Sturmwind im Westen - Felix Hollaender - E-Book

Sturmwind im Westen E-Book

Felix Hollaender

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Beschreibung

Hollaenders Roman war seinerzeit ein echter Aufreger, schildert er doch jene Berliner Dekadenz-Gesellschaft, von deren Genuß- und Erwerbsleben drei besonders charakteristische Affären plötzlich den Schleier rissen. Ein sittlich ernstes Werk, das den Leser erhebt, machmal auch erdrückt und den Autor zum Juvenal des Spree-Athens erhob.

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Sturmwind im Westen

Felix Hollaender

Inhalt:

Sturmwind im Westen

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

XVII.

XVIII.

XIX.

XX.

XXI.

XXII.

XXIII.

XXIV.

XXV.

XXVI.

XXVII.

XXVIII.

Sturmwind im Westen, F. Hollaender

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849642846

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Sturmwind im Westen

I.

Als Advokat Gent in den hell erleuchteten Flur trat, stieß er gerade auf den Kollegen Heller, den er erst vor wenigen Tagen draußen im Moabiter Gerichtspalast kennen gelernt hatte.

Sie begrüßten sich kurz. Dann wies Heller auf die Dame, die vor einem dieser prunkvollen Spiegel stand und in lässigen, müden Bewegungen ihre Toilette in Ordnung brachte.

»Meine Frau – Kollege Gent!«

Gent verbeugte sich sehr tief, während die Dame kaum ihren Kopf neigte. Diese Vorstellung zwischen Tür und Angel schien nicht nach ihrem Geschmack zu sein.

Gent hatte kaum ein paar landläufige Worte hervorgebracht, als sie schon ihres Mannes Arm genommen, und während die Diener die Flügeltüren zurückschoben, in den hell erleuchteten Saal trat.

Gent stand einen Moment verdutzt da. Eine unangenehme Empfindung beschlich ihn. Aber unmittelbar darauf mußte er lächeln. Wie feierlich Hellers Vorstellung geklungen hatte, in einem Tone, als ob er die bedeutsamste Mitteilung zu machen hätte.

Von der Dame hatte er so gut wie nichts gesehen. Und doch war es ihm, als ob er bei diesem flüchtigen Blick etwas Befremdliches auf ihren Zügen gelesen hätte.

Er strich sich das Haar zurück, dieses dünne, etwas ins Rötliche spielende Haar, zupfte sich vor dem Spiegel die Kravatte zurecht und betrachtete sich mit etwas selbstironischer Miene. Mit dem ein wenig vorgeschobenen Bauch, den kurzen Beinen und dem breiten Nacken, seinem starken Gesicht mit der niedrigen, schräg abfallenden, Stirn, den kleinen ein wenig zugekniffenen Augen und dieser etwas allzubreit geratenen Nase, unter der ein starker rotblonder Schnurrbart aufdringlich hervortrat, schien er freilich nicht dazu angetan, Eroberungen zu machen. Und doch lag auf seinem Gesichte eine gewisse Intelligenz, eine ehrliche Nachdenklichkeit und manches andere, was ein erster Blick nur selten zu enträtseln vermag.

Als Gent kaum auf der Schwelle des Saales war, kam ihm mit wohlwollender Bewegung der Hausherr entgegen.

»Warum so spät, mein Lieber, warum so spät?«

Und ohne erst Gents Antwort abzuwarten: »Na, kommen Sie nur, Herr Rechtsanwalt, kommen Sie nur, ich will Sie mit meinen Gästen bekannt machen.«

Dabei klopfte ihm der redselige Herr in nervöser Ungeduld auf die Schulter und zerrte ihn von einer Gruppe zur anderen.

»Ah, kennen Sie Ihren berühmten Kollegen Dörmann?« fragte er plötzlich.

»Nein, Herr Kommerzienrat,« entgegnete Gent, »und wenn ich ...«

Der Kommerzienrat schnitt ihm das Wort ab, seine hagere Gestalt schien noch zu wachsen und auf dem ewig unruhigen Gesicht mit dem glatt ausrasierten Kinn strahlte es heller auf. Er hatte ihn wieder am Arm und schleppte ihn mit sich fort. »Lieber Dörmann ... einen Augenblick ... nur einen Augenblick!«

Der Gerufene kam langsam näher, er streckte Gent kollegial die Hand entgegen und tat ein paar nichtssagende Bemerkungen; in diesem Moment wurde der Kommerzienrat abberufen, und auch Dörmann empfahl sich plötzlich.

»Verzeihen Sie, die gnädige Frau dort!«

Und schon war er fort, und Gent blickte ihm mit kaum merklichem Lächeln nach.

Dörmann war der gesuchteste Anwalt Berlins, eine Zelebrität allerersten Ranges. Dabei hatte es mit seinem Privatleben eine eigentümliche Bewandtnis. Laute Gerüchte und seltsame zugleich schwirrten über ihn umher.

Auf Advokat Gent hatte dieser Mann mit seinem an den Schläfen bereits ergrauten Haar, dieser langen und gebogenen Habichtsnase, den Augen, die unter dem Kneifer nervös hin- und herfuhren, ohne jemals zu verweilen, mit seiner schlanken, geschmeidigen Gestalt und diesem schrillen, unangenehmen Organ beinahe abstoßend gewirkt.

Langsam und nachdenklich schritt er durch den Saal und betrachtete halb spöttisch, halb aufmerksam diese Gesellschaft der großen Börsenleute, die sich hier im Hause des Kommerzienrats Bär zusammengefunden hatte. Einige Advokaten und Ärzte, nach irgend einer Richtung die Bediensteten dieser Großfinanziers, einige Herren und Damen aus der Bühnenwelt störten kaum das Gesamtbild, dessen Rahmen prunkend und glänzend genug, immerhin eine gewisse Solidität aufwies.

Er lächelte still in sich hinein. Es kam ihm von ungefähr in den Sinn, wie er in diese Kreise gekommen war, wie man ihn in diese Sphäre gezogen hatte, bloß weil er den Passierschein besaß, der hier allein als Wertmesser der Persönlichkeit gilt.

Nun fuhr er zusammen, als er seinen Namen nennen hörte. Der Kommerzienrat war wieder auf ihn zugetreten.

»Pardon,« sagte er lächelnd, »wenn ich Sie in Ihren ernsten Gedanken störe, aber die Pflicht, die Pflicht – unangenehme Sache das – da in zwölfter Stunde Absage – die ganze Tischordnung gestört – meine Frau ist außer sich – na Sie – Sie haben keinen Grund, böse zu sein – möchte Sie nur mit Ihrer Tischdame bekannt machen.

Gent lächelte. Hinter der verlegenen Miene des Kommerzienrats vermutete er, daß er irgendwie den Lückenbüßer spielen sollte. Er besuchte überhaupt nur selten und ungern Gesellschaften. Und im Begriff einzuwenden, daß er ebensogern ohne Dame zur Tafel gehen würde, unterbrach der Kommerzienrat seinen Gedankengang mit den Worten: »Sie sollen nämlich Frau Rechtsanwalt Heller zu Tische führen.«

Er verbeugte sich plötzlich sehr tief und murmelte etwas Unverständliches.

»Na, sehen Sie,« gab der Kommerzienrat zurück, und als Gent bemerkte, daß er der Dame bereits flüchtig vorgestellt sei, war der Kommerzienrat mit einem: »Dann haben Sie wohl die Güte sich sofort zu ihr zu bemühen,« bereits wieder verschwunden.

Langsam ließ Gent sein Auge durch den Saal gleiten. Und als er Frau Heller ganz im Hintergrunde entdeckt hatte, ging er gerade auf sie zu.

Sie saß neben einer ihm unbekannten Dame von auffallendem Äußeren, die, wie es Gent dünkte, zumal von den Herren der Gesellschaft beinahe aufdringlich beobachtet wurde.

Er wollte eben zu den Frauen, die in eifrigem Gespräche schienen, treten, als Dörmann an ihm vorüberschoß und der Unbekannten mit einer galanten Verbeugung seinen Arm bot.

In diesem Augenblicke entstand im Saal eine Bewegung, Livreediener trugen kleine Tafeln in den hell erleuchteten Raum und die anstoßenden Gemächer, das elektrische Licht strahlte noch um eine Nuance heller, und von allen Seiten kamen wie auf Kommando die einzelnen Paare, um zu Tisch zu gehen.

Advokat Gent wurde sehr unruhig und ging mit einer hastigen Bewegung auf Frau Heller zu.

»Gnädige Frau, ich habe die Ehre, Sie zu Tisch zu führen.«

Er verbeugte sich leicht und reichte ihr den Arm, den sie schweigend nahm. Gleichzeitig suchte er nach einer Phrase, um eines jener Gesellschaftsgespräche einzuleiten. Da überkam ihn eine seltsame Verlegenheit. Er fand nicht das rechte Wort.

Nun streifte er sie mit einem schnellen Blicke und fand, daß sie sehr bleich und sehr müde aussah.

»Haben Sie irgendeinen Wunsch bezüglich des Platzes?« fragte er unvermittelt.

»O, nein!« sagte sie und schüttelte den Kopf.

Nun blieben sie stehen.

Er schob ihren Stuhl ein wenig zurück und atmete ordentlich erleichtert auf, als sie sich beide gesetzt hatten.

Der Diener trat mit silbernen Platten an sie heran, und während sie sich bediente, hatte er Gelegenheit die lässige Sicherheit ihrer Bewegungen zu bewundern. Sie schien absolut nicht willens, ihm die Unterhaltung zu erleichtern, vielmehr in aller Ruhe abzuwarten, wie er sich aus der Affaire ziehen würde.

»Gnädige Frau!« sagte er endlich, »ich weiß wahrhaftig nicht, worüber ich mit Ihnen reden soll. Mir widerstrebt es,« fuhr er in einer ihm selbst ungewohnten Hast fort, »Ihnen mit den abgedroschenen Redensarten aufzuwarten – ich fürchte, Sie könnten dann, wäre dies überhaupt möglich, noch mehr verstummen.«

Sie hatte ihr Lorgnon genommen und sah einen Moment zu der Dame hinüber, die kurz zuvor neben ihr gesessen.

»Wie amüsant das klingt!« entgegnete sie, und ein feines Lächeln erhellte für eine flüchtige Sekunde ihr bleiches Gesicht.

»Wenn Sie das amüsiert,« gab er schnell zurück, »so bin ichs gewiß zufrieden – in jedem Falle aber ist es wahr!«

»So haben Sie höchst wahrscheinlich jeder fremden Dame gegenüber dasselbe Empfinden!«

»Nein!« antwortete er schnell, »ganz gewiß nein!«

»Und darf ich fragen, wieso ich zu dem Vorzuge komme?«

»Man hat für viele Dinge oft keine Gründe,« erwiderte er langsam und sah mit einem Male in einer unbewußten Bewegung in ihre grauen, umflorten Augen. »Das wissen Sie ja selbst,« fügte er hinzu, »ein instinktives Empfinden leitet uns so häufig.«

Bei seinen letzten Worten trat eine leise Röte, die sogleich wieder schwand, auf ihr Gesicht.

»Mit solchen Gefühlen sollte man sehr ... sehr vorsichtig sein,« sagte sie, und ein ironischer Ton klang aus ihren Worten.

Er sah sie verdutzt an, faßte sich jedoch schnell.

»Sie glauben nicht an Instinkte? Sie glauben nicht, daß wir oft sehr unfrei handeln, vielleicht gerade der Natur, die wir an uns zu kennen vermeinen, entgegengesetzt?«

Sie hielt bei seinen letzten Worten im Zerschneiden einer kleinen Pastete, die vor ihr lag, inne und legte das Messer zur Seite.

»Gewiß gibt es Instinkte,« entgegnete sie rasch, »davon bin ich überzeugt, nur meine ich, man sollte nicht jedes unklare Empfinden so nennen. Und was Sie weiter über unfreies Handeln gesagt haben, so kann ich Ihnen darin wirklich nicht zustimmen. Ja, mich dünkt, daß Sie sich selbst bereits widerlegt haben. Jeder Mensch handelt nach natürlichen Anlagen und Gesetzen denke ich, und seine Handlungsweise kommt ihm nur dann befremdlich vor, wenn er sich über sein Wesen unklar ist, das heißt über sich selbst nicht genügend nachgedacht hat. Wenn man eine bestimmte Entwicklungsstufe erreicht hat, so sollte ich meinen, daß man sehr frei und sehr bewußt handeln wird, ja dann ...« Sie hielt inne, ein leichter Hustenanfall hinderte sie am Weitersprechen. Sie hatte ihr Batisttüchlein vorgenommen und den Kopf ein wenig zur Seite gebeugt, so daß er deutlich ihr welliges, braunes Haar sah. Es war in einen Knoten geschlungen und an den Schläfen nach dem Modell derMadame Sans-Gênegeordnet.

»So etwas ist sehr unangenehm!« sagte sie, während sie wieder nach ihrem Besteck griff. Sie schien auf irgendeine Entgegnung zu warten und sah fragend zu ihm hin.

Er wurde durch diesen Blick sehr verlegen.

»Gewiß ... gewiß!« stotterte er und kam sich geradezu lächerlich vor. Aber sich zusammenraffend sagte er, während er sie voll anblickte: »Ihre Auseinandersetzungen haben mich ganz eigentümlich berührt, gnädige Frau, das klang alles so klar, so sehr klar aus dem Munde einer Frau ... so ... so nachdenklich.«

»Ist das aus Ihrem Munde ein Kompliment, oder ein Vorwurf?«

Er überhörte diese Frage.

»Notabene,« sagte er, »ich bin nicht ganz Ihrer Meinung, ich bin der Ansicht, daß man durch bloßes Nachdenken oft zu recht schiefen Urteilen über sein eigenes Wesen kommen kann ... aber das sind Erörterungen, die wir zwischen Pastete und Bechersrand kaum zu Ende führen dürften. Sie jedenfalls scheinen über sich und manches andere viel gegrübelt zu haben.«

»Ich bin lange Zeit krank gewesen,« erwiderte sie einfach, »da hat man Zeit und Muße, da kommt man auf Ideen, die eigentlich recht simpel sind, aber im Munde einer Frau – wie sagten Sie rasch, ach ja – so nachdenklich klingen!«

»Mir lag es fern, Sie zu verletzen, gnädige Frau!« warf er betroffen dazwischen.

»Sie haben mich auch nicht verletzt, gar nicht!«

Sie lachte leise auf und lehnte ihren Kopf ein wenig auf die rechte Schulter.

»Wie lange sind Sie verheiratet?« fragte er nach einer kleinen Weile.

»Vier Jahre!«

»Das ist eine lange Zeit!« gab er in gedämpftem Ton zurück.

»Und dazwischen sind Sie krank gewesen?«

»Ja,« antwortete sie, »zwei volle Jahre.« Und dann mehr für sich: »Die beiden letzten Jahre.«

Er sah ihr jetzt voll in das Gesicht, in dieses blasse, durchsichtige Gesicht, dessen Stirnadern ganz leise sich beim Sprechen hoben, und in dessen feingeschwungenen, herbe aufeinander gepreßten Lippen zwei bittere Falten mündeten. Ihm schien es fast, als ob etwas Vergrämtes auf ihren Zügen läge, etwas, das zum Mitleid stimmte, dann aber wieder ein rätselhafter Ausdruck, als wollte sie sich begehrlicher Neugier versagen.

»Sind Sie eigentlich schon lange in Berlin?« begann sie von neuem, als sei es ihr gleichsam peinlich, seinen stummen Blicken ausgesetzt zu sein.

»Seit einem halben Jahr, Gnädige!«

»So, dann sind Sie ja noch Neuling in diesen Kreisen.« Und sie lächelte ein wenig spöttisch. »Und wo waren Sie vorher ansässig?«

»Überhaupt noch nicht – ich bin erst seit zwei Jahren fertig, ging nach dem Staatsexamen lange auf Reisen und siedelte dann von Breslau nach Berlin über. Wer ist eigentlich diese wundervolle Frau?« unterbrach er sich plötzlich, »die mein berühmter Kollege Dörmann zu Tisch geführt hat.«

»Ah, Sie meinen Frau Dr. Berger, mit der ich vorhin gesprochen habe!«

Er nickte.

»Das ist ein Roman, ich meine die Antwort auf Ihre Frage ist ein ganzer Roman. Ihr Mann, sehen Sie den kräftigen Herrn, der ihr gegenübersitzt, der mit dem brutalen Gesicht, den rotblonden Koteletten und der Künstlerlocke auf der Stirn hat sie irgendwo entdeckt, ich glaube sie machte Putz und stammte aus ganz kleinen Verhältnissen ... Er kaufte sie wie ein Stück Ware, ihre ganze Familie war tief beglückt, ja wie so eine Art von Schmuckstück kaufte er sie, das man in den Salon stellt und von den Gästen bewundern läßt. Es ist übrigens ein problematischer Haushalt – man nennt in Berlin das Bergersche Haus den Männertrost – es wimmelt nämlich dort von Herrenbesuch. Abgeordnete, Gelehrte, Künstler ... was Sie wollen. Mir tut die Frau, leid,« fügte sie nachdenklich hinzu.

»Warum tut Ihnen die Frau leid, lebt sie nicht glücklich?«

»Das ist eine triviale Frage!« entgegnete sie.

Er verbeugte sich kurz.

»Wie kann sich so ein armes Haremswesen glücklich fühlen, der Mensch hat sie nur geheiratet, um mit ihrer hübschen Larve in den Salons zu renommieren und für sein Haus einen Anziehungspunkt zu haben ... raffinierte Berechnung und maßlose Eitelkeit.«

»Die Frau ist in der Tat von seltener Schönheit,« gab Gent zurück. »Was ist eigentlich ihr Mann – Arzt?«

»Nein. So eine Art von verkrachtem Juristen soll er sein, der eine Assessoren- und Referendar-Presse abhält und, von dem sagt, besonders von derjeunesse doréeviel gesucht, wird.«

»Und wie kommen die Leute hierher?«

Sie blickte ihn jetzt scharf an, dann betrachtete sie, bevor sie antwortete, einen Moment ihre schlanken Hände, an denen kostbare Steine glänzten und sagte langsam und gedehnt: »Der Kommerzienrat schätzt diese Frau.«

Er sah verwundert zu ihr empor und hatte offenbar eine Frage auf der Zunge.

»Ist das ein Privat-Geheimnis?« brachte er endlich hervor.

»In diesem Saal für niemanden, da ich wohl sonst kaum darüber gesprochen hätte; nebenbei bemerkt bitte ich Sie, mich nicht mißzuverstehen; man nimmt sogar im allgemeinen an, daß unser lieber Wirt hier vergeblich schätzt.«

»Hier?« wiederholte er.

»Der Kommerzienrat ist vielseitig,« entgegnete sie mit einem verächtlichen Lächeln – einViveurim großen Stil.«

»Und die Kommerzienrätin?«

»Ist eine müde Frau! Wenn Sie erst länger in Berlin sind, wird so etwas kaum noch befremdlich auf Sie wirken. Ich mache mich übrigens keiner Indiskretion schuldig,« setzte sie ironisch hinzu; »denn die Beteiligten sprechen in aller Harmlosigkeit selber darüber. Man hält das für zu selbstverständlich, um sich darüber zu entrüsten. Irre ich nicht, so werden Nebenausgaben dieser Art auf das Pünktlichste in den Geschäftsbüchern dieser Matadore gebucht!«

Der Ton ihrer Stimme hatte müde geklungen, und gleichgültig ließ sie jetzt ihre Augen über die Gesellschaft gleiten.

In diesem Moment fühlte sich Advokat Gent von ihr geradezu abgestoßen. Er hatte das unangenehme Gefühl, als ob ein eisiger Hauch von diesem Wesen zu ihm hinüberströmte.

»Wissen Sie, gnädige Frau, daß es etwas Erschreckendes hat, mit welch starrer Gelassenheit Sie diechronique scandaleuseenthüllen?«

»Meinen Sie wirklich!« Und eine aufflammende, ebenso schnell verlöschende Glut bedeckte ihre Züge.

Er tat, als ob er diese Veränderung nicht bemerkte; eine große Sicherheit überkam ihn, eine Mannes-Überlegenheit, die in der Regel etwas Grausames in sich birgt.

»Ist es sehr unbescheiden, nach Ihrem Alter zu fragen?« wandte er sich wieder an sie.

Sie knippste, bevor sie antwortete, ihr Armband zu, das an ihrem schmalen Handgelenk sich von ungefähr gelöst hatte.

»Was sollte daran unbescheiden sein – ich bin zweiundzwanzig Jahre!«

Er schnellte in die Höhe, während er sich gleichzeitig ärgerte, daß er seiner Überraschung einen so unzweideutigen Ausdruck gegeben.

Sie kam ihm zu Hilfe ... sehr einfach ... sehr schlicht ohne irgendwelche Bedenklichkeit.

»Jeder Mensch hält mich für älter – wenn man sehr krank gewesen ist, verfliegt die Jugend eben schnell, das ist doch ein natürlicher Prozeß.«

Er bejahte es mit einer leisen Kopfbewegung, zu feinfühlig, um mit einem tristen Kompliment sich aus der Verlegenheit zu ziehen.

»Herr Gott, Sie müssen doch ein reines Kind gewesen sein, als man sie verheiratete.«

Nun begann sie auf einmal hell aufzulachen.

Er aber mit einer sehr verlegenen Miene: »Verzeihen Sie, wenn ich etwas Unschickliches gesagt habe.«

Sie wurde sofort wieder ernst, und ihr lachendes Gesicht, das eine Sekunde total verändert ausgesehen, zeigte wieder seinen alten Ausdruck.

»Gewiß, ich war ein Kind – aber eben deshalb irren Sie, wenn Sie glauben, man hätte mich verheiratet – das war wirklich eine reine Neigungspartie.«

Er legte unwillkürlich die Serviette beiseite, und ohne zu wissen, weshalb, verbeugte er sich.

Fast gleichzeitig erhob man sich von den Tischen.

»Gnädige Frau!« Mit einer anmutigen Neigung ihres Köpfchens nahm sie seinen Arm.

»Sie haben mich wirklich gut unterhalten – meinen verbindlichen Dank.« Und wieder kräuselten sich ihre Lippen zu einem verlorenen Lächeln.

Er antwortete nichts. Aber er fühlte sich sehr gedemütigt und gedrückt, ohne sich bewußt zu werden weshalb. Erst viel, viel später erklärte er sich diesen Zustand aus seiner verletzten Eitelkeit, die vorschnell allerlei verwegene Schlüsse gezogen hatte.

Als er sie durch den Saal führte, begegnete sie Advokat Dörmann und Frau Dr. Berger.

Ganz zufällig tauschte Gent mit dem Kollegen einen kurzen Blick aus, der ihn fremdartig berührte. Bevor er noch darüber nachdenken konnte, wurde seine Aufmerksamkeit auf eine Gruppe gelenkt, von der aus Kollege Heller seiner Frau lebhafte Zeichen machte. Er führte sie dorthin. Heller nickte ihm gönnerhaft zu und wandte sich sofort an seine Frau, der er einige Worte zuflüsterte. Sie entzog sich ihm jedoch mit einer schnellen Bewegung und mit den Worten: »Möchtest Du Herrn Rechtsanwalt Gent nicht vorstellen?« schnitt sie ihm jeden Einwurf ab.

»Liebe Mama,« wandte er sich an die elegant gekleidete Dame mit dem etwas spitzen, lebhaften Gesicht, »gestattest Du, daß ich Dir den Kollegen Gent vorstelle. Kollege Gent – meine Schwiegermutter Frau Lerch!« Und mit einer Bewegung zu den beiden Lebemännern, die sich nicht nur in ihrer raffinierten Balltoilette, sondern auch im Gesichtsschnitte frappant ähnlich waren – »meine Schwäger, die Herren Felix und Arthur Lerch von der bekannten Firma, Sie wissen schon!«

Gent verbeugte sich nach allen Seiten, und während er sich mit einer galanten Phrase an die Mutter seiner Tischdame wandte, schien es ihm, als ob die junge Frau ihn von der Seite aufmerksam beobachtete.

In diesem Augenblick wurde Frau Lerch von einem alten, spitzbäuchigen und kurznackigen Herrn begrüßt, auf dessen gebogener Nase sich ein goldener Klemmer unruhig hin- und herbewegte. Neben ihm stand eine junge, zartgebaute Frau mit indifferenten, verschwommenen Zügen. Der kleine Herr war Bankier Wertheim, ein Mann von unermeßlichem Reichtum, die schmächtige Person seine an Arthur Lerch verheiratete Tochter.

»So,« meinte Felix Lerch, »mit Ausnahme meiner Frau, die unpäßlich ist, kennen Sie jetzt die Familie und mögen immerhin einige Verwechselungen anrichten. Wir Lerchs sind das gewohnt.«

Gent erwiderte: »Sie wenigstens von Ihrem Herrn Bruder zu unterscheiden, würde mir schwer fallen, während ich andererseits zwischen Ihnen und Ihrer Frau Schwester keine Ähnlichkeit zu entdecken vermag.«

»Das will ich Ihnen gern glauben,« entgegnete lachend Felix Lerch – wir beide nämlich sind Zwillingsbrüder – und unsere Frau Schwester ist äußerlich und innerlich ein anderer Schlag, so zu sagen aus der Art geschlagen,« schloß er lachend.

Das Gespräch kam nach wenigen Sekunden auf die Börse, ihre bedenklichen Schwankungen und Kurstreibereien. Gent verhielt sich sehr kühl – er habe vor Börsengeschäften einen gewissen, unheimlichen Respekt, ja, er halte dafür, daß das Verfaulen der öffentlichen Moral von hier aus seine Wurzel treibe. Die Börse schüfe mit ihren Visionen all das Unheil, und was das Schlimmste wäre, hier bildeten sich jene bedenklichen Usancen aus, die für die großen Diebe fast regelmäßig zu Rettungsankern würden.

»Junger Freund, Sie sind ein Ideologe. Aber die Psychologie der Börse ist damit noch lange nicht erschöpft. Redensarten – nehmen Sie mirs nicht übel, Redensarten im Jargon der Kreuzzeitung und des Vorwärts. Kommen Sie mit praktischen Vorschlägen, wie man anders den Weltmarkt regeln soll, aber das sind ... ja lieber Rechtsanwalt, das sind Banalitäten, weiter nichts.«

Felix Lerch suchte einzulenken. »Wissen Sie, worin der ganze Witz liegt, warum die Börse so angegriffen wird? Nun, ich wills Ihnen verraten. Sehr simpel ist die ganze Sache! Die Börse ist eben wie kein anderes Erwerbsleben der öffentlichen Kritik preisgegeben. Und auf der Börse, verstehen Sie mich, auf der Börse hat deshalb der Kampf, der ja überall ein verzweifelter ist, so akute Formen angenommen, der Kampf zwischen den Starken und Schwachen, weil jedes Ereignis von außen einwirkt und oft so viele Momente zu Beunruhigungen und Börsenhetzen zusammentreffen. Wissen Sie, Herr Rechtsanwalt, die Börse in ihrem ganzen Umfange zu übersehen, heißt heute auf wissenschaftlicher und technischer Höhe stehen, die ein einzelner überhaupt nicht zu erklimmen vermag. Passen Sie mal auf: Also erstens muß so einer ein ganz gewiegter Wetterprophet sein – nicht bloß wegen des Getreidemarktes, was meinen Sie wohl, wie die Tageswitterung auf uns Börsenleute einwirkt, dann ein sehr weitsichtiger Politiker, der mit allen Eventualitäten rechnet, nicht etwa bloß ein beschränkter Parteigimpel, nein, ein ganz staatsmännischer Politiker, der seine offiziöse Presse zu redigieren, mit Stimmung und Zufall zu rechnen weiß. Und zu alledem, ja, glauben Sie mir, muß sich ein genialer Instinkt und eine großartige Auffassungsgabe gesellen, die nicht ins Schwanken kommt, wenn durch irgend welche Konstellationen die Lage sich verschoben hat. Und doch,« fuhr er lächelnd fort, »sind damit erst Grenzstationen gegeben. Was dazwischen liegt ... ist einfach unendlich. Hören Sie nur: Kenntnis aller Textilbranchen, Beherrschung der Technologie, Verständnis für Bergbau und Elektrizität, mit einem Wort: ein Umfassen unserer ganzen Industrie, ein sicheres Urteil über unsere gesamte moderne Technik überhaupt. Im übrigen ist meine Ansicht die: in der Politik, wie auf der Börse heiligt der Zweck die Mittel. Und von Kurstreibereien und wildem Spekulantentum ist nur dann die Rede, wenn die Sache schief geht, dann kläfft jeder dümmste Zeitungsbengel von Börsengaunereien, die den armen Mann um seine sauren Groschen bringen. Ist hingegen der Erfolg da, fragt kein Mensch, wie er erreicht ist. Jeder bringt sein Schäfchen vergnügt ins Trockene, freut sich des leichten Gewinns, ohne zu ahnen, wie viel Schweiß dahinter steckt. Erfolg ... was ist Erfolg in der Politik wie auf der Börse? Können Sie mir dies definieren? Sicherlich nicht. Erfolg ist Zufall ... blöder Zufall, hängt von tausend unberechenbaren Kleinigkeiten ab. Und was ich immer gefunden habe und mir nicht bestreiten lasse, ist, daß nirgends so viel Treue herrscht wie auf der Börse. Hier ist das höchste gegenseitige Vertrauen, hier werden Geschäfte, wo es sich um Hunderttausende handelt, auf das bloße Wort hin abgeschlossen. Und was ich weiter gefunden habe: bei jedem Malheur, wenn es tatkräftig zu helfen gilt, ist immer die Börse voran. Nirgends ist so viel Mitleid. Ja, wenn ein armer Teufel kaput geht, hier tut man alles, um ihn über Wasser zu halten, sobald er nur halbwegs .den ehrlichen Willen hat, sich wieder heraufzuarbeiten. Man weiß, wie viel Gesundheit, Kraft und Nerven auf den Börsen Europas zugrunde gehen, und darum hat man hier das Mitleid gelernt. Und zu allerletzt noch eines,« schloß er gedämpft: »Wer das große Würfelspiel auf der Börse unternimmt, der zieht auch die letzten Konsequenzen, der weiß in zwölfter Stunde, wenn das Spiel für ihn zu Ende ist, mit einer höflichen Verbeugung vor dem eleganten Sechsläufer zu verschwinden.«

Gent hatte stumm zugehört.

Das schlaffe, blaß-gelbe Gesicht Felix Lerchs, seine verlebten Züge waren beim Sprechen plötzlich straff geworden, und aus den braunen, eingesunkenen Augen hatte unzweifelhaft Intelligenz gesprüht. Er war beim Sprechen lebhaft geworden und hatte in unsteten Bewegungen über sein dünnes, schwarzes Haar und die englischen Koteletten gestrichen. Er war eigentlich kein häßlicher Mensch, nur ein ausgesprochenes Gigerltum, dem er besondere Farben zu geben suchte, seine müden, blasierten Züge, die etwas hervortretende Mundpartie mit den begehrlichen Lippen – und nicht zuletzt seine abstehenden Ohren, die sich beim Sprechen beständig bewegten, wirkten abstoßend.

Als er jetzt geendet, ließ er mit einer geschickten Bewegung das Monokel in das rechte Auge springen und sah sich mit einem gutmütigen Lächeln um. Er schien sich einer gewissen Überlegenheit in diesem Kreise bewußt und gewohnt zu sein, daß man seinen Ansichten Beifall klatschte.

Bankier Wertheim hatte ihm mit wechselnden Empfindungen zugehört, teils wohlwollend genickt, teils energisch abgewehrt. Er liebte so resolute Naturen nicht, durch die man leicht an die Wand gedrückt wurde. Und dann verletzte es ihn geradezu, wenn in seiner Gegenwart sich eine andere Börsenautorität auftat.

Er hatte überhaupt vor Felix Lerch eine unbestimmte Angst, der Mann schien ihm zu radikal, zu sehr mit neuen Projekten geheizt, wie er sich sarkastisch gegen Arthur Lerch, seinen Schwiegersohn, ausdrückte, den er gern aus des Bruders Kreisen gezogen hätte. Aber an dem Punkte scheiterte sein schwiegerväterlicher Einfluß. Arthur Lerch glich nur äußerlich seinem Bruder. Ganz in materiellen Genüssen aufgehend, hatte er einen unsäglichen Widerwillen vor jeder Arbeitsbetätigung. Dafür hatte er seine besonderen Liebhabereien. Zu seinem Bruder Felix jedoch blickte er mit einer unbegreiflichen Liebe und gläubigen Verehrung empor. Ja dieser phlegmatische und denkträge Mensch konnte in Wallung geraten, wenn man seinen Bruder angriff. Felix – ein Blender, lächerlich! Felix ist ein Genie, einfach ein Genie, pflegte er allen Einwendungen seines Schwiegervaters gegenüber zu antworten. A. & F. Lerch lautete die Firma der Brüder, aber Arthur machte nicht den mindesten Hehl daraus, daß er zu allem, was Felix wollte, Ja und Amen sagte. Mit Felix siegen oder sterben, das ist mein Ehrgeiz. Diese Phrase wandte er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit an. Als Felix geschlossen, brannte er im Grunde darauf, seiner lauten Bewunderung Ausdruck zu geben, aber eine gewisse Neugier und Eitelkeit hielten ihn davon ab.

Er sah, wie alle auf Gent blickten, als müßte dieser etwas entgegnen, und er ... er wollte sich an der Verlegenheit und Scheu dieses jungen Mannes weiden, der sich mit Felix »eingelassen« hatte. Advokat Gent schwieg. Er war kein Freund dieser Gesellschaftsdebatten, ja, er hielt es sogar für unzweckmäßig, da zu streiten, wo er unverbrüchlichen Glauben vorfand. Und gewiß, er hätte kein Wort, kein einziges Wort verloren, wenn ihn nicht ein scheuer Blick aus Frau Hellers Augen getroffen hätte. Er suchte dieses jähe Aufleuchten ihrer grauen Augen festzuhalten, aber sie hatte den Kopf wieder zur Seite gewandt und sah matt und müde vor sich hin. Da reizte es ihn irgend etwas zu sagen. Und mit einer Verbeugung zu Felix Lerch in etwas lässigem Ton von oben herab sagte er: »An die Mittel, die den Zweck heiligen sollen, glaube ich nun einmal nicht, weder bei Börsengeschäften, noch Staatsaktionen. Das ist ein hinterlistiger Jesuitenkniff. Und noch weniger glaube ich an Ihr Idealbild eines Geld- und Börsenmannes, das Sie so ganzpleinairhingepinselt haben. Für mich sind das alles Spiegelfechtereien. Aber eines gebe ich Ihnen zu, kann es mir wenigstens vorstellen, daß diese Wagehälse letzten Endes selber an ihre Phantasmen glauben. Für die Beurteilung ihrer moralischen Qualitäten hingegen ist es mir völlig gleichgültig, ob ihre Spekulationen verkrachen oder von Erfolg begleitet sind ... Das Mitleid der Börse taxiere ich sehr, sehr gering. Wo der Begriff des Geldes erst mit großen Zahlen anfängt, ist es leicht, wohltätig zu sein. Und wenn Sie darin eine Lösung sehen, daß ein Mann, der unten durch ist, sich der Verantwortung entzieht, ein Zündhütchen wagt und sich von der Pfanne des bekannten kleinen Instruments die letzte Mahlzeit holt, so ist das eine Ansicht, über die ich hier nicht streiten will. Mir behagt dieser etwas geräuschvolle Schluß nicht, der durch äußere Zwangsumstände erfolgt. Wenn man so etwas tut,« schloß Advokat Gent nachdenklich, »dann darf kein Schmutz von außen an einem hängen und kleben, dann muß es, um harmonisch zu wirken, aus einem innerlich dazu vorbereiteten Menschen kommen – dann ...«

Er brach jäh ab und fuhr mit einer linkischen Bewegung mehrere Male über seine Stirn. Und nun trat eine jener Pausen ein, die für unser Empfinden endlos und martervoll sind. Eine peinliche Stimmung hatte sich der Hörenden bemächtigt, zu denen sich noch der Wirt des Hauses und ein paar andere Herren gesellt hatten. Sie waren sich alle darüber einig, daß dieser fatale, junge Mann sich einfach lächerlich und taktlos benommen hatte. Von alledem hatte Gent nichts bemerkt, er war in fassungslose Verlegenheit geraten, denn die Züge der jungen Frau Heller, der einzigen, um deretwillen er gesprochen, hatten bei seinen letzten Worten eine eigentümliche Spannung angenommen. Ein fremdes Gesicht tat sich ihm auf, neu und anders als jenes, das er kurz vorher gesehen, lockend in seinem verschleierten Blick und lauernd in den leisen Falten der Mundwinkel. Er war von dieser Wahrnehmung so betroffen und noch so in sich versunken, daß er mit den Schultern emporzuckte, als der Hausherr mit etwas schriller Dissonanz die Lerchs und Bankier Wertheim zu einemécartéeinlud.

Heller klopfte ihm auf die Schulter.

»Sind ja entsetzlich nervös, Kollege, bin übrigens mit Ihren Ausführungen zum Teil ganz einverstanden, entschieden ganz einverstanden.«

Gent nickte und wandte sich zerstreut an Arthur Lerchs junge Frau, die Interesse an ihm zu nehmen schien und sehr lebhaft wurde.

Er hörte kaum ihren Worten zu, warf nur bisweilen zaghafte Blicke auf Hellers Frau, die sich schweigend verhielt und teilnahmslos vor sich hinbrütete. Ihre Mutter, die mit Heller angelegentlich und leise gesprochen hatte, sah sie plötzlich scharf an.

»Ist Dir etwas, Regine?«

Ihr durchsichtiges Gesicht wurde noch um einen Schatten bleicher. Sie schüttelte lautlos den Kopf.

Zwei Stunden nach Mitternacht trennte sich die Gesellschaft.

Als Arthur Lerch, der vor Müdigkeit sich kaum noch aufrecht hielt, von den einzelnen Familienmitgliedern Abschied nahm, wandte er sich wie aus dem Text gekommen plötzlich mit den Worten an Felix: »Und diesen Esel von Rechtsanwalt mit seinen verschrobenen Ansichten wollte Bär in den Aufsichtsrat der Westfälischen Bank nehmen.«

Bankier Wertheim lachte ironisch auf und zuckte die Achseln.

II.

Etwa zwei Wochen nach dieser Abendgesellschaft schritt Rechtsanwalt Heller in problematischer Stimmung aus dem großen Moabiter Gerichtsgebäude. Friedlose Gedanken bewegten ihn. Er fand sich nicht mehr zurecht in den Irrwegen der ihn umgebenden, eigentümlichen Verhältnisse. Es war auch kaum jemand da, der ihm zu helfen vermocht hätte. Er wollte nicht grübeln, gewiß nicht; denn alles Nachdenkliche lag seinem Wesen fern. Aber darüber war er sich klar, er trug nicht die Schuld – es lag in ihr und nur in ihr. Sie stand nicht mit der Mutter und stimmte nicht mit den Brüdern und machte ihm, dem Manne, das Haus zur Hölle. Weshalb sie sich ihm entzogen, ihm, dem sie sich zuerst so schrankenlos hingegeben, das begriff er nicht. Und er begriff nicht diese plötzliche Störrigkeit, die über sie gekommen, die ehedem fügsam wie ein Kind gewesen, einem bloßen Blick von ihm gehorchend, in seinen Händen weiches Wachs, und nun sich ihm entwindend, scheu und spröde. Deutlich empfand er, daß sie sich immer mehr von ihm entfernte und sein Unvermögen, ebenso gewaltsam über sie Herr zu werden. Wollte er mit starken Worten auf sie einstürmen, so verwirrten ihn ihre schreckhaften Blicke, oder es lähmte seinen Willen, wenn sie ihm schweigend zuhörte, dann lautlos sich erhob, ihn einen Augenblick durchdringend ansah und leise das Zimmer verließ. Abwarten, ruhig abwarten schien Rechtsanwalt Heller das Zweckmäßigste. Langsam ging er die Stufen hinauf.

Gottlob, er hatte Appetit. Der Magen knurrte ihm ordentlich. Und hell wurde es wieder in ihm. Man kam doch eigentlich nur in gute Stimmung, wenn die Magenfrage gelöst war. Gewiß von ihr war es niederträchtig, seine frohe Laune jedesmal zu stören. Was wollte sie eigentlich von ihm? Konnte es einen Genügsameren geben? War es ein vermessener Wunsch, wenn er eine angenehme Häuslichkeit und die Erfüllung dessen, was in ihrer Frauennatur lag, forderte. Er wurde ganz unwillig. Es kränkte ihn, daß er nicht wie früher den Mut fand, sie anzufahren und ihr den Text zu lesen. Er fluchte auf die Ärzte. Nerven – wo es sich um Launen handelte; Schonung, wo es vielleicht gerade darauf ankam, seinen Manneswillen durchzusetzen. Sein frisches Gesicht nahm einen kläglichen Ausdruck an. Was hatte er in seiner Ehe nicht schon alles durchgemacht. Was war das überhaupt für eine Ehe? Und wohin sollte das führen? War er nicht ein Narr, wenn er diese Demütigungen ertrug, sich mit befremdlicher Gebärde von ihr bei Seite schieben ließ, so oft ihn starkes Empfinden zu ihr trieb? Und wie leise das alles eingesetzt, wie versteckt, verstohlen und heimlich, so daß er es nicht verstand, und hilflos, in sich selbst unsicher und verlegen wurde, die Wandlung erst begriff, als er ihre ätzenden Wirkungen verspürte. Wenn er nur ahnte, was sie trieb und bewegte.

Die Lerchs trösteten ihn: es hinge wohl doch mit ihrer langen Krankheit zusammen. Und eine Zeit lang fürchteten auch alle das Schlimmste, damals, wo sie teilnahmslos vor sich hingebrütet und nicht einmal für das Kind empfänglich gewesen war.

Professor Mendel hatte die Familie beruhigt, eine Melancholie, wie er sagte, die hauptsächlich in ihrem geschwächten, körperlichen Befinden begründet war.

Er erinnerte sich noch ganz deutlich des peinlichen Auftritts, wie sie, nachdem der Professor fortgegangen, plötzlich aufstand und mit beängstigender Miene und einer Stimme, deren Klang dumpf, leise und doch zischend war, zu ihrer Mutter und zu ihm die Worte hervorstieß: der Professor war ganz überflüssig, für diemaison de santébin ich noch nicht reif. Und ehe er und die Schwiegermutter noch eine Antwort hervorbringen konnten, hatte sie schon die Thür hinter sich zugeschlagen und war auf ihr Zimmer geeilt.

Sie mied überhaupt jede Auseinandersetzung, die ihre Person betraf. Entweder hörte sie stumm zu, ohne eine Silbe zu erwidern, oder aber sie erhob sich plötzlich, um nach einer jähen Bemerkung unvermittelt sich zurückzuziehen.

Rechtsanwalt Heller schloß die Entreetür. Ein herzzerreißendes Weinen drang zu seinen Ohren.

Er stampfte mit dem Fuße auf. und warf ärgerlich die Sachen von sich. Dann riß er mit einer heftigen Bewegung die Tür auf, die zum Speisezimmer führte.

Niemand war drinnen.

Er wollte gerade am Telephon drücken, als Frau Regine eintrat.

»Was ist denn schon wieder mit dem Jungen, warum schreit er, was hat man mit ihm angestellt – was ...« Er unterbrach sich plötzlich und ging erregt durch das Gemach.

»Ja, bekomme ich denn keine Antwort?« schrie er und blieb stehen. Er fühlte ferne Sicherheit wieder schwinden und wie Scheu über ihn kam und Furcht vor ihren Blicken und dem leblosen Ton ihrer Stimme, aus dem sie alles persönliche Empfinden auszuschaben wußte, als läge es in ihren schweigsamen Wünschen, immer tiefer die Furche zwischen ihm und ihr zu ziehen.

»Ich weiß nicht, wen Du unter ›man‹ verstehst,« sagte sie endlich; »im übrigen, ich habe das angestellt, ich habe Fritz eingesperrt, ich! Er hat nach dem Fräulein gespuckt und wollte nicht abbitten, und deshalb darf er heute nicht bei Tische sitzen.«

»Man sperrt aber kein Kind ein ... ein Kind darf auch einmal ungezogen sein. Man legt das nicht alles gleich auf die Wagschale. Und dann, wenn ich abgespannt nach Hause komme, danke ich für das Konzert, ich will mich an dem Kinde freuen, ich will ...«

Das Geschrei wurde immer lauter, es schien beinahe, als ob der Knabe ahnte, daß der Papa seine Partei nahm.

»Laß ihn heraus«, sagte er kurz.

»Nein,« entgegnete sie, »das werde ich nicht tun, gewiß, ein Kind darf ungezogen sein, weil es keinen Verstand besitzt. Wenn es aber sein Unrecht nicht einsehen will, so muß man es strafen, so lange man noch Macht hat; so lange man es überhaupt noch leiten kann. Zieht man dann die Strafe zurück, so ist es gegen das Kind schlecht und charakterlos gehandelt.«

Er schwieg einen Moment, während das Blut ihm zu Kopfe stieg. Nur, wenn sie über den Jungen stritten, stand sie ihm Rede, zwar in lästigem Zwang und kaltem Widerwillen, aber in dem Bewußtsein, daß das sein Recht und ihre Pflicht sei.

Hellers gereizte Stimmung brach durch. Sein Groll mußte sich einmal entbürden. Wohl empfand er, daß sie Recht hatte, aber wie sie ihr Recht wollte, in überlegenem Hohn und steilen Worten, das kränkte ihn. Jetzt galt es nicht mehr das Kind, es galt Willen gegen Willen, und seine ganze Manneswürde stand auf dem Spiel. Rechtsanwalt Heller wurde auf einmal feierlich. Das lag überhaupt in seinem Wesen.

»Ich will, daß der Junge mit uns speist,« sagte er mit erhobener Stimme, »hörst Du, ich will das.«

In diesem Augenblick war er ihr lächerlich und tat ihr doch leid, leid, weil sie sich ihrer ganzen Überlegenheit bewußt wurde und so klar seinen Gedankensprung vor sich sah.