Stürzen Liegen Stehen - Jon McGregor - E-Book
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Stürzen Liegen Stehen E-Book

Jon McGregor

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Beschreibung

Drei Männer reisen zur Station K auf Alexander Island in der Antarktis: zwei junge Geowissenschaftler, die die veraltete Kartografierung auf den neuesten Stand bringen sollen, sowie Robert Wright, der Stationsleiter. Als die drei auf einer Exkursion in einen schweren Sturm geraten, kommt es zur Katastrophe. Die Männer verlieren im dichten Schneetreiben Sichtkontakt, plötzlich ist jeder auf sich allein gestellt. Zunächst schafft es nur Robert zurück zur Station. Dort angekommen, reagiert er nicht auf die Funksprüche der beiden anderen und fordert auch keine Hilfe bei der Basisstation an, so wie es das Notfallprotokoll zwingend vorsieht … Als Robert schließlich evakuiert und in ein Krankenhaus in Santiago de Chile gebracht wird, reist seine Frau Anna nach Südamerika, um ihn nach Hause zu begleiten. Fortan muss sie ihre eigene Karriere zurückstellen und sich um ihren Mann kümmern. Der hat infolge der dramatischen Ereignisse sein Sprachvermögen verloren. Niemand scheint zu wissen, was genau sich zugetragen hat auf Station K. Nur Robert könnte darüber Aufschluss geben.

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Seitenzahl: 332

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Jon McGregor

Stürzen LiegenStehen

Roman

Aus dem Englischen übersetzt vonAnke Caroline Burger

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel

»Lean Fall Stand« bei 4th Estate, London.

© Jon McGregor 2021

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2022

Alle Rechte vorbehalten

Covermotiv: plainpicture / Sandra Jordan

Covergestaltung: Robert Gigler, München

eISBN 978-3-95438-146-3

Für Rosie

Inhalt

STÜRZEN /

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

LIEGEN _

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

STEHEN |

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

STÜRZEN /

1 /

Als der Sturm unerwartet losbrach, wurde Thomas Myers auf die Knie geworfen.

In der Ferne verdunkelte sich die Luft. Er hörte ein Heulen, und alles um ihn wurde weiß. Die Heftigkeit des Sturms hatte er nicht erwartet. Er verbarg den Kopf in den Armen und legte sich flach aufs Eis, um nicht weggerissen zu werden.

Seine Hand bewegte sich unwillkürlich zu seinem Handy, obwohl er wusste, dass er keinen Empfang hatte und kein Handy.

Es war ein Gefühl, als würden ihm die Kleider vom Körper gerissen und die Luft aus der Lunge gesaugt.

Er hatte gehört, es fühle sich an, als stecke man in einem Düsentriebwerk. Als wüsste irgendjemand, wie das war, in einem Düsentriebwerk zu stecken. Die Leute sagten so etwas, aber die Worte stimmten nicht immer.

Es gab nur noch das Brüllen des Sturms. Einzig sein Gewicht auf dem Eis sagte ihm, welche Richtung oben war in der Welt. Er konnte die anderen nicht mehr sehen. Er konnte gar nichts mehr sehen.

Wichtig war, ruhig zu bleiben und eine Bestandsaufnahme der Situation zu machen. Denk an die Ausbildung: Unterschlupf finden oder bauen, sich nicht vom Fleck rühren, mit den Teamkollegen Kontakt aufnehmen, in Bewegung bleiben, Ruhe bewahren.

Es gab gewisse Widersprüche in der Ausbildung.

Nachdenken war schwierig, wenn der Sturm so wahnsinnig wütete.

Er wusste nicht, wo das Funkgerät war. Er konnte die anderen nicht sehen. Er musste seine Kamera finden.

Er hatte sein Kamerastativ auf dem Festeis aufgebaut, um das stille Wasser des Sunds im Vordergrund und die Felswand des Priestley Head im Hintergrund einzufangen. Luke war beim Motorschlitten und der restlichen Ausrüstung geblieben. Zehn, vielleicht fünfzehn Meter links von ihm. Vielleicht mehr. Doc war mit dem anderen Motorschlitten losgefahren und den Priestley Head hochgestiegen, um dem Bild Perspektive zu verleihen. Wenn kein Mensch auf den Fotos zu sehen war, konnte man sich die Dimensionen dieser Landschaft unmöglich vorstellen. Seit ihrer Ankunft kämpfte Thomas mit diesem Problem. Auf den Bildern, die er bisher gemacht hatte, sah alles zu klein aus. Die fernen Gipfel. Der Bergkamm zu beiden Seiten des Tals. Der Gletscher. Die sich knirschend aneinander reibenden Eisberge, in deren Inneren das Licht blau schimmerte. Es war schwierig, das auf einem Foto darzustellen. Er hatte ein Bild komponiert, mit Doc oben auf der Steilklippe von Priestley Head, wie er aufs Wasser hinausschaut. Er hatte ihn über Funk instruiert, wo er sich hinstellen sollte; danach musste er das Funkgerät irgendwo abgelegt haben. Doc machte sich gut als Polarforscher. Er hatte den richtigen Bart dafür. Das Wasser schillerte grau, und die Berge wirkten im Kontrast zu Doc leuchtend weiß. Die Belichtungsautomatik spielte verrückt. Es gab einen Temperatursturz. Thomas drehte sich um und sah, wie sich schwarze Wolken über dem Everard-Gletscher zusammenballten. Er war gerade dabei, die Kamera vom Stativ zu nehmen, als der Windstoß ihn urplötzlich erfasste und auf die Knie warf.

Er musste das Funkgerät irgendwo hingelegt haben, während er das Stativ justierte. Nachdem er mit Doc gesprochen hatte. Er musste es in die Nähe seiner Füße gelegt haben. Es konnte nicht weit weg sein.

Der Wind war zu stark, er konnte sich nicht aufrichten, deswegen robbte er auf Ellbogen und Knien vorwärts. Vorwärts und nach links. Er rief nach Luke und hörte nichts. Er tastete nach dem Funkgerät. Er schob sich noch ein Stückchen weiter, dann zögerte er. Die Kamera musste eigentlich auch dort liegen. Er rief lauter nach Luke.

Er hatte keine Angst, noch nicht. Luke war ja nicht weit weg. Er blieb ruhig. Beobachtete die Umgebung genau.

Sie waren mit dem Motorschlitten von der Schutzhütte hergefahren, am Hang von der Hochebene hinunter und über die Schneepiste hinweg. Die Motorschlitten hatten sie in sicherer Entfernung zum Wasser abgestellt. Mit einem war Doc zum Fuß von Priestley Head gefahren und dann auf die Steilklippe geklettert. Nicht mehr als zehn Minuten entfernt. Sobald der Sturm nachließ, würden sie wieder zusammenfinden. Er hatte die Kamerataschen bei Luke gelassen und war hinaus aufs Meereis gegangen, in Richtung Wasser. Zehn Meter. Zwanzig. Mehr nicht. Es war glattes, stabiles Eis. Der Sturm war urplötzlich vom Gipfel des Everard-Gletschers südöstlich hinter ihnen herabgefegt. Thomas kauerte mit dem Rücken zum Wind. Luke müsste mit dem Motorschlitten und den Taschen links von ihm sein. Zu seiner Linken und etwas geradeaus. Er schob sich in diese Richtung und drehte das Gesicht aus dem schneidenden Wind.

Ruhe bewahren. An Ort und Stelle bleiben. Kontakt herstellen.

Er hätte das Funkgerät nicht aus der Hand legen sollen. Er hätte sich nicht von Luke entfernen sollen. Er hätte nicht Ja sagen sollen zu Docs Idee, auf den Priestley Head zu steigen, nur für ein Foto. Hätte er sich nur nicht von der Landschaft ablenken lassen. Doc tat immer so, als wäre es nichts Besonderes, aber es war schwer, nicht ständig stehen zu bleiben und zu staunen. So viel Eis und Schnee und Meer und Himmel. Gletscher und Klippen und Eisberge und Geröll. Verwitterung und Windformen und Erosionsskulpturen. Die Luft so klar, dass die Entfernungen schrumpften und die Farben strahlten.

Der Wind tobte immer noch. Langsam kroch ihm die Kälte unter die Kleidung.

Er glaubte, das Knistern des Funkgeräts zu hören, war sich aber nicht sicher. Der Wind heulte sehr laut in seinen Ohren. Er kam auf alle viere und tastete im treibenden Schnee.

»Kommen … K … K …«

»Thomas, bist … Kommen.«

Es war Luke, kaum zu verstehen. Es war seltsam, ihn über Funk zu hören, wenn er doch so nah war.

Er lauschte, wieder Lukes Stimme. Worte waren nicht auszumachen, aber der Klang war vertraut. Er drehte sich, bis er in die Richtung der Stimme blickte. Der Wind traf ihn von links. Er kauerte sich zusammen und lauschte reglos, aber er hörte nur den tobenden Wind. Auf dem Eis zu liegen war ein Fehler. Nicht nass werden. Ruhe bewahren, an Ort und Stelle bleiben, nicht nass werden.

Er kam auf die Füße, richtete sich aber nicht auf. Immer neue Windböen schleuderten ihn herum. Rissen an ihm. Er machte zwei Schritte, die Arme vor sich ausgestreckt. Der Wind trieb ihn von hinten. Er hörte wieder Lukes Stimme. Jetzt war sie hinter ihm. Der Klang veränderte sich, und er sah offenes Wasser vor seinen Füßen. Schwappendes Grau gegen Weiß. Etwas stimmte nicht. Das Wasser müsste eigentlich hinter ihm sein. Er wich zurück. Allmählich wurde ihm wirklich kalt.

Er sah auf das graue Wasser und konzentrierte sich. Der Wind ließ ein wenig nach, traf ihn aber immer noch von links im Gesicht. Die Windrichtung musste gewechselt haben. Langsam drehte er sich um einhundertachtzig Grad.

Mit ausgestreckten Armen tastete er sich zentimeterweise vorwärts.

Wieder das Knistern des Funkgeräts. Irgendwo vor ihm. Er konnte Luke hören, der Doc Wright aufforderte, sich zu melden. Tief gebeugt bewegte er sich auf die Stimme zu. Er fragte sich, warum Doc nicht antwortete. Er machte langsame, gleichmäßige Schritte, aber er merkte, wie sich sein Puls beschleunigte. Er hörte wieder Lukes Stimme. Sie klang jetzt schwächer. Thomas hatte ein Dauerrauschen in den Ohren und war sich nicht mehr sicher, dass er das Funkgerät überhaupt hörte. Der Wind traf ihn von rechts beißend im Gesicht, und die Augen zu öffnen tat weh. Er machte drei weitere Schritte und stand wieder vor offenem Wasser. Er sah, wie es über den Eisrand schwappte. Das Funkgerät war nicht mehr zu hören.

Er machte alles falsch. Als der Sturm losbrach, hätte er an Ort und Stelle bleiben sollen. Er hätte sich nicht vom Fleck bewegen dürfen. Er konnte irgendwo in der Nähe von Luke und dem Motorschlitten oder ganz woanders sein. Womöglich war Luke in die falsche Richtung losgelaufen, um nach ihm zu suchen. Er hätte an der Stelle bleiben sollen, deren Position er kannte. Er hätte da bleiben sollen, wo man ihn finden konnte, sobald der Sturm vorbei war. Er brüllte wieder Lukes Namen. Seine Stimme wurde vom Sturm verschluckt.

Er bewegte sich, um warm zu bleiben. Das ohrenbetäubende Heulen des Sturms machte das Denken schwer. Jetzt war das Funkgerät hinter ihm zu hören. Die beißende Kälte ging ihm allmählich durch und durch. Der Wind war schneidend und erbarmungslos.

Die Menge an Kalorien, die man hier unten zu sich nehmen musste. Einfach nur genug zu essen artete in Arbeit aus.

Er hörte wieder den Funk und tastete neben seinen Füßen. Lukes Stimme klang schrill und weit weg. Die Verbindung war ständig unterbrochen. »Doc, Thomas, kommen. Doc, kommen … Ist da jemand?«

Er musste nur Luke finden, am Motorschlitten hatten sie etwas zu essen. Das dunkelgraue Wasser schwappte gegen den Eisrand. Das Unwetter war erbarmungslos, er konnte sich kaum aufrecht halten. Ihm war schwindlig. Unstet auf den Füßen. Fast seekrank.

Etwas stimmte nicht.

2 /

»Doc, Thomas, kommen. Doc, kommen? Ist da jemand? Kommen?«

Hinter dem niedrigen Windschutz des Motorschlittens lauschte Luke Adebayo auf Antwort. Noch war es zu früh, um sich Sorgen zu machen, aber irgendetwas hätte er mittlerweile eigentlich hören müssen. Ihm war jetzt schon kalt. Er überprüfte Akku und Lautstärke am Funkgerät, steckte es zurück in die Jacke und ging im Geist seine Optionen durch.

Er könnte bleiben, wo er war. In diesem Punkt war die Ausbildung widersprüchlich. Sie hatten gelernt, dass sie sich bei Schlechtwetter nicht von der Stelle rühren sollten, damit sie sich nicht verliefen. Aber sie hatten auch gelernt, dass sie nach irgendeiner Art von Schutz suchen und Kontakt zu den anderen herstellen sollten. Wenn er keinen Kontakt herstellen oder Schutz finden konnte, kam es ihm ziemlich sinnlos vor, an Ort und Stelle zu bleiben.

Er schrie in den Wind, und nichts kam zurück.

Der Sturm war brutal. Er könnte sich auf die Suche nach Thomas machen, und dann könnten sie beide zusammen Doc suchen. Als das Unwetter losging, war Thomas in der Nähe des Wassers gewesen, und wenn er sich zu weit hinausbewegte, schwebte er in Lebensgefahr. Er war die Priorität. Doc hatte genug Erfahrung, er wusste, was zu tun war. Aber beide antworteten nicht. Luke konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Das Risiko war zu groß. Er wollte nicht losgehen und im Kreis laufen.

Falls beide verschwunden waren, brauchte er Hilfe von außen, was hieß, dass er es zurück zur Schutzhütte schaffen und von dort die Zentrale anfunken musste. Auf dem Motorschlitten hier rauszufahren hatte weniger als zwanzig Minuten gedauert, und für die Rückfahrt dürfte er eigentlich nicht sehr viel länger brauchen. Falls er es schaffte, in die richtige Richtung zu fahren, in diesem Wetter. Die Schutzhütte stand genau in der Mitte der Hochebene unterhalb des Garrard Ridge. Außerdem war sie knallrot. So schwer konnte sie ja nicht zu finden sein. Aber unter diesen Bedingungen war nichts einfach zu finden.

Die anderen waren nicht verschwunden. Sie konnten nicht verschwunden sein. Sie hatten nur keine Funkverbindung, nichts weiter. Das Beste war, an Ort und Stelle zu bleiben, bis er von ihnen hörte.

Sie hätten sich auf jeden Fall nie trennen sollen. Doc meinte zwar ständig, er kenne den Ort hier wie seine Westentasche, aber sie befanden sich trotzdem ganz wortwörtlich am Arsch der Welt. Dass Doc sich nur für ein Foto von ihnen entfernt hatte, war von Anfang an suboptimal. Luke war nicht begeistert gewesen, als Doc den Vorschlag machte. Thomas hatte nur das Gesicht verzogen, nach dem Motto: Dem Mann zu widersprechen nützt sowieso nichts, bringen wir’s einfach hinter uns. Und dann zurück zur Hütte, ein weiterer Abend mit Kakao, Scharade und Docs Anekdoten.

Natürlich würden ihm die Leute viele Fragen über die Antarktis stellen, wenn er wieder zu Hause war. Er würde ihnen nur schwer verständlich machen können, dass es oft schlicht und einfach langweilig war. Schön, natürlich. Majestätisch, eine Erfahrung, die einen mit Ehrfurcht erfüllte oder wie man es auch nennen wollte, aber wenn man genug geguckt hatte, konnte das alltägliche Hiersein schon etwas lang werden.

Er streckte den Kopf hinter dem Motorschlitten hervor und rief nach Thomas. Er konnte kaum seine eigene Stimme hören, von einer Antwort ganz zu schweigen. Er duckte sich wieder hinter den Windschutz. Er fragte sich, ob es wohl zu früh war, um an den Notproviant zu gehen. Er wischte sich den Schnee von der Brille und versuchte es wieder mit dem Funkgerät. Vielleicht hörten sie ihre Funkgeräte ja einfach nicht, bei dem Wüten dieses Sturms.

Es würde lange Diskussionen geben an diesem Abend. Er hatte so eine Vorahnung, dass sie der Basis nicht alles berichten würden. Doc hatte mehrmals durchblicken lassen, dass er sich nicht immer streng an die Vorschriften hielt. Luke wurde nicht so recht schlau aus dem Mann. Sie waren jetzt seit drei Wochen in Station K., und Luke versuchte immer noch, sich einen Reim auf ihn zu machen. Beim Ausbildungscamp hatte ihn keiner so richtig ernst genommen. Hinter seinem Rücken wurden Witze über ihn gerissen. Man konnte ihn relativ leicht hochnehmen, was er nicht immer mitkriegte. In puncto Logbuch und Funkplan war er streng, und wenn es darum ging, dass alles in Schuss war, wie er es nannte, aber andere Dinge sah er ziemlich locker. Wie viel getrunken wurde zum Beispiel. Er fing einigermaßen früh am Tag an mit dem Alkohol. Aber er arbeitete seit über dreißig Jahren hier unten als Campleiter und wusste ganz offensichtlich, was Sache war. Natürlich würde er sie aus dieser schwierigen Situation herausholen.

Es gab kein Anzeichen, dass der Wind schwächer wurde. Er tobte unaufhörlich. Luke funkte wieder die anderen an.

»Thomas, Thomas, bitte kommen. Doc, kommen?«

Er wartete, das Gerät ans Ort gedrückt. Er hörte nur Rauschen. Er versuchte nicht daran zu denken, wie weit sie von der Forschungsstation oder jeder anderen menschlichen Ansiedlung entfernt waren. Die nächsten Menschen gab es wahrscheinlich bei der russischen Basis, und die war mindestens eine Tagesreise mit dem Motorschlitten entfernt.

»Thomas, Thomas, bitte kommen? Doc, bitte kommen.«

Ein Zischen war zu hören und ganz schwach das Knacken eines ankommenden Funkrufs. Dann nichts.

»Thomas, Thomas, bitte kommen? Doc, bitte kommen? Hier ist Luke, hier ist Luke. Kommen.«

»… ist Thomas, hier ist Thomas. Kommen.«

»Was soll der Scheiß, Thomas. Gott sei Dank. Ich hab mir echt Sorgen gemacht. Wo steckst du? Ich kann dich nicht sehen. Ich kann gar nichts sehen.«

»Ja, Luke … Problem, kommen.«

»Fehlendes Wort vor Problem. Wiederholen, kommen.«

»… Funkgerät nicht finden. Problem gelöst, kommen.«

»Okay, okay. Hast du von Doc gehört? Kommen.«

»Negativ, kommen.«

»Vielleicht sollten wir zum Head und ihn suchen, was meinst du? Kommen.«

»… unterbrochen, bitte wiederholen, kommen.«

»Kannst du mich jetzt hören? Sollen wir Doc suchen gehen? Wo bist du?«

»… es … wieder … Ende.«

Der Wind legte sich einen kurzen Moment und fiel dann mit erneuter Kraft über ihn her. Die Sicht war nahe null. Thomas musste eigentlich ganz in seiner Nähe sein. Als der Sturm über sie hereinbrach, war er direkt da drüben gewesen. Dort. Sie mussten zueinanderfinden. Warten, dass das Wetter aufklarte. Was war bloß mit Docs Funkgerät los? Oder mit Doc. Thomas fragte sich offensichtlich das Gleiche.

»Doc, Doc … kommen … Doc? Kommen.«

Wahrscheinlich war es nur ein technisches Problem. Das würde sich sehr schnell klären lassen. So wie er Doc kannte, bestand natürlich immer die Chance, dass er sie auf die Probe stellte oder sich einen höchst seltsamen Witz erlaubte. Konnte gut sein, dass er ihnen die ganze Zeit zuhörte.

»Doc, Doc … kommen … Doc? Kommen.«

3 /

Robert »Doc« Wright hatte den Sturm kommen sehen, aber keine Zeit gehabt, die anderen zu warnen.

Der Nachmittag war nach Beendigung der GPS-Messungen des Tages Freizeitaktivitäten gewidmet gewesen. Die Abfahrt von der Schutzhütte Station K. war um 1300 erfolgt, und sie waren mit zwei Motorschlitten hinunter zur Küste gefahren, vorwiegend mit der Absicht, Thomas’ fotografischem Hobby nachzugehen. Die Idee war aufgekommen, er könne Thomas’ Aufnahmen eine menschliche Dimension hinzufügen, indem er den nah gelegenen Priestley Head bestieg. Das lag bereits ein wenig jenseits des korrekten Standardablaufs, schien aber nicht unangemessen. Die Wetterbedingungen waren ausgezeichnet, und weit war es auch nicht. Es bestand zu jedem Zeitpunkt Sicht- und Funkkontakt. Er hatte sich auf dem Gipfel der Anhöhe für Thomas in Position gestellt.

Priestley Head war im Grunde kaum mehr als ein topografischer Pickel. Von der Stelle, an der Doc den Motorschlitten zurückließ, hatte er nicht mehr als fünf Minuten gebraucht, um die Anhöhe hinaufzugehen; die zum Sund hin steil abfallenden Klippen erhoben sich keine dreißig Meter über dem Meeresspiegel. Aber es reichte, um Thomas’ Aufnahmen ein wenig dramatischer zu machen. Von hier oben hatte man eine ausgezeichnete Sicht auf das ganze Tal. Nicht weit entfernt lag die rote Schutzhütte von Station K. im Windschatten des Garrard Ridge, dahinter die Gipfel K7 und K8. Unterhalb der Schutzhütte fiel das Gelände sanft ab bis zur Schneepiste, die von orangefarbenen Treibstofffässern und schwarzen Fähnchen markiert wurde. Dahinter lag das dunkelgraue Wasser des Lopez-Sunds, das von Festeis gesäumt wurde. Die Eisberge im Sund hatten sich aneinander gerieben, in einer plötzlichen, unerwarteten Bewegung des Wassers umgedreht und geschaukelt. Doc hatte hochgeblickt zum Everard-Gletscher, hatte den schnell gleitenden Schatten sich dick auftürmender Wolken gesehen, ein trübes, orangegelbes Licht – ein plötzliches Unwetter, das auf sie zuraste. Es kam aus dem Nichts, näherte sich schnell, die Temperatur sank rapide ab. Doc hatte gesehen, dass Thomas über die Schulter geblickt und schnell noch versucht hatte, sein Stativ zusammenzuklappen; als er ihn anfunkte, kam keine Antwort. Er hatte Luke neben dem Motorschlitten gesehen, wie er sich zu ihm umdrehte. Doc hatte es kaum zwei Schritte den Hang hinuntergeschafft, als der Wind ihn traf und auf die Abbruchkante der Klippe zuschob.

Er ließ sich auf den Bauch fallen, wurde schnell über das lose Geröll geweht, suchte verzweifelt nach Halt, aber hinter ihm war nichts als Luft. Er streckte die Arme weit aus und versuchte, das Gewicht nach vorn zu verlagern. Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Er streckte einen Fuß nach links und brachte das Knie in Richtung Brust. Der Wind war so brutal, dass jeder Gedanke schwerfiel. Endlich kam sein Stiefel in Kontakt mit etwas Festem, aber als er dagegentrat, löste sich der Stein und fiel den senkrechten Abgrund hinunter. Einen langen, taumelnden Augenblick schwankte Doc schwer hinterher.

Er verlangsamte seine Atmung. Er konzentrierte sich. Er robbte zentimeterweise vorwärts. Besonders hoch war die Klippe nicht, aber einen Sturz würde er nicht überleben.

Seine Hände schienen lose in den Handschuhen zu stecken. Das Geröll unter ihm fühlte sich schlüpfrig an. Er konnte die Abbruchkante an der Taille spüren, seine Beine hingen in der Luft. Er drückte sich noch flacher an den Felsen und arbeitete sich zentimeterweise voran. Das Funkgerät steckte in der Jackeninnentasche und drückte auf die Rippen. Er spürte, wie es vibrierte. Die andern beiden wollten sicher wissen, ob bei ihm alles in Ordnung war. Zu antworten war unmöglich. Er vertraute darauf, dass sie nicht in Panik ausbrachen. Sie würden an Ort und Stelle Schutz suchen, wie sie es in der Ausbildung gelernt hatten.

Doc hatte sich schon früher in ähnlichen Situationen befunden. Diese hier war nicht anders. Man machte nicht über dreißig Expeditionen ins Eis, ohne hier und da einen Kratzer abzukriegen. Der Trick bestand darin, alles sehr langsam anzugehen und genau zu überlegen. Immer den nächsten Schritt mitdenken. Hier war der nächste Schritt offensichtlich: das Gewicht nach vorn verlagern und sich von der Kante wegrollen, dann am Fuß des Hangs Schutz suchen und Funkkontakt zu seinen Kollegen herstellen. Doc atmete ein paar Mal sehr langsam durch und strengte sich an, vernünftig zu denken. Er bewegte die Finger, um die Durchblutung zu fördern. Du fällst erst, wenn du loslässt, hatte ihm ein Ausbilder mal beim Gletscherspaltentraining beigebracht. Die Logik war nicht lupenrein, aber der Gedanke dahinter stimmte. Nicht nach unten schauen, nicht loslassen. Festhalten. Immer festhalten, das war das Wichtigste.

4 /

Thomas stieß gegen das Kamerastativ und fiel auf die Knie. Die Kamera war noch darauf befestigt. Er hörte das Knistern des Funkgeräts und fand es im Schnee.

»Hallo, hallo, hier ist Thomas, hier ist Thomas. Kommen.«

Eine lange Pause. Er drückte das Funkgerät ans Ohr und lauschte dem Rauschen, das sich mit dem Heulen des Sturms mischte.

»Was soll der Scheiß, Thomas. Gott sei Dank. Ich hab mir echt Sorgen gemacht. Wo steckst du? Ich kann dich nicht sehen. Ich kann gar nichts sehen.«

»Ja, Luke. Habe ein kleines Navigationsproblem, kommen.«

»… Problem. Wiederholen, kommen.«

»Ich konnte das Funkgerät nicht finden. Problem gelöst, kommen.«

»Okay, okay. Hast du von Doc gehört? Kommen.«

»Negativ, kommen.«

»Vielleicht … wir … Head …«

»Dein Funkspruch ist unterbrochen, bitte wiederholen, kommen.«

»… jetzt hören? … Doc suchen …«

»Luke, ich verstehe kein Wort. Ich versuche es demnächst wieder. Ende.«

Der zu geringe Blutzuckerspiegel machte sich bei ihm bemerkbar. Er fühlte sich schwach und wattig im Kopf. Thomas wischte den Schnee von der Kamera und versuchte, sie anzustellen. Nichts geschah. Seine Freundin hatte ihm den Fotoapparat geschenkt. Er wusste, wie viel sie dafür ausgegeben hatte. Er fand einen Energieriegel in seiner Tasche und versuchte, nicht zu schnell zu essen, damit sich der Magen nicht verkrampfte. Er dachte an die Thermoskanne Kaffee, die Luke hinten auf dem Motorschlitten hatte. Hier unten wurde der Kaffee mit einer Menge Zucker und Kakaopulver gekocht. Der Wind legte sich für einen Sekundenbruchteil, dann tobte er mit voller Wucht wieder los. Es würde sicher bald aufklaren. Er spürte, wie sich das Adrenalin langsam wieder abbaute. Diese kleinen Dramen dauerten nie lang. Es war nicht wie bei den Polarforschern früher, wie Doc so oft sagte, und Thomas war froh darüber.

Wenn er zu Hause erzählt hatte, er würde in die Antarktis gehen, hatte das aufregend geklungen, aber im Grunde war es gar nicht so dramatisch. Er war in den Alpen und den Pyrenäen mit weit weniger technischem Support klettern gewesen. Sie standen in regelmäßigem Kontakt mit der Forschungsstation in Bluff Point, und dank der Schneepiste war Hilfe schlimmstenfalls ein paar Stunden entfernt. Doc meinte zwar ständig, hier im Feld müssten sie komplett eigenverantwortlich sein, aber Thomas kaufte es ihm nicht so recht ab.

Inzwischen fraß die Kälte an ihm. Seine Hände und Füße wurden allmählich taub. Er lief auf der Stelle, damit das Blut besser zirkulierte. Die Kamera steckte er unter die Jacke, um sie aufzuwärmen. Sophie war so stolz auf ihr Geschenk gewesen. Sie hatte immer wieder nachgefragt, ob es auch wirklich das richtige Modell sei. Seine Arme und Beine waren schon ganz steif vor Anspannung. Im Funkgerät knisterte es wieder, und er hörte, dass Luke immer noch versuchte, Doc zu erreichen. Er fragte Luke nach seinen aktuellen Koordinaten, und Luke antwortete, er sei nach wie vor beim Motorschlitten und habe sich keinen Schritt wegbewegt, aber wo Thomas sei? Die Funkverbindung wurde kurz besser. Er fragte Luke, was sie tun sollten.

Er hatte den Glauben an seinen Orientierungssinn verloren. In der Jacke hatte er seinen GPS-Empfänger, und er schaltete ihn an, ohne genau zu wissen, wie ihm der helfen sollte. Besser vom Eis runter und ans Ufer gelangen. Dem Sturm würde bald die Puste ausgehen. Oder auch nicht. In der Antarktis konnte ein Sturm Stunden dauern. Das GPS hatte Kalibrierungsschwierigkeiten. Thomas konnte nicht klar denken. Er fing an, Luke seine ungefähre Position durchzugeben, aber der Längen- und Breitengrad änderte sich ständig. Er versuchte es mit Ausschalten und erneutem Einschalten. Ihm wurde wieder schlecht.

Nach wie vor kein Wort von Doc. Es wäre wirklich zu absurd, wenn gerade seinem Funkgerät der Saft ausgegangen wäre. Ständig redete er davon, wie wichtig Funkdisziplin war: Die Akkus mussten überprüft, die Handgeräte gewartet, die Funksprüche auf ein Minimum reduziert werden. In dieser Hinsicht war er ein Korinthenkacker. Das Wort hatte er selbst benutzt. In der Hinsicht bin ich ein Korinthenkacker, Jungs, tut mir leid. Im Grunde war er in jeder Hinsicht ein Korinthenkacker, wenn man’s genau nahm. Die tägliche Routine war ihm wahnsinnig wichtig, und dass es in der Hütte tipptopp aussah, die ständige Überprüfung von Ausrüstung und Proviant. Nur in puncto Satellitentelefon schien er irgendwie einen blinden Fleck zu haben, denen war nämlich über Nacht der Saft ausgegangen. Es war nicht das erste Mal, dass sie die Dinger in der Schutzhütte lassen mussten. Doc behauptete aber, sie seien sowieso viel unzuverlässiger als ein gutes altes Funkgerät.

Die Positionsdaten auf dem GPS veränderten sich ständig, sie ergaben keinen Sinn. Von Luke kam ein Funkspruch, sie könnten sich ja anpeilen und aufeinander zugehen. Thomas erwiderte, er solle verdammt noch mal beim Motorschlitten bleiben.

Er aß den letzten Rest seines Energieriegels und versuchte wieder, Doc anzufunken.

»Doc, Doc, bitte kommen. Hier Thomas, hier ist Thomas, kommen? Erbitte Plan fürs weitere Vorgehen, Plan fürs weitere Vorgehen, kommen.«

Eine Salve weißes Rauschen kam aus dem Funkgerät, dann nichts. Das Nichts war die plötzliche Windstille. In seinen Ohren dröhnte es immer noch. Als der Wind sich legte, wurde auch die Sicht besser. In allen Richtungen wurde das Sonnenlicht hart vom Wasser reflektiert. Er sah Luke, in der Ferne. Das Problem war umgehend klar. Der nächste Windstoß kam, und alles wurde dunkel.

5 /

»Doc, Doc, bitte kommen. Hier … hier ist Thomas, kommen? Erbitte Plan … Vorgehen, kommen.«

Luke hörte den Funkspruch von Thomas. Nach wie vor nichts von Doc. Wenn er sie nur verarschte, dann war es echt nicht witzig. Wahrscheinlich hatte er ein technisches Problem. Vermutlich wartete er, bis es aufklarte, und dann sollten sie allein zur Hütte zurückkehren. Luke konnte sich schon richtig vorstellen, wie er in der Tür zum Windfang stehen und sie erwarten würde. Mit einem Gesicht nach dem Motto: Mensch, wo bleibt ihr denn, Kinder, wisst ihr eigentlich, wie spät es ist?

Dasselbe Gesicht hatte er aufgesetzt, als sie ihn im Ausbildungscamp kennengelernt hatten. Luke und Thomas waren abends einen trinken gegangen, ins nächste Dorf, ein paar Kilometer entfernt. Als sie loszogen, war es schon dunkel, und der Rückweg dauerte länger als geplant. Als sie zum Ausbildungszentrum zurückkamen, war die Tür verschlossen, und während sie noch beratschlagten, was sie tun sollten, war Doc Wright nach unten gekommen und hatte sie hereingelassen. Sie stellten sich vor und sagten, sie seien falsch abgebogen. Doc fragte, aus welchem Forschungsbereich sie kämen. Geoinformationssysteme, sagten sie. Er nickte. Na, das fängt ja gut an, Jungs.

Die Ausbildung wurde in einem nördlich von Aviemore gelegenen Skiresort durchgeführt. Fast hundert von ihnen waren da in Stockbetten untergebracht. Ermüdende Vormittage mit Vorträgen und PowerPoint-Präsentationen im Speisesaal, nachmittags dann Schlittenziehen, Ausrüstungstests, Erste Hilfe. Als er ankam, kannte Luke noch niemanden. Es war wieder wie der erste Tag an der Uni. Alle fragten, auf welchem Gebiet man forschte, woher man kam und ob man schon mal in der Antarktis war. Schnell bildete sich eine Hierarchie heraus. Die, die schon mal dort gewesen waren, würzten ihre Sätze mit Abkürzungen, schauten bei den Vorträgen immer demonstrativ gelangweilt drein und gaben Statements von sich wie: Echte Sorgen brauchst du dir erst zu machen, wenn du die Kälte nicht mehr spürst. Die Neulinge hielten zusammen und taten so, als wüssten sie schon alles. Luke lernte Thomas am zweiten Tag kennen, als sie in Zweiergruppen eingeteilt wurden, um zu üben, wie man einen Knochen schient und einen Gipsverband anlegt. Luke hätte nicht gedacht, dass Gipsverbände zur Ersten Hilfe gehörten, aber die Dozentin wies sie darauf hin, dass sie sich im Feld wochenlang weit weg von medizinischer Versorgung aufhalten würden. Es kann sein, dass Sie einen Blinddarm herausnehmen müssen, sagte sie, über Funk angeleitet vom Arzt. Luke hatte Thomas einen Blick zugeworfen, von wegen: Meinen Blinddarm rührst du nicht an, Alter, und danach war es ihnen schwergefallen, sich dem Rest der Stunde mit dem gebührenden Ernst zu widmen.

Nach den Übungen wurden sie mit den bisherigen Todesfällen vertraut gemacht. Es war eine lange Liste. Navigationsfehler, Unterkühlung, Kletterunfälle, Stürze in Gletscherspalten, Ertrinken, Vorfälle unter Alkoholeinfluss, Kohlenmonoxidvergiftung, Robbenangriff, Herzstillstand, Feuer. Davon erzählte Luke seinen Eltern nichts. Thomas gingen besonders die VERMISSTEN (MUTMASSLICH TOT) nahe. Er wollte wissen, wer da mutmaßte und wann aus der Mutmaßung Gewissheit geworden war.

Bei der Aufzählung hatte Luke an den Kojoten aus der Road-Runner-Zeichentrickserie denken müssen, der nonstop überfahren und geplättet und mit Dynamit in die Luft gesprengt wurde, und immer war er wieder da und wollte mehr. Was ihn fertigmachte, war »Robbenangriff« – wie war es möglich, dass man vor einer Robbe nicht wegrennen konnte?

Thomas hatte er erst wiedergesehen, als sie auf dem Weg in die Antarktis an den Flughafen kamen. Alle Mitarbeiter des Instituts nahmen denselben Flieger, und die Abflughalle war voll mit den leuchtend gelben Reisetaschen und weinroten, logobestickten Fleecejacken. Es gab mehr Gesichtsbehaarung als in Aviemore und viele laute Stimmen. Als Thomas zu ihm rüberkam, um ihn zu begrüßen, fragte Luke, wie er ihn in dem Getümmel bloß gefunden habe. Ich hab dich an der Brille erkannt, sagte Thomas knochentrocken.

Sie waren fast eine Woche unterwegs, bis sie an der Forschungsstation ankamen. Am längsten dauerte die Anfahrt per Schiff, das sich knirschend durch die geschlossene Eisdecke schob. Alle taten, als sei das nichts Besonderes. Nach der Ankunft folgten sofort zwei weitere Ausbildungstage, und diesmal passten Luke und Thomas sehr genau auf. Sie wurden in eine Gletscherspalte hinabgelassen und lernten, wie man wieder herausklettert; sie ließen einen Verletzten auf einer Rettungstrage an der Abbruchkante einer Klippe hinunter; sie wurden ins Wasser geworfen und wieder herausgeholt. Sie lernten, wie wichtig die Wettervorhersage und der Funkkontakt mit der Basis zu festgelegten Zeiten waren, und die Veteranen gaben Dinge von sich wie Wenn der Zeh erst mal schwarz wird, ist es besser, ihn abzuschneiden, bevor es sich weiter ausbreitet. Es gab eine weitere Woche Ausbildung und Vorbereitung der Ausrüstung für den Flug ins Feld zur Station K., und dann ging es los.

Wie lang dieser Sturm noch dauern würde, ließ sich unmöglich vorhersagen. Sie brauchten einen Plan. Thomas musste runter vom Eis. Zusammen konnten sie dann Doc suchen gehen oder zur Schutzhütte zurückkehren, sich ans HF-Funkgerät setzen und die Basis verständigen.

Luke hatte ein seltsames Pfeifen im Ohr, und es dauerte einen Augenblick, bis ihm klar wurde, dass der Wind weg war. Die Sonne brannte auf einmal durch den treibenden Schnee, und er richtete sich hinter dem Motorschlitten auf.

Thomas war fünfzig oder sechzig Meter entfernt. Es war schwer zu sagen. Er stand auf Eis und sah Luke an. Zwischen ihnen war freies, graues Wasser. Luke verstand nicht, was er da sah. Irgendeine Form von Bewegung. Irgendetwas war geschehen. Der Sturm musste das Eis aufgebrochen haben. Etwas stimmte nicht.

Sie sahen einander an. Mit einem Brüllen war der Wind wieder da und Thomas verschwunden.

Thomas’ Stimme kam aus dem Funkgerät, er überschrie die frische Macht des Windes.

»Luke, hast du das gesehen? Hast du’s gesehen? Ich bewege mich. Ich bin auf einer Eisscholle, verdammte Scheiße, ich treibe ab.«

»Wiederholen bitte. Treibe? Kommen.«

»Wiederhole. Ich bin auf einer Eisscholle und treibe auf dem Lopez-Sund. Ist das klar, verdammt noch mal? Kommen.«

»Thomas, was? Was? Bitte bestätigen. Du kannst nicht abtreiben. Es muss sich um einen Tidenspalt handeln. Kannst du irgendwie außen rum? Einen Weg suchen, meine ich. Thomas?«

»Luke, das GPS läuft. Ich treibe ab. Wirklich.«

Luke setzte den Helm auf und ließ den Motorschlitten an. Er musste sofort zurück zur Schutzhütte und die Basis verständigen. Er musste Doc finden und feststellen, ob bei ihm alles okay war. Er musste den Weg durch den Sturm finden.

6 /

Doc Wright bemühte sich, seine Atmung zu verlangsamen. Er konzentrierte sich auf die Gewichtsverlagerung nach vorn, auf seinen Arm. Schwach hörte er das Knistern des Funkgeräts, spürte die Vibrationen an den Rippen. Ein schrilles, rauschendes Zischen war zu hören, wie aufbrandender Applaus, kaum vom tobenden Wind zu unterscheiden.

»… die Bucht. Bewege mich in Richtung Nord-Nordost, wiederhole, bewege mich nach Nord-Nordost.«

Selbst in seiner gefährlichen Lage schaffte Doc es, sich aufzuregen. Er konnte nicht fassen, warum Thomas in Richtung Nord-Nordost gehen und seine bisherige Position verlassen wollte. Er konnte sich nicht vorstellen, wo er sich überhaupt befand, dass eine Fortbewegung in diese Richtung möglich war. Wenn er sich von seiner Position entfernte, dann ja wohl nur, um den Kontakt zu Luke wiederherzustellen. Sobald sie zurück in der Hütte waren, musste er dringend ein Wörtchen mit den beiden reden.

Tastend bewegte er wieder den Fuß und fand endlich einen sicheren Halt. Vorsichtig stieß er sich von der Stelle ab, warf sich nach vorn und robbte über das Geröll. Er hatte nur noch sehr wenig Kraft in den Armen. Als er weit genug von der Kante entfernt war, rollte er sich auf den Rücken und griff nach dem Funkgerät. Sich selbst in Sicherheit bringen. Kontakt herstellen.

»Thomas? Luke? Kommen. Hier ist Doc. Hallo. Hallo, Thomas? Luke? Kommen.«

Er wartete. Rauschen war zu hören, sonst nichts. Der Wind war heftig, nichts deutete darauf hin, dass er nachlassen würde. Er versuchte es noch einmal mit dem Funkgerät. Beharrlichkeit war wichtig. Er merkte, dass seine Arme und Beine zitterten, in seiner Brust flimmerte es. Er war mit den Auswirkungen von Adrenalin auf den Körper vertraut. Zittern war eine davon. Erhöhter Puls. Atemschwierigkeiten. Es gab Wechselwirkungen zwischen Adrenalin und Unterkühlungssymptomen.

Er kroch auf allen vieren über Geröll und Eis, so nah am Boden wie möglich, bis es allmählich bergab ging. Er ließ sich in eine flache Nische im Fels rutschen und drehte dem Wind den Rücken zu. Die Lautstärke nahm ein klein wenig ab. Er wartete. Versuchte es wieder mit dem Funk. Er brauchte einen Plan, offensichtlich. Er zitterte am ganzen Körper. Jesses. Das war echt knapp gewesen.

Von der Klippe fiel man zwar nicht schrecklich tief, aber die Wahrscheinlichkeit, so etwas zu überleben, war gering. Der Schock des kalten Wassers hätte ihn erledigt. Er hätte wahrscheinlich kaum kapiert, was los war.

Sich damit aufzuhalten brachte nichts. Viel wichtiger war es, sich auf die aktuelle Situation zu konzentrieren. Er knetete die Muskeln in seinen beiden Armen durch, versuchte, das Adrenalin wegzumassieren, damit er wieder Gefühl bekam. Sein Nacken war merkwürdig steif. Er merkte, wie seine Körpertemperatur fiel. Um 1500 hörte er eine weitere Serie von Funksprüchen.

»Doc, kommen, hallo? Benötige Hilfe, wiederhole. Benötige Hilfe. Umgehend … Doc … Kommen.«

Er versuchte zu antworten, war aber nicht in der Lage, den Sendeknopf am Funkgerät zu drücken. Das war; er würde sagen, das war eine deutliche Verschlechterung der Situation. Er beschloss, sich bis zum Motorschlitten vorzuarbeiten und zur Hütte zurückzukehren. Damit ging er, unter diesen Bedingungen, ein kalkuliertes Risiko ein, aber er wusste aus Erfahrung, dass kalkulierte Risiken integraler Bestandteil der Feldoperationen in der Antarktis waren. Ein guter Campleiter wusste, wann Risiken einzugehen waren. Er richtete sich auf, stemmte sich gegen den Wind und machte sich bereit zum Abstieg. Das Funkgerät knisterte wieder. Rasselnd erklang abgehacktes Rauschen, Fetzen von Thomas’ Stimme.

»… Position. Wiederhole … visuell bestätige …«

»… verdammte Scheiße was … kaputt … Kommen.«

»Bitte wiederholen, kommen.«

Er wartete und lauschte angestrengt, aber da kam nichts mehr. Er schob sich aus dem Windschutz des Felsens heraus. Priestley Head war eine schmale Bergkuppe; er brauchte nur der Schwerkraft zu folgen und würde automatisch zum Motorschlitten gelangen. Die Jungs würden noch was von ihm zu hören kriegen über Funketikette.

Er stellte sich schwer und breitbeinig hin und lehnte sich in den Wind. Einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen stapfte er vom Gefühl geleitet den Abhang hinab. Jetzt, wo er sich bewegte, verging auch die Steifheit in seinen Gliedern. Das Brüllen des Winds ließ nach. Mit jeder Bewegung spürte er, wie seine Finger wieder durchblutet wurden. Er versuchte es noch einmal mit dem Funkgerät.

»Thomas, Luke, kommen. Hier ist Doc. Kehre zurück zur Basis, kehre zurück zur Basis, kommen.«

Er wartete und lauschte, und nichts kam zurück.

Nach mehreren Minuten vorsichtigen Abstiegs fand er den Weg zurück zum Motorschlitten. Auf der Windseite war er unter einer Schneedrift begraben, und Doc griff nach der Schaufel, um das Fahrzeug auszugraben.

Wieder Thomas’ Stimme über Funk. Er sollte wirklich auf seine Batterien achten.

»Okay, hier ist Thomas. Ich versuche jetzt, mich auf den Rückweg zu machen, kommen.«

Doc drückte auf den Sendeknopf und wollte Thomas nach seinen Koordinaten fragen. Etwas Scharfes traf ihn im Nacken, und er ging zu Boden.

7 /

»Achtung, Funkspruch mit aktualisierten Koordinaten, kommen.«

Der Sund war an dieser Stelle drei Kilometer breit, aber jenseits des Priestley Head verengte er sich und machte einen Knick nach Osten, bevor er sich dann zum Meer hin öffnete. Wenn der Wind so weiterblies, wurde er möglicherweise hinter dem Priestley Head ans Ufer getrieben. Wenn sich die Eisscholle weiterbewegte. Wenn die Scholle intakt blieb. Thomas dachte zurück an die Ausbildung. Der Ausdruck »Schollen-Hüpfen« kam ihm in den Sinn. Wenn er einen Weg an Land finden konnte. Mittlerweile wusste er, dass der Wind von Süden kam, vom Gletscher, deswegen musste er sich nach links bewegen, nach Westen, aufs Land zu. Er fühlte sich unsicher auf den Beinen, selbst bei der kleinsten Bewegung. Er ging auf die Knie und kroch in diese Richtung. Er sah Wasser gegen den Rand der Eisscholle klatschen. Stücke brachen ab. Er kroch wieder zurück.

Luke meldete sich über Funk, es ging um Doc. Der Empfang war schlecht und ständig unterbrochen.

»Luke, kannst du das wiederholen? Luke, ich brauche Hilfe.«

»… Doc. Auf dem Priestley Head. Bleib ruhig, Alter. Bleib, wo …«

»Luke? Bist du bei Doc? Was ist der Plan?«

»… Hilfe. Wiederhole, ich hole Hilfe. Bleib ruhig, kommen.«

Der Wind blies gnadenlos, aber das Klatschen der Wellen gegen die bröckelige Eiskante war plötzlich sehr laut. Thomas erinnerte sich an die Ausbildung – in Quadranten suchen, hatte es da geheißen. Man bewegte sich erst ein Stück in Windrichtung, dann im rechten Winkel dazu, dann zurück. Er arbeitete sich nach vorne, dann nach rechts, immer nur ein kleines Stück weit. Hielt den Kopf gesenkt, damit ihn der Wind nicht ins Gesicht traf. Er spürte, wie ihm die Kälte durch und durch ging. Er kam an einen Spalt im Eis. Es war kein Spalt. Die beiden Seiten des Spalts verschoben sich gegeneinander. Es war eine andere Eisscholle. Er konnte hinüber. Als er näher darauf zukroch, wurde die Öffnung größer.

Kein Grund zur Panik. Bei der derzeitigen Driftrichtung würde er direkt hinter dem Priestley Head an Land getrieben werden. Dort könnten ihn die anderen abholen. Die Pilotin der Twin Otter wäre innerhalb weniger Stunden hier und würde die notwendige Ausrüstung von der Basis mitbringen. Doc Wright würde die Basis benachrichtigen, zusammen würden sie einen Rettungsplan aufstellen. Situationen wie früher, als man völlig auf sich selbst gestellt war, gab es heutzutage nicht mehr.

Im Wasser bewegte sich etwas. Ein Schatten oder eine Welle. Langsam wurde ihm wirklich sehr kalt. Thomas wich vor dem Wasserrand zurück und bewegte sich auf der Stelle. Er konnte sich selbst nicht denken hören. Für die Durchblutung zu sorgen war wichtig, aber mit seiner Energie zu haushalten war auch wichtig. Es gab Widersprüchlichkeiten in der Ausbildung. Er durchsuchte seine Taschen und fand noch einen Energieriegel, den er sich vor ein paar Tagen eingesteckt hatte. Es erforderte vollste Konzentration, das Ende der Verpackung abzubeißen.