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Ein Sugardaddy, ein Trotzkopf und eine Liebe, die zwischen ihnen steht. Jonas ist unglücklich verliebt. In den Pflegevater seiner besten Freundin. Den sehr attraktiven, erstaunlich jungen Pflegevater seiner besten Freundin mit dem Körper eines heißen Unterwäschemodels und Augen, die ihm bis auf den Grund seiner Seele dringen. Doch dieser Mann ist für ihn unerreichbar. Und so lässt sich Jonas eines Abends in einer Bar auf ein Angebot ein, das verspricht, ihn von seinen Sehnsüchten abzulenken. Benedict hat in seinem Leben alles erreicht, was er wollte. Er ist erfolgreicher Anwalt, wohlhabend und lebt seine sündigen Hobbys frei von schlechtem Gewissen aus. Als ihm eines Abends ein verlorenes Kätzchen über den Weg läuft, das die Krallen ausfährt, sobald sich ihm jemand nähert, beschließt er, sich dieser neuen Herausforderung zu stellen. Denn hinter dem kratzbürstigen Verhalten sieht er etwas, das er selbst auf dem Grunde seines Herzens spürt: Das Verlangen nach mehr. Dieses Buch enthält neben ganz großer Gefühle eine Age Gap, einen dominanten Sugardaddy, ein widerspenstiges Kitten und prickelnde Spiele. Es gibt auch viel Verlangen, Leidenschaft, zerfallende und wachsende Freundschaften, Familiendramen und natürlich ein Happy End.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Sugardaddy
ZUM ENTLIEBEN
JESSICA GRAVES
Impressum:
Deutschsprachige Erstausgabe Juni 2022
Copyright © 2022 Jessica Graves
Jessica Graves
c/o WirFinden.Es
Naß und Hellie GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
Alle Rechte vorbehalten
Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische und sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, wozu auch die Verbreitung über »Tauschbörsen« zählt.
Covergestaltung: Ian J. Rimes (Adrian Schönknecht) - unter Verwendung der Bilder von Jun von GettyImages
Buchsatz: Jessica Graves - mit Lizenz der Shutterstock Dateien 1537761179, 1566411979 und 1843693207
1. Auflage
ISBN: 9783759248497
Playlist
Triggerwarnung
Prolog
Jonas
Jonas
Jonas
Jonas
Benedict
Benedict
Jonas
Jonas
Jonas
Jonas
Benedict
Jonas
Jonas
Benedict
Jonas
Benedict
Benedict
Jonas
Jonas
Benedict
Jonas
Jonas
Benedict
Jonas
Benedict
Jonas
Benedict
Jonas
Jonas
Jonas
Benedict
Jonas
Jonas
Epilog
Nachwort
Danksagung
Über Jessica Graves
Weitere Geschichten aus Jessicas Feder
An all die, die täglich tapfer ihr Coming-out wagen,
und an die, die ihre Wahrheit noch nicht leben können:
Dieses Buch ist für euch.
Creep – Scott Bradlee’s Postmodern Jukebox, Haley Reinhart
Into You – Julia Michaels
I Like Boys – Todrick Hall
Sugar Daddy – Qveen Herby
Worship – Amber Run
FMRN – Lilyisthatyou
Master and Servant – Depeche Mode
Heather – Conan Gray
I Shot Cupid – Stela Cole
Pain – Three Days Grace
Why Do You Love Me – Charlotte Lawrence
Nothing Compares 2 U – Freedom Fry
Not Enough – Elvis Drew, Avivian
In diesem Roman werden folgende Themen aufgegriffen:
Homophobie
Körperliche und psychische Gewalt (nicht im gegenseitigen Einvernehmen)
BDSM-Handlungen in gegenseitigem Einvernehmen
Körperliche Gewaltanwendung
Verbale und körperliche Erniedrigung
Lesen auf eigene Gefahr. Darüber hinaus ist das Buch für ein reifes Publikum ab 18 bestimmt. Von einem Verleihen, Verschenken oder Verkauf an Minderjährige rät die Autorin ausdrücklich ab.
Das war also Liebe auf den ersten Blick?
Jonas verlor sich in goldenen Augen, die ihm bis auf den Grund seiner Seele sahen. Er fühlte sich nackt. Verwundbar. Seine Kehle schnürte sich zu, das Herz begann in seiner Brust zu rasen. Verstohlen wischte er seine schweißnassen Hände an der Hose ab und schluckte gegen die plötzliche Trockenheit an. Entrückt starrte er hinauf. Sah dem Mann ins Gesicht, von dem er mit Bestimmtheit sagen konnte, dass er der attraktivste war, den Jonas je gesehen hatte. Hochgewachsen, durchtrainiert und von einer respektheischenden Aura umgeben. Jonas hielt den Atem an.
Die goldenen Augen verengten sich misstrauisch. »Guten Abend«, sagte er gebieterisch.
Verdammt, diese Stimme! Sie durfte ihm gern mehr ins Ohr grollen. Nachts in einem weichen Bett, während sich ihre Haut aneinanderschmiegte und sich die großen Hände auf Wanderschaft begaben, über seinen Bauch und tiefer, bis sie …
»Hallo, Victor«, flötete Ariana neben ihm.
Das riss Jonas aus den Fantasien, die ebenso plötzlich gekommen waren wie dieser Mann. Ertappt spähte er zu seiner besten Freundin hinüber. Sie beachtete ihn nicht. Stattdessen schenkte sie dem Neuankömmling ein unschuldiges Lächeln.
Das erinnerte Jonas an seine Manieren. Er räusperte sich. »Hallo, Mr. Brooks.« Eilig erhob er sich. Seine Knie waren ganz weich. Trotzdem zwang er sich, um den Wohnzimmertisch zu laufen und ihm die Hand zu reichen. Wenn es schnell ginge, könnte Jonas vielleicht sein Gesicht wahren.
Doch Mr. Brooks erwies ihm nicht diese Gnade. Im Gegenteil. Sein Blick glitt langsam, abschätzend, Jonas’ Körper entlang. Vom Ansatz seiner braunen, kurzen Locken zu den Sommersprossen, die die Röte seiner blassen Wangen nur spärlich verdecken konnten, und tiefer. Über seinen abgetragenen, weiten Pulli, die Jeans und bis zu seinen Füßen. Jonas’ Gesicht begann zu glühen.
Als ihm der Mann endlich die Hand reichte, schlug Jonas’ Herz bereits bis zum Hals. Warm schmiegte sie sich in seine. Weiche Haut, doch ein fester Händedruck, dem er nichts entgegensetzen konnte.
»Schön, dich wiederzusehen, Jonas«, sagte Mr. Brooks ohne ein Lächeln.
Jonas nickte. Er wich dem forschenden Blick aus, dessen Penetration ihn auf eine Art reizte, die seinen Körper in eine unangenehme Lage bringen konnte.
»A-Also …«, stotterte er an Ariana gewandt. Seine Stimme klang krächzender, als ihm lieb gewesen wäre. Das Stammeln war peinlich und sein Kopf wie leer gefegt. Was musste Mr. Brooks nur von ihm denken? »Wir waren eh gerade fertig. Dann gehe ich jetzt.«
Ariana reichte ihm sein Notebook. Sie hatten bis eben für ihr BWL-Studium gelernt. Jetzt war er froh, dass er seinen Händen etwas zu tun geben konnte. Mit klammen, nervösen Fingern schob er es in die Tasche. Ohne Mr. Brooks noch einmal anzusehen, hastete Jonas in den Flur des eindrucksvollen Einfamilienhauses, das der Mann sein Eigen nannte. Ein plötzlicher Fluchtinstinkt trieb ihn dazu. Das hier war zu viel. Zu intensiv. Er hatte mit so einer Begegnung nicht gerechnet und wusste gar nicht, wohin mit diesen Gefühlen. Eilig warf er sich den Mantel über und schlüpfte in seine Schuhe, während Ariana ihm hinterherging.
»Ist gut«, sagte sie.
Jonas trat an die Tür heran. Er wollte hier raus. Schnell.
Ehe er sich ganz vergessen konnte, fiel ihm ein, dass er Ariana etwas hatte fragen wollen. Da war dieses neue, ausgefallene Restaurant auf der anderen Seite der Stadt. Jonas wollte es ausprobieren. Sie wagten beide gern kulinarische Experimente.
»Ach, Riri«, sagte er, »wollen wir Samstag …«
»Samstag ist sie verplant«, unterbrach ihn Mr. Brooks schneidend, noch ehe er seine Frage beenden konnte.
Jonas zuckte zurück. Die energische Ablehnung versetzte seinem Herzen einen schmerzhaften Hieb. »Oh«, murmelte er betroffen, »ich …«
»Bin ich nicht«, widersprach Ariana entrüstet.
»Bist du. Wir haben etwas zu erledigen.« Mr. Brooks’ Ton war entschieden.
Trotzdem mahnte sich Jonas, sich das nicht zu Herzen zu nehmen. Er wagte vorsichtig einen neuen Versuch. »Wir können uns abends treffen, wenn …«
»Abends ist sie ebenfalls beschäftigt«, blockte Mr. Brooks ab.
Jetzt fiel es Jonas schwer, sein Verhalten nicht persönlich zu nehmen. Ihm legte sich ein Kloß in den Hals. »Oh … in-in Ordnung«, stammelte er kleinlaut. »Dann … dann gehe ich mal …«
Bevor das hier noch peinlicher werden konnte, öffnete er die Tür und verschwand hinaus.
Abwesend spähte Jonas durch den Raum, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Seit dem unerwarteten Wiedersehen mit Mr. Brooks waren einige Wochen vergangen. Es war Jonas gelungen, ihm aus dem Weg zu gehen. Doch aus seinen Gedanken hatte er ihn bisher nicht verbannen können.
Wie hatte Jonas nur vergessen können, wie gut der Ex der Mutter seiner besten Freundin aussah? Sicher, sie hatten sich aus den Augen verloren, als er mit seinen Eltern in eine andere Stadt gezogen war. Damals waren sie noch Kinder gewesen. Im Kindergarten schon unzertrennlich, in der Grundschule wie Pech und Schwefel. Sie hatten gemeinsam Unsinn angestellt, hatten die Wochenenden und die Ferien zusammen verbracht. Er erinnerte sich schemenhaft an einen jüngeren Mr. Brooks, der damals Teil ihres Lebens gewesen war. Aber Jonas war ein Kind gewesen und die Erwachsenen hatten ihn nicht interessiert.
Trotzdem. Wie hatte er einen so verdammt heißen Kerl vergessen können? Plötzlich ahnte er, woher sein Faible für Typen mit langem silberblondem Haar und eiskaltem Blick kam. Die Art, wie ihn die goldbraunen Augen durchbohrt hatten … Jonas erschauderte.
Mit einem selbstmitleidigen Seufzen exte er den Rest seines Cocktails. Seit sie an jenem schicksalhaften Tag aufeinandergetroffen waren, hatte er nicht aufhören können, an den Mann zu denken. An die breiten Schultern und die eindrucksvollen Brustmuskeln, über denen sich das Hemd gespannt hatte. Wenn Jonas daran zurückdachte, lief ihm jetzt noch das Wasser im Mund zusammen. Was Mr. Brooks mit diesen großen, warmen Händen alles anstellen konnte? Wem er wohl versaute Dinge ins Ohr raunte, in dieser rauen Stimme?
Jonas rutschte auf seinem Barhocker herum. Das war nicht gut. Er bekam schon wieder eine Latte. Das ging ihm in letzter Zeit ständig so, wenn er an Mr. Brooks dachte. An Victor. Verstohlen biss er sich auf die Unterlippe. Was würde er dafür geben, den Namen stöhnen zu dürfen.
Wieder seufzte Jonas schwer. Er begriff ja selbst nicht, wie das möglich war: vollkommene Besessenheit von null auf hundert. Sowas war ihm noch nie passiert. Und es war nicht nur Brooks’ gutes Aussehen. Zwar war ihm Jonas seither nicht mehr begegnet, aber inzwischen wusste er einiges über ihn. Ariana redete viel. Über den Tod ihrer Mutter, der dazu geführt hatte, dass sie bei deren Exfreund untergekommen war. Irgendwas von einem letzten Willen, der dafür gesorgt hatte, dass sie während des Studiums ein Dach überm Kopf hätte. Sie erzählte davon, wie gut Brooks kochen konnte. Wie aufmerksam er war. Dass er viel arbeitete und sich trotzdem am Ende des Tages die Zeit nahm, ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Dass er gern joggte und das vor allem bei schlechtem Wetter. Dass er am Wochenende manchmal stundenlang ins Fitnessstudio verschwand. Dass er ein Projektteam managte und darin recht erfolgreich war. Dass er sehr gut verdiente.
Jonas hatte nicht um die Informationen gebeten. Doch sie hatten sich zu einem strahlenden Bild des Mannes zusammengesetzt, der ihn vor einigen Wochen auf seiner teuren Couch vorgefunden und mit Blicken erdolcht hatte. Wenn Jonas daran zurückdachte, lief ihm noch immer ein heißkalter Schauer über den Rücken. Er wusste nicht, was ihn so gnadenlos zu Brooks hinzog.
Andererseits war es vermutlich kein Wunder. Sein Coming-out war erst ein paar Jahre her, aber dass er stockschwul war, wusste er schon viel länger. Und Brooks erfüllte alle Erwartungen, die Jonas an einen Partner hatte. Jemand, der sich im Leben bereits einen Namen gemacht hatte. Der wusste, was er wollte und wie er es bekam. Ein selbstbewusster, reifer Mann. Nicht zu weich. Jonas mochte es nicht, wenn sie zu weich waren. Er bevorzugte strenge Prinzipien. Jemanden, der konsequent war. Wenn sich Jonas an diesen stählernen Blick erinnerte, mit dem ihn Brooks bei ihrem letzten Zusammentreffen bedacht hatte, stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Verdammt, er wollte von ihm grob angepackt und gegen die nächste Wand gedrückt werden.
Jonas’ Hintern spannte sich an. Erneut rutschte er auf seinem Barhocker herum. Shit, er musste wirklich aufhören, an diesen Kerl zu denken! Er war irgendwie der Vater seiner besten Freundin und außerdem sicher hetero. Das waren sie doch meistens.
Wieder ein schweres Seufzen.
»Anstrengender Tag?«
Jonas begriff erst nicht, dass die Worte ihm galten. So in Gedanken versunken hatte er nicht damit gerechnet. Dann spürte er den Blick von der Seite. Er sah auf.
Neben ihm saß ein Mittvierziger vom Schlag Surfertyp und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das Jonas blendete. Er musterte ihn. Sein Hirn verglich bereits all das, was es bei Brooks so begehrte, mit dieser müden Kopie neben sich. Und eine Kopie schien es zu sein. Der Typ war genauso blond, genauso muskulös und hielt ein Shot-Glas in der Hand, das er gerade geleert hatte.
»Kann man so sagen«, antwortete Jonas nüchtern und zog die Aufmerksamkeit von den kräftigen, braungebrannten Armen fort, auf denen sich die Venen abzeichneten. Unter anderen Umständen hätte er entgegenkommender reagiert. Der Kerl war heiß und schien ein gesundes Selbstbewusstsein zu haben. Es war nicht seine Schuld, dass Jonas kein Interesse an ihm hatte.
»Ich bin Nathan.« Er nickte Jonas zu, der knapp zurücknickte.
»Jonas.«
»Was trinkst du?«
Jonas wich dem Blick aus. Es wurde ihm unangenehm, wie die strahlend blauen Augen ihn musterten. »Sex on the Beach.«
Nathan gluckste. »Und wie ist der so?«, fragte er neckend.
Wie primitiv. Jonas konnte das hirnlose Gekicher über offensichtliche sexuelle Wortwitze nicht leiden. »Schlechter als die Leute sagen.«
»Schon mal den Caipirinha hier probiert? Den bekommen sie ziemlich gut hin.«
Abschätzend musterte Jonas den Kerl. Eines musste man ihm lassen: Er war nicht leicht abzuschrecken. Und Jonas hätte nichts dagegen, die Nacht mit einem One-Night-Stand zu verbringen, der ihn vergessen ließ, dass er sich Hals über Kopf in jemanden verliebt hatte, der unerreichbar war. Wenn er es noch einmal überdachte, war Nathan nicht unattraktiv. Obwohl er ihn sicher nur ins Bett bekommen wollte – die notwendigen Schritte dorthin beherrschte er.
Jonas raffte sich zu einem Lächeln auf. »Wenn du das sagst?«
Nathans Gesicht hellte sich auf. Es hatte etwas Niedliches und ließ ihn gut zwanzig Jahre jünger wirken. Darauf stand Jonas nicht. Aber für eine Nacht würde er ein Auge zudrücken. Er sah zu, wie Nathan den Barkeeper zu sich winkte und zwei Caipirinhas bestellte. Sie mussten nicht lange warten. The Closet war eine kleine Gay Bar. Jonas mochte sie, weil sie ruhig war und er hier seinen Gedanken nachhängen konnte. Wenngleich die Drinks ein bisschen teurer waren.
Als er jetzt mit Nathan anstieß, beglückwünschte er sich dazu, einen weiteren Abend drumherum gekommen zu sein, seine Getränke selbst bezahlen zu müssen.
Jonas bereute seine Entscheidung nicht. Auch nicht am Morgen danach. Nathan war ein rücksichtsvoller Liebhaber gewesen. Für Jonas’ Geschmack ein wenig zu sanft, aber für den Druckabbau hatte es gereicht. Während er den Tag in der Uni hinter sich brachte, dachte er bei sich, dass es, wenn es nach ihm ginge, gern grober werden durfte. Was war das nur mit den Männern, dass sie meinten, sie müssten ihn behandeln, als wäre er aus Glas? Das nervte. Andere wären darüber sicher glücklich, doch er wollte Leidenschaft, die man spürte.
Während Jonas nach der letzten Vorlesung seine Sachen zusammenpackte, fragte er sich, wie Brooks wohl im Bett wäre. Ob er auch zu jemandem mutierte, der so behutsam wäre, dass er sich kein bisschen Kraft mehr wagte? Jonas wollte darüber entnervt sein. Doch er bemerkte ein Kribbeln im Magen, das ihm verriet, dass es ihm bei Brooks vielleicht sogar gefallen könnte. Hin und wieder zumindest. Als kleine Abwechslung.
»Hey!«, unterbrach eine Frauenstimme seine Fantasien.
Ertappt sah Jonas auf.
Ariana strahlte ihn an. »Bist du soweit?«
Jonas’ Herz schlug schneller. Er nickte eilig und mahnte sich, die Gedanken an Brooks fürs Erste von sich zu schieben. Wenn seine beste Freundin wüsste, was in ihm vorging, würde das alles zwischen ihnen verkomplizieren. Jonas kam auf die Füße, schob sich den Riemen seiner Tasche über die Schulter und folgte ihr hinaus.
»Ich habe überlegt«, sagte Ariana, ließ sich zurückfallen und hakte sich an seiner freien Seite unter. »Wir könnten auch Lebkuchen versuchen.«
Jonas zwang sich zu einem kleinen Lachen, obwohl er in Gedanken ganz woanders war. »Weißt du denn, wie die gehen?«
»Ich habe ein Rezept.« Sie grinste breit.
»Ach, wenn das so ist«, erwiderte Jonas ironisch. »Was kann da schon schiefgehen?«
Ariana kicherte. »Eben!«
Gemeinsam gingen sie aus dem Gebäude hinaus. Eisiger Wind und vereinzelte Schneeflocken begrüßten sie draußen. Die Laternen leuchteten ihnen den Weg über den Campus. Bald wäre Weihnachten.
Jonas freute sich darauf, den Rest des Tages mit Ariana zu verbringen. Sie hatte die angenehme Angewohnheit, unbeschwert und gutgelaunt zu sein. Anders als er. Wenn man bedachte, wie beliebt sie war, wunderte es ihn, dass sie sich mit ihm abgab, jetzt da sie sich im BWL-Studium wieder über den Weg gelaufen waren. Jonas war nicht gerade das, was man den Mittelpunkt der Party bezeichnen konnte. Das nahm er mit rebellischer Genugtuung zur Kenntnis. Ariana dagegen war stets von einem Schwarm Verehrer umgeben und wurde auf angesagte Studentenpartys eingeladen, auf die sie ihn mitschleifte. Bei all der Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde, hatte sich Jonas schon oft gefragt, wieso sie ausgerechnet die Freundschaft mit ihm wollte. Doch dann erinnerte er sich, dass sie lange brauchte, um jemandem wirklich zu vertrauen. Um vollends aufzutauen. Jonas tickte da ganz ähnlich.
In dem beruhigenden Wissen, dass sie beide etwas verband, selbst wenn so viel anderes sie trennte, stieg er hinter ihr in den Bus, der sie zu Ariana nach Hause bringen würde. In Brooks’ Haus. Kurz ertappte sich Jonas bei der Frage, ob er ihn heute sehen würde. Seine Wangen wurden warm, bevor er es verhindern konnte. Er biss sich auf die Zungenspitze. Ihm war klar, dass er den Mann idealisierte. Weil sie sich kaum kannten und er einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte, war er in Jonas’ Vorstellung irgendwie zu einer strahlenden Figur verkommen. Das musste aufhören. Wenigstens so lange, wie er in diesem Haus war. Er wäre für Ariana dort. Nicht seinetwegen.
Als sie ein paar Stunden später knietief in Mehl und Zucker standen – metaphorisch gesprochen – hatte er tatsächlich nur noch die Kekse im Sinn. Und das gescheiterte Lebkuchen-Experiment, das sie gleich zu Anfang gewagt hatten. Die Lebkuchen waren furchtbar verbrannt und das ganze Blech ein Fall für die Tonne gewesen. Aber die Butterplätzchen machten etwas her.
»Hast du noch andere Formen?«, fragte Jonas und hielt Ariana belustigt die Sternform unter die Nase. »Irgendwas, was nicht so öde ist?«
Ariana kicherte. »Was willst du? Das sind ganz normale Plätzchenformen. Für ganz normale Plätzchen.«
Mit einem neckenden Schnauben zeigte Jonas, was er davon hielt. »Du musst mal was Neues ausprobieren, Riri. Was anderes als Sterne, Sternschnuppen, Tannenbäume und … und was soll das bitte sein?« Er wies auf eine sehr verkorkste Form.
»Das ist ein sitzender Weihnachtsmann«, erklärte Ariana und schaffte es tatsächlich, dabei ernst auszusehen. »Wenn man das Plätzchen bemalt, erkennt man es.«
»Natürlich, wie konnte ich nur so blind sein?« Jonas grinste sie von der Seite an.
Das schien Ariana als Herausforderung zu verstehen. Sie griff eine Handvoll Mehl und warf sie über ihm in die Luft. »Du brauchst einfach mehr Weihnachtsfeeling«, sagte sie glucksend, während das Mehl auf ihn herabrieselte, sich in seine braunen Locken und seinen Pulli setzte.
»Ich geb dir gleich Weihnachtsfeeling.« Jonas griff zwei Hände voll Mehl und schmiss sie hoch. »Da hast du dein Weihnachtsfeeling. So viel Weihnachtsfeeling, ich werde wahnsinnig.«
Ariana kicherte, ehe all das weiße Pulver wieder herabschwebte und sich auch in ihrem blonden Haar verfing. Zur Unterstreichung seiner Worte warf er noch eine letzte Hand Mehl hinterher.
»Lass den Quatsch!«, rief sie und schleuderte ihm ein Plätzchen entgegen.
Jonas duckte sich. »Du hast angefangen!«
Sie lachten.
Doch sein Lachen blieb ihm im Hals stecken, als Jonas aus den Augenwinkeln eine Bewegung ausmachte und dann sah, wie Brooks vom Flur in den offenen Wohnbereich eintrat, der sich an die Küche anschloss. Angelockt von dem Krach, den sie veranstalteten wie Kindergartenkinder. Als Jonas klar wurde, wie er sich hier gerade präsentierte, setzte sein Herz aus. Oh, wieso musste er ausgerechnet jetzt kommen? In einem so kindischen Moment? Jonas hätte gern einen deutlich besseren Eindruck hinterlassen.
Als Brooks‘ Blick durch die Küche wanderte, die vollkommen verwüstet aussah, beschleunigte sich Jonas’ Puls.
»Gu-guten Abend«, murmelte er, weil ihn der Mann ansah und, ohne etwas zu sagen, näherkam.
Jonas zwang sich, nicht zurückzuweichen. Haltsuchend legte er die Hand auf die Kücheninsel und versuchte, nicht so auszusehen, als würde er über Flucht nachdenken. Etwas in ihm wollte davonlaufen. Die Scham war so schnell so stark geworden, dass er dem Ziehvater seiner Freundin gar nicht in die Augen sehen konnte. Doch zugleich wollte etwas in ihm bleiben. Wollte Brooks ganz nah sein. Auch wenn er ahnte, dass sein Herz das vermutlich nicht verkraften würde, so schnell, wie es jetzt schon raste.
Ariana, die seinen Stimmungsumschwung bemerkt hatte, sah über die Schulter. »Hallo, Victor«, grüßte sie mit einem unbefangenen Grinsen.
»Guten Abend.«
Jonas krallte die Finger in die Kante der Arbeitsplatte. Diese Stimme. Wie konnte jemand nur eine derart erotische Stimme haben? Angespannt hielt er den Atem an, während Brooks jedes noch so kleine Detail dieser Küche in sich aufzunehmen schien. All das Chaos. In SEINER Küche.
Als sich ihre Blicke abermals trafen, senkte Jonas eilig den Kopf.
»Habt ihr Spaß?«, fragte Brooks und trat an die Kücheninsel heran. »Wer von euch hatte denn die Idee, die Küche in ein Schlachtfeld der Weihnachtsbäckerei zu verwandeln?«
Verstohlen beobachtete ihn Jonas dabei, wie er eines der fertigen Plätzchen nahm und abbiss. Eines von Arianas. Dass es nicht eines von seinen gewesen war, ließ Jonas enttäuscht zurück. Er hätte die Reaktion gern gesehen.
Ariana grinste. »Das wäre dann wohl ich«, sagte sie in einem Anflug von Verwegenheit und der Schalk blitzte in ihren Augen auf.
»Ich hätte es wissen müssen.« Brooks klang nicht überrascht.
Trotzdem wollte Jonas etwas richtigstellen. Er war sonst ordentlicher. Brooks sollte nicht glauben, dass das immer so werden würde, wenn er zu Besuch wäre. »Wir werden aufräumen, sobald wir fertig sind«, beteuerte er eilig, doch er hörte selbst, wie nervös er klang. Das beschämte ihn. Jonas war sonst nie um Worte verlegen. Aber sobald er in der Nähe dieses Mannes war, war sein Geist wie leer gefegt, er konnte nicht mehr klar denken, stotterte und seine Stimme bebte. Er hasste es, sich so klein und schwach zu fühlen. So machtlos in einem Moment, in dem er eigentlich beeindrucken wollte.
Trotzdem schenkte ihm Brooks ein kleines Lächeln. »Daran habe ich nicht gezweifelt.«
Während Jonas’ Herz einen kräftigen Schlag gegen seine Rippen tat, wandte sich der verboten attraktive Mann um und verließ die Küche. »Verderbt euch nicht den Magen fürs Abendessen, Kinder«, sagte er im Hinausgehen.
Jonas sah ihm hinterher. Kinder. Das Wort dämpfte die Freude über das Wiedersehen und das Lächeln, das er eben bekommen hatte. Er wollte von Brooks nicht als Kind gesehen werden. Er wollte ernst genommen werden. Doch er ahnte, dass dieses Ziel unerreichbar wäre. Brooks kannte ihn von klein auf. Vermutlich würde er ihn nie als etwas anderes sehen als den Kindergartenfreund Arianas. Und selbst wenn? Was machte das schon für einen Unterschied? Ariana hatte ihm erzählt, dass der Mann eine Freundin hatte. Die Chancen, dass er wenigstens bisexuell war, gingen gegen null. Und Brooks war zu korrekt, zu perfekt, als dass er in Betracht ziehen würde, besagte Partnerin für einen Jungen zu verlassen, der sein Sohn sein könnte.
Diese trübe Gewissheit zog Jonas’ Stimmung endgültig in den Keller.
Frustriert und mit seinem Leben mehr als unzufrieden saß Jonas ein paar Tage später wieder in der kleinen Gay Bar The Closet und trank. Das hatte er schon die ganzen letzten Abende gemacht und er wusste, dass er vorsichtig sein musste. Seine düstere Ausstrahlung hatte ihm die Interessenten vom Hals gehalten, die er unter anderen Umständen mit nach Hause genommen hätte. Das bedeutete auch, dass er seine Getränke selbst zahlte. Seine Eltern finanzierten zwar sein Studium und seine Wohnung, aber sie achteten zugleich streng darauf, dass er keinen Cent mehr bekam, als er brauchte. Das war schon immer so gewesen. Er hatte gehofft, dass sie nach ihrer Scheidung weniger auf solche Kleinigkeiten achten würden. Da hatte er sich geirrt. Seine Mutter hatte kurz danach ein Kind von ihrem neuen Mann erwartet. Sein Vater war mit einer Frau zusammengekommen, die bereits zwei Söhne hatte. Das Geld musste jetzt auf mehr hungrige Mäuler und ehrgeizige Studenten aufgeteilt werden und da konnte Jonas froh sein, dass sie ihm nicht ganz den Geldhahn abdrehten.
Zum Anfang des neuen Semesters hatte er mit dem Gedanken gespielt, einen Nebenjob anzunehmen. Über den Sommer hatte er in einer Eisdiele gejobbt und ein bisschen Geld zurückgelegen können, doch das ging allmählich zuneige. Irgendwie hatte ihn die Begegnung mit Victor so aus dem Konzept gebracht, dass er dieses Vorhaben vollkommen aus den Augen verloren hatte. Als hätte es ihn in eine Schockstarre versetzt.
Erneut dachte er an den Moment in der Küche zurück. An das kleine Lächeln, das fast nicht zu erkennen gewesen war. Jonas wünschte, er hätte die Kraft gehabt, dem Mann ins Gesicht zu sehen. Aber den Blick zu halten, wäre ihm schwergefallen. Als wollte er geradewegs in die Sonne schauen.
Mit einem schweren Seufzen legte Jonas den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
Etwas Kaltes berührte seine Schläfe. Er zuckte zurück und riss die Augen wieder auf. Da stand jemand direkt neben der Sitzecke, in die er sich heute zurückgezogen hatte, und sah auf ihn herab. Ein Mittvierziger, schätzte Jonas, denn das schwarze, zurückgekämmte Haar war an den Seiten bereits silbrig. Von hier unten war er sich nicht sicher, aber der Mann wirkte ein wenig kleiner als Victor. Dafür war sein Kreuz breiter. Die Augenbrauen buschiger. Die Augen dunkler. Ihnen fehlte das besondere, goldene Schimmern, das Jonas bei Brooks so in seinen Bann zog. Eindeutig nicht sein Typ.
Und bevor der Kerl, der ihm eben ein charmantes Lächeln schenkte, sprechen konnte, sagte er: »Kein Interesse.« Er gab sich Mühe, all seine Ablehnung in die Stimme zu legen. Wenn er eine Erfahrung gemacht hatte, dann dass man sehr deutliche Botschaften senden musste. Sonst gaben einige nie auf und das war lästig.
Dieser Typ schien von der hartnäckigen Sorte zu sein. Zwar ließ er das Glas sinken, doch nur um es Jonas vor die Nase zu stellen, dessen Cocktail noch nicht einmal leer war.
Unverändert schmunzelnd fragte er: »Kein Interesse woran?«
Milde entnervt runzelte Jonas die Stirn. »Keine Ahnung?«, erwiderte er gereizt. »An dir? An dem, was auch immer das hier werden soll?«
Trotz seiner Unfreundlichkeit gluckste der Mann nur und ließ sich ungefragt neben ihm auf der Eckbank nieder. »Du bist ja ein Sonnenschein.«
Den Kommentar konnte sich der Kerl sonst wohin schieben.
»Und du bist offensichtlich schwer von Begriff«, fuhr ihn Jonas pikiert an.
Der Fremde hob eine Augenbraue. Sein Lächeln verschwand zwar nicht, doch jetzt erreichte es seine Augen nicht mehr. »Nein«, sagte er ruhig. »Ich habe dich verstanden. Klar und deutlich.«
Die Art, wie er Jonas musterte, behagte ihm nicht. Zumal es überall Arschlöcher gab, selbst in kleinen, eingeschworenen Bars wie dieser. Bisher war er um eine direkte Konfrontation erfolgreich herumgekommen. Nun spähte er unauffällig durch den Raum. Der Barkeeper war beschäftigt, aber die Bar war nicht groß. Wenn der Kerl Ärger machte, würde Jonas eine Szene veranstalten. Denn er machte sich nichts vor: In einem körperlichen Kampf wäre er dem Typen mit seinem breiten Kreuz unterlegen. Der betrachtete ihn, als sei er ein Ausstellungsstück im Museum. Jonas kannte diesen Blick. Er wurde von diesem Daddy-Verschnitt gerade in die Schublade Twink gesteckt und er ahnte, dass sein Gegenüber ihn genau deshalb angesprochen hatte: Weil er ein Faible für wesentlich jüngere, schlankere Partner hatte.
Ein Glas mit karamellbrauner Flüssigkeit schwenkend, die Whiskey sein mochte, lehnte sich der Fremde zurück und sagte lässig: »Und zu dem, was das hier werden soll: Du bist mir aufgefallen. Schon vor einigen Abenden. Du kommst oft hierher.«
Also gleich zur Sache, dachte Jonas entnervt. Im Kopf legte er sich eine schärfere Abfuhr zurecht.
Während er die Augen verdrehte und an seinem Cocktail nippte, setzte der Fremde teilnahmsvoll hinzu: »Geht es dir gut?«
Jonas ließ von dem Strohhalm ab und lachte auf. »Natürlich!«, behauptete er, eine Spur zu schnell und zu laut. Er winkte ab. »Wieso sollte es mir nicht gutgehen?«
Die Art, wie der Kerl ihn musterte, gefiel ihm nicht. Die Stirn gerunzelt fixierte er ihn, als würde er irgendetwas suchen. Dann sagte er schlicht: »Du siehst nicht so aus.«
Die Aussage traf Jonas empfindlich. Er hatte genug eigene Sorgen. Da brauchte kein Jäger hier auftauchen und ihm mit dem Versprechen von Tröstung und Verständnis noch um den Finger wickeln, bis er ihn ins Bett bekommen hatte.
»Und wenn schon«, fuhr er ihn an. »Das geht dich einen feuchten Dreck an, Mister.«
»Benedict Hall.« Sein Ton war so höflich, als hätte ihn Jonas ganz locker nach seinem Namen gefragt. Freundschaftlich nickte er ihm zu. »Wie heißt du?«
Jonas presste die Lippen aufeinander. Das hier waren ihm zu viele rote Flaggen. Zu viele Warnsignale. Ein Typ, der sich ungefragt an seinen Tisch setzte, seine Abfuhr und seinen Wunsch nach Abstand nicht akzeptierte, ihm einen Drink unterjubelte und den am Ende vielleicht mit irgendwas versetzt hatte. Nein, so verzweifelt war Jonas nicht, auf die Masche reinzufallen. Schweigend starrte er den Fremden nieder, bis dieser den Blickkontakt abbrach und seufzte.
»Ich bin keiner von den Idioten«, sagte er sanft, als würde er mit einem verängstigten Streuner sprechen. »Und ich bin nicht gefährlich. Ich bin Anwalt.«
Jonas hob die Augenbrauen. »Mir scheiß egal.« Als würde das etwas ändern. Am Tag waren sie doch alle gleich. Unauffällig, mit perfektem Lebenslauf und langweiligen Hobbys. Aber selbst die Psychos hatten Jobs. Das war kein Argument dafür, ihm zu vertrauen.
Das schien auch Hall zu erkennen. Er nickte noch einmal, wie als ob er eingesehen hatte, dass das hier vergebliche Liebesmüh war. »Na schön.« Bedächtig rutschte er zum Rand der Sitzbank und erhob sich. »Ich habe mich wohl aufgedrängt. Entschuldige.« Er zückte ein Kärtchen und legte es neben den Gläsern auf den Tisch. »Hier, meine Karte.«
Abweisend sah Jonas zu ihm auf. »Was soll ich damit?«
Hall zuckte die Schultern. »Falls du jemanden zum Reden brauchst. Wenn du jeden Abend hierherkommst, um dich zu betrinken, scheinst du niemanden zu haben, mit dem du dein Leid teilen kannst.«
Seine Worte provozierten Jonas erneut, weil sie stimmten. Er wollte sich nicht von irgendeinem dahergelaufenen Kerl sagen lassen, dass er armselig und mitleiderregend aussah. Das wusste er gut genug, es war schließlich sein verdammtes Leben.
Bevor ihm eine schlagfertige Antwort einfallen konnte, wandte sich der Typ um und ließ ihn endlich allein. Zweifelnd sah Jonas von dort, wo er eben noch das breite Kreuz ausgemacht hatte, hinunter zur Karte, die neben den Drinks lag.
BenedictHallstand da. Direkt unter dem Namen einer Kanzlei. Eine Handynummer, Festnetz und E-Mail-Adresse. Wie es schien, hatte er zumindest nicht gelogen.
Jonas schnaubte abfällig. Ganz sicher würde er keinen Anwalt auf der Firmennummer anrufen. Sein Problem würde sich durch diese Art von Beistand nicht lösen lassen können.
Trotzdem steckte er die Karte ein. Den Drink ließ er unangerührt.
Als Jonas an Heiligabend vor der Tür des Einfamilienhauses stand und klingelte, schlug sein Herz nervös schneller. Er fürchtete das, was kommen würde. Weihnachten mit der Familie war für ihn stets eine unangenehme Angelegenheit. Spätestens seit der Scheidung seiner Eltern. Einzig sein Pflichtgefühl trieb ihn dazu, heute hier aufzukreuzen. Und die Tatsache, dass sein Vater gern materiell bestrafte. Wenn ihm etwas nicht passte, nahm er Jonas etwas weg. So war es früher schon gewesen. Jonas war von dem Geld abhängig, das er monatlich von ihm bekam. Also war er der Einladung auch dieses Jahr gefolgt.
Als sich die Tür öffnete und ihn sein Vater anstrahlte, lächelte er bemüht.
»Hallo, Jonas.«
»Hey, Papa.« Angespannt hielt Jonas das Lächeln aufrecht, obwohl sein Vater heute gutgelaunt zu sein schien.
»Komm rein, komm rein.«
Jonas folgte der Einladung und trat an ihm vorbei. Er hatte nicht viel Gepäck dabei. Nur den kleinen Rucksack mit ein paar Wechselsachen. Schließlich würde er nicht lang bleiben. Bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag, dann fuhr er wieder zurück.
Verstohlen sah er sich im festlich geschmückten Flur um. Das Haus war relativ neu. Sie waren vor ein paar Jahren erst umgezogen, in die benachbarte Stadt, um bei seinem Stiefbruder und dessen Familie zu sein. Tom hatte inzwischen Frau und Kind.
»Es ist so schön, dass du kommen konntest.« Jonas’ Vater zog ihn in eine Umarmung. Sie waren gleichgroß und ähnlich schmal gebaut. Aber der Mittfünfziger drückte ihn mit deutlich mehr Enthusiasmus an sich, als ihm lieb war. »Amanda freut sich auch sehr.«
»Hmm.« Jonas trat zurück und stellte seinen Rucksack ab. Er fuhr sich durchs Haar, das vom Schneegestöber recht feucht war.
»Du bist der Erste. Tom und Paul kommen später.«
Jonas nickte tapfer. Er war froh, dass er vor seinen Stiefgeschwistern eingetroffen war. So konnte er sich akklimatisieren, bevor es hektisch wurde. Konnte so tun, als wäre in diesem Haushalt alles normal zugegangen. Er streifte sich Mantel und Schuhe ab.
»Amanda ist in der Küche«, verkündete sein Vater.
Jonas mochte Amanda. Mindestens so sehr, wie man die Frau mögen konnte, die nach der Scheidung der Eltern mit dem Vater zusammengekommen war. Sie beide hatten bisher nie Streit gehabt. Generell schien sie eine beruhigende Wirkung auf seinen Vater zu haben. Allein dafür konnte ihr Jonas nur dankbar sein. Außerdem hatte sie seine Sexualität von Anfang an akzeptiert. Selbst dann noch, als sich sein Vater schwergetan hatte.
Jonas verdrängte den Gedanken an frühere Zeiten. Damals war einiges unangenehm gewesen und inzwischen nahm es seine Familie mehr oder weniger hin, wie er tickte. Auch wenn er den Verdacht hatte, dass sein Vater darauf wartete, dass er aufwachte und wieder normal wurde. Bisher hatte Jonas so getan, als wüsste er das nicht. Und sein Vater hatte sich damit revanchiert, das Thema nicht anzusprechen.
Als er in die Küche eintrat, empfingen Jonas Bratenduft und Plätzchengeruch. Amanda stand an einer der Arbeitsplatten, das glänzende schwarze Haar hochgesteckt und eine Schürze über dem hübschen, weihnachtlich roten Kleid, das sich an ihre drallen Kurven schmiegte.
»Hey«, grüßte er sie.
Sie drehte sich um und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, so mütterlich, dass sein Herz schwer wurde.
»Jonas!« Überschwänglich zog sie ihn in eine Umarmung. Amanda war einen Kopf kleiner als er. Ihr Haar kitzelte ihn in der Nase. Sie roch nach Essen.
»Hallo, Amanda.«
»Es ist so schön, dich zu sehen!« Sie ließ von ihm ab und tätschelte ihm liebevoll die Wange. »Ein wenig blass siehst du aus. Isst du genug?«
Jonas musste grinsen. Ihrer Meinung nach sah er immer blass aus. Kunststück, mit ihrem glänzenden braunen Teint konnte er nicht mithalten. Seine Haut war so hell, dass man jede einzelne Sommersprosse sehen konnte. Trotzdem sagte er brav: »Ja.«
»Hier, probier mal.« Sie schob ihm einen Löffel durchgegarter Bratenfüllung zwischen die Lippen, bevor er widersprechen konnte. »Gut?«
Jonas kannte niemanden, der so gut kochen konnte, wie Amanda. Begeistert nickte er. »Das ist lecker.«
»Sehr schön. Hier, für dich.« Sie drückte ihm eine Schüssel mit Schokopudding in die Hand. »Du siehst hungrig aus, aber aufs Essen musst du noch ein bisschen warten.«
Jonas schmunzelte. Amanda war die Einzige in der Familie, die ihn auf diese Weise verwöhnte. Sie wusste, dass er Schokopudding mochte. Eilig winkte er ab, während die Rührung ihm in den Augen brannte. »Geht schon.«
»Iss!«, forderte sie ihn auf und grinste verschwörerisch. »Es ist Weihnachten. Wo wäre da sonst der Spaß?«
Jonas musste glucksen. Schon ein wenig glücklicher, heute hier zu sein, beugte er sich vor und drückte einen kleinen Kuss auf ihre Wange. »Danke.«
»Setz dich ins Wohnzimmer, mein Lieber. Dein Vater freut sich so, dich zu sehen. Ihr habt euch sicher viel zu erzählen.«
Tapfer hielt Jonas das Lächeln aufrecht. Da wollte er gern widersprechen. Es hatte einen Grund, wieso er sich bei seinem Vater selten meldete. Trotzdem nickte er brav und verließ die Küche, um sich einem langen, unangenehmen Schweigen durchsetzt von einigen halbherzigen Smalltalk-Versuchen zu stellen.
Auf halbem Weg dorthin klingelte es an der Tür.
Jonas dankte den Göttern dafür, während er seinen Vater schon wieder mit einem breiten Grinsen an sich vorbeieilen sah. Er verzog sich ins Wohnzimmer und entschied, das lautstarke Hallo, das gleich im Flur stattfinden würde, erst einmal abklingen zu lassen, bevor er die anderen grüßte.
Das Haus seines Vaters und seiner Stiefmutter war nichts Besonderes. Kein Vergleich zu Brooks’ Haus. Es war halb so groß und hatte keinen ausschweifenden Garten. Stattdessen stand es inmitten einer Wohnsiedlung, die so eng bebaut worden war, dass Jonas durchs Wohnzimmerfenster direkt in die Küche der Nachbarn sehen konnte. Er wandte den Blick ab und ließ ihn durch den Raum wandern. Amanda hatte der Einrichtung ihren persönlichen Touch verliehen. Sein Vater hätte nie so viele Kissen auf dem Sofa drapiert. Und er scherte sich nicht um Fotos in kleinen Rahmen oder Weihnachtsdekoration. Davon gab es hier allerdings reichlich. Von dem Weihnachtsbaum in einer Ecke ganz zu schweigen, den sie nachher gemeinsam schmücken würden.
Während Jonas seinen Pudding löffelte, lauschte er auf die Geräusche im Flur, die von der Weihnachtsmusik überlagert wurden, die aus dem Fernseher drang. Da lief irgendein weihnachtliches Programm und ein Kinderchor sang. Jonas verdrehte die Augen. Das war ihm eindeutig zu viel. Er mahnte sich dazu, diese paar Stunden durchzuhalten. Im Grunde seines Herzens liebte er seine Familie, das wusste er. Und obwohl sie ihre Differenzen hatten und selbst wenn Jonas schnell von einigen Ansichten in diesem Haushalt genervt oder verletzt war, am Ende des Tages hing er an ihnen.
Deshalb raffte er sich zu einem Lächeln auf, als Tom, dessen Frau und ihre kleine Tochter ins Wohnzimmer kamen. Es würde schon irgendwie werden.
Wenige Stunden später brachte Toms Frau gerade die Kleine ins Bett und der Rest der Familie sprach dem Alkohol gut zu, nachdem ihnen Amanda ein fantastisches Festessen kredenzt hatte. Jonas würde die Nacht in einem der Gästezimmer verbringen. Obwohl ihn die große Gruppe allmählich anstrengte und er sich nach Ruhe sehnte, war er doch froh, dass er heute keine Heimreise mehr würde antreten müssen. Er saß Tom an der kleinen Tafel gegenüber, Paul an der Stirnseite zu seiner Linken, und tat, als würde er sich wohlfühlen. Das war nicht leicht. Denn die beiden waren vor wenigen Jahren einer der Gründe gewesen, weshalb er früh hatte ausziehen wollen. Und warum er jetzt so war, wie er war. Jonas war froh, dass er sich auf die Unterhaltungen der anderen konzentrieren konnte und sich nicht einbringen musste. Amanda verbreitete angenehme Stimmung. Sie lachte viel. Ihr Lachen steckte an. Dass Jonas nicht mehr tun musste, als anwesend zu sein, ließ ihn Hoffnung schöpfen, dass er dieses Jahr ohne ein Familiendrama hier rausgehen würde.
Jedenfalls bis die Sprache auf die Vergangenheit kam. Jonas versteifte sich unwillkürlich, als seine Stiefbrüder anfingen, in Gedanken an ihre Schulzeit zu schwelgen und wie gern sie mit jetzigen Schülern die Leben tauschen würden. Er wollte nicht zurück. Niemals. Die Zeit war schrecklich gewesen und das nicht nur, weil er schon damals wenig Freunde gehabt hatte. Auch – und er wagte einen verstohlenen Blick zu Paul hin – weil sie ihre ganz eigenen Dramen hinter sich hatten. Jonas war immer neidisch auf seine Brüder gewesen. Beide hatten die athletische Figur von Basketballspielern, waren extrovertiert und fanden schnell Anschluss. Beide hatten schon damals gut ausgesehen und waren bei den Mädchen beliebt gewesen. Sie hatten sich über Jonas lustig gemacht, der stets ein wenig schwächer, schlanker und kleiner als sie gewesen war. Ein wenig ruhiger. Der sich früher nicht getraut hatte, den Mund aufzumachen. Er war nicht schlagfertig gewesen. Hatte sich nicht zu verteidigen gewusst. Hatte die Hänseleien seiner Stiefbrüder über sich ergehen lassen.
»Und trotzdem konntest du uns nicht böse sein, oder?«, fragte Paul gerade grinsend und schlug ihm brüderlich auf die Schulter.
Jonas biss die Zähne zusammen und entschied sich, zu schweigen.
Tom lachte. »Dir jedenfalls nicht.«
Sie feixten sich an. Jonas stieg die Hitze ins Gesicht.
»Stimmt, wie war das noch gleich?« Paul tat, als müsste er darüber nachdenken, dabei wusste Jonas, dass er die Kunstpause nur auskostete, um sich in der Aufmerksamkeit des gesamten Tisches zu sonnen. »Du wolltest mit mir durchbrennen, Jojo?«
Tom schnaubte amüsiert. »Kein Wunder. Wir waren damals ständig beim Training. Du bist schuld, dass sein Vater keine leiblichen Enkelkinder bekommt.«
»Jungs«, mahnte Amanda von der Seite.
Das hielt die beiden nicht auf.
»Stimmt.« Paul nickte selbstgefällig und sagte dann mit falscher entschuldigender Miene: »Tut mir leid, Dad. Aber ich bin eben heiß, was soll ich machen?« Er fuhr sich arrogant durchs Haar.
Einfach ignorieren, mahnte sich Jonas. Sie würden schon wieder damit aufhören. Unter dem Tisch ballte er die Hände zu Fäusten.
Seine angespannte Haltung entging Tom nicht, der in einem Ton sagte, als würde Jonas überreagieren: »Jetzt guck doch nicht so, Jojo. Ist ja nur Spaß.«
Wütend warf ihm Jonas einen Blick zu. »Klar«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Zum Totlachen.«
Tom zuckte mit den Schultern. »Du musst schon zugeben, dass du ein bisschen verknallt warst.«
»Ein bisschen?« Paul lachte. »Er stand voll auf mich, Alter. Hat mir immer beim Umziehen zugesehen und das eine Mal beim Duschen, weißt du noch?«
Zustimmend nickte Tom. »Schon pervers.«
Jonas spürte den Stich. Direkt in die Brust. Deshalb hatte er nicht hierherkommen wollen. Genau deshalb. Jedes Mal musste er sich das anhören. Dieses Jahr schienen sie besonders viel Freude daran zu haben, den Finger in die Wunden zu legen. Sie hörten sonst viel früher wieder auf. Erinnerten ihn nicht an jeden einzelnen peinlichen Moment, den er in seiner Pubertät durchlebt hatte.
Die Stimmung am Tisch hatte sich merklich verschlechtert. Jonas’ Vater brachte sich gar nicht ein. Das überraschte ihn nicht. Sein alter Herr hatte kein Rückgrat.
Amanda schien die Einzige zu sein, die schlichten wollte. Mit mütterlicher Sanftheit bat sie: »Tom, beherrsch dich. Nicht heute.«
Der schaute drein, als sei er sich keiner Schuld bewusst. »Wir reden doch nur drüber. Und pervers ist es schon.«
»Wir sind nicht verwandt«, rechtfertigte sich Jonas verbissen, der seine eigene Wortkargheit hasste. Sie schafften es jedes Mal, ihn sprachlos werden zu lassen. Dabei war er inzwischen so gut darin, sich verbal zu verteidigen. Aber wenn sie mit diesem Thema kamen, dann lähmte es seinen Geist, ließ ihn nicht mehr klar denken, die Scham wurde riesig und er fühlte sich in eine Ecke gedrängt. Ausgelacht. Ausgegrenzt und verstoßen. Es löste Empfindungen in ihm aus, die längst vergraben hätten sein sollen.
Seine Worte ließen Tom wiehernd auflachen. »Hast du das gehört, Paul?«, fragte er amüsiert. »Er hat völlig recht. Wir sind nicht verwandt. Wieso bist du nur so prüde?«
Paul lachte ebenfalls. »Ja, keine Ahnung« Wieder fuhr er sich durchs Haar, als wäre er ein verdammter Superstar. »Vielleicht, weil ich keine verzweifelte Schwuchtel bin?«
Jonas erstarrte zur Salzsäule. Fassungslose Entrüstung kochte in ihm hoch, befeuerte seine Wut, wandelte sie in unbändigen Zorn. Das, was man ihm in seinen jungen Jahren schon alles an den Kopf geknallt hatte, war nicht schön gewesen. Er hatte sich inzwischen eine gewisse Toleranzgrenze angeeignet. Die war jetzt deutlich überschritten.
Eisig funkelte er Paul an. »Wie hast du mich genannt?«
Der zuckte scheinheilig mit den Schultern. »Ist doch wahr. Bist halt falsch gestrickt.« Lässig lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, bis er auf den Hinterbeinen kippelte. »Das ist unnatürlich, Mann. Abartig. Das denken wir doch alle.« Als wollte er die Bestätigung der Familie, nickte er zu den anderen hin.
Jonas’ Zorn brannte ihm in der Brust und befeuerte die Hitze in seinem Nacken. Der Schmerz davon, weder verstanden noch akzeptiert zu werden, wurde zu drückendem Hass, der raus musste. Er konnte sich nicht mehr beherrschen. Voller Wut griff er sein benutztes Besteck und schleuderte es seinem Stiefbruder entgegen. »Du verdammter Scheißkerl!«
Paul riss die Hände hoch, um sein Gesicht zu schützen. Zugleich ertönte von der anderen Seite des Tisches Amandas erschrockene Stimme. »Jonas!«
Klappernd fiel das Besteck zu Boden. Schwer atmend funkelte Jonas Paul an, der jetzt endlich aufgehört hatte, so bescheuert zu grinsen.
»Jo, chill, Alter«, sagte er vorwurfsvoll. »Nur weil ich nicht mit dir duschen will oder was?«
Das war eine Spitze zu viel.
»Ich bring dich um!« Jonas warf seinen Teller nach ihm.
Wieder ging Paul in Deckung. Mit einem lauten Scheppern zerschellte der Teller in tausende Keramikscherben.
»Reiß dich mal zusammen, Mann! Was ist dein verficktes Problem?«, rief Paul, als Jonas bereits nach seinem Glas griff. Er pfefferte es direkt in das dämliche Gesicht des Typen, der ihm seit seiner Teenagerschwärmerei das Leben schwer machte.
»Du bist mein verficktes Problem!«, schrie er, sprang auf und fing an, auch Pauls Geschirr in seine Richtung zu schmettern. All der Schmerz der letzten Jahre brannte ihm in der Brust. Der Moment, in dem er seinem Stiefbruder beschämt die eigenen Gefühle gestanden hatte. Die angeekelte Reaktion. Wie Paul es der ganzen Familie erzählt und Jonas gegen seinen Willen geoutet hatte. Wie er sich mit Tom danach unentwegt über ihn lustig gemacht hatte. Jonas war fünfzehn gewesen. Fünfzehn!
Sein Vater hatte ihm einreden wollen, dass es eine Phase sei. Hatte ihn sogar umerziehen wollen, mit beschissenen Vater-Sohn-Ausflügen, bei denen sie Jagen gegangen waren oder Angeln oder sich Boxen angesehen hatten. Dinge, die Jonas gehasst hatte. Wegen einer einfachen Teenagerschwärmerei. Wenn Paul geschwiegen hätte, wäre das alles nicht passiert.
»Du und deine scheiß Meinung!« Jonas war so wütend auf ihn. So schrecklich wütend. All der angestaute Hass bündelte mit dem Liebeskummer, den er im Moment wegen Brooks fühlte, zu einem so unbändigen Zorn zusammen, dass er vollkommen das Maß verlor. Er griff nach der Sauciere und hieb damit auf Paul ein, der inzwischen auf dem Boden hockte und die Arme in die Höhe gestreckt hatte, um die Schläge abzuwehren. Blut spritzte, aber Jonas war das egal. Er wollte ihn brennen sehen. »Ich hasse dich. ICH HASSE DICH!«
»JONAS!«
Jemand packte ihn an den Armen. Hielt ihn fest und verhinderte, dass er weiter auf Paul einschlagen konnte. Fuchsteufelswild zerrte Jonas an dem Schraubstockgriff von Tom und seinem Vater, doch ohne Erfolg. Verschwommen sah er Paul am Boden hocken, der ihn anstarrte, als wäre ER das Monster in dieser Geschichte. Erst später bemerkte Jonas, dass sein Gesicht tränennass war. Und dass er ihn deshalb so undeutlich sah.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, wollten sich neue Tränen Bahn brechen. Eisern hielt Jonas sie zurück und atmete gegen die Enge in seiner Kehle an. Wütend warf er seinen Rucksack in die Ecke auf der anderen Seite des Flurs, ging ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Das Gesicht ins Kissen gedrückt, erwog er, einfach mit dem Atmen aufzuhören. Dieses Scheißleben ging ihm so dermaßen auf die Eier.
Er war froh, dass er zu Hause war. Ganz gleich, wie teuer und langsam der Nachtzug gewesen war, den er spontan genommen hatte. Keine Sekunde länger hätte er es im homophoben Haus seiner Familie ausgehalten. Nicht nur, dass es Paul nicht nötig gehabt hatte, sich zu entschuldigen. Nein, sein Vater hatte Jonas danach auch noch eine Standpauke gehalten. IHM! Als wäre er der verfickte Arsch, der sich über alle Grenzen hinweggesetzt hatte. Der provozierend und verletzend geworden war. Jonas hatte sich nur verteidigt. Ja, es war ausgeartet. Aber er hatte jahrelang all das Mobbing wortlos hingenommen. Da konnte es doch niemanden überraschen, dass er explodiert war. Wenn sie ihn für so schwach und weinerlich hielten wie früher, dann hätten sie jetzt hoffentlich begriffen, dass er nicht länger so mit sich umspringen ließ. Seine Stärke war nicht aus Mut geboren. Sondern aus Verbitterung.
Nur brachte ihm die Bitterkeit herzlich wenig. Denn sein Vater war davon, dass er im Esszimmer randaliert hatte, so entrüstet gewesen, dass er ihm seine finanzielle Unterstützung gestrichen hatte. Bis Jonas wieder zur Vernunft käme und sich bei allen Beteiligten für sein Verhalten entschuldigte. Wenn er daran zurückdachte, wollten Jonas erneut wütende Tränen kommen. ER sollte sich entschuldigen? Und Paul kam damit davon, dass er vorhin kurz ›Sorry, war nicht so gemeint‹genuschelt hatte?
Mit Zornestränen in den Augen drückte Jonas das Gesicht stärker ins Kissen. Es war so unfair. So schrecklich unfair! Er würde nie wieder zu Weihnachten bei seinem Vater aufkreuzen. Konnte der alte Mann vergessen, dass er sich auf diesen faulen Deal einließ und den letzten Rest seiner Würde für ein paar Scheine im Monat verriet. Nein, eine andere Lösung musste her.
Kurz spielte Jonas mit dem Gedanken, seine Mutter um Hilfe zu bitten. Doch das verwarf er eilig. Seine Eltern waren vielleicht nicht mehr verheiratet, aber sie gingen freundschaftlich miteinander um. Und wenn sein Vater ihr erzählte, was vorgefallen war, würde sie Jonas noch eine Predigt halten. Danke, darauf konnte er verzichten. Außerdem hatte sie jetzt eine neue Familie. Einen Mann und einen Sohn. Jonas’ kleinen Halbbruder Leon. Das war der Grund, weshalb er Weihnachten nicht bei ihr hatte feiern können. Das und die Tatsache, dass die drei über die Feiertage gern verreisten. Wenn er sich bei der Familie seines Vaters schon wie das fünfte Rad am Wagen fühlte, so wirkte es bei seiner Mutter so, als wäre er gar nicht existent. Schon irgendwie da. Aber er passte nicht in das Leben, das sie sich aufgebaut hatte. Er passte nirgends so richtig dazu. Sie alle betrachteten ihn als Außenseiter. Wunderten sich, wenn er darüber wütend wurde, dass sie ihn abfällig behandelten. Dachten nur an ihn, wenn große Familiengeburtstage anstanden oder er fragte, ob sie ihm die Semestergebühren bezahlen konnten.
Jonas knirschte mit den Zähnen. Wie es sich wohl anfühlen musste, in einer glücklichen Familie aufzuwachsen? Geliebt und verstanden zu werden?
Deprimiert warf er einen Blick auf sein Smartphone. Ariana hatte ihm eine Nachricht geschickt. Ein Bild von zwei Katzen, die sich umarmten. Es ließ ihn betrübt lächeln. Er hatte ihr auf dem Rückweg geschrieben, was passiert war. Jetzt versuchte sie wohl, ihn aufzumuntern. Es half ein wenig. Aber antworten konnte er darauf nicht.
Jonas wusste nicht, was er ohne sie machen würde. Wenn Ariana nicht wäre … Er atmete tief durch und unterbrach den trüben Gedanken, bevor er düster wurde.
Tapfer setzte er sich auf. Er durfte sich nicht in Selbstmitleid verlieren. Denn er hatte ein Problem und das musste er lösen. Sein Vater würde ihm ab sofort nichts mehr zahlen. Das Geld seiner Mutter allein würde nicht ausreichen, um für seinen Lebensunterhalt und das Studium aufzukommen. Natürlich ging sein Vater davon aus, dass er einknicken und angekrochen kommen würde. Aber das konnte er sich sonst wohin stecken! Jonas wollte kein Geld von jemandem annehmen, der es nicht schaffte, ihm den Rücken zu stärken, während er von seinem Stiefbruder wegen seiner Sexualität gemobbt wurde.
Also musste Jonas anders an Geld kommen. Und das schnell. Er hatte nicht genug Rücklagen, um sich ein paar Monate Faulheit zu erlauben.
Er dachte darüber nach, wie er kurzfristig einen Studentenjob ergattern könnte. Im Winter war es schwerer. Die Semesterferien würden bald enden, das Weihnachtsgeschäft war so gut wie vorbei und die große Saison für solche Jobs war im Sommer. Jonas konnte unmöglich ein halbes Jahr lang von seinem Puffer leben. Der brächte ihn nicht mal einen Monat weit. Unzufrieden knirschte er mit den Zähnen.
Brooks hatte Geld. Er könnte ihn um Hilfe bitten. Bei dem Gedanken lachte Jonas freudlos auf. Natürlich. Wie viel tiefer wollte er noch sinken? Es würde ihn nur in die nächste Misere bringen, wenn Brooks begriff, dass er ein Faible für ihn hatte. Nein danke, er konnte darauf verzichten, in der Schuld von jemandem zu stehen, der ihn, sobald er von seiner Neigung erfuhr, vielleicht ähnlich schlecht behandelte wie Paul.
Jonas kam ein weiterer absurder Gedanke. Wenn er sich schon von einem heißen Kerl bezahlen lassen wollte, dann … Na ja, es gab Portale dafür, oder? Er wäre nicht der erste Student, der sich einen Sugardaddy suchte.
Während er auf sein Smartphone starrte, biss sich Jonas auf die Unterlippe. Noch immer umarmten sich die zwei comicartigen Katzen. Er sah sie gar nicht richtig. Dafür schweiften seine Gedanken zu betagten Männern hin, die wollten, dass er sich aufhübschte und lächelnd an ihrem Arm hing, ehe sie ihn mit nach Hause nahmen. Jonas hatte kein Problem mit Altersunterschieden. Die Frage wäre eher, ob überhaupt einer der Herren nach einem Mann statt einer Frau suchte. Und ob Jonas generell eine Chance hatte?
Er straffte die Schultern. Natürlich hatte er die. Er war jung, schlank und sah, was die Ansprüche seiner schwulen Mitmenschen anging, recht heiß aus. Bisher hatte er sich über Aufmerksamkeit innerhalb des Regenbogens nicht beklagen können. Und je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Idee, sich einen Sugardaddy zu suchen. Er könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zwangloser Sex UND Geld. Was wollte er mehr? Jetzt musste er nur noch herausfinden, ob es Sugardaddys gab, die so tickten wie er.
Jonas war sich nicht sicher, ob ihn neue Hoffnung oder grimmiger Trotz dazu brachte, sich direkt in die Tiefen des Internets zu stürzen und sich auf die Suche zu begeben. So oder so musste er nicht lang stöbern. Ein paar Minuten später lud er sich eine App aufs Handy und legte sich ein Profil an. Es war mitten in der Nacht und er wusste, dass er lieber nochmal drüber schlafen sollte, aber jetzt wollte er beenden, was er angefangen hatte. Morgen wäre er vielleicht bereits zu sehr von seinem Selbstmitleid in den Schwitzkasten genommen. Heute brannte er noch vor verbitterter Entschlossenheit.
Mit einem düsteren Grinsen wählte er männlich aus, gefolgt von auf der Suche nach einem Sugardaddy. Er wollte garantiert keine Mommy.
Als die Frage auf einen Nicknamen fiel, zögerte Jonas. Einerseits wollte er einen Namen, der gleich zeigte, was sein Gegenüber erwartete. Andererseits war er nicht hier, um sich anzubiedern. Das hatte er nicht nötig. Er passte genau ins Beuteschema derer, die einen Twink suchten. Und trotzdem war ihm Twinkboy zu plump. Darüber hinaus … Jonas seufzte schwer, während er auf den kleinen Bildschirm starrte. Wie konnte er jemandem klarmachen, dass er zwar Sex in den Deal einbringen wollte, aber weder eine emotionale Bindung noch Nacktfotos oder gar Videos? Von beidem hatte er aus diesen Kreisen gehört. Manche Sugar-Beziehungen gingen bald schon sehr tief – oder wurden ziemlich schmutzig.
Kurzentschlossen tippte Jonas ItsComplicated69 ein und bestätigte. Ja, das passte. So kam hoffentlich niemand auf die Idee, ihm eine Beziehung anbieten zu wollen. Denn so frustrierend und verletzend die letzten Stunden auch gewesen waren, sie hatten ihn nicht verändert. Er war nicht weniger schwul. Und nicht weniger verknallt in einen Mann, den er nicht haben konnte.
Mit seiner Entscheidung recht zufrieden, stellte Jonas einige Merkmale ein. Er würde auf ein Foto verzichten, um sich selbst zu schützen. Es gab eine Menge Verrückter da draußen. Also mussten seine Beschreibungen eben besonders detailliert sein. Er ging alle Felder durch, in denen er etwas über sich verraten konnte, dann wagte er sich neugierig in die Übersicht der Sugardaddys in seiner Nähe. Ein paar von ihnen hatten Fotos drin. Andere nicht. Er scrollte sich durch die Profile. Von sehr direkt über grenzwertig obszön bis hin zu zugeknöpft war alles dabei. Jung, alt, irgendwo dazwischen. Ein paar prahlten mit Rolex, Yacht oder teurem Auto. Ein paar zeigten nur sich selbst, lächelnd, vor irgendeiner Urlaubskulisse.
Jonas blieb an dem Profilbild eines Mannes hängen, der sich SilverPanther nannte. Nicht nur der Name strotzte vor Kraft. Auch das Foto der breiten Brust, die in einen schicken Anzug gehüllt war, zog ihn an. Eigentlich mochte er solche Fotos nicht. Entweder man zeigte sein Gesicht oder man ließ es ganz. Aber dieses Bild hatte was. Vielleicht war es die Kombination mit dem angegebenen Alter und dem Hinweis darauf, dass der Sugardaddy sowohl abenteuerlustig als auch flexibel in seiner Freizeitgestaltung war.
Jonas’ Daumen schwebte über dem Chat-Symbol. Er zögerte. Dieser Mann wirkte so erfolgreich und selbstbewusst, dass er sich fragte, ob er überhaupt eine Chance hätte. Sicher wäre er nicht das, was jemand dieses Kalibers erwartete.
›Guten Abend‹, ploppte plötzlich eine Nachricht direkt neben seinem Daumen auf.