Swami Vivekananda - Gabriele Ebert - E-Book

Swami Vivekananda E-Book

Gabriele Ebert

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Beschreibung

Narendra Datta, der spätere Swami Vivekananda (1863-1902), war der bekannteste Schüler Ramakrishnas. Von Kindheit an war er sehr lebhaft, talentiert in allen Bereichen und entwickelte sich zu einem wahren Dynamo und Anführer, der unaufhörlich für seine Sache brannte. So wurde seine Begegnung mit Ramakrishna zu seinem Schicksal. Ohne diese herausragenden Eigenschaften wäre es ihm nicht möglich gewesen, den Grundstein für die weltweite Organisation des Ramakrishna-Ordens und der Ramakrishna-Mission zu legen und die Botschaft Ramakrishnas und den Vedanta in den Westen zu bringen. Er war von ganz anderem Naturell als der eher beschauliche Ramakrishna mit seinen Visionen und Ekstasen. Ramakrishna erkannte von Anfang an sein Potential und förderte ihn. Vivekananda wurde nur 39 Jahre alt, was insofern nicht verwundert, da er sich ständig völlig verausgabte und auf seine Gesundheit keine Rücksicht nahm. Was er in diesen wenigen Lebensjahren geleistet hat, ist enorm. Wenn man sich mit ihm befasst, wird man unweigerlich in den Strudel dieser kraftvollen Persönlichkeit hineingezogen. Er war zweifelsohne jemand, mit dem zu beschäftigen sich in vieler Hinsicht lohnt. Zusätzlich zu der kürzeren Biografie in dieser Reihe gibt es noch eine ausführlichere Biografie von derselben Autorin: Vivekananda: Die große Biografie.

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Seitenzahl: 364

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Geburt und Kindheit

Die Studentenzeit

Bei Ramakrishna

Der Schicksalsschlag

In Shyampukur und im Gartenhaus von Cossipore

Im Baranagore-Math

Die Wanderjahre in Nordindien

Wanderschaft im Himalaya und im historischen Rajputana

In West- und Südindien

In Madras und Khetri

Die Reise nach Chicago und die Zeit vor dem Parlament der Weltreligionen

Das Parlament der Weltreligionen

Vortragsreise in Amerika

Das neue Zentrum in New York

Der Sommer im Thousand Island Park

In Europa

Wieder in Amerika

Zurück in London

Ferien in der Schweiz und Reise durch Deutschland

Mit Abhedananda in London

Auf dem Weg zurück nach Indien

Durch Ceylon und Südindien

Zurück in Bengalen

In Nordindien und im Math

Mit den westlichen Schülerinnen in Almora und Kashmir

Der neue Math in Belur

Die zweite Reise in den Westen

Von Paris nach Kairo

Im Belur-Math und im Advaita Ashram in Mayavati

In Ostbengalen und im Math

Die letzten Monate

Mahasamadhi

Chronologie

Glossar

Literaturverzeichnis

Einleitung

Narendra Datta – der spätere Swami Vivekananda – ist der bekannteste Schüler Ramakrishnas. Von Kindheit an war er sehr lebhaft, talentiert in allen Bereichen und entwickelte sich zu einem wahren Dynamo und Anführer, der unaufhörlich für seine Sache brannte. So wurde seine Begegnung mit Ramakrishna zu seinem Schicksal. Ohne diese herausragenden Eigenschaften wäre es ihm nicht möglich gewesen, den Grundstein für die weltweite Organisation des Ramakrishna-Ordens und der Ramakrishna-Mission zu legen und die Botschaft seines Meisters und den Vedanta in den Westen zu bringen. Er war von ganz anderem Naturell als der eher beschauliche Ramakrishna mit seinen Visionen und Ekstasen. Ramakrishna erkannte von Anfang an sein Potenzial und im Laufe der Zeit die bedeutende Rolle, die er spielen würde, und förderte ihn.

Vivekananda wurde nur 39 Jahre alt, was nicht verwundert, da er sich ständig völlig verausgabte und auf seine Gesundheit keine Rücksicht nahm. Was er in diesen wenigen Lebensjahren geleistet hat, ist enorm. Wenn man sich mit ihm befasst, wird man unweigerlich in den Strudel dieser kraftvollen Persönlichkeit hineingezogen. Es lohnt sich zweifelsohne in vielerlei Hinsicht, sich mit ihm zu beschäftigen.

Abgesehen von dieser Biografie gibt es von mir noch eine ausführlichere unter dem Titel: Vivekananda – die große Biografie.

Ich möchte diesem Buch ein Zitat von Vivekananda über die Kraft der Gedanken und die Bedeutung des Lehrens voranstellen, da es auf sein Leben in besonderem Maße zutrifft:

„Nur wenige verstehen die Kraft der Gedanken. Wenn ein Mensch in eine Höhle geht, sich dort einschließt, einen wirklich großartigen Gedanken denkt und stirbt, wird dieser Gedanke die gesamte Menschheit durchdringen. So groß ist die Kraft der Gedanken. Sei daher nicht voreilig, wenn du deine Gedanken anderen mitteilst. Habe zuerst etwas zu geben. Nur wer etwas zu geben hat, kann lehren, denn lehren ist nicht reden, lehren ist nicht das Vermitteln von Doktrinen, es ist Kommunikation. Spiritualität kann genauso real vermittelt werden, wie ich dir eine Blume schenken kann. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes wahr.“1

Gabriele Ebert

1 The Life I, S. 522 f.

Geburt und Kindheit

Vivekanandas Mutter Bhuvaneshwari in späteren Jahren

Narendra, der spätere Swami Vivekananda, entstammte der Datta-Familie, einer reichen und angesehenen Anwaltsfamilie aus Simla, einem nördlichen Distrikt Kalkuttas.

Sein Großvater Durgaprasad war gebildet und ein begabter Jurist gewesen, hatte aber auch eine starke Neigung zum monastischen Leben besessen. Nach der Geburt seines Sohnes Vishwanath (Narendras Vater) hatte er mit fünfundzwanzig der Welt entsagt, war Mönch geworden und war fortan wie vom Erdboden verschluckt.

Vishwanath hatte eine eigene Anwaltspraxis und war später am High Court von Kalkutta tätig und sehr angesehen. Er verdiente viel Geld, gab es großzügig aus, auch an die Armen, unterstützte seine Verwandten und liebte das gute Leben.

Kalkutta war damals die Hauptstadt von Britisch Indien. Vishwanath gehörte zur gesellschaftlichen Elite und genoss die neue Weltoffenheit, die die Briten in die Enge der orthodoxen Hindu-Gesellschaft gebracht hatten. Er fühlte sich den Idealen der Aufklärung verbunden und machte nicht selten Späße über die gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Die Familie gehörte der Kayastha-Kaste der Geschäftsleute und Beamten an.

Das Vaterhaus Vivekanandas in der Gour Mohan Mukherjee Lane wurde von der Ramakrishna Mission erworben und renoviert und ist heute ein Kulturzentrum. Wikimedia Commons, Foto: Halder97 Studipto, 2016

Vishwanath war nicht sehr fromm, hielt aber trotzdem viel von religiöser Bildung. Er zitierte oft aus der Bibel oder aus Hafis Gedichten und fühlte sich von der Kultur des Islam angezogen. Zudem war er sehr musikalisch, was er seinem Sohn vererbte.

Mit sechzehn war er mit der zehnjährigen Bhuvaneshwari verheiratet worden. Sie war das einzige Kind einer ehrenhaften Familie in Simla. Sie war gebildet, und obwohl sie sich um einen großen Haushalt kümmern musste, fand sie Zeit für die tägliche Lektüre des Ramayana und Mahabharata. Wie ihr Mann besaß sie eine gute Stimme und konnte wundervoll Lieder über Krishna aus den frommen Dramen singen.

Bhuvaneshwari war schon bald Mutter geworden und hatte insgesamt zehn Kinder, wovon Narendra das sechste war. Ihre beiden ersten Kinder, ein Sohn und eine Tochter, waren jedoch gestorben. Ihre nächsten drei Kinder waren alles Mädchen – Haramani, Swarnamayi und ein weiteres Mädchen, das auch in der Kindheit gestorben war. Deshalb sehnte sie sich nach einem Sohn, der die Familientradition fortführen sollte.

Es war üblich, dass Hindufrauen ihre Kinderwünsche der Familiengottheit vortrugen und fasteten, während sie auf den Segen des Herrn warteten. Dazu wurde gern ein besonderer religiöser Anlass in Anspruch genommen, bei dem man der Gottheit Opfergaben darbrachte. Da Bhuvaneshwari eine glühende Verehrerin Shivas war, bat sie eine alte Tante in Varanasi, für sie in der heiligen Stadt die notwendigen Zeremonien auszuführen.

Einmal hatte sie den Tag im Hausschrein verbracht und war eingeschlafen, als es Nacht wurde. Da sah sie im Traum wie Shiva die Gestalt eines Jungen annahm, der ihr Kind sein würde. Sie war überzeugt, dass ihr Gebet erhört worden war. Dieser Vorfall erinnert uns an die Geschichten der Eltern Ramakrishnas und Sarada Devis und scheinen in Indien üblich gewesen zu sein, um auf eine besondere Geburt hinzuweisen.

Narendra wurde am Montag, dem 12. Januar 1863, um 6:33 Uhr, kurz vor Sonnenaufgang geboren. Es war das große Hindu-Fest Makar Sankranti, an dem Millionen Gläubige den heiligen Ganges verehren. Als das Kind das Licht der Welt erblickte, waren die Mitglieder des Haushalts erstaunt, wie ähnlich der Junge seinem Großvater Durgaprasad sah. Als es darum ging, ihm einen Namen zu geben, schlugen deshalb einige vor, ihn Durgaprasad zu nennen, doch seine Mutter wollte, dass er Vireshwar (ein Name für Shiva) heißen sollte. Schließlich nannte man ihn Narendranath, Narendra oder kurz Naren, übersetzt „Herr der Menschen“ oder „Herrscher über die Menschen“, ein sehr zutreffender Name, wie sich zeigen sollte.

Bhuvaneshwari gebar nach ihm noch zwei Söhne und zwei Töchter.

Narendra war ein ungestümes, unruhiges Kind und oft schwer zu bändigen. Weder Drohungen noch Versprechen halfen. Schließlich fand Bhuvaneshwari heraus, dass es half, wenn sie ihm kaltes Wasser über den Kopf goss und den Namen Shivas in sein Ohr sprach, oder wenn sie ihm damit drohte: „Shiva wird dich nicht zum Kailash (zu seiner heiligen Wohnstatt) gehen lassen, wenn du dich nicht benimmst.“ Manchmal sagte sie: „Ich habe Shiva um einen Sohn gebeten, und Er hat mir einen Seiner Dämonen geschickt. Ich musste ständig zwei Kindermädchen für ihn haben.“ Aber abgesehen von seinen Ausbrüchen war er ein sonniges, liebenswertes Kind.

Viele Sadhus kamen an die Haustür, da sie wussten, dass sie immer willkommen waren, doch Vishwanath erinnerte sich an seinen Vater, der Mönch geworden war, und befürchtete, auch der Junge könnte diesen Weg einschlagen. Also wurde er eingeschlossen, wenn ein Sadhu an der Tür auftauchte, bis er wieder gegangen war. Doch das störte den Jungen nicht. Er warf einfach alles Nützliche, was er im Zimmer finden konnte, als Opfergabe für den Sadhu zum Fenster hinaus.

Im Haus der Dattas wurde täglich aus dem Ramayana und Mahabharata vorgelesen, was entweder Bhuvaneshwari oder eine ältere Frau tat. Naren lernte auch viel von seiner Großmutter mütterlicherseits und deren Mutter, die ihm Geschichten von Krishna aus dem Bhagavatam, der vishnuitischen Tradition erzählten. Viele der mythologischen Geschichten, die er später seiner westlichen Zuhörerschaft erzählte, hatte er in seiner Kindheit von diesen beiden Frauen gehört. Er sagte später: „Die Blüte meines Wissens verdanke ich meiner Mutter.“

Das Ramayana mit den Geschichten von Rama und Sita faszinierte ihn sein Leben lang, unter anderem der Affengott Hanuman, der in dem Epos eine bedeutende Rolle spielt. Als einmal ein Vorleser erzählte, dass Hanuman im Bananenhain wohne, rief der junge Naren aus: „Werde ich ihn dort sehen können?“ „Ja, warum gehst du nicht hin und besuchst ihn?“, meinte der Vorleser schelmisch. Der Junge erinnerte sich an einen Bananenhain in der Nähe, ging hin, setzte sich und betete zu Hanuman, er möge sich ihm zeigen. Er wartete und wartete, aber Hanuman kam nicht. Schließlich ging er bitter enttäuscht nach Hause. Als er es dort erzählte, tröstete man ihn damit, dass Hanuman sicherlich auf einer wichtigen Mission für Rama unterwegs gewesen sei.

Doch vor allem hatten es ihm Rama und Sita angetan. Eines Tages kauften er und ein kleiner Brahmanenjunge namens Hari eine Tonfigur von Sita und Rama, und als keiner um den Weg war, stiegen sie damit auf die Dachterrasse, die über den Frauengemächern lag. Zur Sicherheit schlossen sie die Tür ab und setzten sich in Meditation vor die Figur hin. Die Eltern beider Jungen bemerkten ihre lange Abwesenheit, und es wurde ängstlich nach ihnen gesucht. Schließlich stießen sie auf die verschlossene Tür, die zum Dach führte. Man klopfte und rief, aber es kam keine Antwort. Als durch das heftige Pochen der Riegel aufsprang, floh Hari die Treppe hinunter, aber Naren war so in seine Meditation vertieft, dass er nichts hörte. Er saß wie zuvor bewegungslos vor der mit Blumen geschmückten Statue. Als er auf das Zurufen nicht antwortete, wurde er aus seiner Meditation geschüttelt, aber er bestand darauf, dass man ihn alleine ließ. Die Eltern wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten, und gingen wieder. Sein Betragen war seltsam für sein Alter.

Schon als Kind hatte Naren die Vorstellung, ein Sannyasin zu werden. Eines Tages ging er nackt umher bis auf ein Lendentuch, das er in der Art der Sadhus um die Taille geschlungen hatte. „Was soll das?“, fragte seine Mutter alarmiert. „Ich bin Shiva! Sieh her, ich bin Shiva!“, rief der Junge triumphierend. Naren glaubte wie alle Hindus an die Wiedergeburt, und so malte er sich aus, er wäre in einem vorherigen Leben ein Sadhu gewesen.

Die Älteren im Haushalt erzählten ihm aus Spaß, dass beim Meditieren die Haare sehr lang und verfilzt werden und allmählich wie bei einem Banyan-Baum tief in der Erde Wurzeln schlagen würden. So saß das Kind meditierend da und öffnete immer wieder die Augen, um zu sehen, wie lange und verfilzt sein Haar unterdessen geworden war. Als die Vorhersage nicht eintraf, rannte er zu seiner Mutter und fragte: „Ich habe meditiert. Warum ist mein Haar nicht verfilzt geworden?“ Seine Mutter erklärte ihm, dass es lange Zeit dauern würde.

Fortan sah die Familie Naren oft meditieren. Manchmal musste man ihn schütteln, um ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen. Nachts hatte er seltsame Visionen. Seine Art einzuschlafen war besonders. Sobald er die Augen schloss, erschien ein wundervolles Licht zwischen seinen Augenbrauen, das die Farbe veränderte, sich ausdehnte und dann explodierte und seinen ganzen Körper in eine Flut weißer Strahlen hüllte. Er glaubte lange, dass dies eine Erfahrung sei, die jeder Mensch beim Einschlafen machte.

Später erzählte er: „Seit der frühesten Zeit, an die ich mich erinnern kann, sah ich einen wundervollen Lichtpunkt zwischen den Augenbrauen, sobald ich meine Augen schloss, um zu schlafen. Ich beobachtete aufmerksam, wie er sich veränderte. Um ihn besser beobachten zu können, kniete ich mich aufs Bett in der Haltung, die ein Verehrer einnimmt, wenn er sich vor einem Schrein verneigt und mit der Stirn den Boden berührt. Der wundervolle Lichtpunkt veränderte seine Farbe und wurde immer größer, bis er die Gestalt eines Balls annahm. Schließlich platzte er und bedeckte meinen Körper von Kopf bis Fuß mit weißem, flüssigem Licht. Sobald das geschah, verlor ich das Bewusstsein und schlief ein. Ich glaubte damals, dass jeder auf diese Weise einschlafen würde. Als ich älter wurde und zu meditieren begann, tauchte dieser Lichtpunkt auf, sobald ich die Augen schloss, und ich konzentrierte mich auf ihn. Damals meditierte ich mit einigen Freunden nach den Anweisungen von Devendranath Tagore. Wir erzählten uns von den Visionen und Erfahrungen, die wir hatten, und so fand ich heraus, dass keiner von ihnen jemals diesen Lichtpunkt gesehen hatte oder auf diese Weise eingeschlafen war.“2

Das Phänomen begleitete Narendra sein ganzes Leben lang, wenn es auch im letzten Teil seines Lebens nicht mehr so häufig und intensiv auftrat.

Mit sechs besuchte er kurz die Pathshala, die traditionelle indische Schule, wurde dann aber mit seinen Cousins und anderen Söhnen der Freunde seines Vaters von einem Privatlehrer unterrichtet.

Naren war außergewöhnlich intelligent und lernte schnell lesen und schreiben, während die anderen Jungen noch mit dem Alphabet kämpften. Er besaß ein außerordentlich gutes Gedächtnis. Beim Unterricht schloss er die Augen und saß bewegungslos da oder legte sich hin. Der Lehrer konnte seine besondere Art des Lernens zunächst nicht verstehen und schüttelte ihn heftig, um ihn aus seiner scheinbaren Schläfrigkeit aufzurütteln. Narendra öffnete erstaunt die Augen, hörte den ärgerlichen Worten des Lehrers zu und wiederholte zu dessen Erstaunen Wort für Wort des Textes, der in der letzten Stunde vorgelesen worden war.

Auch andere Haushaltsmitglieder trugen zu Narendras Bildung bei. So unterrichtete ihn Nrisimha Datta, ein Verwandter und der Vater von Ramchandra Datta, einem bekannten Schüler Ramakrishnas, in der Sanskrit-Grammatik, und Naren meisterte die Grundlagen des Sanskrit innerhalb eines Jahres, was zu seiner Leidenschaft für diese Sprache in seinen späteren Jahren beitrug.

Sein Vater erzog ihn mit viel pädagogischem Geschick zu Respekt und Freundlichkeit. Wenn sich Naren schlecht benahm, rügte er ihn nicht, sondern ließ das seine Freunde tun. Eines Tages verhielt sich Naren seiner Mutter gegenüber ungezogen. Anstatt dem Jungen Vorhaltungen zu machen, schrieb der Vater an die Tür seines Zimmers: „Naren hat heute diese Worte zu seiner Mutter gesagt: ‚…‘“, sodass seine Freunde es lesen konnten, wenn sie ihn besuchten. Der Junge entschuldigte sich.

Naren zeigte schon früh Führungsqualitäten. Er war immer der Anführer der Jungen. Er spielte gern den König, der Hof hielt, wobei seine Spielgefährten wichtige Posten erhielten oder das Volk spielten. Er saß zu Gericht, entschied, was mit den Streitenden geschehen sollte, und hörte ihren Belangen zu.

Sein Vater erhielt oft Besuch von Klienten, die verschiedenen Kasten angehörten. Sie warteten zusammen, bis sie an die Reihe kamen, und jeder bekam seine eigene Wasserpfeife. Das Kastensystem war für den Jungen ein Rätsel. Warum sollte ein Mann aus der einen Kaste nicht mit einem Mann aus der anderen essen oder eine Wasserpfeife rauchen? Was würde dann geschehen? Würde das Dach auf ihn herunterfallen? Würde er plötzlich sterben? Er beschloss, es herauszufinden. Kühn ging er um die Wasserpfeifen herum und nahm aus jeder einen Zug. Nein, er lebte noch immer. Da kam sein Vater herein und fragte ihn: „Was machst du da, mein Junge?“ Er antwortete: „Vater, ich wollte nur sehen, was geschieht, wenn ich die Kastenregel breche. Nichts ist geschehen!“ Da lachte der Vater herzhaft.

Als Naren acht war, besuchte er Pandit Ishwarchandra Vidyasagars Metropolitan Institution in der Sukla Street. Vidyasagar war ein berühmter Pädagoge dieser Tage, und seine Schule besaß einen sehr guten Ruf. Sein Vater gab ihm Hosen zum Anziehen, aber jeden Tag waren sie zerrissen. Er war so unruhig, dass er nie an seinem Tisch sitzen bleiben konnte. So wurde für ihn ein Kompromiss zwischen Sitzen und Stehen gefunden, wobei er oft zwischen diesen beiden Positionen wechselte. Später sagte er zu Herrn Sturdy, einem seiner englischen Schüler: „Sturdy, in meiner Kindheit bemerkte ich eine unerschöpfliche Kraft in mir aufsteigen, die meinen Körper überflutete. Ich war immer unruhig und konnte nicht still sein. Deshalb zappelte ich die ganze Zeit herum. Wenn ich nichts zu lesen hatte, machte ich Unsinn. Wenn ich drei oder vier Tage hätte still dasitzen müssen, wäre ich entweder ernsthaft krank oder verrückt geworden. Mein Inneres vibrierte die ganze Zeit und zwang mich, etwas zu tun.“3

Seine Rastlosigkeit war Ausdruck seiner enormen Dynamik, einer gewaltigen Energie. Sie führte ihn später zu der leitenden Stellung in der Mönchsbruderschaft, zu seiner Reise in den Westen und bewirkte die Wortgewalt, die er bei seinen Vorträgen zeigte.

Trotz seiner äußersten Unruhe wurde er manchmal von einer Inspiration ergriffen, als wäre sein Geist weit weg von seinem Körper. Er starrte dann in die Luft, und sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an, wobei er sein Lachen und seinen Übermut verlor. Manchmal sagte er, nachdem er einige Zeit geschwiegen hatte: „Ich werde ein König werden. Ich werde dies tun. Ich werde jenes tun.“ Oder er murmelte vor sich hin: „Das sollte auf diese Weise getan werden. Das sollte jetzt gemacht werden.“ Es schien, dass sich seine Worte auf nichts Bestimmtes bezogen. Wenn diese Stimmung verging, war er wieder wie zuvor.

Wenn seine Freunde sich untereinander stritten, wurde er als Schlichter hinzugezogen. Er mochte keine Streitigkeiten und ertrug es nicht, körperliche Auseinandersetzungen zu sehen. Dann ging er immer dazwischen, auch auf das Risiko hin, selbst Schläge abzubekommen. Er hatte viel Mitgefühl für seine Kameraden. Als eines Tages zwanzig oder mehr Jungen das Fort von Kalkutta besichtigten, klagte einer von ihnen über Schmerzen, während die anderen ihn auslachten und weitergingen. Der zurückgelassene Junge setzte sich auf den Boden. Naren war mit den anderen weitergegangen, sagte aber plötzlich: „Vielleicht ist er wirklich ernsthaft krank. Ihr könnt weitergehen. Einer von uns muss zu ihm zurückkehren. Ich werde gehen.“ Der Junge hatte Fieber. Naren brachte ihn zu einer Kutsche in der Nähe und fuhr mit ihm nach Hause.

Einmal rettete er auch ein Kind und seine Mutter davor, von einer Kutsche überfahren zu werden, indem er das Kind mit der einen Hand und die Mutter mit der anderen wegzog.

Kurz nachdem er in die Schule gekommen war, sollte er Englisch lernen, doch das wollte er nicht. Es war eine Fremdsprache. Warum also sollte er sie lernen? Seiner Meinung nach sollte man zuerst seine eigene Sprache meisterhaft beherrschen. Also weigerte er sich zunächst. Erst auf gutes Zureden hin beteiligte er sich nach einigen Monaten am Englischunterricht. Aber als er einmal damit begonnen hatte, lernte er die Sprache so schnell, dass sich alle wunderten. Für seine spätere Tätigkeit im Westen sollte das enorm wichtig sein.

Naren war oft im Haus eines Freundes. Auf dem Grundstück gab es einen Champaka-Baum, eine Magnolienart, dessen Blüten Shiva mochte, wie es hieß. Narendra ließ sich gern an seinen Ästen kopfüber herunterhängen. Als er sich einmal an diesem Baum hin- und herschwang, erkannte ihn der alte, fast blinde Großvater des Hauses an seiner Stimme. Er hatte Angst, dass der Junge herunterfallen und der Baum seine geliebten Champaka-Blüten verlieren könnte. Deshalb befahl er Naren, herunterkommen und erzählte ihm, er dürfte nicht wieder auf den Baum klettern. Als Naren nach dem Grund fragte, sagte der alte Mann: „Der Geist eines Brahmanen lebt in diesem Baum. Er geht nachts in Weiß gekleidet umher und sieht furchterregend aus.“ Das war Naren neu. Er wollte alles über den Geist wissen und was er sonst noch tun würde. „Er bricht denen den Hals, die auf den Baum klettern“, erwiderte der Alte. Naren sagte nichts, und der alte Mann ging lächelnd davon. Kaum war er in einiger Entfernung, kletterte Naren erneut auf den Baum. Sein Freund protestierte: „Der Brahmanengeist wird dich fangen und dir den Hals brechen.“ Naren lachte herzhaft und sagte: „Was für ein dummer Kerl du bist! Mein Hals wäre schon seit langem gebrochen, wenn die Geschichte des alten Großvaters stimmen würde.“

Später betonte Vivekananda: „Glaube nichts, weil du es in einem Buch gelesen hast. Glaube nichts, weil jemand anderer es dir gesagt hat. Finde die Wahrheit selbst heraus. Das ist Erkenntnis.“

Naren genügte täglich eine Stunde, um sich auf den Unterricht vorzubereiten. Er besaß ein außergewöhnliches Gedächtnis und konnte sehr schnell ein Buch lesen und seinen Inhalt erfassen. So war er der Klassenbeste, hatte aber trotzdem viel Freizeit, die er mit seinen Freunden verbrachte. Er war sehr gut in Englisch, Geschichte und Sanskrit, mochte aber wie sein Vater keine Mathematik. Er zeichnete gern, hatte eine melodiöse Stimme und Begabung im Theaterspiel. Vor dem Zubettgehen erzählte er seinen Geschwistern Geschichten. Sie bedrängten ihn, mit den Händen Schattenspiele zu machen. Er benutzte dafür eine Tonlampe auf einem Messingständer. Mit ihrem Licht warf er mit seinen Händen eine fliegende Fledermaus, einen Reiter auf einem galoppierenden Pferd und Figuren von verschiedenen Gottheiten als Schatten an die Wand.

Naren hasste Eintönigkeit. Jeden Tag erfand er einen neuen Zeitvertreib. Auch tüftelte er an allen Arten von Maschinen herum und bastelte ein kleines Gaswerk wie das, das in Kalkutta neu gebaut worden war. Sein jüngerer Bruder berichtete: „Mit alten Zinkrohren, Tontöpfen und Stroh baute er im Außenhof sein Gaswerk. Wenn das Stroh brannte, rauchte es. Für ihn war es ein Miniatur-Gaswerk, das die ganze Stadt Kalkutta erleuchtete. Es war amüsant, sein Gaswerk und ihn selbst zu beobachten, wie er mit in die Hüften gestemmten Armen und ernstem Blick die Vorrichtung betrachtete, wenn der Rauch herauskam. Manchmal zeigte er Missbilligung, indem er die Nase rümpfte – eine Besonderheit der Familie – und wies ungeduldig seine Spielgefährten an, mehr Brennmaterial ins Feuer zu werfen oder heftiger zu blasen, wenn der Rauch sich nur träge erhob.“4

1875, als Naren etwa elf war, lief die HMS Syrapis, ein britisches Kriegsschiff, in den Hafen von Kalkutta ein. An Bord war der Prinz von Wales, der spätere Edward VII., der Indien besuchte, um die Ernennung von Königin Victoria zur Kaiserin von Indien (Empress of India) zu begehen. Narens Freunde bedrängten ihn, eine Eintrittskarte für sie alle zu besorgen, um sich das Schiff anzuschauen. Dazu musste er zu einem englischen Beamten gehen. Als er dort erschien, hielt ihn der Türsteher für zu jung und verwehrte ihm den Eintritt. Naren fragte sich, was er nun tun sollte. Da bemerkte er, dass die Leute, die am Türsteher vorbeigegangen waren, in einen Raum im ersten Stock hinaufgingen, wo die Eintrittskarten erhältlich waren. Also musste er sich nur einen anderen Eingang suchen. Auf der Rückseite des Hauses gab es eine Treppe. Er stieg sie hinauf, schob den Vorhang beiseite und war in dem Raum. Er reihte sich in die Schlange ein, und als er dran war, erhielt er ohne Probleme eine Karte. Als er auf dem Rückweg beim Türsteher vorbeikam, fragte dieser erstaunt: „Wie bist du hereingekommen?“ Naren antwortete verschmitzt: „Oh, ich bin ein Zauberer.“

Als Naren älter wurde, veränderte er sich. Er zeigte Interesse an Büchern und Zeitschriften und nahm regelmäßig an öffentlichen Vorträgen teil. Dabei entwickelte er eine Kraft der Argumentation, der keiner widerstehen konnte.

1877 hatte sein Vater für längere Zeit beruflich in Raipur in der Zentralprovinz zu tun. Deshalb ließ er seine Familie nachkommen. Der Ort war nicht mit dem Eisenbahnnetz verbunden. Die Reise mit dem Ochsenkarren dauerte über zwei Wochen und führte durch dunkle Wälder voller wilder Tiere. Der vierzehnjährige Naren wurde damit beauftragt, die Familie dorthin zu bringen. Obwohl die Reise anstrengend war, bot sich ihm die Schönheit des Landesinneren dar. Sein Herz war verzaubert von dem Reichtum der Natur.

Als er einen gewaltigen Bienenstock sah, der zwischen den Felsen hing, geriet er in Versenkung, wie einst der junge Ramakrishna, als er weiße Kraniche vor einer dunklen Gewitterwolke fliegen sah. Er sagte später: „Voller Staunen dachte ich über den Anfang und das Ende des Königreichs der Bienen nach, und mein Geist war so in Gedanken an die unermessliche Macht Gottes, des Herrschers der drei Welten, versunken, dass ich für einige Zeit völlig das Bewusstsein für die Außenwelt verlor. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in diesem Zustand auf dem Ochsenkarren lag. Als ich wieder zu mir kam, stellte ich fest, dass wir weit vorangekommen waren. Da ich allein auf dem Karren war, konnte niemand davon wissen.“5

Manchmal kam es ihm so vor, als hätte er alles schon einmal erlebt. So erzählte er: „Seit meiner Kindheit erschien es mir manchmal, wenn ich mit einem bestimmten Gegenstand, Menschen oder Ort in Berührung kam, als ob ich ihn schon vorher gekannt hätte. […] Jetzt glaube ich, dass ich vor meiner Geburt irgendwie Visionen von den Themen und Menschen gehabt haben muss, mit denen ich in meiner jetzigen Geburt in Kontakt komme. Solche Erinnerungen sind in meinem ganzen Leben immer wieder vorgekommen.“6

In jener Zeit gab es in Rajpur keine Schule. Naren erhielt dafür die Gelegenheit, viele Gespräche mit seinem Vater über alle möglichen Themen zu führen. Vishwanath war der Meinung, Kinder sollten ihren Intellekt frei entfalten können, und Erziehung bestünde darin, den Verstand zu stimulieren und nicht darin, vorgefertigte Vorstellungen in ihn einzupflanzen. Naren verdankte ein Teil seiner offenen Denkweise sicherlich seinem Vater. Zudem war Vishwanath ein Musikliebhaber und förderte Narens musikalisches Talent. Er hatte seinem Sohn bereits früher Musikunterricht gegeben und lehrte ihn jetzt viele Lieder.

Als Naren zwei Jahre später mit seiner Familie aus Raipur nach Kalkutta zurückkehrte, war er zum Mann geworden. Er war nun sechzehn. Fortan wählte er sorgfältig seine Freunde aus. Sie mussten ihm intellektuell gewachsen sein. Vishwanath sorgte für Narens Ausbildung in Gesang und Instrumentalmusik unter Meistern wie Beni Ostad und später unter dem islamischen Lehrer Ahmad Khan und anderen. Naren lernte das Spielen auf der Pakhawaj (Doppelfelltrommel), der Tabla (Trommel), der Esraj (einer Art Laute) und der Sitar (Langhalslaute). Er wurde bald als meisterhafter Sänger bekannt. Er übte stundenlang in einem Zimmer im Haus seiner Großmutter mütterlicherseits oder im Haus eines Freundes, wobei ihm diese gern zuhörten. Seine Stimme war so lebhaft und lieblich, dass sie alle bezauberte. Später sang er für Ramakrishna, der auch die Musik liebte, viele fromme Lieder und spielte auf einem Instrument.

Nach der Rückkehr nach Kalkutta gab es das Problem, Naren wieder an die Schule zu bringen, denn er hatte fast zwei Jahre gefehlt. Doch da seine Lehrer ihn liebten, machten sie für ihn eine Ausnahme. Der Junge bewältigte in einem Jahr den Lernstoff von drei und bestand das Zugangsexamen fürs College. Sein Vater schenkte ihm zu diesem Anlass eine Armbanduhr.

2 Isherwood: Ramakrishna, S. 188

3 The Life I, S. 32

4 dass., S. 36

5 dass., S. 40

6 dass., S. 40 f.

Die Studentenzeit

Im Januar 1880 begann Narendra sein Studium im Presidency College. Er war soeben siebzehn geworden. Er besuchte das College ein Jahr lang, aber dann erkrankte er an Malaria und fehlte länger, weshalb er am ersten Examen (First Arts, F.A.) nicht teilnehmen durfte. Doch das Scottish Church College ließ ihn zu und schickte ihn 1881 zur Prüfung, die er bestand.

Er studierte an diesem College weiter bis zum Bachelor of Arts 1884. Er hatte Englisch, Geschichte, Mathematik, Logik und Psychologie für seine F.A.-Prüfung ausgewählt und dieselben Fächer für seinen B.A., wobei er nur Psychologie für Philosophie getauscht hatte. Nebenbei las er die Meisterwerke der westlichen Logik und Philosophie. Vor allem Herbert Spencer interessierte ihn. Er studierte auch die deutschen Philosophen wie Kant und Schopenhauer sowie John Stuart Mill, Auguste Comte und William Hamilton. Sein kritischer Verstand rührte sich zunehmend, und er rebellierte gegen das hinduistische Sozialsystem, in dem die Priesterkaste das alleinige Sagen hatte. Das Netz aus Glauben und Kaste war für ihn nicht tolerierbar.

Da er kein strenger, trockener Denker war, sondern auch ein mystisches Wesen besaß, war die reine Philosophie für ihn jedoch kein Weg. Das Problem des Lebens musste gelöst werden. Der Verstand und die Sinne mussten überschritten werden. Er musste einen annehmbaren Weg zu Gott zu finden – falls Gott überhaupt existierte. Das war für ihn ein essenzielles Bedürfnis. Und falls kein Gott existierte, würde er auch das als Wahrheit akzeptieren und ein ehrlicher Atheist werden. Dabei konnten ihm die Philosophie und empirische Wissenschaft allein nicht helfen.

Um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, beschäftigte er sich mit Medizin und dem Nervensystem, besonders dem Gehirn und Rückenmark. Zudem interessierte er sich für die alte und neu Geschichte Europas und der Frage, wie sich der Charakter der Völker entwickelt hatte. Er liebte auch die Dichtung, in der die höchsten Ideale zum Ausdruck gebracht werden.

Andererseits liebte er auch Spaß und galt im College wegen seiner Geschichten, seinem Witz und seiner Fröhlichkeit als „guter Kumpel“ und war der Anführer verschiedener Gruppen.

Naren war früh Mitglied des Brahmo Samaj geworden. Der Brahmo Samaj war eine religiöse Reformbewegung, die Ram Mohan Roy 1828 in Kalkutta gegründet hatte. Er vertrat viele sozialreformerischen Ideen wie die Wiederverheiratung der Witwen, die Abschaffung der Kinderhochzeiten und die Bildung der Frau und kritisierte das rigide Kastensystem. Zudem protestierte er gegen bestimmte Formen des orthodoxen Hinduismus wie den Polytheismus, die Bilderverehrung, die Lehre von der göttlichen Inkarnation und die Notwendigkeit eines Gurus. Er proklamierte ein monotheistisches Gottesbild und orientierte sich am Islam und Christentum. Später übernahm Devendranath Tagore, der Vater des berühmten Dichters Rabindranath Tagore, die Leitung. Schließlich wurde Keshab Chandra Sen, ein vertrauter Verehrer Ramakrishnas, ein viel gefeierter Redner im Samaj. Wegen Auseinandersetzungen mit Devendranath spaltete er seine Gruppe ab und wurde die Zentralfigur des neuen Brahmo Samaj und das Idol der jungen Bengalen. 1878 kam es erneut zu einer Abspaltung, dem Sadharan Brahmo Samaj, der von Shivanath Shasti und Vijaykrishna Goswami geleitet wurde. Zunächst schloss sich Naren Keshabs Brahmo Samaj an und wechselte später zum Sadharan Brahmo Samaj. Er sang bei den religiösen Zusammenkünften im Chor mit. Obwohl er, was die sozialen Bemühungen betraf, mit dem Samaj übereinstimmte, fand er in ihm spirituell keine Befriedigung und war weiterhin auf der Suche.

In der Folge vertiefte sich seine Meditation. Er glaubte, es müsse einen Weg geben, um Gott zu erkennen, sonst wäre das Leben vergebens. Er betete: „Oh Gott, sei gnädig und enthülle mir Dein wahres Wesen, das die Verkörperung der Wahrheit ist.“ Dann verbannte er alle anderen Gedanken. Nach einer Weile versank sein Geist so tief, dass er das Körperbewusstsein verlor. Auf diese Weise meditierte er nachts, wenn alle im Haus schliefen. Er spürte dann einen großen Frieden und eine Art Berauschtheit, die es ihm erschwerten, sich wieder von der Meditation zu lösen.

Einmal hatte er eine Vision von Buddha. Er berichtete: „Ich sah die schöne Gestalt eines Mönchs, die plötzlich vor mir erschien. Woher er kam, weiß ich nicht. Er stand etwas entfernt vor mir und erfüllte das Zimmer mit seinem göttlichen Strahlen. Er trug ein ockerfarbenes Gewand und hielt ein Wassergefäß in der Hand. Sein Gesicht trug solch einen ruhigen und heiteren Ausdruck der Innerlichkeit, die aus dem Gleichmut gegenüber allen Dingen rührte, dass ich mich wunderte und mich sehr zu ihm hingezogen fühlte. Er ging mit langsamen Schritten auf mich zu, wobei seine Augen ständig auf mich gerichtet waren, als wollte er mir etwas sagen. Da wurde ich von Angst ergriffen und konnte nicht stillhalten. Ich stand auf, öffnete die Tür und verließ schnell das Zimmer.“7

In seiner spirituellen Suche wandte er sich zunächst an Devendranath Tagore, der immer noch eine bedeutende Rolle im ursprünglichen Brahmo Samaj spielte und als einer der besten spirituelle Lehrer seiner Zeit galt. Narendra ging allein zu ihm, brennend vor Verlangen, Gott zu erkennen. Sein plötzliches Erscheinen überraschte den alten Mann. Bevor er noch ein Wort sagen konnte, brach es aus Narendra hervor: „Herr, haben Sie Gott gesehen?“ Devendranath wusste nichts zu antworten und meinte nur: „Mein Junge, du hast die Augen eines Yogis.“ Narendra ging enttäuscht weg. Er besuchte auch die Anführer anderer religiöser Sekten, aber keiner konnte ihm sagen, dass er Gott gesehen hatte. Wohin sollte er also gehen?

In diesem Zustand befand er sich, als er Ramakrishna begegnete. Er hatte von dem großen Heiligen zum ersten Mal von Professor William Hastie, dem Prinzipal seines College, gehört. Als der Professor für Literatur einmal fehlte, übernahm er die Klasse. Er erklärte Wordsworths bekanntes Gedicht „Excursion“, das den Trance-Zustand zum Thema hat, doch die Studenten wussten nicht, was Trance ist. Da sagte Professor Hastie: „Solch eine Erfahrung ist das Ergebnis von Reinheit des Geistes und Konzentration auf einen bestimmten Gegenstand. Sie ist selten, besonders heute. Ich kenne nur eine Person, die diesen gesegneten Geisteszustand erlangt hat, und das ist Ramakrishna Paramahamsa in Dakshineswar. Ihr könnt es verstehen, wenn ihr ihn besucht.“8

Im November 1881, als Narendra im zweiten Studienjahr war, traf er Ramakrishna zum ersten Mal im Haus seines Nachbarn Surendranath Mitra. Weil er ein guter Sänger war, war er eingeladen worden, zum Anlass von Ramakrishnas Besuch zu singen. Ramakrishna fühlte sich sehr von seinem Gesang angezogen und lud ihn zu sich nach Dakshineswar ein.

Nachdem er von Devendranath Tagore und den anderen spirituellen Lehrern enttäuscht worden war, erinnerte er sich an diese Einladung und entschloss sich, ihr zu folgen und Ramakrishna seine Fragen zu stellen. Sein Verwandter Ramchandra Datta war bereits ein regelmäßiger Besucher Ramakrishnas und erkannte, dass Naren nach spiritueller Erkenntnis suchte. Deshalb sagte er zu ihm: „Wenn du wirklich Gott erkennen willst, dann geh zum Meister nach Dakshineswar, anstatt zum Brahmo Samaj oder anderswohin.“ Surendranath Mitra lud ihn ein, ihn in seiner Droschke nach Dakshineswar zu begleiten. Narendra nahm die Einladung an und brachte zwei Freunde mit. So fand an einem Tag im Dezember 1881 seine schicksalshafte Begegnung mit Ramakrishna statt.

7 The Life I, S. 113

8 dass., S. 48

Bei Ramakrishna

Ramakrishna (1836-1886) in seinem Zimmer in Dakshineswar

Schon seit längerer Zeit hatte sich Ramakrishna im Tempelbereich von Dakshineswar, nördlich von Kalkutta, niedergelassen. Er verehrte die Muttergottheit Kali, die Hauptgöttin des dortigen Tempels, und war Ihr Tempelpriester gewesen. Er hatte sich jedoch so sehr in einen Rausch der Verehrung zu Ihr hineingesteigert, dass er allerlei Visionen hatte, für verrückt galt und den priesterlichen Dienst nicht mehr ausüben konnte. Er hatte alle hinduistischen Wege bis zu ihrem Ende verfolgt und verschiedene Lehrer gehabt wie die Bairavi, eine vishnuitische Nonne, die ihn Tantra und die vishuitischen Wege der Gottverehrung gelehrt, und Totapuri, der ihn ins Advaita eingeführt hatte. Für kurze Zeit hatte er auch den Islam und das Christentum praktiziert und war nach dieser intensiven Phase zu einem spirituellen Meister geworden. Nachdem er alle Wege zur Gotteserkenntnis ausprobiert hatte, betrachtete er sie alle als gültig. Alle Wege führten zum selben Ziel.

Ramakrishna war mit der viel jüngeren Sarada Devi verheiratet worden, die ab 1872, abgesehen von längeren Unterbrechungen, die sie in ihrem Heimatdorf Jayrambati verbrachte, bei ihm in Dakshineswar lebte, aber er führte trotzdem das keusche Leben eines Sadhus. Nachdem er alle spirituellen Übungen zu Ende gebracht hatte, sehnte er sich nach Schülern. Doch erst als er fünfundvierzig war, stellten sich die ersten Schüler ein. Es waren verheiratete Männer wie Ramchandra Datta, Surendranath Mitra und auch der Führer des Brahmo Samaj Keshab, aber auch unverheiratete junge Männer, die noch zur Schule oder Universität gingen wie Narendra.

Der Gegensatz zwischen Ramakrishna und Narendra konnte kaum größer sein. Ramakrishna war ein Mystiker mit vielen Visionen, Ekstasen und Samadhi-Erlebnissen, Narendra dagegen ein eher nüchterner Rationalist, der sich über Ramakrishnas Ansichten und Empfindungen lustig machen konnte. Ramakrishna symbolisierte das traditionelle Indien der Upanishaden – Naren war ein Kind der neuen Zeit, unwillig, selbst die höchste religiöse Wahrheit ohne entsprechenden Beweis zu akzeptieren. Er musste noch lernen, dass die Vernunft den Menschen nur bis zu einem gewissen Punkt bringen kann. Trotzdem verband eine zunehmende Anziehungskraft die beiden, und es entstand eine sehr starke Lehrer-Schüler-Beziehung. Das Ergebnis dieser Beeinflussung Narendras durch den Meister war, dass er zu Swami Vivekananda wurde, der beides, Ost und West, verband, die tiefe Spiritualität des Ostens mit dem Pragmatismus des Westens.

Die erste Begegnung in Dakshineswar war außergewöhnlich. Ramakrishna berichtete: „Naren kam am ersten Tag durch die westliche Tür (die dem Ganges zugewandt ist) herein. Ich bemerkte, dass er sich nicht um seinen Körper kümmerte. Seine Haare und seine Kleidung waren völlig ungepflegt. Anders als andere hatte er überhaupt keinen Wunsch nach einem äußeren Objekt. Er war sozusagen frei von allem. Seine Augen zeigten, dass der größte Teil seines Geistes unweigerlich nach innen gerichtet war. Als ich das alles sah, fragte ich mich: ‚Ist es möglich, dass solch ein großer spiritueller Aspirant, der einen Überfluss an Sattva besitzt, in Kalkutta lebt, der Heimat von weltlichen Leuten?‘

Auf dem Boden lag eine Matratze ausgebreitet. Ich bat ihn, sich daraufzusetzen. Er setzte sich in die Nähe des Kruges mit Gangeswasser. An diesem Tag waren auch einige Bekannte von ihm mitgekommen. Ich spürte, dass ihr Wesen wie das der gewöhnlichen weltlichen Leute war und ganz das Gegenteil von seinem. Ihre Aufmerksamkeit war nur auf den Genuss gerichtet.

Als ich ihn fragte, erfuhr ich, dass er nur zwei oder drei bengalische Lieder gelernt hatte. Ich bat ihn, sie zu singen, und er begann, das Brahmo-Lied zu singen: ‚Oh Geist, komm, lass uns nach Hause gehen. …‘ Er sang es mit ganzem Herzen und Verstand, als wäre er in Meditation. Als ich es hörte, konnte ich mich nicht mehr beherrschen und geriet in Ekstase.

Als er später gegangen war, trug ich die ganzen vierundzwanzig Stunden des Tages eine Begierde im Herzen, ihn zu sehen. Ich kann es nicht in Worten ausdrücken. Von Zeit zu Zeit fühlte ich einen qualvollen Schmerz, als würde mein Herz wie ein nasses Handtuch ausgewrungen. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, rannte zu den Tamariskenbäumen im Norden des Gartens, wohin die Leute gewöhnlich nicht gehen, und weinte laut: ‚Oh mein Kind, komm! Ich halte es nicht aus, dich nicht zu sehen.‘ Erst, nachdem ich auf diese Weise etwas geweint hatte, konnte ich mich wieder beherrschen. Das geschah sechs Monate lang beständig. Mein Geist war auch manchmal unruhig nach einigen anderen Jungen, die kamen. Aber das war nichts im Vergleich zu Narendra.“9

Narendra berichtete von seinem ersten Besuch: „Ich beendete das Singen. Sofort stand der Meister auf, nahm mich bei der Hand und führte mich auf die nördliche Veranda. Es war Winter. Um das Zimmer vor dem Nordwind zu schützen, war der offene Raum zwischen den Säulen der Veranda mit Schirmmatten bedeckt. Wenn man auf die Veranda trat und die Tür schloss, konnte man von niemandem im Zimmer oder von draußen gesehen werden. Sobald der Meister auf die Veranda getreten war, schloss er die Tür zum Zimmer. Ich dachte, er wolle mir vielleicht privat einige Anweisungen geben. Aber was er sagte und tat, übertraf meine Vorstellungskraft. Er ergriff plötzlich meine Hand und vergoss Freudentränen. Er sprach mich liebevoll an wie einen, der ihm bereits vertraut ist, und sagte: ‚Gehört es sich, dass du so spät kommst? Hast du nicht daran gedacht, wie sehr ich auf dich gewartet habe? Wenn ich beständig das unnütze Geschwätz der weltlichen Leute höre, versengt das fast meine Ohren. Da ich keinen habe, mit dem ich über meine innersten Gefühle reden kann, bin ich fast am Platzen.‘

Auf diese Weise tobte und weinte er sich aus. Im nächsten Augenblick stand er mit gefalteten Händen vor mir, ehrte mich wie einen Gott und sagte: ‚Ich weiß, mein Herr, dass du der altehrwürdige Rishi Nara bist, ein Teil von Narayana, der sich diesmal inkarniert hat, um das Elend und die Leiden der Menschheit zu beseitigen.‘ Ich war völlig verblüfft und dachte: ‚Wen habe ich da besucht? Wie ich sehe, ist er völlig verrückt. Warum sollte er sonst auf diese Weise mit mir sprechen, der ich der Sohn von Vishwanath Datta bin?‘ Doch ich schwieg, und der wundervolle Verrückte sprach weiter, wie es ihm beliebte.

Im nächsten Augenblick bat er mich zu warten, ging ins Zimmer, brachte Butter, Kandiszucker und Sandesh und gab sie mir mit eigenen Händen zu essen. Er achtete nicht auf meine wiederholte Bitte, mir diese Dinge zu geben, damit ich sie mit meinen Gefährten teilen konnte, sondern sagte: ‚Sie werden später davon bekommen. Nimm du sie selbst.‘ Er fütterte mich mit all diesen Süßigkeiten und war erst dann zufrieden. Dann ergriff er meine Hand und sagte: ‚Versprich mir, dass du bald wiederkommst und allein.‘ Ich konnte seiner ernsthaften Bitte nicht entgehen und sagte: ‚Ich werde es tun.‘ Dann ging ich mit ihm ins Zimmer zurück und setzte mich neben meine Gefährten.

Ich beobachtete ihn genau, konnte aber keine Spur von Verrücktheit in seinem Benehmen und seinen Gesprächen oder seinem Verhalten anderen gegenüber entdecken. Ich war von seinen guten Gesprächen und seiner Ekstase beeindruckt und dachte, dass er wirklich ein Mann der Entsagung war, der alles für Gott aufgegeben hatte, und persönlich übte, was er vertrat. ‚Gott kann gesehen werden, und man kann mit Ihm sprechen, genauso wie ich dich sehe und mit dir spreche. Aber wer will das? Die Leute trauern und vergießen kannenweise Tränen beim Tod ihrer Frauen und Söhne und um des Geldes und Besitzes willen. Aber wer tut das, weil er Gott nicht erkennen kann? Wenn jemand ebenso begierig ist, Ihn zu sehen und Ihn mit einem sehnsuchtsvollen Herzen anruft, wird Er sich ihm bestimmt offenbaren.‘

Als ich seine Worte hörte, erweckten sie in mir den Eindruck, dass es sich nicht nur um Dichtkunst oder Einbildung handelte, die in schönen Redewendungen formuliert werden, wie andere religiöse Prediger sich ausdrücken, sondern dass er von etwas sprach, das er unmittelbar kannte – von etwas, das er erlangt hatte, als er wirklich alles für Gott aufgegeben und Ihn mit seinem ganzen Geist angerufen hatte.

Als ich versuchte, diese Worte mit seinem Verhalten mir gegenüber in Einklang zu bringen, erinnerte ich mich an das Beispiel von den Monomanen, die Abercrombie und andere englische Philosophen erwähnt haben, und kam zum sicheren Schluss, dass er dieser Klasse angehörte. Trotzdem konnte ich nicht die Größe seiner wunderbaren Entsagung für Gott vergessen. Sprachlos dachte ich: ‚Nun gut, er kann verrückt sein, aber nur eine seltene Seele kann in der Welt solche Entsagung üben. Ja, verrückt, aber wie rein! Und welche Entsagung! Er ist wahrhaft wert, vom menschlichen Herzen geachtet und verehrt zu werden.‘ Als ich das dachte, verneigte ich mich zu seinen Füßen, verabschiedete mich von ihm, und kehrte nach Kalkutta zurück.“10

Ramakrishna hatte ihn auch gefragt: „Siehst du ein Licht, bevor du einschläfst?“, was Narendra mit „ja“ bestätigte, worauf der Meister ausrief: „Ach, alles passt zusammen! Er ist von Geburt ein Dhyana-Siddha (ein vollkommener Meister der Meditation).“11

Narendra blieb einen Monat Dakshineswar fern. Vielleicht fürchtete er die Kraft von Ramakrishnas Einfluss. Obwohl er mit der Spiritualität des Brahmo Samaj unzufrieden war, empfand er doch einen Enthusiasmus für dessen Reformideen. Er stand dem traditionellen Hinduismus, den Ramakrishna vertrat, kritisch gegenüber und glaubte eher an die Vernunft als an die Intuition, an die Unterscheidung als an die Hingabe. Ramakrishnas Ekstase verwirrte ihn. Er konnte sich nicht vorstellen, sich in einem Tempelbereich einzuschließen und die Tage mit Meditation und Verehrung zu verbringen.