Sturz ins Leere - Joe Simpson - E-Book
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Joe Simpson

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Beschreibung

Die beiden jungen Bergsteiger Joe Simpson und Simon Yates brechen auf, um den Andengipfel Siula Grande über die bisher unbezwungene Westwand zu besteigen. Bei einem Sturz im Abstieg wird Simpsons Knie zerschmettert. Sein Seilpartner setzt alles daran, das Leben seines Gefährten zu retten, und seilt ihn bei extrem schlechten Wetterbedingungen ohne Selbstsicherung ab. Doch Simpson rutscht ab und hängt mit einem Mal über dem gähnenden Abgrund einer Gletscherspalte. Um nicht selbst mit in die Tiefe gerissen zu werden, muss Yates das Seil kappen, das die beiden verbindet. Wie durch ein Wunder entgeht Simpson dem sicheren Tod. Nun beginnt für ihn der Kampf ums Überleben, während Yates in der Einsamkeit mit seinem Gewissen ringt …

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Gewidmet SIMON YATES für eine Schuld, die ich niemals wiedergutmachen kann.

Und all jenen Freunden, die in die Berge gingen und nicht mehr zurückkehrten.

Aus dem Englischen von Edigna Hackelsberger und Ulrike Frey

Mit 22 Farbfotos und einer Karte.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen neu übersetzten und erweiterten Taschenbuchausgabe

2. Auflage Juni 2011

ISBN 978-3-492-95446-4

© Joe Simpson 1988

Titel der englischen Originalausgabe:

»Touching the void«, Vintage, London 1997

© der deutschsprachigen Ausgabe: Oesch Verlag 1989, 2003

Redaktion: Karin Steinbach, St. Gallen

Umschlaggestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München

Umschlagabbildungen: Galen Rowell/Corbis

Satz: Sieveking GmbH, München

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Alle Menschen träumen, aber nicht alle auf die gleiche Weise. Die, die während der Nacht in der staubigen Tiefe ihres Verstandes träumen, wachen am Tage auf, um zu entdecken, dass alles nur Wahn war; aber die Tagträumer sind gefährliche Menschen, denn sie können ihren Tagtraum mit offenen Augen darstellen, um ihn wahr zu machen.

T. E. Lawrence, Die sieben Säulen der Weisheit

Vorwortvon Chris Bonington

Ich traf Joe das erste Mal letzten Winter in Chamonix. Wie viele andere Kletterer hatte auch er beschlossen, es sei an der Zeit, Skifahren zu lernen. Er wollte keinen Unterricht nehmen, sondern brachte es sich selbst bei. Ich hatte von ihm gehört und Berichte über ihn gelesen – von Klettertouren, bei denen er nur mit knapper Not dem Tod entronnen war, insbesondere bei seiner letzten Eskapade in Peru –, aber sie hatten auf mich keinen sonderlichen Eindruck gemacht.

Als ich in einem Lokal in Chamonix dann neben ihm saß, fiel es mir schwer, diese Geschichten und Joes Ruf mit seiner Person in Einklang zu bringen. Seine dunklen Haare waren leicht punkig frisiert, und er hatte eine etwas schroffe Art. Es kostete mich Mühe, ihn im Geiste aus den Straßen von Sheffield in die Hochgebirgswelt zu versetzen. So dachte ich auch nicht weiter über ihn nach, bis ich das Manuskript von Sturz ins Leere las. Es war nicht nur das Außergewöhnliche dieser Geschichte an sich – und sie war wirklich bemerkenswert, eine der unglaublichsten Schilderungen eines Überlebenskampfes, die ich je gelesen habe –, es war seine Art zu schreiben, die einfühlsam und gleichzeitig dramatisch die Extreme von Angst, Leiden und Emotionen einfing, die sowohl er selbst als auch sein Seilpartner, Simon Yates, durchlebten. Von dem Moment an, als Joe beim Abstieg ausrutschte, abstürzte und sich das Bein brach, über seine einsamen Qualen in der Gletscherspalte bis zu dem Augenblick, als er zurück ins Basislager kroch, war ich wie gebannt und konnte das Buch nicht aus der Hand legen.

Ich kann Joes Überlebenskampf ziemlich gut nachvollziehen und einschätzen, da es gewisse Parallelen zu meinen eigenen Erlebnissen 1977 auf dem Ogre gibt, als Doug Scott beim Abseilen vom Gipfel ausrutschte und sich beide Beine brach. In diesem Punkt war unsere Situation mit dem Beginn von Joes Martyrium vergleichbar: Auch wir befanden uns, nur zu zweit, in Gipfelnähe eines ausgesprochen abweisenden Berges. Doch auf uns warteten zwei andere Teammitglieder in einer Schneehöhle auf dem Pass, direkt unterhalb des Gipfelaufschwungs. Wir gerieten in einen Sturm und brauchten für den Abstieg sechs Tage, fünf davon ohne Essen. Unterwegs brach ich mir mehrere Rippen. Es war die schlimmste Erfahrung, die ich je in den Bergen gemacht habe, doch wenn man liest, was Joe Simpson ganz auf sich allein gestellt durchmachen musste, beginnt sie zu verblassen.

Eine vergleichbare Katastrophe ereignete sich 1957 auf dem Haramosh im Karakorum. Ein Bergsteigerteam der Oxford University versuchte die Erstbesteigung dieses 7390 Meter hohen Gipfels. Die Männer hatten gerade beschlossen umzukehren, und zwei von ihnen, Bernard Jillot und John Emery, wollten auf dem Grat nur noch ein kleines Stück weitergehen, um zu fotografieren, als ein Schneebrett abging und sie vom Berg gefegt wurden. Zwar überlebten sie den Absturz, und ihre Seilgefährten stiegen ab, um Rettung zu holen, aber das war nur der Beginn einer schier endlosen Tragödie, an deren Ende nur noch zwei der Männer am Leben waren.

Auch ihre Geschichte war fesselnd und sehr bewegend, wurde aber von einem professionellen Autor niedergeschrieben, weshalb ihr die Unmittelbarkeit und Überzeugungskraft eines Chronisten aus erster Hand fehlt. Und genau hier liegt Joe Simpsons Stärke. Wir verdanken ihm nicht nur eine der unglaublichsten Überlebensgeschichten, die ich je gehört habe, er erzählt sie auch auf überragende und ergreifende Weise. Sie hat es daher verdient, ein Klassiker dieses Genres zu werden.

Februar 1988

1   Unter den Bergseen

Ich lag in meinem Schlafsack und starrte hinauf in das Licht, das durch das rot-grüne Gewebe des Kuppelzeltes drang. Simon schnarchte laut und zuckte gelegentlich im Schlaf. Wir hätten überall sein können. Ein Zelt hat immer etwas Anonymes an sich. Sobald man den Reißverschluss zugezogen hat und die Welt um sich herum nicht mehr sieht, verschwindet auch jeglicher Ortssinn. Ob in Schottland, in den französischen Alpen oder im Karakorum – es ist immer dasselbe: Das Geräusch des Regens oder der raschelnden Zeltplanen im Wind, der harte Boden unter der Isomatte, der Gestank nach Socken und Schweiß – all das ist überall gleich und ebenso tröstlich wie die Wärme des Daunenschlafsacks.

Draußen wurde es hell, und die erste Morgensonne berührte wahrscheinlich schon die Gipfel. Vielleicht schraubte sich über dem Zelt sogar ein Kondor hinauf in die Lüfte. Ganz so abwegig war die Vorstellung nicht, denn ich hatte gestern Nachmittag einen über unserem Lagerplatz kreisen sehen. Wir befanden uns mitten in der Cordillera Huayhuash in den peruanischen Anden, fast fünfzig Kilometer Fußmarsch vom nächsten Dorf entfernt, umringt von den spektakulärsten Eisgipfeln, die ich jemals gesehen hatte. Von hier aus, im Zelt, deutete jedoch nichts auf all das hin – außer dem regelmäßigen Donnern der am Cerro Sarapo abgehenden Lawinen.

Ich fühlte mich wohl und geborgen in der Wärme und Sicherheit des Zeltes und schälte mich daher auch nur widerwillig aus meinem Schlafsack, um den Kocher anzuwerfen. In der Nacht hatte es etwas Neuschnee gegeben, und das gefrorene Gras unter meinen Füßen knirschte, als ich zu unserem Küchenfelsen hinübertrottete. In Richards winzigem Einmannzelt, das halb eingedrückt und mit Raureif überzogen war, schien sich noch nichts zu rühren.

Ich kauerte mich in den Windschatten des riesigen überhängenden Felsblocks, den wir zur Kochstelle erklärt hatten, und genoss die Ruhe und Einsamkeit des Augenblicks. Der Kocher, mit dem ich herumhantierte, sträubte sich hartnäckig gegen die widrigen Temperaturen und das rostige Benzin, mit dem ich ihn befüllt hatte. Alles gute Zureden war umsonst, und so blieb mir nichts anderes übrig, als rohe Gewalt anzuwenden und ihn auf einen voll aufgedrehten Propangaskocher zu setzen. Jetzt erwachte er mit einem Mal zum Leben und spie launisch und empört über das verdreckte Benzin mehr als einen halben Meter hohe Flammen.

Während das Wasser im Topf langsam heiß wurde, ließ ich meinen Blick über das breite, von Felsblöcken übersäte ausgetrocknete Flussbett schweifen. Der einzeln stehende Block, bei dem ich hockte und der unseren Lagerplatz markierte, war außer bei extrem schlechtem Wetter weithin sichtbar. Direkt hinter dem Lager, keine drei Kilometer entfernt, ragte eine gewaltige, fast senkrechte Wand aus Eis und Schnee zum Gipfel des Cerro Sarapo empor. Aus dem Meer von Moränen zu meiner Linken erhoben sich zwei spektakuläre, gigantische Paläste aus Zuckerguss, der Yerupaja und der Rasac. Der majestätische, fast 6400 Meter hohe Siula Grande lag hinter dem Sarapo und war somit von hier aus nicht zu sehen. Er war im Jahr 1936 von zwei wagemutigen Deutschen über den Nordgrat erstbestiegen worden. Seitdem hatte es nur wenige weitere Begehungen gegeben, und seine abschreckende, fast 1400 Meter hohe Westwand hatte sämtlichen bisherigen Versuchen getrotzt.

Ich drehte den Kocher aus und goss das Wasser vorsichtig in drei große Becher. Noch war die Sonne nicht hinter dem gegenüberliegenden Gebirgskamm hervorgekommen, und im Schatten war es empfindlich kalt.

»Ich hätte hier einen heißen Tee für dich – falls du überhaupt noch lebst da drin!«, verkündete ich gut gelaunt.

Ich trat ein paarmal gegen Richards Zelt, um es vom Reif zu befreien. Schließlich kam Richard herausgekrochen. Man sah ihm an, dass er eine unbequeme, eisige Nacht hinter sich hatte. Wortlos und mit einer Rolle Klopapier unter dem Arm stapfte er zum Flussbett hinunter.

»Fühlst du dich immer noch so elend?«, fragte ich ihn, als er zurückkam.

»So ganz auf der Höhe bin ich noch nicht, aber das Schlimmste habe ich hinter mir, glaube ich. Diese Nacht war es verdammt kalt.«

Ich war mir nicht sicher, ob es nicht doch eher die dünne Luft hier oben als der Bohneneintopf war, was ihm so zu schaffen machte. Immerhin hatten wir unsere Zelte auf einer Höhe von mehr als viereinhalbtausend Metern aufgeschlagen, und Richard war kein Bergsteiger.

Simon und ich hatten Richard in einem schäbigen Hotel in Lima kennengelernt, wo er nach der Hälfte seiner sechsmonatigen Südamerika-Tour gerade eine Weile Rast machte. Hinter seiner Drahtgestellbrille, der ordentlichen, zweckmäßigen Kleidung und seiner vogelähnlichen Art verbargen sich ein trockener Humor und ein schier unerschöpfliches Repertoire abenteuerlichster Reiseerlebnisse. Richard hatte sich von Maden und Beeren ernährt, während er mit Pygmäen im Einbaum durch die Regenwälder von Zaire gepaddelt war, hatte mitansehen müssen, wie ein Ladendieb auf einem Markt in Nairobi zu Tode getrampelt wurde, und in Uganda war sein Reisebegleiter nur wegen einer verdächtig wirkenden Übergabe von Tonbandkassetten von schießwütigen Soldaten umgebracht worden.

Zwischen seinen Reisen durch die ganze Welt arbeitete Richard hart, um sich das nötige Geld dafür zusammenzusparen. Meistens war er allein unterwegs und überließ es dem Zufall, wohin ihn seine Begegnungen in fremden Ländern führten. Simon und ich hatten uns überlegt, dass es durchaus vorteilhaft sein könnte, einen so unterhaltsamen Wächter wie Richard im Lager dabeizuhaben. Er konnte auf unsere Ausrüstung aufpassen, während wir unterwegs beim Klettern waren. Vielleicht taten wir den armen Bauern dieser abgeschiedenen Gebirgsregion mit unserer groben Unterstellung Unrecht, aber in den Gässchen von Lima hatten wir gelernt, gegenüber jedem, dem wir begegneten, misstrauisch zu sein. Jedenfalls hatten wir Richard angeboten, uns für ein paar Tage zu begleiten, wenn er die Anden aus nächster Nähe kennenlernen wollte.

Zwei ganze Tage waren wir zu Fuß unterwegs gewesen, nachdem uns der Bus nach einer abenteuerlichen, halsbrecherischen, 130 Kilometer langen Fahrt durch die Gebirgstäler endlich abgesetzt hatte. Man hatte 64 Menschen in das klapprige Vehikel gepfercht, obwohl es eigentlich nur für 22 ausgelegt war, und auch der Anblick der zahlreichen Gedenkkreuze, die man am Straßenrand für verunglückte Busfahrer und ihre Passagiere aufgestellt hatte, war alles andere als erbaulich. Der Motor des Busses wurde von Nylonschnüren zusammengehalten und ein platter Reifen mithilfe eines Pickels gewechselt.

Am Ende des zweiten Tages machten sich bei Richard die ersten Auswirkungen der Höhenluft bemerkbar. Als es dämmerte und wir uns dem Talende näherten, drängte er Simon und mich, schon einmal mit den Eseln vorauszugehen, um das Lager noch vor Einbruch der Dunkelheit aufschlagen zu können. Er selbst wollte dann langsam nachkommen. Das letzte Stück ging es ohnehin immer nur geradeaus – er würde sich also bestimmt nicht verlaufen, meinte er.

Langsam wankte er die tückischen Moränenhänge bis zu dem See hinauf, wo sich seiner Meinung nach unser Lagerplatz befinden musste. Erst dort fiel ihm ein, dass auf der Karte noch ein zweiter See eingezeichnet gewesen war. Inzwischen hatte es angefangen zu regnen und war merklich kälter geworden. Richards dünnes Hemd und seine leichte Baumwollhose würden einen nur spärlichen Schutz gegen die kühlen Nächte in den Anden bieten, sodass er erschöpft wieder ins Tal abstieg, um nach einem Unterschlupf zu suchen. Beim Hinweg hatte er einige verfallene Hütten aus Steinen und Wellblech gesehen, die leer zu stehen schienen und für die Nacht zumindest ein halbwegs passables Dach über dem Kopf abgeben würden. Zu seiner Überraschung hausten dort jedoch zwei junge Mädchen mit einer ganzen Horde von Kindern.

Nach einigem Hin und Her durfte Richard schließlich im Schweinestall übernachten. Die Mädchen versorgten ihn mit Pellkartoffeln und Käse und überließen ihm ein Bündel mottendurchlöcherter Schaffelle. Es wurde eine lange, kalte Nacht, und die Hochgebirgsläuse genossen ihr leckerstes Mahl seit Langem.

Simon kam zum Küchenfelsen herüber und erzählte uns von dem lebhaften und ziemlich amüsanten Traum, den er letzte Nacht gehabt hatte. Er war fest davon überzeugt, dass seine wirren Halluzinationen von den Schlaftabletten kamen, die er nahm. Ich beschloss, noch am selben Abend ebenfalls ein paar von den Pillen auszuprobieren.

Während Simon sich daranmachte, das Frühstück zuzubereiten, trank ich den letzten Schluck Kaffee und begann dann in mein Tagebuch zu schreiben:

19. Mai 1985, Basislager. Gestern Nacht eisiger Frost, heute Morgen strahlend blauer Himmel. Ich versuche immer noch, mich an all das hier zu gewöhnen. Es fühlt sich so bedrohlich abgeschieden und zugleich so erhebend an – und tausendmal besser als in den Alpen: keine Horden von Bergsteigern, keine Hubschrauber, keine Hilfe, nur wir und die Berge … Das Leben erscheint einem hier viel einfacher und wirklicher. Es ist so leicht, die Geschehnisse und Gefühle an sich vorüberziehen zu lassen, ohne innezuhalten und sich noch einmal umzusehen …

Ich fragte mich, wie viel von diesen Worten ich wirklich glaubte und was sie mit dem zu tun hatten, was wir hier in den Anden vorhatten. Morgen würden wir am Rosario Norte mit unseren Akklimatisierungstouren anfangen. Wenn wir nach zehn Tagen fit genug wären, würden wir uns an die bislang unbezwungene Westwand des Siula Grande wagen.

Simon reichte mir eine Schüssel Porridge und eine zweite Tasse Kaffee.

»Und, sollen wir morgen loslegen?«

»Warum nicht? Ich glaube nicht, dass wir besonders lange brauchen werden, wenn wir wenig Gepäck mitnehmen. Wahrscheinlich sind wir am frühen Nachmittag schon wieder zurück.«

»Ich mache mir nur Sorgen wegen des Wetters. Ich weiß nicht so recht, wie ich es deuten soll.«

Seit unserer Ankunft war es immer dasselbe gewesen: Bei Tagesanbruch war das Wetter noch schön und klar, doch gegen Mittag zogen von Osten her dicke Quellwolken auf, die Regen mit sich brachten. In höheren Lagen kam es dann zu heftigen Schneefällen, was die Gefahr von Lawinenabgängen und abgeschnittenen Rückzugswegen plötzlich sehr real werden ließ. Wenn sich in den Alpen solche Wolken zusammenballten, war das immer Anlass, über einen sofortigen Abstieg nachzudenken. Hier aber war die Wetterlage irgendwie anders.

»Weißt du, ich habe das Gefühl, das ist alles gar nicht so schlimm, wie es aussieht«, meinte Simon nachdenklich. »Gestern zum Beispiel hat es sich bewölkt, und dann hat es geschneit, aber die Temperatur ist dabei gar nicht so drastisch gesunken. Gewitter hat es auch keines gegeben, und oben auf den Gipfeln scheint der Wind nicht mal besonders stark geblasen zu haben. Ich glaube, das sind überhaupt keine richtigen Stürme.«

Vielleicht hatte Simon ja recht, aber irgendwie war mir bei der Sache nicht ganz geheuer. Ich widersprach ihm: »Du findest also, wir sollten einfach weiterklettern, selbst wenn es unterwegs zu schneien anfängt? Würden wir damit nicht riskieren, einen echten Sturm als die übliche, harmlose Wetterlage abzutun?«

»Na ja, das könnte passieren. Aber lass uns doch einfach sehen, wie es läuft. Wenn wir die ganze Zeit nur hier rumsitzen, werden wir es nie herausfinden.«

»Ist gut. Ich meine bloß, wir sollten das mit den Lawinen nicht unterschätzen.«

Simon lachte. »Klar, das kann ich verstehen. Du hast ja auch wirklich allen Grund dazu. Aber die letzte hast du immerhin überlebt. Ich schätze, es ist hier eher wie im Winter in den Alpen: haufenweise Pulver- und Triebschnee, aber keine größeren Nassschneelawinen. Na, wir werden es ja sehen.«

Ich beneidete Simon um seine Unbekümmertheit. Er besaß die Stärke, das, was ihm zufiel, auch annehmen zu können, und die geistige Freiheit, es ohne Sorgen oder Zweifel zu genießen. Eher lachte er, als dass er mürrisch das Gesicht verzog, und er konnte sich über seine eigenen Missgeschicke ebenso gut amüsieren wie über die anderer Menschen. Er war groß gewachsen und kräftig gebaut. Das Leben meinte es gut mit ihm und hatte ihm bislang nur selten seine Schattenseiten gezeigt. Es war angenehm, ihn zum Freund zu haben, denn er war verlässlich, aufrichtig und immer bereit, das Leben nicht allzu ernst zu nehmen. Er hatte einen blonden Wuschelkopf, strahlend blaue, vergnügte Augen und diese leicht verrückte Art, die manche Menschen so besonders macht. Ich war froh, dass wir beschlossen hatten, als Zweierteam hierherzukommen. Es gab nur wenige andere Menschen, mit denen ich es so lange ausgehalten hätte. Simon war das genaue Gegenteil von mir, er war so, wie ich gerne gewesen wäre.

»Wann werdet ihr ungefähr zurück sein?«, fragte Richard schlaftrunken. Er lag noch in seinem Zelt, als Simon und ich uns am nächsten Morgen bereit zum Aufbruch machten.

»Spätestens um drei. Viel länger wollen wir eigentlich nicht unterwegs sein, vor allem, wenn das Wetter wieder umschlägt.«

»Alles klar. Viel Glück.«

Der Untergrund aus losem Geröll war vom frühmorgendlichen Frost noch gefroren, und wir kamen leichter voran, als wir gedacht hatten. Schon bald verfielen wir in einen gleichmäßigen, geräuschlosen Rhythmus, während wir im Zickzack die Schutthänge bergauf stiegen. Jedes Mal wenn ich mich umdrehte, waren die Zelte wieder ein Stück kleiner geworden, und da ich mich kräftiger und besser in Form fühlte als erwartet, begann ich die Anstrengung zu genießen. Trotz der Höhe kamen wir zügig voran. Simon behielt ein gleichmäßiges Tempo bei, das meinem entsprach. Ich hatte mir offenbar unnötige Sorgen gemacht, ob es gravierende Unterschiede zwischen uns beiden geben würde. Wenn ein Bergsteiger sein eigenes Tempo dem seines weniger trainierten Partners anpassen muss, wird dieser schnell Mühe haben, mit dem Fitteren Schritt zu halten. Ich konnte mir gut vorstellen, dass es in so einem Fall zu einer Menge Frustrationen und Konflikten kommt.

»Wie läuft’s?«, fragte ich Simon, als wir eine kurze Pause einlegten.

»Ziemlich gut, aber ich bin trotzdem froh, dass wir auf dieser Tour nichts zum Rauchen dabeihaben.«

Insgeheim pflichtete ich ihm bei, obwohl ich zunächst dagegen gewesen war, als Simon vorgeschlagen hatte, keine Zigaretten ins Basislager mitzunehmen. Ich spürte, wie schwer meine Lungen in der dünnen, kalten Luft arbeiteten. In den Alpen hatte es mich in meiner Leistungsfähigkeit noch nie eingeschränkt, dass ich ein starker Raucher war, aber nun musste ich zugeben, dass es wohl tatsächlich klüger sein würde, auf dieser Expedition nicht zu rauchen. Der Gedanke an die Höhenkrankheit oder an Lungenödeme – Gefahren, von denen wir oft genug gehört hatten – war das Einzige, was mich meine Gier nach Nikotin ein paar Tage lang ertragen ließ.

Es dauerte mehrere Stunden, bis wir die Geröllhalden hinter uns gebracht hatten. Dann ging es weiter Richtung Norden, auf einen hohen Pass zu, der einen Abhang aus zerklüfteten Felspfeilern abschloss. Das Lager verschwand aus unserem Blickfeld, und mir wurde plötzlich bewusst, wie still und einsam es um uns herum war. Zum ersten Mal in meinem Leben begriff ich, was es bedeutete, von den Menschen und der Zivilisation abgeschnitten zu sein. Immer stärker empfand ich ein Gefühl grenzenloser Freiheit – der Freiheit, zu tun, was ich wollte, wann und wie es mir gefiel. Plötzlich sah der ganze Tag anders aus, war alle Müdigkeit wie fortgewischt von einem belebenden Gefühl der Unabhängigkeit. Wir brauchten uns vor niemandem zu verantworten außer vor uns selbst. Niemand würde uns stören, aber es würde uns auch niemand zu Hilfe kommen …

Simon war ein Stück vor mir. Ruhig stieg er bergauf und kam beständig voran. Obwohl er mir mit seiner gleichmäßigeren Gangart etwas voraushatte, machte ich mir nun keine Gedanken mehr wegen des Tempos oder der Kondition. Ich wusste, wir waren einander ziemlich ebenbürtig. Ich hatte es überhaupt nicht eilig, denn ich war mir sicher, wir konnten den Gipfel beide mühelos erreichen. Wenn sich ein schöner Aussichtspunkt bot, blieb ich daher gerne einen Augenblick lang stehen und genoss den Blick.

Die felsigen Rinnen waren mit Geröll gefüllt. Als ich um einen Vorsprung aus gelbem Fels bog, sah ich erfreut, wie Simon sich gerade hundert Meter weiter auf einem Sattel niederließ und den Kocher anwarf.

»Das lose Zeug hier war zwar nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte«, sagte ich ein wenig außer Atem, »aber was Heißes zu trinken ist mir jetzt trotzdem ganz recht.«

»Hast du den Siula Grande schon gesehen? Da drüben, links vom Sarapo.«

»Wow, der ist ja phantastisch!« Der Anblick, der sich mir bot, war fast ein wenig einschüchternd. »Er ist viel größer, als er auf den Fotos aussah.«

Simon reichte mir einen dampfenden Becher, während ich auf meinem Rucksack saß und zu dem Bergmassiv hinüberstarrte, das sich vor uns erstreckte.

Zu meiner Linken konnte ich die Südwand des Rasac sehen, einen hoch aufragenden Eishang, durchzogen von Felsbändern, die ihm eine marmorartig gestreifte Wirkung verliehen. Rechts vom Schneegipfel des Rasac und durch einen gefährlich verwechteten Grat mit diesem verbunden, erkannte ich die etwas niedrigere Spitze des Seria Norte. Von dort fiel der Wechtengrat zu einem Sattel hin ab, bevor er sich in einem weiten Bogen über zwei Felsrücken zur Gipfelpyramide des Yerupaja emporschwang. Er war mit Abstand der höchste und eindrucksvollste Berg ringsum. Glitzernd vor Eis und Neuschnee und hoch über dem Siulagletscher aufragend, dominierte er die gesamte Szenerie. Seine Südwand bildete ein ebenmäßiges Dreieck, der überwechtete, felsdurchsetzte Westgrat wölbte sich vom Pass unterhalb des Seria Norte hoch, während sich der Ostgrat zurückkrümmte und dann zum nächsten Pass hinunterzog. Die Wand unterhalb dieses Grates bestand aus einer eindrucksvollen Reihe parallel zueinander verlaufender, mit Pulverschnee gefüllter Rillen, die ihre Schatten wie Spitzenbordüren in die Flanken warfen.

Am unteren Ende des Grates erkannte ich den Santa-Rosa-Pass, den wir bereits auf den Fotos vom Siula Grande gesehen hatten. Er verband den Südostgrat des Yerupaja mit dem Nordgrat des Siula Grande. Wo dieser anzusteigen begann, sah er noch relativ harmlos aus, doch dann verjüngte er sich zu einem gefährlich schmalen Kamm aus Schneerillen und Wechten, die spektakulär über den Rand der gewaltigen Westwand hinausragten. Schließlich endete er in dem riesigen Schneepilz, der den Gipfel des Siula Grande bildete.

Diese Westwand war unser Ziel. Auf den ersten Blick wirkte sie verwirrend, so als hätte ich sie noch nie zuvor gesehen. Aufgrund ihrer Dimension und der Tatsache, dass ich sie aus einer anderen Perspektive betrachtete als der, aus der die Fotos aufgenommen worden waren, erschien sie mir zunächst fremd, bis ich allmählich einzelne charakteristische Details wiedererkannte. Über den Nordgrat des Siula Grande begann sich eine gewaltige Kumulusbank zu wälzen. Wie jeden Tag näherte sie sich von Osten her, wo die riesigen Regenwälder des Amazonasbeckens im Lauf des Tages von der Sonne aufgeheizt wurden und diese feuchten Luftmassen hervorbrachten.

»Ich glaube, du hattest recht, Simon«, sagte ich. »Das ist wirklich kein Sturmwetter – das sind höchstens Konvektionsströme, die sich über dem Urwald gebildet haben.«

»Ja, und die bringen uns sicher wieder den üblichen Nachmittagsschauer.«

»Was meinst du, wie hoch sind wir hier?«

»Um die fünfeinhalbtausend Meter, schätze ich, vielleicht ein bisschen höher. Warum?«

»Na ja, das ist für uns beide immerhin einen Höhenrekord. Und wir haben es fast nicht bemerkt.«

»Wenn das Lager schon beinahe auf derselben Höhe liegt wie der Montblanc, dann ist das doch auch nichts mehr Besonderes, oder?«, antwortete Simon mit einem verschmitzten Grinsen.

Als wir ausgetrunken hatten, begannen die ersten nassen Schneeflocken zu fallen. Der Gipfel des Rosario war noch immer deutlich zu sehen, doch das würde sich bald ändern. Er lag nur gut hundert Meter oberhalb unseres Rastplatzes am Pass, und bei klarem Wetter hätten wir ihn in etwas mehr als einer Stunde erreichen können. Obwohl keiner von uns etwas sagte, herrschte ein unausgesprochenes Einvernehmen zwischen uns, dass wir den Gipfel diesmal auslassen würden.

Simon schulterte seinen Rucksack und machte sich an den Abstieg zum oberen Ende der Geröllhänge. Dort angekommen, begann er schneller zu laufen und die Schuttrinnen hinunterzurutschen, durch die wir uns so mühsam hochgekämpft hatten. Dann fuhren wir brüllend und johlend die 500 Meter durch das lose Geröll bergab, wobei wir uns wie Skifahrer in Parallelschwüngen versuchten. Aufgedreht und völlig außer Atem erreichten wir schließlich den Lagerplatz.

Richard hatte schon angefangen, das Abendessen zuzubereiten, und drückte jedem von uns einen Becher Tee in die Hand, den er aufgegossen hatte, als er uns oben im Geröll entdeckt hatte. Wir setzten uns damit neben die bullernden Benzinkocher und erzählten ihm ausführlich und voller Begeisterung, was wir erlebt und gesehen hatten, bis der Regen in plötzlichen Schwällen das Tal heraufgezogen kam und uns in den Schutz des großen Kuppelzeltes trieb.

Gegen halb sieben wurde es dunkel. Jeder, der sich nun dem Zelt genähert hätte, hätte durch das Rot und Grün der Zeltplanen nur den warmen Schein einer Kerze schimmern sehen und das leise Murmeln unserer Unterhaltung gehört, durchsetzt von gelegentlichen Ausbrüchen derben Gelächters über Richards höchst amüsante Geschichte einer neuseeländischen Rugby-Mannschaft und ihrer Odyssee durch die Urwälder Zentralafrikas. Wir planten die nächsten Trainingstouren und spielten dann noch bis spät in die Nacht Karten.

Unser nächstes Ziel sollte der bislang unbestiegene Südgrat des Cerro Yantauri sein, der nur einen kurzen Fußmarsch von unserem Lager entfernt lag. Vermutlich würden wir die Zelte den gesamten Weg zum Gipfel hinauf im Blick haben. Im unteren Teil zog sich der Grat über einige schroffe Felsausläufer nach links und ging dann in einem langen, eleganten Schwung in einen verwechteten Firnkamm über. Dieser führte zu einer Passage äußerst instabiler Séracs, Türmen aus Eis, die bis zum Gipfel hinaufwucherten. Wir wollten – entweder beim Aufstieg oder beim Abstieg – ganz oben auf dem Grat biwakieren, um unsere Wettertheorie zu überprüfen.

Am Morgen war es kalt und sonnig, aber im Osten sah der Himmel ziemlich finster aus, was uns dazu bewog, den Südgrat des Yantauri auf einen anderen Tag zu verschieben. Simon ging stattdessen zu einem nahe gelegenen Schmelzwassertümpel, um ein Bad zu nehmen und sich zu rasieren, während ich mich mit Richard auf den Weg hinunter zu den Hütten machte, um zu versuchen, den Mädchen Milch und Käse abzukaufen.

Sie schienen sich zu freuen, uns zu sehen, und verkauften uns bereitwillig von ihrem hausgemachten Käse. Obwohl Richards Spanisch ziemlich holprig war, erfuhren wir, dass sie Gloria und Norma hießen und immer, wenn sie das Vieh ihres Vaters hinauf auf die Hochweiden trieben, hier oben in den Hütten übernachteten. Die beiden hatten etwas Wildes, Verwahrlostes an sich, doch sie kümmerten sich liebevoll um ihre kleineren Geschwister, die allerdings einen sehr selbstständigen Eindruck machten. Wir setzten uns in die Sonne und sahen ihnen bei der Arbeit zu. Die dreijährige Alecia (der ich den Spitznamen »Paddington« gab) bewachte den Eingang zum Viehpferch, um die Rinder am Ausbrechen zu hindern, während ihre Geschwister die Tiere melkten, die Kälber davon abhielten, am Euter der Muttertiere zu saugen, und die Molke in Musselinbeuteln zu Frischkäse weiterverarbeiteten. Das alles ging ganz gemächlich und mit viel Gelächter vonstatten. Schließlich vereinbarten wir mit Glorias Bruder Spinoza, dass er uns im Lauf der nächsten Tage Lebensmittel aus dem nächsten Dorf bringen sollte. Auf dem Rückweg ins Lager knabberten wir an dem Käse und behielten währenddessen aufmerksam die Wolken im Auge, die aussahen, als würden sie ihre nasse Fracht heute schon früher als sonst entladen. Die Aussicht auf frisches Gemüse, Eier, Brot und Obst erschien uns fast irreal, nach zwei mageren Wochen, in denen wir ausschließlich von Nudeln und Bohnen gelebt hatten.

Am nächsten Tag machten wir uns schon zeitig auf den Weg zum Yantauri. Unser Aufbruch vom Lager stand jedoch unter keinem guten Stern. Die Geröllfelder erwiesen sich als äußerst tückisch, da aus der schuttübersäten Westwand über uns immer wieder Steinschlag herunterkrachte. Wir waren ziemlich nervös und wollten so schnell wie möglich vorankommen, was unser schweres Gepäck aber nicht zuließ. Als wir die unteren Geröllhänge etwa zur Hälfte hinter uns gelassen hatten, merkte Simon außerdem, dass er seine Kamera am letzten Rastplatz vergessen hatte. Er setzte seinen Rucksack ab und rannte zurück, während ich weiter zu den unteren Felswänden rechts von uns aufstieg, die einen besseren Schutz boten.

Um sechs Uhr abends wollten wir uns hoch oben am Grat für die Nacht einrichten, doch das Wetter hatte umgeschlagen, und über unserem ausgesetzten Biwakplatz ballten sich schon kurze Zeit später einige düstere, bedrohlich wirkende Wolken. Als es dunkel wurde, bauten wir am Fuß einer niedrigen, leicht überhängenden Felswand unser kleines Biwakzelt auf und legten uns voller Unruhe zum Schlafen nieder. Nachts schneite es zwar ununterbrochen, doch der erwartete Sturm blieb aus. Unsere Wettertheorie schien sich also bestätigt zu haben.

Am nächsten Morgen nahmen wir optimistisch den frisch verschneiten Südgrat in Angriff, doch nachdem wir uns mühsam durch den hüfthohen Pulverschnee bis auf 5500 Meter hinaufgekämpft hatten, mussten wir aufgeben. Der stark verwechtete Grat wäre viel zu gefährlich gewesen. Als ich durch einen Spalt brach, der sich zwischen zwei Wechten unterhalb der Gipfelséracs geöffnet hatte, und bis zum Fuß der Westwand hinuntersehen konnte, beschlossen wir, für heute Schluss zu machen.

Nach einem anstrengenden Abstieg über die losen Geröllhänge der Westwand kehrten wir völlig erschöpft zu unseren Zelten zurück. Immerhin hatten wir ein paar aufschlussreiche Wetterbeobachtungen anstellen können: Auch wenn es gelegentlich durchaus schwere Stürme gab, würden wir, wenn sich die ersten Wolken aufbauten, wenigstens nicht gleich umkehren müssen.

Zwei Tage später brachen wir erneut auf, diesmal zum Südgrat des Seria Norte. Vom Basislager aus sah er atemberaubend aus, und soweit uns bekannt war, war er noch nie bestiegen worden. Als wir näher kamen, wurde uns klar, warum. Zu Hause in Sheffield hatte uns der britische Extrembergsteiger Al Rouse erzählt, dass er »ein nicht ganz so einfacher Grat« sei. Bei näherer Betrachtung stellten wir fest, dass Al seinem legendären Ruf, maßlos zu untertreiben, zweifellos gerecht wurde. Nach einer kalten und unbequemen Nacht im Biwak wühlten wir uns aufs Neue durch den kräftezehrenden Tiefschnee und erreichten schließlich einen hohen Pass am unteren Ende des Grates. Gut 600 Meter über uns schwang sich eine Reihe bizarrer, nahezu senkrecht vom Grat emporragender Wechten zum Gipfel hinauf. Schon die geringste Berührung der untersten Wechte mit einem Eispickel hätte das ganze fragile Eisgebilde auf uns herabstürzen lassen. Alle Energie, die uns der Aufstieg gekostet hatte, war umsonst gewesen. Wir fragten uns, was Richard wohl sagen würde, wenn wir ihm erzählten, dass auch unser dritter Gipfelversuch gescheitert war, und konnten der ganzen Sache so doch noch etwas Erheiterndes abgewinnen. Immerhin waren wir nun gut trainiert, ausreichend akklimatisiert und bereit für unser eigentliches Ziel, die Westwand des Siula Grande.

Zwei ganze Tage lang schlugen wir uns die Bäuche voll und genossen ausgiebig die Sonne, während wir uns auf die Westwand vorbereiteten. Jetzt wo wir uns für das nächste Schönwetterfenster den Siula vorgenommen hatten, überfiel mich immer wieder eine plötzliche Angst. Was, wenn irgendetwas schiefging? Es gab so vieles, was uns zustoßen und das Leben kosten konnte. Mir wurde bewusst, wie einsam es hier um uns herum war, und ich fühlte mich klein und unbedeutend. Simon schmunzelte nur, als ich ihm von meinen Bedenken erzählte. Er kannte den Grund dafür, und vielleicht empfand er insgeheim sogar dieselbe Anspannung. Ein solcher gesunder Respekt war der Sache jedoch keinesfalls abträglich, und es war gut, zu spüren, wie mein Körper auf die Angstgefühle reagierte. Wir werden es schaffen, wir werden es schaffen …, wiederholte ich mantraartig, wann immer sich jenes hohle, hungrige Loch in meinem Magen bemerkbar machte. Das waren keine leeren Phrasen. Mich psychisch auf den entscheidenden Schritt vorzubereiten war mir schon immer besonders schwergefallen. »Rationalisieren« nannten es manche – »Schiss haben« erschien mir dagegen die treffendere und zudem ehrlichere Beschreibung dieses Zustands.

»Gut«, sagte Simon schließlich, »dann graben wir uns unten am Fuß der Wand eine Schneehöhle und klettern am nächsten Tag in einem Zug durch. Zwei Tage rauf, zwei Tage runter, schätze ich.«

»Wenn das Wetter hält …«

Am Morgen herrschten jedoch trostlose Aussichten. Die Gipfel waren wolkenverhangen, und unter dem trüben Himmel waren nur die Flanken der Berge zu sehen. Ein Hauch von Gefahr lag in der Luft. Wir spürten es beide, als wir unsere Rucksäcke packten, um am nächsten Tag so früh wie möglich aufbrechen zu können, falls das Wetter dann besser wäre. Waren es die Anzeichen für einen ernst zu nehmenden Sturm, oder schickte uns der Amazonas seinen Gruß heute lediglich früher als sonst herauf? Ich steckte vorsichtshalber noch eine Gaskartusche mehr in meinen Rucksack.

»Hätte nichts dagegen, wenn die nächste Runde an uns geht. Im Moment steht es drei zu null für die Berge.«

Ich musste grinsen, als ich Simons gequälten Gesichtsausdruck sah.

»Am Siula wird das alles anders sein. Der ist so verdammt steil, dass dort der Pulverschnee gar nicht erst liegen bleibt.«

»Dann rechnet ihr also mit vier Tagen?«, hakte Richard beiläufig nach.

»Allerhöchstens fünf.« Simon warf mir einen flüchtigen Blick zu. »Und wenn wir nach einer Woche immer noch nicht zurück sind, erbst du eben unsere gesamte Ausrüstung!«

Mir war klar, dass Richard nur lachte, weil wir auch lachten. Ich beneidete ihn nicht darum, dass er derjenige war, der auf uns würde warten müssen, ohne zu wissen, was oben in der Wand gerade geschah. Fünf Tage waren eine sehr lange Zeit, vor allem wenn man allein war und niemanden hatte, mit dem man sich unterhalten konnte.

»Nach drei Tagen wird dir vermutlich so einiges durch den Kopf gehen, aber versuch, dir keine Sorgen zu machen. Wir wissen, was wir tun. Und falls irgendwas schiefgehen sollte, kannst du uns eh nicht helfen.«

Trotz aller Versuche, das Gewicht unserer Rucksäcke zu reduzieren, würden wir einiges zu schleppen haben. Wir hatten wesentlich mehr Ausrüstung eingepackt als zuvor. Weil uns das Biwakzelt zu sperrig war, beschlossen wir, es dazulassen und stattdessen darauf zu vertrauen, dass wir geeignete Löcher im Schnee finden würden. Doch selbst ohne das Zelt kam mit den Firnankern, Eisschrauben, Steigeisen und Eisgeräten, der Felskletterausrüstung, den Kochern, Gaskartuschen, dem Proviant und den Schlafsäcken eine Last von beängstigenden Ausmaßen zusammen.

Am nächsten Morgen brachen wir zu dritt auf, da Richard uns bis zum Gletscher hinauf begleiten wollte. Die Sonne brannte vom Himmel, und wir legten ein gleichmäßiges Tempo vor. Nach einer Stunde hatten wir die Ausläufer des Gletschers erreicht und begannen, eine steile Rinne zwischen den unteren Seitenmoränen und einer vom Eis blankgeschliffenen Felsplatte hinaufzusteigen, die den Gletscher links begrenzte.

Schlamm und Geröll gingen in ein Labyrinth aus Felsblöcken und Schutt über. Es war mühsam, um und über diese Hindernisse zu klettern, von denen manche weit mehr als mannshoch waren – noch dazu mit dem schweren Gepäck auf dem Rücken. Richard hatte sich in den zwei vergangenen Wochen an die Höhenluft gewöhnt und konnte gut Schritt halten, doch dann sahen wir von unserem Rastplatz aus eine Reihe spitzer Eiszacken im schmutzigen Gletschereis, die für seine leichten Wanderstiefel ein beträchtliches Hindernis darstellen würden. Um an ihnen vorbei- und auf den Gletscher hinaufzugelangen, würden wir eine steile, fast dreißig Meter hohe Eisklippe überwinden müssen. Direkt oberhalb unserer Aufstiegslinie hingen in prekärem Gleichgewicht mehrere große Felsbrocken.

»Ich denke, du solltest lieber umkehren«, sagte Simon. »Dort hinaufkriegen würden wir dich wahrscheinlich schon, aber zurück müsstest du allein.«

Richard blickte wehmütig um sich. Er hatte gehofft, etwas Eindrucksvolleres vorzufinden als nur eine öde Schlammwüste mit vereinzelten Felsblöcken. Nicht einmal die Westwand des Siula war von hier aus zu sehen.

»Dann mache ich wenigstens noch ein paar Fotos von euch, bevor ihr weitergeht«, verkündete er. »Man weiß ja nie … Vielleicht verdiene ich ja ein Vermögen damit, wenn ich sie der Presse später für euren Nachruf verkaufe!«

»Das will ich doch hoffen!«, murmelte Simon.

Dann ließen wir Richard zwischen den Felsblöcken zurück. Von unserem Standort hoch oben auf den Eisklippen aus wirkte er hilflos und verloren. Die nächsten Tage würden für ihn ziemlich einsam werden.

»Passt auf euch auf!«, schallte es von unten herauf.

»Keine Sorge«, rief Simon zurück, die Hände um den Mund gelegt. »Wir haben nicht vor, was zu riskieren. Wir sind bestimmt bald zurück. Mach’s gut …«

Wir gingen weiter, und schon bald war die einsame Gestalt zwischen den Felsen außer Sichtweite. An den ersten Gletscherspalten angekommen, legten wir die Steigeisen an und seilten uns an. Das gleißende Sonnenlicht, das von den vereisten Felswänden auf den Gletscher zurückgeworfen wurde, erzeugte eine enorme Hitze. Kein Windhauch regte sich. Der Rand des Gletschers war zerklüftet und schrundig. Wir warfen einen Blick zurück auf unsere Aufstiegsroute, um uns jedes Detail gut einzuprägen. Beim Rückweg würde uns dieses Wissen zugutekommen, denn unsere Spuren wären bis dahin sicher unter dem Neuschnee verschwunden. Es war daher entscheidend, dass wir uns später daran erinnern konnten, ob wir uns unterhalb oder oberhalb der Gletscherspalten halten mussten.

Als sich die kalte, klare Nacht über die Berge herabsenkte, lagen wir bereits warm eingemummelt in unserem Schneeloch am Wandfuß. Am nächsten Morgen würde es einen eisigen Aufbruch geben.

2   Das Schicksal herausgefordert

Es war fünf Uhr morgens, auf einem hohen Gletscher in den Anden – und es war kalt. Ich kämpfte mit den Reißverschlüssen und Gamaschen, bis meine Finger mir nicht mehr gehorchten. Mit den kribbelnden, brennenden Händen zwischen den Beinen wiegte ich mich vor und zurück und wimmerte vor Schmerz. So schlimm ist es noch nie gewesen, dachte ich, als das Blut wie Feuer durch meine Finger pulsierte, aber letztlich ging es mir mit unterkühlten Fingern immer so. Es tat einfach verdammt weh.

Simon musste grinsen, als er meinen gequälten Gesichtsausdruck sah. Ich wusste, dass die Schmerzen nicht wiederkommen würden, wenn die Hände erst einmal aufgewärmt waren – wenigstens ein kleiner Trost.

»Dann gehe ich voraus, okay?«, sagte Simon, der wusste, dass ich keine andere Wahl hatte, als zuzustimmen. Ich nickte kläglich, und er begann, den Lawinenkegel oberhalb unseres Schneelochs hochzusteigen, auf das darüber aufragende Eisfeld zu, das im Licht des frühen Morgens blau leuchtete.

Es ging los. Ich sah zu Simon hinauf, der über der schmalen Randspalte am Wandfuß lehnte und seinen Eispickel fest in das steile Eis über sich schlug. Die Wetterbedingungen waren perfekt: Diesmal zeigte sich keine tückische Wolkenfront, die einen Sturm mit sich brachte. Wenn es so blieb, würden wir schon vor dem nächsten Schlechtwettereinbruch den Aufstieg und den halben Abstieg hinter uns haben.

Ich stampfte kräftig, um meine Füße warm zu bekommen. Eissplitter klirrten auf meine Schultern herab, während Simon über mir seine Pickel ins Eis hämmerte, mit beiden Füßen nach oben stieg, dann die Pickel erneut einschlug. Ich duckte mich unter dem kalten Schauer und wandte meinen Blick Richtung Süden, wo der Himmel über dem Gipfel des Sarapo mit jeder Minute heller wurde.

Als ich das nächste Mal zu Simon hochschaute, war er das Seil schon fast ausgegangen und befand sich fünfzig Meter über mir. Die Wand war so steil, dass ich den Kopf weit in den Nacken legen musste, um ihn überhaupt sehen zu können.

Dann hörte ich Simons aufmunternde Aufforderung zum Nachsteigen. Ich griff nach meinen Eisgeräten, überprüfte die Steigeisen und begann zur Wand hinaufzuklettern. An der Randspalte angekommen, merkte ich erst, wie steil sie eigentlich war. Die starke Neigung brachte mich aus dem Gleichgewicht, bis ich mich schließlich über den Spaltenrand zur Eiswand hochgehievt hatte. Zunächst noch steif und unkoordiniert, kämpfte ich mich unnötig ab, doch irgendwann war mir durch die Anstrengung warm geworden, und ich fiel in ein gleichmäßig fließendes Bewegungsmuster. Hier sein zu dürfen erfüllte mich mit einem Hochgefühl, das mich immer weiter trieb, hin zu der Gestalt weit über mir.

Simon stand auf der Außenkante eines Fußes und hängte sich in die Eisschrauben, die er tief in die Wand gedreht hatte. Er wirkte locker und entspannt.

»Ganz schön steil, was?«

»Fast senkrecht, das erste Stück da unten«, antwortete ich. »Aber das Eis ist genial! Ich wette, das ist noch steiler als die Droites!«

Simon reichte mir die restlichen Eisschrauben, und ich stieg über ihm weiter, heftig schwitzend, da die morgendliche Kälte längst nachgelassen hatte. Kopf runter, immer auf die Füße schauen, ein Eisgerät einschlagen, dann das andere, die Füße nachsetzen, schlagen, schlagen … fünfzig Meter gerade hinauf, ohne Anstrengung, ohne Kopfschmerzen, nur erfüllt von einem unendlichen Glücksgefühl. Ich drehte die Schrauben ins Eis, sah, wie es sich sträubte, splitterte und zerbarst – rein damit, sitzt, einklinken, reinhängen, entspannen. Genial!

Ich spürte, wie mich alles durchströmte: die Hitze, das Blut, die Kraft. Es fühlte sich gut an. »Juuuchee!« – dieses Echo, rundherum um den Gletscher! Weit unter uns konnte man schwache Spuren sehen, dunkle mäandernde Linien, die sich aus den Schatten der inzwischen eingestürzten Schneehöhle auf dem Gletscher bergauf wanden.

Simon kam nach, holte mit den Pickeln aus, ließ Eissplitter unter sich in die Tiefe stürzen, schlug kräftig zu, immer wieder, stieg auf stählernen Spitzen höher. Kopf senken, schlagen, nachsetzen, an mir vorbei und weiter nach oben, ohne ein Wort, die Eisgeräte einschlagend, schwer atmend, immer kleiner werdend.

Wir kletterten höher, 300 Meter, 600, bis wir uns fragten, ob dieses Eisfeld jemals enden würde, und die Eintönigkeit unseren Rhythmus zu zersetzen begann. Immer wieder schauten wir nach rechts oben, entlang der Linie, die wir ausgesucht hatten und die nun, aus kürzerer Distanz, völlig anders aussah. Der Felspfeiler, der neben uns aufragte, ging in ein Gewirr von Rinnen über. An den Felsabsätzen waren Schneebänder zu sehen und überall Eiszapfen – aber wo war die Rinne, nach der wir suchten?

Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel, unsere Jacken und Hemden waren in unseren Rucksäcken verstaut. Ich stieg Simon nach, kam aber immer langsamer voran, da die Hitze mir den Mund austrocknete. Ich sehnte mich nach etwas zu trinken. Das Gelände wurde flacher. Ich blickte nach rechts und sah Simon rittlings auf einem großen Felsen sitzen und grinsen. Er hatte den Rucksack abgenommen und machte ein Foto von mir, als ich gerade am oberen Ende des Eisfeldes auftauchte und über eine unschwierige Rampe auf ihn zusteuerte.

»Mittagspause!«, sagte er und reichte mir einen Schokoriegel und ein paar Dörrpflaumen. Der Gaskocher, den er im Windschatten seines Rucksacks aufgestellt hatte, zischte eifrig vor sich hin. »Gleich gibt’s auch was zu trinken.«

Ich lehnte mich zurück, froh darüber, in der Sonne ausruhen zu können, und sah mich um. Es war kurz nach Mittag und ziemlich warm. Von der Gipfelwand, die sich 600 Meter über uns erhob, klirrte Eis herunter, doch im Augenblick waren wir davor geschützt. Der Felsen, auf dem wir Rast machten, überragte eine schwach ausgeprägte Rippe, die das Gelände über dem Eisfeld durchzog, sodass die Brocken links und rechts an uns vorbeistürzten, ohne uns gefährlich zu werden. Das Eisfeld, über dem wir hockten, war extrem abschüssig und fiel als nahezu senkrechte Wand ab. Ich verspürte einen schwindelerregenden Drang, mich weiter über den Abgrund hinauszulehnen. Es schien mich förmlich auf das Schneeeis hinunterzuziehen, das unter mir in die Tiefe strebte. Vornübergeneigt, mit verkrampftem Magen und einem scharfen Bewusstsein für die Gefahr, kostete ich dieses Gefühl aus.

Unsere Spuren und die Schneehöhle waren nicht mehr zu sehen, verloren sich im flimmernd gleißenden Weiß des Eises und des Gletschers. Der Abendwind würde jedes Anzeichen dafür, dass wir hier gewesen waren, verwehen.

Der obere Bereich des riesigen gelben Felspfeilers, der die Wand teilte, versperrte uns die Sicht auf die weitere Route. Erst als wir parallel dazu weiterkletterten, merkten wir, wie groß er war. In den Dolomiten hätte die gewaltige, 300 Meter hohe Flanke einen eigenen Berg abgegeben. Schon den ganzen Tag über waren aus dem oberen Bereich Steine heruntergesaust, auf der rechten Seite des Eisfeldes aufgeprallt und dann zum Gletscher hinuntergepoltert. Zum Glück waren wir nicht dichter am Pfeiler geklettert! Aus der Entfernung sahen die Steine klein und harmlos aus, aber nach einem freien Fall aus einer Höhe von mehreren Hundert Metern hätte uns selbst der winzigste davon mit der Wucht einer Gewehrkugel getroffen.

Wir mussten unbedingt das steile Eiscouloir finden, das sich durch eine Seite des Pfeilers nach oben zog und uns schließlich in die breite, schräge Rinne führen würde, die wir vom Seria Norte aus gesehen hatten. Hier lag die Schlüsselstelle unserer Route. Um das Couloir zu finden, zu durchsteigen und uns in der darüberliegenden Rinne eine komfortable Schneehöhle zu graben, blieben uns keine sechs Stunden mehr. Aus dem Eisvorhang, der über den Rand der schrägen Rinne hinausragte, quollen fünf bis zehn Meter lange Eiszapfen, die frei über die sechzig Meter hohe Wand herabhingen. Dorthin wollten wir gelangen, doch auf direktem Weg, durch den Eisvorhang hindurch, die Wand hochzuklettern war unmöglich.

»Was meinst du, wie weit oben liegt das Couloir?«, fragte ich Simon, als ich sah, wie er konzentriert den Fels absuchte.

»Wir müssen noch weiter rauf«, antwortete er. »Das da drüben kann es nicht sein.« Er deutete auf eine extrem steile Kaskade aus Eiszapfen unmittelbar links des Eisvorhangs.

»Vielleicht würde es dort auch gehen, aber es ist definitiv nicht das, was wir gesehen haben. Wahrscheinlich hast du recht, und es liegt über dem kombinierten Gelände da oben.«

Wir wollten keine Zeit mehr verlieren. Ich packte den Kocher ein, hängte mir die Eisschrauben an den Gurt, nahm die Pickel und kletterte los. Ich querte die Rampe und stieg dann auf Frontalzacken das zunehmend steile Eis hoch. Hier oben war es deutlich härter und brüchiger. Als ich zwischen meinen Beinen hinunterschaute, sah ich, wie Simon vor den großen Eisbrocken in Deckung ging, die ich mit meinen Pickeln losschlug. Ich hörte ihn fluchen, als ihn ein paar größere Brocken schmerzhaft trafen.

Am Standplatz sagte mir Simon, was er von dem Beschuss hielt.

»Pass nur auf, jetzt bin ich an der Reihe.«

Er übernahm und folgte einer schrägen Linie nach rechts, über Wülste und Stellen mit dünnem Eis, unter dem zum Teil der blanke Fels zutage trat. Ich zog den Kopf ein, als von oben ein kräftiger Eishagel niederging, der sich kontinuierlich steigerte. Dann überkam mich plötzlich ein furchtbarer Verdacht: Simon kletterte zwar über mir, aber eigentlich doch viel weiter rechts! Ich schaute auf, um nachzusehen, woher das Eis kam, und erkannte hoch über mir den verwechteten Gipfelgrat. Einige der Wechten ragten bis zu zwölf Meter über die Westwand hinaus, und wir befanden uns direkt in ihrer Falllinie. Mit einem Schlag war der Tag gar nicht mehr so sorglos und entspannt wie eben noch. Ich behielt Simon aufmerksam im Blick. Er wirkte verkrampft und schien jetzt nur noch quälend langsam voranzukommen. Beim Gedanken an einen Wechtenbruch sträubten sich mir die Haare. Ich folgte Simon nach, so schnell ich konnte. Auch er hatte gemerkt, in welcher Gefahr wir uns befanden.

»Verdammt! Nichts wie raus hier!«, keuchte er, als er mir die Eisschrauben in die Hand drückte.

Hastig kletterte ich los. Über den steilen Untergrund aus Fels stürzte in einer fünfzehn Meter hohen Stufe ein Eisfall herab. Es war nicht zu übersehen, wie steil er war – ungefähr achtzig Grad –, weshalb ich eine Eisschraube verankerte, sobald ich sein unteres Ende erreicht hatte. Ich wollte ihn in einem Zug durchsteigen und dann weiter nach rechts klettern.

Unter dem Eis rann das Wasser die Wand herunter, und an manchen Stellen schlug mein Pickel auf dem Fels Funken. Ich verlangsamte mein Tempo, kletterte vorsichtiger, achtete darauf, keine meiner Bewegungen zu überstürzen. Kurz vor dem Ausstieg aus dem Eisfall tastete ich mich auf den Frontalzacken weiter, während ich meinen linken Pickel fest umklammert hielt. Ich wollte gerade meinen rechten Pickel ins Eis schlagen, als plötzlich etwas Dunkles von oben auf mich zugerast kam.

»Stein!«, schrie ich und duckte mich nach unten weg. Irgendetwas prasselte auf meine Schultern und schlug hart gegen meinen Rucksack, dann war es vorüber. Simon hatte meine Warnung gehört, und ich sah, wie er zu mir hochschaute. Ein Felsbrocken von gut einem Meter Durchmesser sauste unter mir direkt auf ihn zu. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis Simon reagierte, und als er es endlich tat, geschah es fast wie in Zeitlupe und so beiläufig, dass ich es kaum fassen konnte. Er lehnte sich einfach ein Stück weit nach links und senkte den Kopf. Es sah aus, als würde der massive Felsbrocken ihn jeden Moment treffen. Ich schloss die Augen und kauerte mich noch enger an die Wand, während mich weitere Steine trafen. Als ich wieder hinschaute, war Simon kaum zu sehen. Er hatte sich den Rucksack über den Kopf gezogen.

»Alles okay?«

»Ja!«, hörte ich ihn unter dem Rucksack hervor antworten.

»Ich dachte schon, es hätte dich erwischt.«

»War nur Kleinzeug. Mach vorwärts, mir gefällt’s hier nicht!«

Ich stieg die letzten Meter des Eisfalls hoch und dann schnell weiter nach rechts, in den Schutz der Felswand. Simon grinste, als er aufgeschlossen hatte: »Wo kam das denn alles her?«

»Keine Ahnung. Ich hab’s auch erst im letzten Moment gesehen. War ziemlich knapp.«

»Sehen wir zu, dass wir weiterkommen. Ich kann die Rinne von hier aus erkennen.«

Angetrieben vom Adrenalin, kletterte Simon rasch in Richtung des steilen Eiscouloirs, das in einer Verschneidung des Hauptpfeilers zu sehen war. Es war halb fünf. Uns blieben also gerade noch anderthalb Stunden Tageslicht.

Ende der Leseprobe