sich einen Kommentar zu dieser passivaggressiven Frage. Es gab jetzt Wichtigeres. „Können Sie sie anrufen? Mein Handy hat keinen Empfang.“

Frau Rain drehte sich um und eilte ins Haus zurück, ohne Kaja hereinzubitten. Wahrscheinlich konnte sie froh sein, dass sie ihr nicht die Tür vor der Nase zuknallte. Wäre auch schwer gewesen bei dem Wind.

Kaja stapfte über die Schwelle und stemmte die Tür hinter sich zu. Tropfend blieb sie auf der lila-grauen Design-Fußmatte stehen, die aussah wie zusammengefilzt. Kurz schnitt Kaja sich selbst in dem mit hellem Holz eingefassten Garderobenspiegel eine Grimasse, schob sich ihre Dreads über die linke Schulter und rieb sich über die raspelkurz rasierte rechte Kopfseite. Mittlerweile sah sie aus wie eine ertrunkene Bisamratte, Ölzeug hin oder her.

„Sie geht nicht ran!“, schallte Frau Rains Stimme durch den Türspalt gegenüber. Im nächsten Moment tauchte sie im Rahmen auf. „Was ist denn nur passiert? Ein Unfall? Mit dem Auto?“

„Das hätte ich kaum mitgekriegt. Sie ist mit Mira raus in den Sturm. Ich hab sie am Deich gesehen, aber das ist schon über eine Stunde her.“

„Oh mein Gott, dieses Pferd, ich wusste, dass Marietta sich noch verletzt mit diesem Tier.“

„Ich glaube eher, Mira verletzt sich mit ihr.“

Aber da war Frau Rain schon wieder im Wohnzimmer verschwunden. Unwillkürlich rieb Kaja sich die Oberarme, was nutzlos war. Die Heizung im Postauto war noch nie besonders gut gewesen und sie war durchgefroren bis auf die Knochen.

Jetzt hörte sie den tiefen Bass des Vaters und atmete ein wenig auf. Sollte der seine Frau zur Vernunft bringen. Kaja verstand nicht, was Herr Rain sagte, und ging ein Stück in Richtung Tür, ließ dabei eine Schlammspur auf den weißen Kacheln zurück.

Ein Blick durch den Spalt zeigte, dass Frau Rain vor dem lila-weißen Ledersofa auf und ab lief, das Telefon wieder am Ohr. Auf dem hellen Holztisch standen zwei Weingläser.

„Sasha? Sasha, hier ist Lorena. Ist Marietta bei dir?“ Sie lauschte auf die Antwort, und ihre manikürten Fingernägel krampften sich um das Mobilteil. „Hast du sie heute gesehen? Nein … Ja, ja, sie ist nicht … Danke.“ Frau Rain ließ das Telefon sinken. Ihre Stimme schraubte sich eine Oktave höher, als sie sich zu ihrem Mann umdrehte, der sich aus dem Ledersessel hochstemmte. „Wir müssen die Polizei rufen! Den Notruf! Wahrscheinlich liegt sie irgendwo …“

Herr Rain machte Anstalten, sie an den Schultern zu fassen, doch sie war schon wieder am anderen Ende des Zimmers und drückte auf den Tasten herum.

Die arme Sasha wurde wahrscheinlich auch noch ganz kirre nach diesem Anruf.

„Ich fahre zum Hof zurück“, rief Kaja. „Vielleicht ist Marietta längst wieder da.“ Sie hatte keine Lust, von den Bullen ans Telefon geholt zu werden. Sie hatte ja alles gesagt.

„Wir danken Ihnen.“ Herr Rain nickte ihr zu und lief dann seiner Frau hinterher.

Kaum war Kaja auf ihren Hof eingebogen, kam Kalle ihr entgegen – Mira war noch nicht wieder aufgetaucht, ob mit Reiterin oder ohne. Auch die Polizei kam nicht. Zumindest nicht in dieser Sturmflutnacht.

2Der Kran

Kurze Nacht hin oder her – Kajas innere Uhr weckte sie pünktlich um halb sechs, wie ihr ein Blick aufs Handy bestätigte. Kalle grummelte, als sie sich von ihm löste und unter der Dachschräge wegduckte. Im Vorbeigehen sammelte sie sich blind Klamotten vom Stuhl, schnupperte am Shirt und griff sich dann ein anderes. Kaja trat in den kurzen Flur und schlurfte durch das Lesezimmer-Büro, wobei sie sich nach und nach die Sachen überstreifte, auf einem Bein hopsend, um in die Stoffhose zu kommen. Eigentlich zu dünn für den Winter, aber für die paar Meter bis zum Stall würde es reichen. Sie setzte sich auf die oberste Treppenstufe und schlüpfte schnell in ihre Flauschsocken.

Den Weg zur Toilette fand Kaja im Dunkeln, Licht machte sie erst in der Küche im Erdgeschoss. Ihre Kleider von gestern trockneten auf einem Ständer vor sich hin und verwandelten den ganzen Raum in ein Tropenhaus. Kaja schenkte sich in die Eulentasse Kaffee ein, der dank Zeitschaltuhr pünktlich zum Aufstehen gekocht war, und öffnete ein Fenster. Ein Schwall eisiger Luft umhüllte sie. Am Himmel über der Pferdeweide waren Sterne zu sehen – keine einzige Wolke mehr. Unbewusst suchte Kaja in dem unendlichen Gewimmel nach dem Quadrat des Pegasus, bis ihr wieder einfiel, dass es in dieser Jahreszeit gar nicht zu sehen war. Wenn sie sich aus dem Fenster beugte, konnte sie rechter Hand gerade so die drei Sterne im Gürtel des Orion ausmachen – abgesehen vom Großen Wagen und dem Pegasus die einzige Konstellation, die Kaja sich merken konnte. Im Vergleich zur tobenden Nacht war es geradezu absurd still da draußen.

Ob Marietta noch aufgetaucht war und Mira zurück in den Stall gebracht hatte? Kaja zog ihr Handy aus der Hosentasche. Der Empfang war wieder da, und zwei Nachrichten über verpasste Anrufe: ihre Mutter und Frau Rain. Letztere hatte auf die Mailbox gesprochen, offenbar kurz nachdem Kaja sie verlassen hatte, denn sie fragte, ob sie auf dem Hof ihre Tochter angetroffen hätte. Nichts Neues also. Vielleicht wussten die Mädels aus der WhatsApp-Gruppe mehr, aber Kaja weigerte sich standhaft, diese Spionage-App zu installieren.

Plötzlich unruhig geworden, nahm sie einen zu großen Schluck und zog eine Grimasse, als sich der heiße Kaffee seinen Weg zum Magen hinunter brannte. Sie schloss das Fenster und stellte die Tasse auf die Fensterbank. Im Hausflur schlüpfte sie in Kalles viel zu große Stiefel – ihre eigenen waren innen noch nass –, warf sich den Mistmantel über und schlurfte, so schnell es ging, Richtung Stall.

Ares’ Begrüßungswiehern hatte einen sehr fordernden Unterton, aber diesmal nahm sich Kaja nicht mal die Zeit für eine kurze Streicheleinheit. Sie bog in den Gang ab – und sah sofort das Halfter, das noch genau an derselben Stelle hing wie gestern. Es wäre ja auch zu einfach gewesen! Ob Frau Rain bei der Polizei was hatte ausrichten können? Wurden die nicht erst nach achtundvierzig Stunden oder so tätig? Selbst im Falle einer potenziell tödlichen Sturmflut?

Obwohl Kaja sich immer ärgerte, wenn sie sich dabei ertappte, dass die Erziehung ihrer Eltern noch immer griff – sie konnte nicht vor sechs Uhr jemanden aus dem Bett klingeln, nur um ihre eigene Besorgnis zu besänftigen. Vor allem, da Mariettas Eltern sicher noch weniger geschlafen hatten als sie selbst. Falls Marietta aufgetaucht war, konnten sie Mira für den Notfall auf einem der Höfe im Hinterland untergestellt haben. Es gab schließlich genug davon, obwohl man niemandem den Traum erfüllen konnte, mit wehenden Haaren und Mähnen am endlosen Sandstrand entlang zu galoppieren.

Kaja begann mit ihrer allmorgendlichen Routine. Öffnete als Erstes die beiden Türen der Offenboxen für ihre eigenen Pferde, die sich sofort unter den Plastiklamellen hindurchdrängelten und die Warft hinunter auf die nebeneinanderliegenden Weiden trabten, Stuten getrennt von Wallachen. Lorcan kniff Kaja im Vorbeilaufen in den Arm, wohl dafür, dass sie die Damen zehn Sekunden vor ihm herausgelassen hatte, und war schon verschwunden, bevor sie ein strenges „Nein“ herausbringen konnte.

Der Schrecken der Nacht war längst vergessen. Schneeflocke, mit ihrem schwarzen Fell nahezu unsichtbar in der Dunkelheit, machte ein paar übermütige Bocksprünge, als wäre sie ein Rodeopferd und kein pummliges Shetty. Precious warf in ihrer Abfohlbox den Kopf hoch und rammte Kaja fast um, als sie die Tür öffnete und den Weg zur Stutenweide freigab. Eilig folgte Precious ihren Freundinnen, wobei ihr unförmiger, grauer Bauch von einer Seite zur anderen wogte.

Die Hofkatzen Pankhurst und Garrud strichen heran – aus welcher Ecke oder durch welchen Eingang auch immer – und stießen ihr abgehacktes Begrüßungsschnurren im Doppelpack aus. Kaja wusste aus Erfahrung, dass sie gar nicht erst versuchen sollte, die beiden Streuner zu streicheln, bevor die ihr Frühstück bekommen hatten. Sie holte die Pappschachtel mit den Katzenkräckern aus der Haferkiste und schüttete eine Portion in die rote, getöpferte Schale, die direkt daneben stand. Sofort steckten die beiden ihre Köpfe hinein und begannen, einträchtig zu knabbern. So unterschiedlich die Katzen aussahen – hier die schlanke, grauschwarz gestreifte Garrud mit Ohren, die zu groß aussahen für den schmalen Kopf, dort Pankhurst, massig wie ein kleiner Hund, mit halblangem, braunweiß geschecktem Fell –, waren sie einfach unzertrennlich. Sie waren sozusagen mit dem Hof dazugekommen, niemand in der Nachbarschaft wusste, woher sie kamen, und Kaja hatte sie getauft, ohne auch nur zu wissen, ob sie wirklich Weibchen waren. Sie hörten eh nie.

Kaja schlüpfte aus Stiefeln und Socken und kletterte die Leiter zum Heuboden empor. Prompt trat sie in eine eisige Pfütze und machte sich eine geistige Notiz, nach der undichten Stelle im Dach zu suchen, wenn es heller war. Der Kräuterduft des Heus war nicht mehr so frisch wie im Herbst, aber sie atmete ihn trotzdem gern ein. In der Jackentasche fand sie das Schnitzmesser und zerschnitt die Verschnürung eines neuen Ballens. Grobe Halme pikten ihre nackten Füße, aber sie hatte genug Hornhaut, um es auszuhalten. Mit der Gabel stocherte Kaja das Heu auseinander, schob einen Haufen, fast so hoch wie sie selbst, über den Boden und ließ ihn durch die Luke nach unten fallen. Dann stieg sie hinterher, grub leise fluchend ihre Schuhe und Socken aus, was Pankhurst und Garrud natürlich für ein Spiel hielten und begeistert mitmachten. Nachdem Kaja den Katzen ihren linken Socken wieder abgejagt hatte, begann sie, das Futter auf die Tröge zu verteilen. Im Vorbeigehen wischte sie die neue Schicht Heustaub vom grellgelben Rahmen mit Oma Agathes Foto, der neben dem Wochenplan für die Reitstunden hing.

Stina steckte wie immer viel zu früh ihre Nase in die Krippe und bekam die nächste Gabel auf den Kopf. Unwillig schüttelte sie die braunen Ohren.

„Selbst schuld, du Fresssack, ist eh alles für dich.“

Für Diabolo weichte Kaja das Heu im Wassereimer ein, gegen seinen Husten. Danach füllte sie eine Schubkarre und schob sie außen um Stall und Haus herum zu den Weiden. Ihre Ponys standen bereits aufgereiht am Elektrozaun – sie nahmen ihr Frühstück gern draußen ein, besonders, wenn Kaja es gewagt hatte, nachts die Türen zu schließen. Kaja verzichtete darauf, die Außenbeleuchtung einzuschalten, sie arbeitete im Licht der Sterne und nach Gefühl, auch wenn ihr der schlammige Boden immer wieder drohte, die zu großen Schuhe von den Füßen zu reißen. Die vertrauten Handgriffe gaben ihr die nötige Ruhe zurück. Schließlich ging sie ins Haus, um ihren Kaffee auszutrinken. Die Privatpferde würde sie erst in eineinhalb Stunden rauslassen, wenn die Sonne aufgegangen war. Ein paar übervorsichtige Besitzerinnen bestanden darauf, ebenso wie Kaja darauf bestand, keine reinen Boxenpferde aufzunehmen.

Als sie in die Küche einbog, kam ihr Kalle durch den Türrahmen entgegen, der in einer Hand eine Tasse trug, den anderen Arm voll mit Maschinenteilen. Die langen Haare offen im Gesicht, die Augen noch fast geschlossen, tappte er an ihr vorbei. Sie drückte ihm einen Kuss aufs Ohr, er riss die Augen auf, ließ alles fallen und fing gerade noch rechtzeitig die Tasse wieder auf, bevor sie in einer Kaffeepfütze auf den Dielen zerspringen konnte.

„Fuck“, knurrte er. „Erschreck mich nicht so!“

Kaja lachte und fing an, die Metalldinger, deren Namen sie sich eh nie merken konnte, vom Boden aufzusammeln. „Wieso bist du überhaupt schon wach, Zombielein?“

Kalle schüttete den letzten Schluck Kaffee in sich hinein und schaute betrübt in die leere Tasse. „Arbeit, was sonst?“

„Was, heute?“ Dienstag war sonst nicht seine Hauptarbeitszeit.

„Hab ich doch erzählt.“

„Hast du nicht.“

„Es steht im Kalender.“ Kalle deutete mit dem Daumen über die Schulter in die Küche zurück.

„Hab ich nicht draufgeschaut.“

Kalle seufzte. „Siebzigster Geburtstag. Brunch, ganz edel. Geht wahrscheinlich über in Mittagessen. Muss jedenfalls früh da sein.“

„Dann musst du vor allem noch erheblich wacher werden“, stellte Kaja fest. „Geh und mach die Kanne alle. Ich räum das weg.“

Sie marschierte wieder zur Haustür hinaus zu ihrer Garagen-Schuppen-Werkstatt. Sie hatte null Ahnung, zu welcher der drei Schrottkarren, die hier in unterschiedlichen Stadien der Demontage standen, die Teile gehörten. Und es war ihr egal, solange das Postauto noch fuhr, der Traktor und der Pferdehänger.

Als Kaja zurück in die Küche kam, hatte Kalle bereits den Tisch abgewischt und stellte seine Ausrüstung zusammen. Angesichts der aufgestapelten Töpfe und Pfannen hob sie die Augenbrauen.

„Die behaupten zwar, das Dorfgemeinschaftshaus hätte alles da, aber wir wissen ja, was das heißt.“ Kalle gestikulierte mit einem Messer, das fast so lang war wie sein Unterarm.

„Wie gut, dass du sofort hellwach bist, wenn du damit hantierst“, sagte Kaja trocken.

Kalle grinste, schob das letzte Messer an seinen Platz, rollte die Tasche zusammen und klettete sie zu.

An gemütliches Frühstück war nicht mehr zu denken, aber das hatten sie ohnehin selten. Entweder aß Kaja allein, weil der Mann noch schlief, oder er rannte wie jetzt hin und her und murmelte Einkaufslisten vor sich hin. Also verzog sich Kaja mit einer dicken Scheibe Butterbrot – selbst gebackenes natürlich – zu ihrer Kaffeetasse an die Fensterbank und schaute zu, wie sich ihr chaotischer Wikinger in einen penibel planenden Mietkoch verwandelte.

„Ich nehme den Hänger mit. Wenn der Herd ganz unmöglich ist, hab ich lieber meinen dabei.“

Kaja reagierte nicht, sie wusste, dass Kalle nur laut dachte und keine Antwort erwartete. Sie benutzte seinen Hänger ohnehin nie, und ohne Auto konnte sie auch mit dem Pferdehänger wenig anfangen. Wenn Marietta Mira zurück zum Hof schaffen wollte, musste sie halt ihr eigenes Auto nehmen.

Kaja half beim Einräumen und grüßte Jesko, der gerade aus der Tür des Nachbarhauses schlurfte, die Augen klein hinter der runden Brille. Er gab nur ein Brummen von sich, ohne die Hände aus den Jackentaschen zu nehmen, und schlug den Weg Richtung Bahnhof ein. Eigentlich konnte der Sechzehnjährige seine Nachbarn gut leiden, aber um Viertel vor sieben war er nie ansprechbar. Kaja grinste nur in sich hinein.

Kalle verschwand im Bad. Als er in der schwarzen Kochhose wieder auftauchte, frisch getrimmt, mit zusammengebundenen Haaren, die silbergraue, taillierte Jacke über dem Arm, küsste sie ihn und drückte eine seiner Pobacken.

„Ey, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz!“

„Das kannst du behaupten, wenn du endlich mal wieder für mich kochst.“

Er streckte ihr die Zunge raus und küsste sie zurück, bevor er sagte: „Ich hoffe, du hast dir die Finger gewaschen nach dem Stall, sonst kann ich mich gleich noch mal umziehen.“

„Oh, du Romantiker! Kein Wunder, dass die Hose feuerfest sein muss.“

„Das ist die Jacke, Schusselchen. Aber den Spruch kannst du dir für dein Buch merken.“ Er strich mit der Hand ihren Rücken hinab. „Feuer in der Kochhose – eine Küchenerotik.“

„Überlass die Titelfindung lieber mir.“ Kaja versuchte, streng zu klingen, aber ihre Mundwinkel zuckten unkontrolliert. Sie schob ihn Richtung Tür. „Du kommst zu spät zum Einkaufen. ‚Schlappe Gurke – faule Eier‘ ist noch abturnender.“

Als der Himmel landeinwärts von Rosa in Gelb überging, ließ Kaja die Privatpferde nach draußen. Eine Weile beobachtete sie, wie Stina den Zaun entlangtänzelte, stampfte und ihre weißen Strümpfe einsaute, was Ares auf der Einzelweide um die Ecke dazu brachte, sich in die Brust zu werfen und den Boden mit seinen Hufen umzupflügen. Dann ging Kaja ans Ausmisten.

Das Handy klingelte, gerade als sie überlegte, eine Pause für einen Zweites-Frühstück-Smoothie einzulegen. Sie warf einen Blick auf das Display und war versucht, den Anruf abzuweisen. Aber das wäre wahrscheinlich nicht fair.

„Hi.“ Kaja stellte die Gabel weg und marschierte ins Haus.

„Guten Morgen.“ Ihre Mutter atmete hörbar auf. „Ich bin froh, dass du wieder erreichbar bist. Dieses Netz ist äußerst unzuverlässig bei euch in der Grenzregion. Wahrscheinlich hast du noch gar nicht mitbekommen, dass ich versucht habe, dich anzurufen.“

„Übersetzung: Schaff dir gefälligst einen Festnetzanschluss an und ruf mich sofort zurück, wann immer ich anklingele.“ Kaja trat sich die Stiefel von den Füßen.

„Das habe ich nicht gesagt. Aber immerhin klingt es so, als sei alles normal. Hat euer Dach den Sturm überstanden?“

„Das Reet hält ein paar Sturmfluten aus, deshalb benutzen die Leute das hier seit Jahrhunderten.“ Dass es das gekachelte Dach des Stalls gewesen war, das aufgegeben hatte, sagte Kaja jetzt besser nicht. Sie hasste es, dass sie automatisch wie ein trotziger Teenager klang, wenn sie mit Helena sprach.

In der Küche klemmte sich Kaja das Handy ans Ohr, kramte Spinat aus dem Tiefkühler, warf eine Handvoll in den Mixer und fing an, Mango zu schälen. Die Fragen ihrer Mutter brachten die Unruhe zurück, die sie den ganzen Morgen erfolgreich verdrängt hatte. Der Hof und die Pferde hatten alles so weit überstanden – aber was war mit Mira und Marietta?

„Nicht alles, was althergebracht ist, ist auch gut, das muss ich dir nicht sagen, oder?“ Ihre Mutter räusperte sich geziert. „Wenn euch das Geld fehlt, es neu machen zu lassen …“

„Mama, wir leben nicht in einer Ruine, wir sind trocken geblieben und ich habe zu arbeiten.“ Kaja schleckte sich etwas Mangosaft von den Fingern. „Gibt es etwas Wichtiges?“

„Mich nach deinem Wohlbefinden zu erkundigen finde ich sehr wichtig.“ Helenas Rückzugsort: der Kühlschrank. Wie immer. Das machte es leichter, ebenso kalt zu antworten.

„Nun, das ist ja geklärt. Danke für deinen Anruf und Grüße. Bis Donnerstag.“ Zehn Uhr, ihre wöchentliche Telefonzeit.

Helena erlaubte sich ein Seufzen. „Bis dann.“

Eine Hand am Knopf des Mixers, die andere auf dem Handydisplay statt auf dem Deckel – Kalle würde sie killen, wenn er das sähe –, suchte Kaja nach Mariettas Nummer. Eine Ansage teilte ihr mit, der Gesprächspartner wäre zurzeit nicht erreichbar. Ebenso wenig wie Sasha. Dabei hatte Frau Rain doch gestern mit ihr gesprochen. Vielleicht war Sasha auf dem Festnetz zu kriegen, aber die Nummer besaß Kaja nicht.

Widerstrebend wählte sie die Rains an. Kaum war das Freizeichen ertönt, wurde bereits abgenommen – zum Glück war es Mariettas Vater. Halb flüsternd teilte er Kaja mit, dass seine Frau endlich ein paar Minuten schlafe, sie nichts von Tochter oder Pferd gehört hatten und die Polizei voraussichtlich heute auf Hof Sturmwolke auftauchen werde.

Kaja zog an ihren Haaren. Nichts von dem, was der Mann gerade gesagt hatte, gefiel ihr, aber da musste sie wohl durch. Sie versprach, sich sofort zu melden, wenn sich etwas Neues ergab. Wenn, nicht falls, das sagte sie trotz ihres sinkenden Magens. Und legte auf.

Was blieb noch? Mittlerweile war es ein strahlend sonniger Februartag mit weiter Sicht, vielleicht lohnte es sich, noch einmal an den Deich zu fahren? Die Feuerwehr anzurufen oder die DLRG … Kaja musste gestehen, dass sie sich nicht sicher war, wer eigentlich für die Küste hier zuständig war. Soweit Kaja wusste, hatte meist Johann, der Fahrer der Lorenbahn, der die Halligen mit Post und Lebensmitteln versorgte, Wattwanderer vom Bahndamm eingesammelt, die vom Wasser eingeholt worden waren. Die Feuerwehr hatte sich um eine Schäferin gekümmert, die ihr Schaf hatte retten wollen und dabei selbst in Seenot geraten war. In einem spektakulären Fall waren THW und die Luftrettung mit Hubschrauber dazugekommen, um einen kilometerweit abgetriebenen Surfer aufzufischen. Alles schön in Sichtweite der Mole, aber Kaja war sich blöd dabei vorgekommen, dort zu stehen und zu gaffen. Vielleicht hätte sie es tun sollen, dann wüsste sie jetzt, wen sie fragen konnte.

Die Rains vertrauten auf die Polizei, aber ob das langte? Andererseits würde es die Bullen kaum beeindrucken, wenn außer den Eltern noch die Besitzerin des Reitstalls anrief und drängelte.

Kaja fuhr sich über ihren raspelkurzen Undercut, suchte Ruhe in dem sanften Kitzeln der Borsten. Sinnloses Gedankenkarussell. Sie trank ihren Smoothie direkt aus der Kanne des Mixers, ging in den ersten Stock hoch, drehte Omnia auf und machte sich endlich über diese furchtbare Buchhaltung her, die sie seit Tagen vor sich herschob. Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, wie ihr Opa Gernot – väterlicherseits und Pfarrer obendrein – gesagt hätte.

Das Schrillen der Türklingel riss Kaja aus ihrer Konzentration. Ein Blick in die Symbolleiste des Computers verriet: fast halb zwei. Als sie aufstand, erfasste Kaja ein leichter Schwindel. Wieder zu wenig getrunken, dabei stand die Wasserkaraffe im Bücherregal direkt neben ihr! Sie nahm schnell ein paar Schlucke, ohne sich um ein Glas zu bemühen, da klingelte es schon wieder.

„Ich komme!“, rief sie, ohne zu wissen, ob man das draußen überhaupt hören konnte, und schlitterte in ihren Schlappen die ausgetretene Holztreppe hinunter. Die Post oder …

Polizei, dachte Kaja sofort, als sie die Haustür öffnete. Zwar trug keiner der beiden eine Uniform, aber sie hatte in ihren wilden Jugendjahren in Frankfurt einen recht guten Riecher für Bullen entwickelt. Hatte was mit diesem bohrenden, tendenziell arroganten Blick zu tun. Die Frau stand Kaja direkt gegenüber, trug eine rote, dick gefütterte Jacke und hatte sich offenbar gerade die dunkle Sportmütze vom Kopf gezogen, das kurze braune, von wenigen grauen Strähnen durchzogene Haar klebte ihr verwuschelt an der Stirn. Ihr Kollege blieb dicht hinter ihrer Schulter, ein stämmiger Kerl, noch ein Stück kleiner als sie, ein Babyface mit einem lächerlichen schwarzen Flaum auf der Oberlippe. Ob die Verbrecher den überhaupt ernstnehmen konnten?

„Kaja Heidebrink?“, fragte die Frau.

„Ja?“ Kaja versuchte, nicht abweisend zu klingen. Immerhin machten die beiden endlich ihren Job, nachdem Marietta schon über fünfzehn Stunden verschwunden war.

„Stefanie Petersen von der Kriminalpolizei in Niebüll. Das ist mein Kollege Liam Kasprzycki. Es geht um Marietta Rain. Sie haben …“

„Entschuldigung“, unterbrach Kaja. „Darf ich bitte Ihre Ausweise sehen?“

„Natürlich.“ Petersen griff in ihre Jackentasche. Kriminaloberkommissarin, aha. Der Mann zögerte einen Moment. Vielleicht glaubte er, es langte, wenn sich einer von ihnen auswies. Kaja sah ihn über die Schulter seiner Kollegin hinweg auffordernd an, bis er ebenfalls sein Mäppchen zückte. Blaues Papier, schwarzes Wappen – Kaja legte einen Finger auf die Plastikfolie, um den Ausweis so ins Licht zu drehen, dass es nicht spiegelte. Sie nahm sich Zeit, sich die Schreibweise des Namens Kasprzycki einzuprägen. Gleichzeitig rumorte es in ihrem Magen, und das war nicht nur der Hunger.

„Warum Kriminalpolizei?“ Kaja zog die Hand zurück und fixierte Petersen, ohne die Haustür freizugeben.

„Können wir das drin besprechen?“

Kaja trat einen Schritt vor und sah sich um. Am Nachbarhaus bewegte sich kein Vorhang, und auf der schmalen Straße war niemand zu sehen. Auffällig war nur der schwarze BMW mit dem ausgeschalteten Blaulicht auf dem Armaturenbrett, der die Einfahrt zum Hof blockierte.

„Warum, was ist los?“

„Sie haben gestern Frau Rain und ihr Pferd am Deich gesehen, richtig?“ Petersen blieb höflich-distanziert, das reizte Kaja nur noch mehr.

„Hab nach ihr gesucht und die Eltern informiert, die Sie angerufen haben, ja. Haben Sie sie gefunden?“

Kasprzycki zog im Hintergrund ein wenig die Schultern hoch und schaute zur Seite. Petersens Blick aus braungrünen Augen war dagegen so intensiv, als lauere die Polizistin auf irgendetwas. „Marietta Rain wurde vor etwa zwei Stunden unweit des Deichs im Watt gefunden. Sie ist tot.“

Nein, das hatte sie sicher falsch gehört. „Tot?“ Das konnte nicht sein.

„Tot, ja. Es tut mir leid. Waren Sie befreundet?“

„Tot?“, wiederholte Kaja noch einmal und ihr Finger wickelte sich wie von selbst in ihre Dreadlocks ein. Es war wieder wie mit Zotti, wie mit Olec. Der Unfall, die Überdosis. Nein, das ist ewig her. Bitte nicht. Deshalb bin ich nicht hierher gezogen!

„Frau Heidebrink? Wollen Sie sich vielleicht setzen?“

Das klang überzeugend besorgt, die Frau war eine gute Schauspielerin. Es konnte sie unmöglich so sehr berühren, wie sie tat. Schließlich war das ihr Job.