Susan has to die at Little Rock - erzählt von Lovis Ryan, Frankfurt am Main - Kim Dorno - E-Book

Susan has to die at Little Rock - erzählt von Lovis Ryan, Frankfurt am Main E-Book

Kim Dorno

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Beschreibung

Was erwartet Sie? Ein Lesebuch leidenschaftlicher Bilder vielfältiger Identitäten! --- Als Mörderin sterben zu müssen fühlt sich grausam an. Für alle Beteiligten. Susan, junge Bürgerin des Staates Arkansas, trifft ihr Schicksal. Sie hat versäumt, die vielfältigen Folgen ihres Verbrechens vorherzusehen. --- Was macht das mit den Menschen? Lovis Ryan, nichtbinär-diverse Journalist:in aus Frankfurt am Main, schaut genau hin. Der US-Staat will würdevoll mit den Menschen umgehen. Auch wenn er die Regel "Du sollst nicht töten" bricht, um Männer und Frauen vom Morden abzuhalten. --- Wie kann das geschehen? Ein Dilemma? In unserer Welt? Die fiktive Autorenfigur schlüpft empathisch in Motive, Gedanken und Gefühle der Handelnden. Lovis Diversität wird zur Kraft, Ursachen des grausamen Geschehens zu ergründen. Was lernen wir daraus? --- Wie immer, teilt Lovis seine Empfindungen beim Schreiben mit den Lesenden. Die Erzählung des Kriminalfalls geht unter die Haut. Sie zeichnet die Figuren in menschlicher Ernsthaftigkeit. In großer Schönheit. Sehr achtsam. --- Sind Sie für die Todesstrafe? Oder dagegen? Lovis beunruhigende Gedanken verführen, noch einmal nachzudenken: Wie kann eine strenge, gerechte und achtsame Demokratie Individuen, die grenzüberschreitende Neigungen menschenfeindlich ausleben, wirksam bestrafen?

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Seitenzahl: 1163

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Susan has to die at Little Rock - erzählt von Lovis Ryan Frankfurt am MainI von Lovis-Ryan-Edition in der Agentur für vielfältige Wirklichkeitskonstruktion (www.AfvWK.org)Lovis RyanEpubli (Dez 2024)Schlagwörter:Kriminalroman, Thriller, Identität, vielfältige Wirklichkeiten, Arkansas, Todesstrafe

Was erwartet Sie? Ein Lesebuch leidenschaftlicher Bilder vielfältiger Identitäten!

Als Mörderin sterben zu müssen fühlt sich grausam an. Für alle Beteiligten. Susan, junge Bürgerin des Staates Arkansas, trifft ihr Schicksal. Sie hat versäumt, die vielfältigen Folgen ihres Verbrechens vorherzusehen.

Was macht das mit den Menschen? Lovis Ryan, nichtbinär-diverse Jounalist:in aus Frankfurt am Main, schaut genau hin. Der US-Staat will würdevoll mit den Menschen umgehen. Auch wenn er die Regel „Du sollst nicht töten“ bricht, um Männer und Frauen vom Morden abzuhalten.

Wie kann das geschehen? Ein Dilemma? In unserer Welt? Die fiktive Autorenfigur schlüpft empathisch in Motive, Gedanken und Gefühle der Handelnden. Lovis Diversität wird zur Kraft, Ursachen des grausamen Geschehens zu ergründen. Was lernen wir daraus?

Wie immer, teilt Lovis seine Empfindungen beim Schreiben mit den Lesenden. Die Erzählung des Kriminalfalls geht unter die Haut. Sie zeichnet die Figuren in menschlicher Ernsthaftigkeit. In großer Schönheit. Sehr achtsam.

Sind Sie für die Todesstrafe? Oder dagegen? Lovis beunruhigende Gedanken verführen, noch einmal nachzudenken: Wie kann eine strenge, gerechte und achtsame Demokratie Individuen, die grenzüberschreitende Neigungen menschenfeindlich ausleben, wirksam bestrafen?

Lovis Ryan

Susan has to die at Little Rocks – erzählt von Lovis Ryan, Frankfurt am Main

Entstanden im Senior-Startup “Agentur für vielfältige Wirklichkeitskonstruktion“

www. AfvWK.org

Ersterscheinung am 10.12.2024

Publiziert über die Plattform epubli

Zu diesem Buch:

In diesen Kriminal-Thriller in Form eines Lesebuchs sollten alle Menschen ihre Nase stecken, die die Todesstrafe befürworten. Und alle, die dagegen sind, wird Lovis Ryans Erzählung ebenfalls nachdenklich stimmen.

Was begegnet Ihnen in diesem Roman?

Der experimentelle Roman nimmt Sie mit in die Welt der diversen Journalist:in Lovis Ryan. Der:die Autor:in beobachtet den US-Staat Arkansas bei der Entwicklung des ‚Konsequenzprinzips‘: Wie wirkt die visionäre Philosophie des achtsamen Umgangs mit Menschen, die sich nicht zügeln, ihre kriminelle Fantasien in verbrecherischer Weise auszuleben? Die junge Bürgerin Susan mordet trotzdem. Der Staat jagt sie. Sie entzieht sich. Doch sie wird gefasst, verurteilt und auf den elektrischen Stuhl geschickt.

Was Susan mit ihrer kriminellen Handlung tatsächlich auslöst, bedenkt sie vorher nicht. Also überrollt sie die Folgen hinterher. Sie erlebt, was es heißt, Mörderin zu sein. Lovis deckt in schockierender Deutlichkeit die horrorhaften Auswirkungen ihres Handelns für sie selbst und für ihr soziales Umfeld auf.

Es handelt sich um Fiktion!

Wozu schreibt Lovis so? Lovis erzeugt Bilder der Motive und Identitäten der von Susans Verbrechen betroffenen Personen. Sie sollen unter die Haut gehen, diese Bilder gewaltsamen Handelns, die sich in die Fantasie einbrennen. Sie regen Menschen mit dominanzorientierten Neigungen, ihre gewalttätigen Fantasien vor dem Umsetzen in die Tat zu kontrollieren. Wäre es, fragt Diversling Lovis, vielleicht schlauer, eigene Ängste, Lüste und Begierden ohne Gewalt gegen die Mitmenschen umzusetzen?

Der Roman ist ein Gedankenspiel einer schreibenden Person, die anonym bleiben will. Alle Figuren und die die Figuren miteinander verknüpfenden Handlungen sind fiktiv. Auch die nichtbinäre Autor:innenperson Lovis Ryan. Diese nutzt ihre vielfältige Identität als Beobachter:in des Geschehens aktiv. Sie bettet ihre Erzählung in die politische und soziale Realität der Zeit deren Entstehens ein (Juli 2022 bis Mai 2024) – getreu des ewigen Prosa-Strickmusters „So könnte es doch sein – oder?“

Warnung:

Dieser Roman ist zum abschnittsweisen Lesen bestimmt. Also ist es ist unvermeidlich, dass sich Passagen doppeln, wenn Sie es von vorn bis hinten lesen. Beachten Sie daher bitte die Leseempfehlungen!

Einzelne Teile des Romans können verstörende Empfindungen auslösen. Überspringen Sie bitte die Abschnitte, deren Lektüre Sie aus dem seelischen Gleichgewicht bringen würden. Wenn Sie sensibel sind und keinen Thrill mögen, lesen Sie bitte nur den Prolog und den Epilog. Das ist ungefährlich.

Quellen sind neben dem von der Autor:innenperson lebenslang erworbenen Wissens allgemein zugängliche Zeitungsberichte und Internetlinks. Autor:in, Agentur und Verlag übernehmen keinerlei Haftung für Zulässigkeit, Richtigkeit und Seriosität der Dokumente, auf die verwiesen wird.

Hinweise zur Publikation:

Der Roman erscheint zeitgleich auf Deutsch und auf Englisch als E-Book und als Print-on-Demand. Es ist über den Online-Buchhandel, stationäre Buchhandlungen oder über die Homepage des Senior-Start-Up „Agentur für vielfältige Wirklichkeitskonstruktion“ (www.AfvWK.org) erhältlich.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Lesehinweise – Risiken und Nebenwirkungen

Georg

1.1

1.2

1.3

1.4

1.5

1.6

1.7

1.8

1.9

Lovis (1)

Susan

2.1

2.2

2.3

2.4

2.5

2.6

2.7

2.8

2.9

2.10

2.11

2.12

2.13

2.14

Lovis (2)

Jill und Roxana

3.1

3.2

3.3

3.4

3.5

3.6

3.7

Lovis (3)

Manja

4.1

4.2

4.3

4.4

Lovis (4)

Die Welt dreht sich weiter

5.1 Susan

5.2 Das Team der Henkerinnen

5.3 Georg

5.4 Jill und Roxana

5.5 Manja und Phil

5.6 Manja

5.7 Manja und Susan

5.8 Das Leitungsteam

Lovis (5)

EpilogDanksagung, Anmerkungen, Impressum

Prolog

Ich schaue das Gute so lange an, bis ich das Gute darin sehe.

Ich schaue das Böse so lange an, bis ich das Gute darin sehe

Ich schaue mir die Welt so lange an, bis ich sehe: Sie ist gut.

Ich bin ein glückliches Wesen!

Lovis Ryan, Mitglied der weltweiten Gruppe freier Mitarbeitender eines bekannten Hochglanz-Magazins, sitzt in Frankfurt im Arbeitszimmer und freut sich: „Ich bin ein Glückspilz!“ Denn auf dem Bildschirm ploppt eine amtliche Meldung aus dem Ministerium für Justiz des US-Bundesstaates Arkansas auf:

„Am heutigen Tag wird Susan Goldmann in Umsetzung des rechtskräftigen Urteils des Schwurgerichts aus der staatlichen Frauen-Haftanstalt in Newport in den Todestrakt des Ministeriums für Justiz in Little Rock verlegt. Frau Goldmann hat kein Gnadengesuch gestellt. Der Staat Arkansas ordnet ihre Hinrichtung gemäß des Protokolls für Mörderinnen und Mörder ersten Grades für übermorgen Vormittag um 11 Uhr an.“

Ein demokratischer, westlich ausgerichteter Staat der USA vollstreckt ein Todesurteil. Unvorstellbar! Wie kann das sein? Was macht das mit den Menschen, die das erleben müssen? Eine Frage, die die diverse Journalist:innenfigur magisch anzieht. Lovis schreibt einfühlsame Darstellungen von Menschen in Extremsituationen, im positiven wie im negativen Sinne. Fiktionen wie: Was geht in einem Menschen vor, der im Fernsehen sieht, wie er im Lotto gewinnt? In einer Pilotin eines Kampfjets, der von der Luftabwehr getroffen wird und bei dem der Schleudersitz versagt? In einem Mann, der das erste Mal mit seiner Traumfrau schläft? In einer Busfahrerin, deren Fahrzeug auf eisglatter Fahrbahn ins Schleudern kommt? Und – wie hier – in den Beteiligten des strafenden Akts des Staates Arkansas?

Leserinnen und Leser von Lovis’ Magazin lieben solche Geschichten. Reale Situationsskizzen und die zugehörigen Fantasien darüber, was die betroffenen und die handelnden Menschen erleben, denken, fühlen. Möglicherweise schräg. Auf jeden Fall aufregend. Spannend. Leben und Sterben in allen seinen Formen. Der Tod, der eigene genau wie der von Mitmenschen, erzielt die höchste Aufmerksamkeit.

Vor vielen Jahren gab Lovis in einem Interview Auskunft über die Quelle der Lust am Schreiben solcher Geschichten. Schon als kleines Kind male ich mir, in Tagträumen, gerne aus, was andere Menschen empfinden. Heute würde ich sagen: Es bereitet mir Lust, das zu fühlen, was andere Menschen erleben, Glücksgefühle oder Qualen. Anregungen, die meine Fantasien anregen, begegnen mir immer wieder.

Eindrücklich war – ich erinnere mich noch sehr genau – ein Erlebnis am Ende meiner Grundschulzeit: Wir sind damals eine Clique pubertierender Jungen und Mädchen und treffen uns nach der Schule im Park. Karla, besonders frühreif und besonders neugierig, gehört dazu. Eines Tages bringt sie ein Modell eines Sessels aus Plastik mit Armlehnen und hohem Rückenteil mit, wohl aus einer Puppenstube. Sie zeigt den Sessel in der Runde. „Das ist ein elektrischer Stuhl. Da setzten sie eine Frau drauf, schnallen sie fest, schließen sie an Strom an und lassen sie langsam verschmoren.“

Die anderen reagieren damals geschockt und fragen Karla, woher sie das weiß. Farbige Bilder von einem elektrischen Stuhl, mit und ohne darauf festgeschnallten Frauen, hat Karla in einer Zeitschrift unter dem Ehebett ihrer Eltern entdeckt. „Bring die Bilder mal mit, die will ich auch sehen“, fordert ein anderes Mädchen der Clique. „Das geht nicht“, beteuert Karla, „mein Vater darf nicht wissen, dass ich die Zeitschrift gefunden habe. Sonst flippt er aus. Ihr dürft mit niemandem darüber reden!“

Natürlich reden wir trotzdem darüber. Ich weiß damals schon, dass der elektrische Stuhl in Amerika genutzt wird, um Verbrecher zu bestrafen, und erkläre: „Die Frauen müssen auf dem Stuhl sterben, wenn sie etwas ganz Schlimmes gemacht haben. Mord oder so.“ Wir überlegen, wie es sich wohl anfühlt, auf einem solchen Stuhl sitzen zu müssen. Und wie es sich anfühlt, dabei zu sein, wenn eine Frau auf einem solchen Stuhl stirbt. Die Zeitschrift unter dem Bett von Karlas Eltern zeigt nur Frauen auf dem elektrischen Stuhl. Also glauben wir, dass der Stuhl wohl nur für Frauen benutzt wird. Schaurige, aber heimlich auch sehr attraktive Gedanken.

„Wenn ich nicht hinterher tot wäre, würde ich gerne mal in so einem Stuhl sitzen und erleben, wie es ist, dort verschmoren zu müssen. Natürlich würde ich euch danach erzählen, wie es war!“ Karla verrät uns, wie immer, gerne ihre heimlichen Gedanken, mit aufgeregtem Gesicht.

Paul lacht laut. „Und ich würde Dich gerne dort festschnallen. Dann mache ich den Strom an. Und gucke mir genau an, was mit Dir passiert. Anschließend verrate ich Dir gerne, wie ich mich dabei fühle!“

Karla boxt Paul in die Rippen. Die Clique lacht. Wir stellen sich diese Szene vor. Ich auch. Seit damals.

Soweit das Interview. Versonnen vor dem Rechner sitzend, die Meldung aus Arkansas vor Augen, spinnt Lovis die Gedanken an damals weiter: Karla weigert sich beharrlich, die Zeitschrift mitzubringen. Ihr geht es um ihre eigenen Fantasien. Manchmal gelingt es mir, sie darüber zum Sprechen zu bringen. Gewalt gegen das Leben verabscheue ich zutiefst. Mord genauso wie Hinrichtungen. Doch mich fasziniert das Erleben der Personen in solchen Extremsituationen. Wie fühlt sich die Frau, die verurteilt im Stuhl sitzt? Was macht das mit den Zuschauenden? Wie ergeht es den Henker:innen bei der Arbeit? Darüber möchte ich möglichst viel in Erfahrung bringen. Also stelle ich mir vor, welches Denken und Fühlen sich dem beobachtbaren Handeln der Beteiligten hinterlegen lässt. Das ist Fiktion in einer sehr konstruktiven Form. Es könnte so gewesen sein – das reicht. Ohne Wahrheitsanspruch.

Seit meiner Ausbildung weiß ich, dass viele Menschen Gefühle und Denken von Menschen so reflektieren. Ericsson, ein berühmter Psychologe, setzt sich in spannender Weise mit dem Seelenleben bekannter Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi oder Adolf Hitler auseinander. Der Sozialkonstruktivismus liefert die Methodik der systematischen Interpretation kognitiver, affektiver und psychosomatischer Vorgänge im Inneren handelnder Personen. Niemand kann objektiv herausfinden, was in anderen Menschen vorgeht. Sondern nur versuchen, sie möglichst gut zu verstehen. Je schlüssiger die eigene Gedankenkonstruktion zum Handeln der beobachteten Person passt, desto besser verstehen Beobachterinnen die beobachtete Person.

Mir geht es weder um Wahrheit noch um Moral. Die Gedanken sind frei. Ich kann und darf mir alles vorstellen, was im Kopf meines Gegenübers wohl vorgehen mag. Es gibt kein unmoralisches Denken, sehr wohl aber unmoralisches Handeln <Anm. 1>. Der Konstruktivismus lehrt: Alle tun stets das, was ihnen in ihrer jeweiligen Handlungssituation am sinnvollsten erscheint. Diesen Sinn zu rekonstruieren, zu verstehen und ernst zu nehmen – das ist mein großes Vergnügen beim Schreiben.

<Anm. 1: Lovis beruft sich auf eine Moralphilosophie des systemisch-konstruktivistischen Paradigma. Dieser Roman wendet sie an, erklärt sie aber nicht. Erläuterungen gibt Lovis Essay „Konsequenz oder Strafe – systemisches Moralisieren mit Lovis Ryan, Frankfurt am Main, 2024, veröffentlicht in der Lovis-Ryan-Edition der Agentur für vielfältige Wirklichkeitskonstruktion (www.AfvWK.org).>

Lovis entschließt sich, zuerst die Figur von Susans Ehemann Georg zu entwickeln - dann erst soll Susan erzählt werden, die titelgebende Hauptperson des Romans. Was macht es mit Georg, der seine Frau hingebungsvoll liebt, wenn sie zum Tode verurteilt, hingerichtet und ihm auf diese Weise genommen wird? Georg verdient Lovis‘ Achtsamkeit und Einfühlungsvermögen. Es geht nicht darum, über ihn ein Urteil zu fällen, sondern ihn zu verstehen – in einer wahrscheinlich abgrundtief schlimmen und schrecklichen Lebenssituation. Also aktiviert Lovis jetzt ihre weiblich-empathischen Anteile der Persönlichkeit und stellt ihren Schieberegler auf ‚leicht weiblich‘ ein <Anm. 2>!

<Anm. 2: Was es damit auf sich hat, erläutert ein anderer Text der Lovis-Ryan-Edition: Wer ist Lovis Ryan – ein Interview mit Lovis Ryan, Frankfurt am Main, 2023, (www.AfvWK.org)>

Lesehinweise – Risiken und Nebenwirkungen

Liebe Lesende,

dieser experimentelle Kriminalroman hat keinen Spannungsbogen. Das ist ungewöhnlich. Er folgt dem Muster des epischen Dramas. Er spürt den Gefühlen nach, die die betroffenen Menschen überrollen, wenn jemand seinen:ihren kriminellen Neigungen freien Lauf lässt. Jede:r von uns kann betroffen sein. In allen möglichen Beteiligten-Rollen. Deswegen macht das Lesen des Romans betroffen.

Meine Untersuchung der Frage, wie es zu Susans Verbrechen kommen kann und was wir daraus lernen können, rolle ich vom Ende des Lebens der gesuchten, gefassten und verurteilten jungen Mörderin her auf. Spannend sind die Einsichten in die Identitäten der bei der Vollstreckung der Strafe aufeinandertreffenden Personen. Deren Motive, Absichten, Wünsche, Hoffnungen und Weltsichten werden bei der Suche nach den „wahren Ursachen“ für dieses Verbrechen und dessen Folgen sichtbar. So wie ich sie sehe, als diverse:r Autor:in, wenn ich mit meinem Weltverständnis der klassischen Krimi-Frage nachgehe: „Was treibt diese junge Frau an, ein so schwerwiegendes Verbrechen zu begehen, und welche Wirkungen in ihrer Welt erzeugt sie mit diesem Handeln?“

Ich suche und finde in diesem Roman die Quelle des Übels. Ich verfasse eine Art Puzzle, das Sie selbst beim Lesen zum Gesamtbild zusammensetzen müssen. Tun Sie das, erfahren Sie meine Sichtweise. Doch viel spannender ist die Frage, welche Ursachen Sie selbst als Quelle des Übels erkennen. Ihre Erklärungen der durch Susans Verbrechen bei den Beteiligten erzeugen Konflikte sind wichtig! Denn die Vielfalt aller möglichen Erklärungen muss sich in unserer sozialen Welt harmonisch zu gemeinsam geteilten Lösungen zusammenfügen, wenn wir friedlich miteinander leben wollen.

Also sind Ihre Schlussforderungen, was zu tun ist, damit so ein Verbrechen nicht noch einmal geschieht, wichtig! Sie selbst sind wichtig! Ihre Sichtweise werden sie entdecken, wenn Sie sich, so wie Lovis, empathisch und vorurteilsfrei den Figuren annähern – mit der spannenden Frage: Wie hätte ich wohl gehandelt, wenn ich, wie man so schön sagt, „in den Mokassins dieser Personen“ unterwegs wäre? Wenn ich mit Susans verbrecherischem Handeln konfrontiert wäre?

Wenn so etwas Ihr Ding ist, so lohnt es sich für Sie, das Buch zu lesen und die Puzzlestücke zusammenzusetzen. Ich schreibe im Einklang mit meinen Emotionen. Sie mögen Ihnen schräg vorkommen. Denn ich nehme alles, was mir in den Blick kommt, sowohl angst- als auch lustvoll in den Blick. Sogar die Todesstrafe, die in vielen Teilen der Welt tabuisiert ist, aber in besonderem Maße die Volksseele erregt, wie wir alle wissen. Sie soll bekanntlich abschrecken. Tut sie das, in einem demokratischen Land, sofern sie in achtsamer Weise und unter Beachtung der durch die UN geforderten Menschenrechte praktiziert wird?

Ich erzähle mehrperspektivisch. Divers, wie ich bin. Bitte wählen Sie Ihre eigene Perspektive und bewegen Sie sich damit im von mir entworfenen Lese-Raum! Setzen Sie die Puzzlestücke Ihren Wünschen entsprechend zusammen. Es gibt viele Wege, aus den Stücken das Bild zu legen. Sie haben freie Hand, wie Sie das anstellen. Ich biete Ihnen Freiheit zur Selbststeuerung beim Lesen!

Darf ich vorab ein paar Anregungen geben? Im Hinblick auf unterschiedliche Perspektiven, sich dem Ereignis im Zentrum dieses Romans zu nähern:

Die Täterinnen-Perspektive: Eine junge Frau mordet, obwohl man es nicht von ihr erwartet. Mit ihrem Verbrechen macht Susan sich zur Mörderin. Damit wirbelt sie ihr eigenes Leben durcheinander und stürzt andere Menschen in schwerwiegende Konflikte. Hätte sie diese vielfachen Wirkungen vorausgesehen, hätte sie das Verbrechen wohl unterlassen. Hat sie aber nicht. Wollen Sie lieber Freuden und Leiden der unglücklichen, selbstbewussten und ernsthaften Mörderin Susan mitzuerleben? Dann springen Sie vom Prolog direkt in das Kapitel ‚Susan‘. Elend, Ängste und Schmerzen, die sich die junge Frau mit ihrem Verbrechen einhandelt, werden eindrücklich erzählt. Ihr gelingt, Not und Pein so zu verarbeitet, dass sie ihr unabwendbares Schicksal würdevoll auf sich nehmen kann. Wie sie das macht, ist beeindruckend und lehrreich. Also nimmt ihre Leidgeschichte ein doch gutes Ende.

Die Betroffenen-Perspektive: Susans Lebenspartner Georg betreffen die Folgen ihres Verbrechens unmittelbar. Er begleitet Susan auf dem Weg in den Tod, weil er sie nach wie vor innig liebt. Wie fühlt es sich an, seiner Lebenspartnerin bis zum deren letzten Atemzug die Treue zu halten? Nicht zu flüchten, sondern dabei zu bleiben, bis er seine Liebste in einem modernen Gewande verlaufenden archaischen Ritus verliert? Auf den in Deutschland geborenen und lebenden Georg wirkt der Ritus unerwartet faszinierend. Magisch erlebt er, was manche Menschen sich heimlich wünschen: Zuzusehen, wie das Grauen der Hinrichtung einen lebenden Menschen ereilt. Früher strömten die Massen zum Galgen, wenn die Sünderin sterben musste. Heute ist der Wunsch dabei zu

sein ein Tabu. Doch Georg darf es, weil der achtsame Staat es ihm erlaubt. Und er entscheidet sich, es zu tun. Wenn Sie seinen Wunsch teilen, lesen Sie das Georg-Kapitel zuerst. Georg wird sich zeigen, wie er ist. Auch wenn Sie es abartig finden – verurteilen Sie ihn bitte nicht. Sondern überlegen Sie sich, wie sie selbst wohl in seiner Situation reagieren würden. Wenn Ihnen das zu heftig ist, beginnen Sie bitte trotzdem aus darstellungslogischen Gründen mit Georg, springen aber bei erstbester Gelegenheit zu anderen Figuren der Erzählung.

Die Scharfrichter-Perspektive: Die Mörderin Susan teilt das Schicksal vieler Personen weltweit – Amnesty International lässt nicht locker, das immer wieder anzuprangern. Wer die Todesstrafe will, will, dass sich Menschen finden, die diese Körperstrafe vollstrecken. Jemand muss es tun! Das Team aus Roxana und Jill vertritt gemeinsam die Henker:innen-Perspektive. Sie machen professionell, was in allen Kulturen der Welt moralisch verboten und tabuisiert ist: Dem Gegenüber gezielt das Leben nehmen. Sicherlich ist das nicht Mord. Jill und Roxana töten nicht aus Eigennutz und nicht aus niederen Beweggründen. Verboten bleibt es trotzdem, aus ethischer Sicht. Wenn Sie die Frage interessiert, wie es dieser Berufsgruppe ergeht, was jemand dabei erlebt, denkt und fühlt, und ob auch dieser Job sozialverträglich gestaltbar ist, springen Sie direkt in das Kapitel ‚Roxana und Jill‘.

Die Perspektive der Gesellschaft, in der Verbrechen geschehen: Vielleicht spricht Sie besonders die Perspektive der Öffentlichkeit, des Staates, des für die Stiftung von Ordnung zuständigen Organs unserer Gesellschaft an. Vorbeugende Verbrechensbekämpfung muss der Staat betreiben. ‚Versuch-und-Irrtum‘ kann kein Staat der Welt akzeptieren, wenn das Handeln Folgen hat oder haben kann, die nicht wieder gut zu machen sind. Die gesellschaftspolitische und staatsphilosophische Perspektive auf das Ereignis vertreten die Figuren Manja und Phil. Sie begegnen Ihnen im ersten Abschnitt des Georg-Kapitels. Dann springen Sie! Manja finden Sie an verschiedenen Stellen des Buchs – diese schrille Figur ist einer meiner Lieblinge. Beispielsweise springen Sie in den Abschnitt ‚Manja und Phil‘ am Ende der Haupterzählung. Weitere Figuren, die diese Perspektive vertreten, tauchen nun von selbst auf.

Mehr Mühe macht es, den ersten Teil des Romans im zeitlichen Ablauf zu lesen. So, wie es das klassische Erzählformat tut. Gleichzeitig ablaufende Teilabschnitte werden in unterschiedlichen Puzzleteilen erzählt. Wenn Sie chronologisch lesen wollen, springen Sie bitte bei den Zwischenkapitel-Nummern jeweils zu einer anderen Figur <Anm.3>. Lesen Sie also den ersten Teil des Buch im Zickzack. Später wechselt der Roman in die übliche Darstellungsform entlang der Zeit – nun brauchen Sie nicht mehr zu springen.

<Anm. 3: In der ‚Lovis-Ryan-Edition‘ (www.AfvWK.org) finden Sie eine graphische Darstellung der Romanstruktur zum Herunterladen.>

Es gibt auch die Opfer-Perspektive. Sie treffen beim Lesen auf die Ehefrau eines von Susans Mordopfer. Doch sie handelt nur sehr wenig – daher gibt es hier für Lovis wenig zu beobachten.

Das alles ist es nicht? Tja, was dann? Ich rate: Lesen Sie direkt den Epilog. Eine, wie ich finde, schöne und kurzweilige Erzählung. Eigentlich steht dort alles drin! Legen Sie dann das Buch sofort zu Seite. Bevor Sie der Gefahr erliegen, doch noch die eine oder andere Figur genauer in den Blick zu nehmen!

Und nun wünsche ich viel Freude beim Eindringen in die visionäre Wirklichkeit des Buchs. Getreu meinem Motto – siehe oben – schaue ich auch in der schlimmsten Situation immer noch so lange hin, bis ich das Gute darin sehe. Denn ich sehne mich so heftig nach dem Paradies der Gegenwart!

Viele Grüße

Lovis Ryan 😊

Georg

1.1.

Georg schaut nachdenklich durch die Scheibe in den Vorbereitungsraum. Dort beobachtet er Susan, seine Frau. Sie sieht ihn nicht. Georg steht im Beobachtungsraum vor einem großen Ein-Richtungs-Fenster. Auf Susans Seite der Wand ist dort nur ein großer Spiegel. In vierundzwanzig Stunden wird Susan hingerichtet, die Liebe seines Lebens! Nebenan, die Tür dorthin steht offen, wartet der elektrische Stuhl des Staates Arkansas auf sie. Georgs Herz klopft heftig bei dem Gedanken, dass er dabei sein darf. Zusehen, wie Susan stirbt. Nackt auf dem Stuhl festgeschnallt, wie es die Gesetze in Arkansas heutzutage vorschreiben. Als Grund für das Verbot von Kleidung auf dem Stuhl wird die Sicherheit von Delinquentin und Hinrichtungspersonal genannt. Tatsächlich geht es wohl, so glaubt Georg, darum, die Abschreckungswirkung zu erhöhen.

Georg ist Deutscher, Susan Amerikanerin. Sie haben sich in Deutschland kennengelernt und leben dort seit einigen Jahren als Paar. Als Georg jung ist, ist die Todesstrafe auf dem Rückzug. Das Leid der Todeskandidaten, die Risiken von Fehlurteilen, die moralische Problematik des Tötens sind in Europa Gründe, Hinrichtungen zu verbieten. Auch in Deutschland. Die Todesstrafe gilt als grausam und unmenschlich. Doch die Zeiten ändern sich. Schwere Verbrechen gegen das Leben erschüttern den sozialen Frieden. Zunehmend verbreitet sich die Ansicht, dass es ohne Hinrichtungen als Konsequenz für bestimmtes verbrecherisches Handeln nicht geht.

Georgs Augen folgen seiner Frau. Sie setzt sich auf den Rand ihrer Pritsche. Die Wärterin, die sie begleitet, verlässt die Zelle und verschließt die Tür. Susan ist nun allein. Georg spürt abgrundtiefe Verzweiflung. Weil er Susan nicht vor ihrem Schicksal bewahren kann. Er sinnt über das Rechtssystem nach. Es schickt seine Frau in die Todeszelle. Wie soll er bloß damit umgehen?

Eigentlich verfügen viele Staaten der Welt, so wie Deutschland und die USA, über ein hoch entwickeltes und sinnig gestaltetes Rechtssystem. Im internationalen Raum gibt es viele Regeln, Zwistigkeiten, Konflikte und Zugangsberechtigungen in geordneten, dialogischen Verfahren zu bewältigen. Doch die Zahl der Gewaltverbrechen steigt. Mehr und mehr Menschen verlieren den Respekt vor den Rechtsregeln. Sie brechen diese Regeln bewusst in der Absicht, für sich selbst einen ungerechtfertigten Vorteil zu erzielen. Diese Personen stellen die Rechtsregeln als solche nicht in Frage, und erwarten, dass alle anderen die Regeln einhalten. Nur sie selbst, glauben sie, brauchen das nicht zu tun. Die Gefahr besteht, dass sich die Rechtsregeln als Ganzes auflösen. Die Gesellschaft muss gegensteuern. Je schwerwiegender der Regelverstoß, desto strenger sollten die Konsequenzen ausfallen.

Georgs Beobachtung nach steigen in den demokratischen Staaten die Strafmaße, die bei Rechtsverstößen gefordert und verhängt werden: Höhere Geldstrafen, längere Haftstrafen. Doch die Gewalttätigkeit der Menschen nimmt nicht ab. Doch führen lange Gefängnisaufenthalte nicht zur Einsicht der Täterinnen und Täter in ihr Fehlverhalten und oft nicht zur erwünschten Verhaltenskorrektur. Eher scheint das Gegenteil zu gelten: Je schärfer die Strafen, desto rücksichtsloser und gewalttätiger werden Personen, die Verbrechen begehen.

Georg versteht den Grund für diesen Effekt: In der gängigen Praxis erleben sich Täter:innen, die bestraft werden, nicht als Mitglied, sondern als Gegensatz zu der sie strafenden Gesellschaft. Statt sich mit dem eigenen Fehlverhalten als Mitglied der Gemeinschaft auseinander zu setzen und zu lernen, sich angemessen zu verhalten, nutzten sie ihr Potenzial, um die Strafe abzuwehren. Die Strafe als solche eskaliert das Gewaltpotenzial. So geht es also nicht. Das Prinzip ‚Strafe‘ als Mittel der Erzeugung gesetzestreuen Handeln wirkt nicht.

Hier, bei Susan, erlebt Georg, dass der Staat ein anderes Regulativ der Gesellschaft entwickelt, um die Bürgerinnen und Bürger auf dem Pfad von Tugend und Gewaltfreiheit zu halten. Er handelt streng, aber bestimmt die angemessene Strafe nach dem Konsequenzprinzip: Alles, was Du tust, sollte für Dich selbst Konsequenzen haben! Alle Personen sollen so gestellt werden, dass sie das, was sie anderen antaten, selbst so real wie möglich erleben. Der sinnige Grundsatz „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu“ wird, logisch korrekt, umgekehrt in: „Was Du einem anderen zufügst, willst Du auch dir selbst zugefügt bekommen.“ Also: Hat dein rechtswidriges Handeln für andere schlimme Konsequenzen, so erteilst du durch dein Handeln dem Staat als Träger des Gewaltmonopols gegenüber die Erlaubnis, die gleichen schlimmen Konsequenzen dir anzutun.

Für Susan, erlebt Georg in diesem Moment mit allen Sinnen, hat dieses Muster achtsamen Handelns des Staates fürchterliche Konsequenzen. Doch gleichzeitig spürt er, wie sehr ihm die Grundidee des Konsequenzprinzips einleuchtet. Wer jemandem ein Viertel des Besitzes stielt, muss ein Viertel seines eigenen Besitzes abgeben. Wer ein Auto klaut, darf viele Jahre lang kein Auto mehr besitzen und benutzen. Wer einen Brandsatz auf ein Heim für Asylsuchende wirft, verliert seine eigene Wohnung, wird aus seinem heimatlichen Wohnumfeld verbannt, wird mittellos in andere Regionen vertrieben, wo er am eigenen Leibe miterlebt, welches Schicksal Flüchtlinge haben. Und wer, wie Susan, bei einem Bankraub zwei Menschen rücksichtlos ermordet, übergibt sein Leben in die Hand des strengen Staates.

Ein solcher Rechtsgrundsatz, das ist Georg klar, führt dazu, dass Menschen gut überlegen, ob sie so behandelt werden wollen, wie sie ihre Mitmenschen behandeln. Georg erlebt, dass das Prinzip wirkt: Er findet, dass sich die Welt insgesamt bessert, wenn das Konsequenzprinzip greift. Gefängnisse als Orte des jahrelangen Straf-Vollzugs werden damit weitgehend überflüssig. Gerichte urteilen über Verantwortlichkeit von und Konsequenzen für Personen, die Verbrechen verdächtigt werden. Sofern es bei Verbrechen als konsequente Maßnahme schlüssig erscheint, werden überführte Täterinnen und Täter schwerer Straftaten in zunächst geschlossene, dann offene Wohngruppen zusammengeführt. Dort erhalten sie therapeutisch Begleitung, bis sie gelernt haben, das schädigende Verhalten durch akzeptables Verhalten zu ersetzen. Das Prinzip der Verurteilung zu einer Strafe, die die Gesellschaft verhängt, wird durch das Prinzip der Aktivierung einer logischen Konsequenz ersetzt: Die Folgen, die das Verbrechen für das Opfer hat, sollen Täter:innen eindrücklich und mit allen Sinnen erfahren.

Ein solches Vorgehen des Staates wird sich, glaubt Georg, als wirksamer Grundsatz für die Reduktion von Verbrechen und den Abbau von Gewalt in der Gesellschaft erweisen. Jedoch nur, wenn der Staat den Grundsatz konsequent praktiziert. Auch bei Mord. Als Staatsbürger muss Georg zugeben, dass die Strenge des Staates gegenüber seiner Frau richtig ist. Als Liebespartner seiner Frau fühlt sich die Strenge des Staates abgrundtief horrorhaft an. Georg spürt, wie es ihn innerlich zerreißt. Tiefe Hilflosigkeit durchdringt ihn. Für so eine Situation fehlt ihm jedes Handlungsmuster. Er spürt, er kann nur willenlos auf sich zukommen lassen, was nun auf ihn zukommt. Diese Erkenntnis lähmt seinen Verstand, seinen Geist, sein Gefühl. Jetzt, in diesem Moment, wo er vor dem Fenster steht, seine Lebenspartnerin hinter der verspiegelten Scheibe ganz nah, doch unerreichbar, in seinem Blick.

Einen Menschen hinzurichten, auch wenn dieser beim Begehen des Verbrechens um die Konsequenz seines Handelns weiß, ist keine erfreuliche Aufgabe. Doch das muss sein, wenn das Konsequenzprinzip wirken soll. Alle Welt muss erfahren, dass das passiert. Daher gestaltet der Staat Arkansas die Hinrichtungsprozedur inzwischen so um, dass das Konsequenzprinzip nicht nur für Täterinnen und Täter, sondern für die Gesellschaft als Ganzes spürbar wird.

Susan wird, weiß Georg, gemäß dieser Prozedur sterben. Das soll achtsam geschehen, in menschlicher Würde. Mit wenig körperlichen Schmerzen. Aber in Susans vollem Bewusstsein. Sie erhält jetzt im Nebenraum, ihren Sterbeort vor Augen, noch einmal Zeit und Ruhe, über ihr fehlerhaftes Verhalten nachzudenken. Georg spürt die Achtsamkeit, mit der der Staat hier mit Susan umgeht, bei aller Angst, die er ihr macht. Er merkt, das wird ihm helfen, sich empathisch in diese Frau einzufühlen, die er noch immer so sehr liebt. Im Moment kann er das noch nicht, weil er so in sich gefangen ist. Doch er wünscht so sehr, dass Susan das schafft! Sie soll sich nicht als Opfer einer sie strafenden Gesellschaft fühlen. Sondern sich ihrer eigenen Verantwortung für ihren Tod bewusst sein, wenn sie stirbt.

Hinrichtungskandidaten in Arkansas werden, gemäß des Gesetzes, zwei Tage vor dem angesetzten Sterbe-Zeitpunkt aus dem Gefängnis, in dem sie untergebracht sind, in den Todestrakt des Ministeriums für Justiz in Little Rock verlegt. Ein Arzt überprüft ihre Gesundheit und nimmt ihre Körpermaße. Sie müssen letzte organisatorische Fragen regeln, erhalten bei Bedarf religiösen Beistand und bekommen, wenn gewünscht, einen abschließenden Besuch vom Anwalt. Sie erhalten Hilfestellung, wenn sie ihren Körper schön machen wollen, und ein Abendessen ihrer Wahl. Wie es Susan gestern ergeht und wie sie sich dabei fühlt, weiß Georg von ihrem letzten Gespräch vorhin.

Denn am Morgen ihres letzten vollen Lebenstages kommt der Moment, an dem Hinrichtungskandidat:innen aus ihrem sozialen Leben Abschied nehmen müssen. Beim Frühstück, ihrer Henkersmalzeit, dürfen sie noch einmal eine nahe Bezugsperson in der Zelle empfangen. Anschließend werden sie in den Raum zur Vorbereitung auf die Exekution verlegt, in dem Susan nun angekommen ist. Kommunikation findet nun nicht mehr statt. Die Wärterinnen sprechen mit ihr nur noch über die praktischen Aspekte ihrer letzten vierundzwanzig Stunden und der anschließenden Vollstreckung des Urteils. Ansonsten schweigen sie. Susan bleibt allein mit sich selbst.

Zu Georgs großer Freude wählt Susan ihn als letzte Kontaktperson. Also reist er gestern mit dem Flugzeug aus Frankfurt über New York in Little Rock an, mietet Auto und Hotelzimmer und erscheint in der Frühe im Nebengebäude des Ministeriums. Er wird in ihre Zelle geführt und hat mehrere Stunden Zeit mit ihr. Am Ende des Abschiedsbesuch darf er sie noch einmal in den Arm nehmen, als zwei Wärterinnen sie abholen. Über eine halbe Stunde wartet Georg seitdem allein hier im Beobachtungsraum, bis Susan in Begleitung einer der beiden Wärterinnen nebenan, hinter der Scheibe, im Vorbereitungsraum erscheint. Die Zwischenzeit verbringt sie in der Dusche. Nach der körperlichen Reinigung wird ihr im Bad die einteilige, graue Ganzkörper-Bekleidung angezogen, die sie nun tragen muss. Das Kleidungsstück liegt eng an. Es hält Susans Körper warm. Es hat an der passenden Stelle eine Möglichkeit zum Öffnen, damit sie zur Toilette gehen kann.

Susans Bekleidung, findet Georg, betont Susans wohlgebauten Körper, den er so liebt. Nach dem Anlegen im Bad haben die Wärterinnen eingearbeitete Gummizüge strammgezogen. Das Oberteil schließt am Hals eng ab. Nur Susans Hände und Kopf sind frei und sichtbar. Die Rundungen ihres Leibes, so stellt Georg fest, zeichnen sich vorteilhaft ab. Die kurzen Haare sind geschmackvoll geschnitten; im fahlen Licht des Vorbereitungsraums leuchten sie blond. Trotz der unvorteilhaften Farbe des Kleidungsstücks erkennt Georg eine aufregende junge Frau.

Wie Georg eben beobachten konnte, haben die Wärterinnen Susan nach dem Eintreten in den Vorbereitungsraum zu einer an der gegenüber liegenden Wand weit geöffneten Tür geführt. Dort erblickt Susan, glaubt Georg, den eigentlichen Raum der Hinrichtung mit der inrichtungsraumRaumApparatur, auf der sie in vierundzwanzig Stunden zum Sterben festgeschallt wird. Wie magisch wird ihr Blick von der Einrichtung dieses Raumes angezogen. Georg beobachtet, wie ihr Körper in der Tür erstarrt. Von seinem Standplatz aus kann er selbst nicht sehen, wie der Hinrichtungsraum ausgestattet ist. Er kann es sich nur vorstellen.

Die zweite Wärterin kommt in den Beobachtungsraum und stellt sich neben Georg ans Fenster. Mit der Bemerkung „Das machen alle so“ wendet sie sich an ihn. Genau wie die Wärterin nebenan, die Susan begleitet, trägt sie die Polizeiuniform des Staates Arkansas. Sie hat ein kleines digitales Endgerät in der Hand, wie ein übergroßes Handy. Sie blickt ebenfalls aufmerksam durch die Scheibe. „Was ist jetzt mit ihr los? Das haben wir so nicht erwartet“, murmelt sie vor sich hin. Georg spürt ihre Nähe und ihre Wärme neben sich. Was mag sie empfinden, fragt sich Georg, beim Anblick dieser Szene?

Die Wärterin stellt sich vor: „Hi, ich bin Roxana. Die Wärterin bei Ihrer Frau ist Jill. Sie erklärt Ihrer Frau gerade, was wir morgen im Hinrichtungsraum mit ihr anstellen. Wir beide sind mit der Durchführung der Exekution beauftragt. Ich kümmere mich auch um Sie und begleite Sie bei der Prozedur.“

Zwei Henkerinnen, die im Team arbeiten! Georg atmet schwer bei dieser Vorstellung. Roxana an seiner Seite spürend, sieht er, wie Jill mit Susan spricht, die in der Tür steht. Durch die Scheibe ist nichts zu hören. Offensichtlich erläutert Jill Susan den Ablauf der morgigen Prozedur. Mehrfach schüttelt Susan den Kopf, wohl als Reaktion auf Jills Äußerungen. Schließlich wendet Susan den Blick ab. Sie tritt zurück in den Vorbereitungsraum, setzt sich auf die Pritsche und starrt mit unbewegtem Gesicht vor sich auf den Boden. Jill verschießt die Tür zum Hinrichtungsraum und lässt Susan im Vorbereitungsraum allein. Außer der Liege, einem Stuhl, einem Tisch mit Kraftriegeln, Wasser und in der Ecke des Raums ein Toilettenbecken aus rostfreiem Stahl nebst kleinem Waschbecken ist der Raum spartanisch leer. „Gut“, sagt Roxana zu Georg, „jetzt denkt sie über ihr Schicksal nach. Dafür erhält sie noch einmal vierundzwanzig Stunden in der Zelle dort drüben.“

1.2

Georg macht es sich auf einem Stuhl bequem. Unverwandt beobachtet er Susan. Viel gibt es nicht zu sehen. Eine kleine Ewigkeit lang bleibt Susan reglos auf der Pritsche sitzen. Plötzlich nimmt Georg Lebenszeichen wahr. Susan hebt ihren Kopf, schaut sich um, bewegt sich. Sie steht auf und geht zielstrebig zur Toilette. Georg sieht, wie sie im Bereich, in dem sonst ihr Schlüpfer sitzt, an ihrer Kleidung nestelt. Nach mehreren Versuchen öffnet sich eine Art Klappe und gibt den Schambereich frei. Nun kann Susan die Toilette nutzen. Sie lässt sich alle Zeit der Welt. Dann reinigt sie sich, spült, säubert die Toilette mit der bereitstehenden Bürste, wäscht ihre Hände und kehrt zur Liege zurück.

Susan setzt sich im Lotussitz auf die Pritsche, die Beine übergeschlagen, den Rücken durchgedrückt, den Kopf aufgerichtet. ‚Schneidersitz’ nennt Georg diese Körperhaltung. Seine Frau nutzt diese Haltung nicht zur Meditation, sondern zum konzentrierten Nachdenken. Das kennt er von zuhause: Meistens arbeitet Susan im Homeoffice am Schreibtisch auf einem speziellen Hocker. Er hält ihre Wirbelsäule beweglich. Manchmal nimmt sie ihre Papiere und trägt sie zum Sofa im Wohnzimmer. Dort sitzt sie gern im Lotussitz. Die Sitzhaltung, erklärt sie, dehnt die Beinmuskulatur und aktiviert den Bereich der Lendenwirbelsäule. Diese Körperhaltung unterstützt mein Denken, pflegt sie zu sagen.

Jetzt fehlt nur noch die Lesebrille, sinniert Georg. An ihrem dreißigsten Geburtstag kommt Susan mit einem kleinen Berg an Lesebrillen aus dem Drogeriemarkt nach Hause. „Brauche ich jetzt“, verkündete sie und verteilt des Vorrat in der Wohnung. Eine am Schreibtisch, eine im Wohnzimmer, eine in ihrem Office-Rucksack, eine am Bett. Beim konzentrierten Arbeiten trägt sie von da an eine der Brillen.

Georg wird es stets warm ums Herz, wenn er Susan mit diesen Lesebrillen auf der Nase sieht. Die Brille zeigt ihm, sie denkt nach, in sich versunken. Fragt er sie, ob sie einen Kaffee will, löst sie sich aus ihren Überlegungen und lächelt ihn mit ihren braunen Augen über den oberen Rand der Brille an. Niedlich; Georg mag das sehr. Eine warme Erinnerung an frühere Zeiten. Schade, jetzt trägt sie, im Nebenraum, keine Brille beim Nachdenken – warum auch, denn sie hat ja dort nichts zu lesen.

Auch für Georg sind die Stunden im Beobachtungsraum eine Zeit des Nachdenkens. Nun sitzt er hier und wartet darauf, Zeuge der Hinrichtung seiner großen Liebe zu werden. Vor vier Jahren heiratet er sie nichtsahnend. Von den zwei Morden, die Susan vor ihrer gemeinsamen Zeit begangen hat, erzählt sie ihm nichts. Von der Todesstrafe, die ihr droht und ihn morgen zum Witwer machen wird, verliert sie kein Sterbenswörtchen, als sie ihm in Mannheim über den Weg läuft. Mehr noch als ihr erfreuliches Aussehen lockt ihn die Lebendigkeit an, mit der sie rasch sein Herz gewinnt.

Die Frau, in die Georg sich verliebt, trägt blonde, kurz geschnittenen Haare, ist mittelgroß, verfügt über kräftige Schultern und tatkräftig wirkende Arme, hat ein gebärfreudiges Becken und einen großen Busen – voll Georgs Format. Lustig, geistreich, schlau, kompetent, zielstrebig zeigt sie sich in allem, was sie erreichen will. Die ideale Frau nicht nur für eine Nacht, sondern für ein gemeinsames Leben, Seite an Seite. Ihre Mutter ist Deutsche. Sie spricht gut Deutsch. Georg spricht berufsbedingt oft Englisch. Ihre Beziehung wird zweisprachig.

Sie verstehen sich gut. Georg interessiert sich weniger für Susan Vergangenheit als für ihre gemeinsame Zukunft. Die geht morgen nun definitiv zu Ende. Susan hat keine Rechtsmittel eingelegt, die Vollstreckung der Hinrichtung zu verzögern. Eine Begnadigung in letzter Minute ist nicht zu erwarten. Morgen wird der Strom eingeschaltet. Georg hat daran keinen Zweifel, ebenso wenig die neben Georg am Fenster stehende Wärterin.

Das Anfang vom Ende sind zwei Beamte der Kriminalpolizei, die vor knapp acht Monaten vor ihrem Haus in Mannheim erscheinen. Es ist Januar. Friedvolle Weihnachtstage und eine rauschende Silvesterparty im Freundeskreis sind verflogen. Die Arbeit in Susan Wirtschaftsprüfungskanzlei und in Georgs Maschinenbauunternehmen läuft wieder an. Beide sind an diesem Tag im Homeoffice. Die Polizeibeamten verhaften Susan und führen sie in Handschellen ab. Sie erklären dem verdutzten Georg, Susan werde in den USA wegen zweifachen Mordes gesucht. Der Auslieferungsantrag sei zweifelsfrei berechtigt und schon genehmigt. Also wird Susan, da amerikanische Staatsbürgerin, gleich nach Frankfurt überstellt und in den nächsten Flieger gesetzt. Gemäß internationaler Übereinkunft finde der Prozess in dem Staat des Verbrechens statt. Alle weiteren Fragen solle Georg bitte an die zuständigen Behörden in Arkansas richten.

Seit diesem Tag sieht Georg Susan nur noch selten. Vor dem Prozess jettet er zweimal zu einem Besuch nach Newport, wo sie einsitzt. Er trifft sie hinter einer Glasscheibe. Ein paarmal tauschen sie sich per Videocall aus, unter Aufsicht. Sie reden über ihren Alltag, als sei Susan beruflich auf einer längeren Mission in den Staaten unterwegs. Georg fühlt sich unfähig, die Zukunft ihrer Beziehung anzusprechen. Auch Susan umgeht die Frage geflissentlich. Sie plaudert, als sei alles in bester Ordnung.

Zum Prozess fliegt Georg noch einmal nach Newport. Er beobachtet Susan von der Zuschauertribüne aus. Doch sie schenkt ihm keine Aufmerksamkeit. Nach dem Urteil lässt sie durch ihre Anwältin ausrichten, sie wolle ihn nicht mehr treffen. Frustriert kehrt Georg nach Mannheim zurück. Ihn plagen Skrupel wegen der vielen Treibhausgase, die seine ziemlich sinnlosen Flugreisen verursachen. Keinen Körperkontakt, keine Umarmung, nicht mal mehr einen Kuss kann er seit ihrer Festnahme mit ihr austauschen. Bis heute Morgen, bei seinem Abschiedsbesuch in ihrer Zelle.

Inzwischen weiß Georg Bescheid. Vor fünf Jahren überfällt Susan zusammen mit ihrem älteren Bruder Nico eine Bank in einem Vorort von Little Rock, der Hauptstadt von Arkansas. Der klassische Bankraub ist aus der Mode gekommen. In der Bank werden die Sicherheitsregeln lax gehandhabt. Susan fährt das gestohlene Motorrad und wartet dort. Nico stürmt in die Bank. Wenig später taucht er mit einem Sack voller Beute wieder auf und eilt zum Motorrad. Hinter ihm her stürzen zwei Männer aus der Bank, Waffen in der Hand. Bevor sie schießen können, zieht Susan ihre Pistole aus dem Tankrucksack. Sie feuert zweimal. Die beiden Männer gehen zu Boden, tödlich getroffen. Susan startet die Maschine. Der Bruder schwingt sich auf den Beifahrersitz. Die Geschwister flüchten mit dem Motorrad.

Dank Helm und Kombi sind die beiden nicht gleich zu identifizieren. Susan gelingt die rasche Flucht nach Deutschland. Nico wird ein paar Wochen später an der Grenze nach Mexiko gefasst. Im Prozess wird ihm der Mord an den beiden Bankmitarbeitern zur Last gelegt, auch wenn seine Schwester die Schüsse abgibt. Das Todesurteil gegen Nico wird sieben Monate nach der Festnahme vollstreckt. Hier, In diesen Räumlichkeiten, wo Georg nun darauf wartet, dass Susan das gleiche Schicksal ereilt.

Der Gedanke an Nico bringt Georg wieder ins hier und jetzt. Als er sterben muss, sind Susan und er längst ein Paar. Sie muss davon gewusst haben, denkt er, während sein Blick auf ihrem Körper nebenan im enganliegenden Büßergewand ruht. Bestimmt wühlt sie die Vorstellung bis ins Innerste auf. Doch sie verheimlicht ihm den gewaltsamen Tod ihres Bruders. Und jetzt ereilt sie das gleiche Schicksal. Die Hinrichtungsmaschine wird ihren Leib mit Todesfolge vergewaltigen. Irgendwie erregt ihn diese Vorstellung. Plötzlich spürt er auch die Anwesenheit der Wärterin neben sich sehr physisch, die wohl mehr auf ihn als auf Susan aufpasst. Kein Wunder, dass seine Gedanken zur körperlichen Seite seiner Beziehung mit Susan wandern. Bei ihrem finaler Akt morgen wird er sie nackt und hilflos erleben.

Jetzt, beim Blick durch die Scheibe, ist Georg noch erfüllt von ihrer letzten Begegnung. Vorhin, noch in Susans Zelle. Susan kuschelt sich an ihn an. Sie spricht über ihre Ängste vor der Hinrichtung. Ihre Aufregung, ihr Stress und ihre Angst sind nicht nur zu hören, sondern auch zu spüren und mit der Nase wahrnehmbar. Ihr Körper fühlt sich weich und warm an. Wie lang hat Georg Susan nicht mehr gespürt! Auch heute sind ihre kurzen blonden Haare sportlich geschnitten. Das Werk einer guten Friseurin, die sie gestern noch in ihrer Zelle aufsuchen durfte. Susan trägt keinen Schmuck, doch eigene Kleidung. Ein blaues T-Shirt, darunter einen Sport-BH, und dunkle Jeans. Sandalen kleiden ihre nackten Füße.

Und Susans Duft, den Georg so sehr liebt! Zwar nicht ihr Parfum, das Georg so vertraut ist. Das hat Susan hier wohl nicht, denkt Georg. Nein, so tritt der Duft nach ihr selbst deutlicher hervor. Das T-Shirt ist frisch. Trotzdem zeichnet sich schon Schweiß unter ihren Armen ab. Offensichtlich ist sie aufgeregt. Na klar, bei den Umständen! Feucht unter den Armen. Ihr Duft an Kopf und Brust erregt Georg. Er kann nicht anders, als mit der Nase immer näher an die Stellen vorzudringen, wo dieser Duft seine Quellen hat. Er muss sich regelrecht zwingen, den nachdenklichen Worten seiner Frau zu folgen, so sehr lenkt ihn dieser Duft ab.

Ja, Georg steht dazu! Der Duft, den Susan unter Stress entwickelt, erregt ihn stark. Diesen Duft bringt sie mit, wenn sie nach anstrengenden Kundengesprächen oder anspruchsvollen Verhandlungen in der Leitung ihrer Kanzlei erschöpft nach Hause kommt. Wenn sie sich so richtig verausgabt hat. Am liebsten will er dann gleich mit ihr ins Bett. Er mag es so sehr, sie vor dem Liebesakt von oben bis unten abzuschnüffeln, um diesen aufregenden Duft in sich aufzunehmen. Doch Susan bevorzugt nach der Arbeit die Dusche und ein gemeinsames Abendessen, bevor es – vielleicht – an das Liebesleben geht. Zum Glück hat Georg ein paar Tricks, sie trotzdem zu verführen, gleich ein bisschen mit ihm zu kuscheln, bevor sie den guten Duft, der ihn so glücklich macht, wieder abwäscht.

Eine ebenso erfreuliche Variante ihres aufregenden Dufts bildet sich bei Susan, wenn sie mit ihrem Motorrad unterwegs ist. Susan, die passionierte Fahrerin, kauft sich in Deutschland ein Elektro-Bike. Eine sportliche Maschine. Das Motorrad stinkt nicht, macht keinen Lärm, beschleunigt aber in vier Sekunden von null auf hundert. Damit kurvt sie gern durch die Berge des Frankfurter Umlandes, Georg auf dem Sozius.

Ob es an der Sonne auf dem Integralhelm oder an der Dichtigkeit der Motorradkombi liegt: Wenn Susan nach der Tour den Helm absetzt, so hält sich ihr Duft im Inneren des Helms noch mehrere Tage. Heimlich – sie soll das nicht wissen – steckt Georg manchmal seine Nase hinein. Dann fühlt er sich Susan körperlich und seelisch ganz nahe. Wenn Susan, nach einer ausgiebigen Tour, die Verschlüsse ihrer Kombi öffnet und sich bis auf die Sportunterwäsche der Schutzkleidung entledigt, wird ein etwas anderer Duft frei, der, vom Körper kommend, süßer riecht als ihr Duft aus den Haaren. Susan beim Ausziehen ihrer Klamotten zuzusehen weckt bei ihm heftiges Begehren. Sie dazu zu kriegen, nicht gleich unter die Dusche zu hüpfen, sondern sich von ihm in den Arm nehmen und umwerben zu lassen, ist eine der großen Herausforderungen in Georgs Liebesleben.

Georg findet es selbst etwas merkwürdig, wie sehr hier, vor der Einwegscheibe stehend, seine Gedanken so sehr um Susans Körperlichkeit kreisen. Susan ist in höchster Not und Pein, und er phantasiert über ihren Body, tadelt er sich. Andererseits, denkt er, seit acht Monaten hat er sie nicht mehr gespürt, gefühlt, angefasst, ihre Nähe erlebt. Seit acht Monaten sehnt er sich nach ihrer Liebe. Und diese fließt, so ist Georg eben veranlagt, von Susans Körper zu seinen Sinnen. Ihre Stimme, ihre Berührung, ihr Blick, ihre Haut, ihre Zärtlichkeit, ihre Pracht, ihr Atem, ihr Duft. Jetzt sieht er sie nebenan. Durch die Glasscheibe getrennt. Für ihn unerreichbar. Eine Art Silhouette, als Objekt der Anregung seiner Nähe-Fantasien.

Mit seinem realen Erleben ihrer Körperlichkeit, kommt Georg in den Sinn, ist es nun definitiv vorbei. Obwohl, vielleicht ist das Büßerhemd, so eng, wie es anliegt, ein guter Raum für Duftbildung? Was mag Susan in diesem Moment denken? Was mag sie fühlen? Was geht in ihr vor? Schwitzt sie gerade vor Angst? Stress hat sie mehr als genug, wie er weiß. Vielleicht läuft die Duft-Produktion ja in Vollbetrieb? Die Chance, das zu überprüfen, liegt leider außerhalb aller Möglichkeiten für Georg. Im Moment bleibt ihm nur die Fantasie – schräg, gewiss, angesichts seiner Situation, doch sehr lebendig. Vielleicht sogar abartig. Teure Duftwasser gelten als o. k. Doch mit Lust zu riechen, was aus dem Körper der Partnerin austritt, wenn sie sich aufregt, sich anstrengt, Emotionen erlebt, unter Stress steht? Gilt das nicht als unnormal? Aber nicht bei ihm! Er steht dazu. Er ist eben so veranlagt.

Susan selbst ist in dieser Hinsicht seltsam widersprüchlich. Georg bemerkt durchaus, dass sie unauffällig die Nase in seine getragenen T-Shirts steckt, so wie er seine in ihren Integralhelm. Doch Susan selbst tritt gerne frisch wie der junge Morgen auf. Ihre Körperdüfte aller Art entfernt sie stets so rasch wie möglich. Sie lacht, wenn Georg sagt, er liebe ihren Duft, weil er ihn anmacht. Wahrscheinlich glaubt sie, er sage das nur, damit sie sich nicht schlecht fühlt, wenn sie doch mal nach Schweiß riecht.

Georg spürt, wie diese körperbezogenen Gedanken ihn mehr und mehr erregen. Am liebsten würde er mal eben onanieren. Vom Duft zum Sex ist eben nur ein kleiner Schritt, auch und gerade in der Fantasie. Was soll er denn hier machen, als sich in Tagträumen zu ergehen? Seine Vorbereitung auf den morgigen Tag ist doch, dass er ein paar wichtige Elemente seines Lebens gedanklich überarbeitet. Mit Susans morgigem Tod endet für Georg in ersten Linie seine Liebesbeziehung. Da ist es doch korrekt, sich damit gedanklich zu befassen, oder?

Ihr Liebesleben war aufregend. Susan liebt Sex. Georg ist dabei oft ein wenig langsam. Manchmal ist der Liebesakt vorbei, bevor seine erotische Lust so richtig erwacht ist. Er braucht mehr Zeit, zum Höhepunkt zu finden. Susan ist oft schneller und reißt ihn mit ihrer Dynamik mit. Aus ihrer Sicht klappt es also prima. Georg glaubt, seine geheimen Wünsche nach mehr Zärtlichkeit vor dem Beischlaf sind ihr gar nicht bewusst – im klassischen Männlein-Weiblein-Verhältnis ist es ja eher andersherum.

Als ihm jetzt an seine geheimen Wünsche in den Sinn kommen, erinnert er sich daran, wie es sich für ihn anfühlt, dass sie so wenig auf seine Wünsche eingeht. Nicht nur beim Sex. Sie ist doch seine Partnerin? Darf er nicht erwarten, dass sie ihm dann und wann seine Wünsche von den Augen abliest? Und sie erfüllt, einfach weil es seine Wünsche sind? Machen Frauen das nicht gelegentlich, ihren Männern zuliebe? Nicht gezwungenermaßen, getrieben von patriarchaler Gewalt? Sondern freiwillig, aus eigenem Wollen und eigener Lust heraus? Georg spürt eine Mischung aus Trauer und Hilflosigkeit. Ein wenig fühlt er sich wie ein verlassenes Kind, wenn solche Gedanken in ihm aufsteigen.

Georg findet Susans Umgang mit seinen Wünschen merkwürdig. Denn in den Beziehungen seiner Freunde läuft es offensichtlich anders. Sofern er den Worten seiner Geschlechtsgenossen Glauben schenken darf, zeigen dort die Frauen mehr Einfühlsamkeit in die Bedürfnisse ihrer Partner. Warum folgt Susan seinen Wünschen so wenig? Das fragt sich Georg immer wieder, auch in diesem Moment, wo er vor der Fensterscheibe steht und seine im Lotussitz entrückt wirkende Partnerin beobachtet.

Manchmal, glaubt Georg, es fehle Susan an Empathie, so dass sie seine Wünsche gar nicht wahrnimmt. Aber, sie ist doch schlau, zeigt ansonsten ein hohes Auffassungsvermögen und sieht doch sonst alles. Kennt sie also seine Wünsche, kümmert sich aber absichtlich nicht darum? Für ihn kommt es auf dasselbe hinaus: Er muss sie allzu oft bitten, überreden, ja sogar überlisten, damit sie seinen Wünschen folgt. Liegt das an ihrer Empathie-Unfähigkeit oder an ihrem Eigensinn? Oder an einer Mischung von beidem? Er weiß es bis heute nicht und kommt zur Einsicht, dass er trotz seiner wunderbaren Liebesbeziehung für sich selbst sorgen muss, wenn er nicht zu kurz kommen will.

Georg größter Wunsch ist, dass Susan ihm Zeit gibt, ihren Körper zu erkunden und zu genießen. Am liebsten ist ihm, wenn sie sich nackt aufs Bett legt, stillhält, ihn machen lässt. Doch ihrer Veranlagung entsprechend wird sie rasch aktiv und übernimmt die Initiative beim Sex. Daher wachsen Georgs Fantasien, seine Sex-Partnerin auf dem Bett zu immobilisieren. Wenn sie gefesselt wäre, könnte er sich ihr in aller Ruhe zuwenden. Dann hätte er alle Zeit, die er braucht, um sie zärtlich zu liebkosen – ohne nagende Sorge, sie könne vorschnell die Initiative übernehmen.

Georg möchte sich eben gerne ausgiebig mit Susan Körper beschäftigen, an ihm schnuffeln, sie streicheln, saugen, ihre Körperlinien mit der Hand nachzeichnen. Doch sie ist so aktiv und gibt ihm nur selten die Gelegenheit. Also träumt er heimlich davon, sie zu fesseln. Denn dann bliebe sie ruhig und könnte sich ihm nicht entziehen. Dann käme sie gar nicht auf die Idee, von sich aus so rasch durchzustarten, wie es ihr Ding ist.

In seiner Fantasie kann Georg hören, wie seine gefesselte Partnerin vor Wollust tief atmet und leise stöhnt. Wie die Erregung in ihr wächst. Wie gerne möchte er das miterleben! Gerne streichelt er hingebungsvoll ihre Füße, arbeitet sich dann langsam bis zu ihrer Scheide vor! Dann ist er soweit! Dann will er die Fesseln lösen! Dann darf Susan in ihrer Art aktiv werden, und sie haben großartigen Sex.

Georg geht es in seinen Fessel-Fantasien nicht darum, Susan zu dominieren. Nein, ganz im Gegenteil: Die Machtbalance in ihrer Beziehung ist stimmig. Wenn er selbst auch so weit ist, liebt Georg Susans stürmische, manchmal sogar grenzüberschreitenden Aktivität beim Sex. Die Fesseln stellt er sich als Mittel vor, ihre verschiedene sexuelle Identität gemeinsam ausleben zu können. Sie soll stillhalten, bis er genügend Gefühle tanken kann! So still, wie sie jetzt nebenan im Lotussitz sitzt. Wunderbar! Daran, wie sie dasitzt, kann er sich gar nicht sattsehen! Diese Intensität des Lebens in der Gegenwart, die sie ausstrahlt. Wie gerne wäre er in ihrer nächsten Nähe! Soll sie ruhig so sitzenbleiben!

Georg ist sich bewusst, dass seine erotischen Wünsche widersprüchlich sind. Vorsichtig hat er das Gespräch auf Fesselspiele gebracht. Doch Susan will nicht anbeißen. Immerhin kann er sie dazu bewegen, beim Sex ihren Motorradhelm zu tragen. Tatsächlich geht Susan, solange sie im Bett den Helm trägt, viel stärker als zuvor in eine passiv-hinnehmende Haltung. Das öffnet für Georg erfreuliche erotische Spielräume. Der Anblick von Susans Kopfs, der fest im Helm steckt, in Verbindung mit ihrem Schweißduft, den sie im Sommer auf der Maschine entwickelt, bringt Georg gewaltig in Fahrt. Diese braunen Augen, die ihn durch den Sehschlitz erwartungsvoll ansehen! Besonders aufregend, wenn er das Visier herunterschiebt! Manchmal ist Susan so lieb und legte sich erst mal, den Helm auf dem Kopf, sonst nackt, ruhig aufs Bett. Mit leicht gespreizten Beinen, die Hände oberhalb ihres Kopfs gefaltet, dass ihre Achseln frei zugänglich sind und der Busen aufgerichtet ist. Traumhaft, diese Frau!

Wenn Susan diese Haltung einnimmt, kann sich Georg hemmungslos an ihrem Körper berauschen. Er liebkost sie zärtlich, Susan genießt seine Leidenschaftlichkeit. Georg schwimmt in ihrem Wohlgeruch, der von Achseln und Busen aufsteigt, blickt tief in ihre vom Helm umrahmten braunen Augen des ansonsten vollständig verdeckten Kopfs. Er kann sehen, wie der Riemen des Verschlusses den Helm in Position hält und sich dabei aufregend in die Haut ihres Kinns eingräbt. Er spürt ihren Atem, der aus den Schlitzen der Belüftung strömt – wunderbar, der Himmel auf Erden! Erst wenn er den Riemen löst und ihr vorsichtig den Helm abnimmt, wird sie aktiv, hebt die Hände, streichelt seine Brustwarzen, erst sanft, dann fest, umklammert seinen Hintern mit ihren Beinen, schlingt sich mit ihrem ganzen Körper um ihn, und sie kommen gemeinsam zu einem berauschenden Orgasmus.

Gern würde Georg auch mal ausprobieren, wie es sich anfühlt, sie in ihrer Ruheposition aufs Bett zu schnallen. Er würde er sich ihr mit voller Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit zuwenden. Befreien würde sie erst, wenn es so weit wäre. Warum er diese Fantasie hat, ist ihm nicht klar, denn eigentlich bekommt er ja auch so alles, was er will. Die fixe Idee brennt in ihm, dass er sich, solange ihr Leib im Liegen mit Fesselgurten festgeschnallt ist, noch hingebungsvoller mit ihrem Körper beschäftigen kann. So würde er sie gerne sehen und nehmen.

Nagt die männliche Urangst in Georg, die Partnerin könnte sich ihm plötzlich entziehen und so seinen erotischen Flow zerstören? Das ist irrational, ist Georg klar, denn sein eigentliches Problem ist damit nicht gelöst, sie erst mal aufs Bett zu locken, wenn sie ihren verführerischen Duft mitbringt. Oder ist es die Hilflosigkeit seiner Partnerin im gefesselten Zustand, die ihn anspricht? Je hilfloser er sie erlebt, desto stärker entflammt sein Sexualtrieb? Sie ist zur Passivität verdammt, und er kann mit ihr tun und lassen, was er will? So lange, bis er sie wieder befreit? Doch auch das ist wenig rational, denn für den Höhepunkt der Session braucht er die volle Aktivität seiner Partnerin; dabei stören Fesseln bloß!

Eines Tages, ganz überraschend, lässt Susan sich auf Fesseln ein. Versuchsweise, wie sie sagt. Er bastelt lange an einer Konstruktion, sie in seiner Lieblingsposition zu fixieren, mit Hilfe von mehreren Gurten. Sie willigt ein, sich festschnallen zu lassen. Für das Fessel-Experiment nutzen die schwarz gepolsterte Gymnastikliege in Susans Arbeitszimmer. Susan legt sich nackt in Rückenlage darauf. Sanft spreizt Georg ihre Beine. So fixiert er sie mit Gurten an den Knöcheln am Rahmen der Liege. Er ergreift ihre Arme und führt sie mit mäßigem Druck nach oben. Susan leistet keinen Widerstand. Sie verschränkt die Arme über dem Kopf. In dieser Haltung darf Georg ihre Handgelenke an der Liege festschnallen. Zwei weitere Gurte spannt er eng über ihren Brustkorb, unterhalb des Busens und über ihrem Becken.

Nur den Kopf kann Susan noch bewegen. Mit ihren Augen, aber wortlos, folgt sie Georg aufmerksam, als er sie fesselt. Georg tritt einen Schritt zurück und betrachtet seine Frau, wie sie da liegt. Ein aufregendes Bild, sie so hilflos zu sehen. Heftige Erregung und Lust durchströmen Georg. Er beugt sich über sie und will beginnen, Susan zu streicheln. Sie riecht gut, feucht, etwas aufgeregt, so wie Georg es liebt. Doch bevor er zärtlich werden kann, erfasst Susan ein totaler Horror. Sie beginnt heftig zu weinen. Sie fleht Georg an, sie augenblicklich wieder zu befreien.

Natürlich kommt Georg Susans Wunsch nach. Susan setzt sich auf die Liege, schluchzt hemmungslos und verlangt, er solle sich von ihr fernhalten. Später beruhigt sie sich und erklärt: „Ich kann das nicht. Es liegt nicht an Dir. Mein Vertrauen zu Dir ist grenzenlos. Aber der Verlust meiner körperlichen Freiheit weckt Erinnerungen an gewisse Horrorszenen in meinem Leben, denen ich mich kaum entziehen kann. Ich halte gerne beim Sex still und lasse Dich machen, solange Du willst. Aber meine körperliche Freiheit kann ich nicht aufgeben.“

Über Georgs Tagträume vergeht die Zeit. Nun, hier im Vorbereitungsraum, begreift Georg, was Susan hindert, sich auf seinen Wunsch nach Fesselspielen einzulassen. Für ihn ist der Einsatz von Fesseln beim Sex ein Mittel der Luststeigerung. Warum es nicht nutzen, wenn volles Vertrauen zum:r Partner:in besteht? Für Susan wecken Fesseln tiefrührende Ängste, die Georg hier, in diesem Raum, nur zu gut nachvollziehen kann. Georg versteht: Wenn jemand, wie Susan, Ängste in sich trägt, die er oder sie nicht in den Blick nimmt und konstruktiv bearbeitet, sondern so gut wie möglich verdrängt, so sind Fesseln alles andere als sexy. Wenn im Hintergrund der Tod auf dem elektrischen Stuhl lauert.

Wie kommt es, fragt sich Georg beim Blick auf seine still und konzentriert auf der Liege im Nachbarraum sitzende Frau, dass meine Gedanken in diese Richtung wandern? Denn er war und ist in der Liebesbeziehung auch ohne diese Hilfsmittel der Lustverstärkung glücklich. Er kann seine Partnerin auch mit Worten zur Befriedigung seiner Wünsche verführen. Die Fesselfrage ist im Grunde genommen nebensächlich. Nebensächlich für ihn, Georg – aber, wie er nun spürt, keineswegs für Susan. Eben hat sie, im Nachbarraum, den Platz gesehen, an dem sie morgen hilflos sitzen muss. Ihre Angst vor dem Festschnallen ihres Körpers auf dem Stuhl vereinigt sich mit der Angst vor dem Sterben auf diesem Gerät. Er konnte damals, in seiner Liebe zu ihr, auf das Fesseln verzichten, obwohl es sein Begehren war. Als ihr Partner konnte er Susans Wunsch folgen. Die Henkerinnen werden morgen ihrem Wunsch nicht folgen. Sie können auf das Fesseln nicht verzichten. Das wird Susan mega-heftig zusetzen!

Eine große Uhr tickt im Vorbereitungsraum leise vor sich hin. In Susans Raum gibt es keine Uhr. Offensichtlich lassen sie Susan, schlussfolgert Georg, über das Verrinnen ihrer letzten Stunden im Unklaren. In beiden Räumen brennt schwaches künstliches Licht, vierundzwanzig Stunden lang.

Nach einer kleinen Ewigkeit nimmt Georg wahr, dass Susan im Schneidersitz sich regt, ihre Gelenke streckt und dehnt, aufsteht, sich lockert und, noch einmal, die Toilette aufsucht. Nun hantiert sie schon recht routiniert mit ihrem ungewohnten Kleidungsstück. Auf der Edelstahlschüssel sitzt sie lange mit nachdenklichem Gesichtsausdruck. Schließlich betätigt sie den Abzug und schwingt die Bürste.

Zurück von der Toilette setzt sich Susan auf den Rand der Liege. Sie verzehrt langsam und aufmerksam einen Müsliriegel aus dem Paket, das in Griffweite bereitsteht. Sie gießt sich Wasser aus einer Flasche in einen Metallbecher. Sie trinkt das Wasser Schluck für Schluck, im Wechsel mit ihren Bissen in einen zweiten Müsliriegel. Nach der kleinen Mahlzeit legt sich Susan auf die Liege und deckte sich mit einer dünnen Decke zu. Sie macht einige Bewegungen mit Armen und Beinen. Deren Sinn kann Georg nicht entschlüsseln. Endlich kuschelt sie sich gemütlich ein und schließt die Augen.

„Sie können sich auch gerne hinlegen, wenn Sie mögen“, sagt die Wärterin zu Georg. „Ich bleibe sitzen, denn ich muss die ganze Zeit wach bleiben.“ Susan im Vorbereitungsraum zeigt keine Regung. Schließlich folgt Georg dem Angebot. Auch für ihn steht hier im Raum eine Liege. Eine leichte Decke liegt bereit, zur Wärme im Raum passend. Schwebende Müdigkeit breitet sich in Georgs durch seine Erinnerungen erregten Körper aus. Seine Gedanken wechseln von der Vergangenheit zur Zukunft. Zu morgen. Wie wird es für ihn sein, seine Liebe auf dem Hinrichtungsstuhl sitzen zu sehen?

Und wie, vor allem, denkt Georg, wird es sich für Susan anfühlen? Dort festgeschnallt zu werden, obwohl der Verlust der körperlichen Freiheit schrecklich ist? Jetzt, wo der Horror Wirklichkeit wird, den sie schon so lange in sich trägt? In nacktem Zustand, abgesehen von den Gurten, die ihren Körper fixieren, und den Elektroden, die der Zuführung des tödlichen Stroms dienen? Warten, bis es so weit ist, die Prozedur beginnt und allmählich der Tod eintritt? Die Augen der Beobachtenden im Zeugenraum auf sie gerichtet. Darunter Zuschauerinnen, die wahrscheinlich voller Lust darauf warten, diesem körperlichen Ereignis beiwohnen zu dürfen? Bei der Prozedur gefilmt, damit es bei Diskussionen über Sinn oder Unsinn der Todesstrafe Anschauungsmaterial gibt? Wird demnächst im Internet das Video der morgigen Hinrichtung auftauchen? Kann über kurz oder lang jeder, der es will, den Mitschnitt von Susans horrorhaften Sterben im Internet finden, der es darauf anlegt?

1.3:

Georg gelingt es nicht, auf seiner Liege Ruhe zu finden. Seine Gedanken kreisen, beflügelt durch seine Müdigkeit, durch die Situation, in er der hier ist. Nun ist er mittendrin in dem Geschehen, vor dem er sich so sehr gefürchtet hat. Es ängstigt ihn auch weiterhin, wie er im Liegen nun wahrnimmt. Er fühlt sich zerrissen zwischen seinen Eindrücken von dieser unwirklichen Örtlichkeit, zwischen seiner Empathie für seine nebenan ihrer schrecklichen Lage ausgelieferten großen Liebe und zwischen der eigenen Unfähigkeit, eine Strategie zur Bewältigung des auf ihn zurollenden Geschehens zu finden. Susan ist ihm sehr nahe, und doch ist sie für ihn nicht zu greifen. Morgen wird ihr Körper vom Leben zum Tode befördert. Unablässig kreisen seine Gedanken um dieses Ereignis. Er findet keine Ruhe.

Noch vor acht Monaten lebt er mit Susan wie ein junges Liebespaar das Glück ihrer Beziehung, alle Facetten des Lebens zuversichtlich im Blick. Susans plötzliche Verhaftung zerreißt die Gemeinsamkeiten ihrer seelisch-geistigen Beziehung jäh. Während Susan Untersuchungshaft dürfen sie sich einmal im Monat per Videokonferenz treffen, stets unter Aufsicht einer Wärterin. Zweimal macht er sich auf den weiten Weg nach Arkansas und besucht sie im Gefängnis. Beide vermeiden geflissentlich, die Frage anzustellen, wie es um ihre Zukunft als Paar steht.