Synthese - Karoline Georges - E-Book

Synthese E-Book

Karoline Georges

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Beschreibung

Ein junges Mädchen flüchtet sich in die Welt hinter dem Bildschirm und in die Fiktionen ihrer Bücher. Sie verliert den Halt in der Realität. Als emotionsloses Model macht sie in Paris Karriere und wird sehr jung finanziell unabhängig. Sie tritt mit der Außenwelt kaum mehr in Kontakt und beginnt ihre eigene, virtuelle Welt zu kreieren. Wie sie den Weg zurück zu ihren Eltern und zu sich selbst findet, erzählt sie Jahre später, als reife Frau, die ihren Werdegang informativ, klug und als leidenschaftliches Plädoyer für das Leben schildert.

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Seitenzahl: 210

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Karoline Georges Roman

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel De synthèse.

© 2017 Éditions Alto, Québec

Erste Auflage

© 2021 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Frank Heibert

Lektorat: Alexander Weidel

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Typografische Gestaltung und Satz: Ferdinand Ulrich, Berlin

Gesetzt aus FF Hertz und Ginto Nord

Herstellung: Daniel Klotz, Berlin

ISBN 978-3-907336-04-5

eISBN 978-3-907336-05-2

Für dich, Maman

Inhalt

Über die Wirklichkeit

Über das Erstaunen

Über die Raumzeit

Über die Unsterblichkeit

Über das Ersetzen

Über Synthese

Über das Verschwinden

Über die ewige Rückkehr

Über das Bild

DANKSAGUNGEN

Ich wurde geboren zwischen dem Erscheinen von Darwins Über die Entstehung der Arten und dem Augenblick, da die Voyager 1 das Sonnensystem verließ und auf ihrem Weg durch die Raumzeit die Kurve der Evolution nachzeichnete.

Ich tat meinen ersten Atemzug in einer Blase, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer schneller immer größer wurde, in einem elektrischen Mahlstrom, einem Summen der integrierten Schaltkreise, Maschinen und verwandelten Stofflichkeiten und Allzweckdinger, in einem aufgeblähten Wust aus Informationen und Sendungen, einer pilzförmigen Hypertrophie, so überwältigend wie die Rauchwolke der Zar-Bombe einige Sekunden nach der Explosion. Auf dem Bild der größten Detonation der Atomgeschichte erhebt sich das ganze 20. Jahrhundert bis zum Mond, dann wirbelt es über die Milchstraße hinaus, den Ursprung des Universums im Blick.

Die Epoche, in die ich hineingeboren wurde, ähnelt einem pilzförmigen Auge, das sein Blickfeld erweitern will, um Makrokosmos und Mikrokosmos zugleich wahrzunehmen und dann alles durch das Maul der Medien wieder auszuspucken, vor dem ich einen Gutteil meines Lebens zur Statue erstarrt saß, im Schneidersitz seit der Kindheit, ob ich nun vor einem Zeichentrickfilm in die Hände klatschte oder sie ob der großen Stille, als das World Trade Center einstürzte, vor den weit offenen Mund schlug.

Doch inmitten der Entdeckungen, der elektronischen Technologien und anderen Wunder der Wissenschaft, die seit zwei Jahrhunderten alles auf den Kopf stellen, bestimme ich jetzt mit einer Maske und einem Paar Handschuhe den Horizont meiner Evolution selber. Seit fast einem Jahrzehnt befinde ich mich jeden Tag in der virtuellen Realität, meinem Double aus Pixeln gegenüber, und versuche, durch dieses Double Gestalt anzunehmen.

Fast hätte ich es geschafft.

Doch dann fing meine Mutter an, sich aufzulösen.

Über die Wirklichkeit

Um mich her keine Möbel, kein Gegenstand. Nur etwa hundert Grünpflanzen an den Wänden meines Studios. Am Ende des Raums geht eine Glaswand auf den Horizont Richtung Westen hinaus. So weit das Auge reicht, tausende Wohnwürfel.

Zwischen der Glaswand und mir befindet sich meine Mutter.

Sie wendet mir den Rücken zu. Das ist mir recht.

Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal meine Intimsphäre mit ihr teilen würde.

Ich weiß wohl, dass wir bei meiner Geburt gemeinsam isoliert waren. Vermutlich verbrachten wir einige Zeit damit, auf nichts zu warten, nichts anderes zu tun, als uns unvoreingenommen zu entdecken, ohne jeglichen Argwohn. Ich betrachtete sie über den Nuckel des Babyfläschchens hinweg, das sie zwischen unseren Gesichtern im Gleichgewicht hielt. Bestimmt flüsterte sie mir all ihre Mutterliebe ins Ohr. Und bestimmt vergötterte ich sie mit der absoluten Ausschließlichkeit der allerersten Liebe.

Das erklärt vielleicht, warum ich es nicht geschafft habe, sie hinter mir zu lassen.

Jedenfalls nicht ganz.

Heute schneit es. Von da, wo ich sitze, mitten in meinem Studio, nehme ich draußen nichts anderes wahr als eine weiße Oberfläche und ihr Rauschen, wie vor einem halben Jahrhundert der Fernsehbildschirm zum Sendeschluss.

Ich schaue nie nach draußen, aber die Gegenwart meiner Mutter zwingt mich dazu, automatisch immer wieder den Blick zu heben, als registrierten meine Sinne ein bedrohliches Insekt ganz in der Nähe.

Lange, wenn ich als Kind wie angewachsen vor dem Fernseher hockte, konnte sich meine Mutter nähern, ohne dass ich ihre Anwesenheit bemerkte. Und damit ich in das zurückkehrte, was sie »die Realität« nannte, musste sie meinen Namen drei, vier Mal ungeduldig wiederholen.

Jeden Tag desinfiziere ich meine Maske und meine Arbeitshandschuhe. Dass ich Handschuhe sage, ist reine Gewohnheit, eigentlich sieht das mehr nach ganz dünnen Saugnäpfen aus, die auf meinen Fingerspitzen sitzen. Die ebenso dünne Maske deckt das Sichtfeld ab wie eine Schutzbrille und ist hinter den Ohren fixiert, mit dem Unterschied, dass die beiden Bügel hier für die Übertragung des Tons sorgen. Das Ganze wiegt unter drei Gramm. Wollte ich das Gesicht komplett frei haben, könnte ich auch Verbindungs-Kontaktlinsen tragen; regelmäßig probiere ich aus, was an neuen Modellen auf den Markt kommt, aber ich ertrage nicht den geringsten Fremdkörper auf der Hornhaut.

Jeden Tag pflege ich Gesicht und Hände mit Feuchtigkeitscreme; ich mache Stretching. Ich nehme einen Eiweißriegel mit einem halben Liter Wasser zu mir. Ich vergewissere mich, ob der Boden im Studio sauber ist; ich breite meine Expeditionsmatte darauf aus. Ich ziehe Maske und Handschuhe über.

Dann folgt der Übergang.

Ich betrete die virtuelle Realität, wo ich Anouk wiedertreffe, meinen Avatar, der aus Drahtgitternetz und einem Patchwork fotografischer Texturen in 16K-Auflösung besteht und die ganze Zeit vor mir schwebt. Anouks Haut erscheint wirklicher als meine eigene. Ihr Blick leuchtender. Sie atmet stets gleichmäßig. Tief. In der Grundposition verlagert sie stetig ihren Schwerpunkt mit einer leichten Bewegung des Beckens von einem Fuß auf den anderen. Sie nickt, blinzelt, verschränkt die Hände vor dem Bauch. Dann lässt sie mit einer fließenden, anmutigen Bewegung die verschränkten Arme sinken und stellt sich ein paar Sekunden lang auf die Zehenspitzen. Und unweigerlich beginnt die Animation von neuem. Oft, wenn sie in meinem Blickfeld auftaucht, bekomme ich Lust, ihr Gesicht oder ihren Körper zu verändern und suche mir etwas Entsprechendes.

Heute installiere ich meine Mutter im Studio, da habe ich viel zu tun.

Aber erst mal muss ich mich wieder initialisieren.

Ich will eine minimalistische Umgebung schaffen, Anouk ausziehen, ihre derzeitige Haut beibehalten, ihre Augen und sogar das Tattoo, das seit einer Woche ihre Schulterblätter ziert – ein Traumfänger, dessen längste Feder bis zu ihrem Steißbein reicht. Ich werde ihre schwarze Mähne durch einen klassischen Haarknoten ersetzen, vielleicht silbrig getönt. Sie in einer weißen Umgebung installieren, mit nur einer einzigen, strahlenden Lichtquelle. Etwas Schlichtes. Damit ich hoffentlich wieder zur Ruhe komme.

Ich werde alle Modifikatoren auf null stellen, mit denen ihr Gesicht Stimmungswechsel ausdrücken kann. Sie von sämtlichen Emotionen reinigen. Bis auch meine verschwunden sind.

In den letzten Wochen habe ich zu viel Zeit offline verbracht, fern des digitalen Kosmos; ich fing schon an zu ersticken.

Ich muss wieder zum Bild werden, so schnell wie möglich.

Schon vor der Pubertät wurde ich zu dem Bild einer Frau. Mit dreizehn träumte ich längst davon, mich auf Hochglanzpapier zu sehen.

Jede Woche lief ich schnell wie ein Gepard die Treppe zur Wohnung meiner Großeltern hoch, um in den neuesten Ausgaben des Magazine illustré und des Lundi zu stöbern, die meine Großmutter immer auf ihren antiken Tisch mitten in der Küche legte, auf eine Decke aus italienischer Spitze unter einem Kristallleuchter. Bücher gab es bei meinen Altvorderen nicht. Nur die Tittenmagazine meines Großvaters, der ganz offen, in einer Mischung aus Stolz und Schalk, seine Liebe zu Pin-ups bekundete. Es machte ihm Spaß, mir seine aktuelle Flamme zu präsentieren, unübersehbar auf dem Wandkalender neben der Küchenanrichte, ein Kunstwerk in ständiger Erneuerung. Die naiven Blondinen verwandelten sich in dralle Brünette, die im Folgemonat als kokette Rotschöpfe leuchteten, nur um dann wieder zu ihrer meist platinblonden Urform zurückzukehren. Jeden Monat kommentierte mein Großvater den Neuzugang: Guck dir bloß mal diese Kurve an, ein Gedicht, so einen perfekten Schwung des Rückens kriegst du auf der Straße niemals zu sehen, eine Großaufnahme von den Lippen dieser schönen Puppe wäre schon mehr als genug, aber schau dir die Zartheit der Höfe um ihre Brustwarzen an, die machen ihr Porträt vollkommen – das ist der Gipfel der Kunst. Meine Großmutter pflegte das mit amüsiertem Gelächter zu quittieren, während meine Mutter immer resigniert und vielleicht sogar schamhaft wirkte.

Meine Großmutter liebte Klatsch und Tratsch über die Stars, von deren Werk oder Talent sie gar nichts wusste, nur dass sie in den Zeitschriften auftauchten. Sie verfolgte weder Fernsehen noch Radio und hatte auch keine Ahnung vom Kino, aber durch die Regenbogenpresse wusste sie, wer die Promis waren. Sie hatte auch Nous deux abonniert, ein seltsames Magazin mit Fotoromanen, sehr kurzen, öden Schmonzetten mit italienischen Schauspielerinnen, die auch in die Kalender meines Großvaters gepasst hätten, so sehr ähnelten sie sich alle. Das ist mein kulturelles Familienerbe: die Faszination meines Großvaters für Pin-ups und die meiner Großmutter für Hollywood-Stars. Ich habe sehr früh gelernt, dass die Bilder der Weiblichkeit heilig sind.

Die berühmtesten Frauen der Welt waren allesamt auf den Seiten der Magazine fixiert. Oder auf dem Bildschirm zu Göttinnen erhoben. Oder eingerahmt für alle Ewigkeit in den Museen, wie ich etwas später entdecken sollte.

Ich selbst wurde zu einem Bild, ohne es zu merken.

Es war Mitte der Achtzigerjahre, die Ära des Spektakulären, des Material Girl, des absoluten Modediktats. Da gab es in der Oberstufe einen Modelwettbewerb. Der erste Preis bestand darin, auf einem Plakat von Vrai Coton zu landen, einer multinationalen Kette, von der hierzulande alle redeten und die ausschließlich T-Shirts, Unterhemden und Leggings in den Neonfarben der Saison verkaufte.

Eigentlich hätte ich niemals bei so einem Wettbewerb mitgemacht. Ich war schüchtern, fast stumm und verbrachte meine Tage damit, den Spott oder Neid der anderen zu vermeiden und am besten gar keine Reaktion hervorzurufen. Ich hatte zwei ebenso schweigsame Freundinnen, und zusammen beobachteten wir die anderen, die wussten, wie man auf sich aufmerksam macht. Wir hielten uns von den aufgeregten Grüppchen fern, wo Mädchen und Jungen sich in gehässigen, arroganten Dialogen herausforderten, immer wieder unterbrochen von schrillem, irrem Gelächter oder von scherzhaften Provokationen, die an Einschüchterung grenzten.

Ich war unsichtbar. Die Nähe anderer störte mich; Sozialkontakt war mir ebenso fremd wie Schlagfertigkeit. Ich konnte nur beobachten. Lauschen, ohne mich zu rühren. Im Idealfall vor einem Fernseher. Aber ich wusste, wie man in der Masse verschwindet. Und da ich ein wenig gebückt lief, um nicht aufzufallen, konnte auch keiner bemerken, dass ich größer war als der Durchschnitt und dünner.

Für den Wettbewerb hatte ich mich angemeldet, um in der Masse zu verschwinden, ich wollte es genauso machen wie alle anderen Mädchen. Ich bemühte mich ja auch jeden Morgen, meine hochtoupierte Mähne unter einer Haarspraywolke zu fixieren, und nebelte mir den ganzen Körper mit dem Pseudoparfüm Impulse ein. Ich folgte also dem Trend und stand schließlich lustlos unter den Scheinwerfern der Aula des Gymnasiums.

Später habe ich erfahren, dass mein vollkommen neutraler Gesichtsausdruck die Jury bezauberte. Da ich sämtlichen Blicken auswich, schien ich woanders zu sein, ohne echte Persönlichkeit. Mein Gesicht konnte jeglichen Ausdruck annehmen, ohne dass sich sein eigener durchsetzte. Und da ich so lange ohne eine Bewegung vor dem Fernseher gesessen hatte, mit entspanntem Unterkiefer und weit aufgerissenen Augen, im hypnotisierten Modus, war meine Präsenz inzwischen geradezu anorganisch geworden. Ich war schon nicht mehr ganz lebendig; ich ähnelte einem statischen Bild, das geräuschlos über den Laufsteg glitt.

Schon lange bevor ich begriff, dass ich mich für einen Beruf entscheiden, ja vielleicht sogar studieren musste, um ihn zu erlernen, wollte ich ein Bild sein.

Wäre ich zweihundert Jahre früher zur Welt gekommen, hätte ich seit meiner Kindheit gewusst, was ich werden sollte, das sagte mir meine Großmutter immer wieder. Ich hätte gelernt, das Land meiner Vorfahren zu bestellen, einen Haushalt zu führen, mit Puppen zu spielen, um in meinen Händen etwas zu halten, das noch kleiner war als ich. Als Prinzessin geboren, hätte ich bestimmt die Königin gegeben, mich mit einer Krone auf dem Kopf bis zur Erschöpfung im Kreis gedreht, abgeschottet in der uneinnehmbaren Festung meines zukünftigen Reiches.

Aber ich bin in den Vororten geboren, in einer Schlafstadt. Ich bin in einem Bungalow mit dem kompletten Sortiment elektrischer Haushaltsgeräte groß geworden. Und meine Mutter saß am Fenster, während der Geschirrspüler lärmte, betrachtete identische Bungalows bis zum Horizont und rauchte. Sie war fast so statisch wie die Bilder der Frauen in den Magazinen meiner Großmutter, aber ohne Schminke, keine frisierten Haare, keine Markenkleider. Zu einem bestimmten Zeitpunkt des Tages musste sie sich doch aktivieren; ob während ich in der Schule war oder vielleicht nachts, das habe ich nie erfahren. Am späten Nachmittag jedenfalls, wenn ich nach Hause kam, saß sie schon am Fenster, schweigend, rauchend. Und später am Abend ging sie ins Wohnzimmer im Souterrain, machte es sich mit einem Glas Wein, vielleicht auch einem Buch auf dem Sofa vor dem Fernseher bequem und rührte sich nicht mehr. Im Sommer, wenn sie schwanger war, trat sie vors Haus, um frische Luft zu schnappen; wir gingen einmal um den Block, sie rauchte ihre Zigarette, und ich aß ein Wassereis von Mr. Freeze. Dann hatte sie eine Fehlgeburt und kehrte mit ihrem Glas Wein ins Wohnzimmer zurück.

Meine Mutter war während meiner ganzen Kindheit schwanger.

Drei oder vier Monate lang wuchs ihr Bauch, dann weinte sie eine Woche lang. Ich hörte, wie sie meinem Vater zumurmelte, dass sie es nicht verstehe. Und mein Vater kippte ein großes Glas Gin.

Ich hätte neun Geschwister haben können. Vielleicht noch mehr.

Stattdessen hatte ich Puppen, die so groß waren wie ich und die ich im Wohnzimmer vor dem Bildschirm installierte. Ich dachte, dass das meine Mutter trösten würde. Dass sie mitten in dieser Versammlung so etwas wie Erfüllung spüren würde. Aber gegen ihre Trauer, die sie lethargisch werden ließ, mit einem fast so starren Blick wie meine Puppen, half überhaupt nichts.

Hätte es nicht den Fernseher gegeben, der mitten im Wohnzimmer thronte und ununterbrochen Sendungen und Filme ausspuckte, so als wäre ständig etwas los im Bungalow, den Fernseher, vor dem ich so oft wie möglich reglos verharrte – ich hätte mich schon in der Bildersphäre wähnen können.

Den Großteil meiner Lebenszeit habe ich damit verbracht, Bilder zu betrachten. Oder beim Lesen von Romanen in meinem Kopf welche zu erschaffen. Bevor ich in den Kindergarten kam, füllte ich meine Tage damit, eine Flut japanischer Zeichentrickfilme anzuschauen, darunter auch Der kleine Waisenprinz, die Geschichte der Biene Hutchi. Der Film erzählte mir schon damals von der Einsamkeit, die ich ein paar Jahre später wählen würde, und vor allem von der beängstigenden Abwesenheit einer Mutterfigur. Hutchis Mutter war irgendwo in den Weiten der feindseligen Natur verschwunden, meine war zusammengebrochen unter der Last des Todes in ihrem Bauch.

Ich weiß noch, wie ich zusammen mit Hutchi über Sümpfe voll bösartiger Kreaturen flog. Mit ihm tauchte ich unter Seerosen. Schlief geborgen in der Blüte einer Tulpe. Tanzte mit den Schmetterlingen. Trat heulend und schreiend gegen Ungeheuer mit riesigen Zangen an. Aber ich weiß auch noch, dass ich meine Tränen ein paar Minuten später wieder trocknete, mit amerikanischen Superhelden, die zwischen zwei Werbeblocks mal eben die Welt retteten, oder mit Bugs Bunny und seinen Kumpanen, diesem lässigen Schlawiner, so cool und selbstbewusst. Dann legte ich mich gern auf den Boden und blätterte in den Bildbänden meines Vaters, der ein komplettes Regal seiner Bibliothek der Geschichte militärischer Gräueltaten gewidmet hatte, ein anderes der Mafia und der Todesstrafe. Noch bevor ich lesen konnte, beschäftigte ich mich mit Fotos von Guillotinen, Galgen und anderen Folterinstrumenten und -techniken aus dem Mittelalter, etwa der Estrapade und der Schädel-quetsche – Instrumente, die übrigens auch in den machiavellistischen Plänen von Wile E. Coyote für den Roadrunner vorkamen. Ich wechselte zwischen den Abenteuern von Asterix, dem Gallier, denen von A. Tom Ameise und Fotos von den Massengräbern des Zweiten Weltkriegs.

Ich entdeckte das Fantastische und das Grauenhafte. Fiktion und Realität, miteinander vermengt.

Das lebhafte Lichterspiel auf dem Bildschirm vertrieb all meine Ängste. Mir wurde klar: Wenn ich mich von einer unendlichen Reihe Zeichentrickfilme berieseln ließ, konnte ich der Realität die Nase drehen; der Tod war immer nur ein kurzes Innehalten, ein paar Sekunden lang, bevor meine Idole sich von neuem mit Energie aufpumpten, um ihre Verfolgungsjagden wieder aufzunehmen und für neues wildes Gelächter zu sorgen.

Jahrelang und immer häufiger hatte ich das Bedürfnis, mich mit Hilfe dieser endlosen Lachsalven all dem entgegenzustellen, was, ob ich wollte oder nicht, von der Welt außerhalb der Bilder zu mir durchdrang.

Mein Begehren richtete sich von Anfang an auf Fiktion. Ich wäre am liebsten durch den Bildschirm hindurch zu Fanfreluche gekrochen, der guten Puppe, die sich mit Haut und Haaren in die Welt der Literatur begeben konnte.† Und hätte mich zusammen mit ihr in die großen Bücher gestürzt, deren Geschichten sie beim Lesen veränderte.

Auch das Begehren, gebeamt zu werden, kannte ich bereits, eine neue Haut zu bekommen, einen neuen Körper. Multipel zu sein, mutierbar. Ausgestattet mit Robotergliedmaßen oder -flügeln. Meine übernatürlichen Fähigkeiten oder meine außerirdische Herkunft zu entdecken. In der Zeit zu reisen.

Da ich ständig bewegte Bilder betrachtete, ständig und ausschließlich, verlor ich sehr früh jegliche Freude an der Realität.

Schon bevor ich in den Kindergarten kam, hatte ich Science-Fiction-Albträume, in denen ich auf einem Besenstiel flog wie Samantha in Verliebt in eine Hexe, aber meine Bewegungen nicht kontrollieren konnte. Ich versuchte, gefühlt stundenlang, meinen Körper auf zwei, drei Metern über dem Boden zu halten oder mich weiter in die Höhe zu erheben, mich in der Waagrechten fortzubewegen, Gebäude und Bäume zu umfliegen, aber immer wieder drohte mich der Boden mit seinem Sog zu verschlingen. Ich schaffte es nicht, mich zu befreien, und wachte schweißgebadet auf, völlig erschöpft von all den Manövern. Noch immer lässt mich die Erinnerung an diese Flugversuche nicht los; zwischen der Erinnerung an meine Träume und der an Alltagsereignisse besteht kein Unterschied. Fliegen habe ich genauso mühelos erlebt wie das Schwimmen im Meer. Genauer gesagt, bin ich viel öfter geflogen als geschwommen.

Und ich erinnere mich auch besser daran.

Als Kind wollte ich den Unterschied zwischen Sein und Schein nicht akzeptieren. Was auf dem Bildschirm oder zwischen den Zeilen eines Romans geschah, hatte für mich größeren Wert als die Realität. Was ich beim Lesen und beim Fernsehen empfand – Faszination, Vergnügen, Neugier, Verblüffung –, erwies sich als unbestreitbar intensiv. Aber sehr früh wurde mir klar – zu früh vielleicht –, dass ich mich auf der falschen Seite des Bildschirms befand.

Sämtliche Sommer meiner Kindheit verbrachte ich zurückgezogen in meinem Zimmer im Souterrain und verschlang hinter verschlossenen Vorhängen zwei bis drei Romane am Tag. Meine Erinnerungen an damals beschränken sich auf ein Schlafzimmer von neun Quadratmetern und ein Wohnzimmer von gut elf Quadratmetern. Dort trank mein Vater ständig Rum-Cola und hörte die Hits der Sixties, umgeben von seiner Waffenkollektion, die er ein einziges Mal im Jahr polierte, den Rest der Zeit sammelte sie Staub an, während er über den Dauerdetonationen seiner Kriegsdokus einschnarchte. Meine Mutter richtete sich in der Küche häuslich ein, um Michel Tremblay und Danielle Steel zu lesen, dazu gab es ihre du-Maurier-Zigaretten und italienischen Wein. Jeder von uns verpuppte sich in seinem Kokon aus Wörtern, Bildern oder Musik.

Wenn mein Vater arbeitete, öffnete ich irgendwann im Laufe des Nachmittags meine Zimmertür und bewegte mich drei Meter weit zum Fernseher, um mich vor meiner täglichen Lichtquelle niederzulassen. Am frühen Abend begab ich mich nach draußen, in die kleine Stadtbücherei, auf der Suche nach neuen Universen, die ich erkunden konnte. Vor allem Science-Fiction. Oder Fantastisches. Die echteste, die reinste Fiktion; die machtvollste. Ich kehrte in mein Zimmer zurück, zog die Vorhänge auf, hinter denen ein Eckchen Mond sichtbar wurde, und versenkte mich wieder ins Lesen.

Schnell wechselte ich von den Geschichten der Comtesse de Ségur über kleine unglückliche Vorbildmädchen zur Reihe »Die fantastische Maske« und den Büchern des Verlags Fleuve noir, wo ich in Berührung mit unzähligen ungeheuerlichen Wesen kam. Ich hatte keine Ahnung von Literatur, kannte nicht einmal das Wort, dessen Bedeutung ich erst Jahre später im Französischunterricht am Gymnasium lernte. Wie viel die Texte taugten, die ich nach dem Zufallsprinzip aus der Bücherei holte, wusste ich nicht, aber ich war eingefleischt neugierig. Je seltsamer, je unrealistischer, desto begieriger wurde ich. Schon damals lebte ich gern in parallelen Realitäten, in mehreren Wachträumen gleichzeitig halb am Leben. Morgens vertiefte ich mich in den Gothic-Kosmos von Dracula, und beim Dunkelwerden schoss ich mich in die Zukunft, irgendwo jenseits der 612. Galaxie eines Caroff-Romans.

Seit ich auf die Welt kam, wurde ich zur Zeugin von Fiktionen gemacht, und die spielten sich jenseits einer Glasscheibe ab, vor der ich ebenso fromm kniete wie eine Gläubige vorm Altar. Ich verbrachte viel mehr Zeit damit, die Entwicklung fiktionaler Figuren zu ergründen, als meine Eltern zu beobachten. Auf der Welt sein hieß für mich immer, mich dem Außen zuzuwenden. Dem Anderen. Der schillernden Person im Fernsehen, dem Erzähler, der mir seine Abenteuer in einer tausendmal vielfältigeren Komposition aus Wörtern schildert, als es die paar Einsilber im hiesigen Zungenschlag sind, die mich zu Hause umgeben.

Sehr früh habe ich begriffen, dass sich das wahre Leben dort abspielte, auf dem Bildschirm. Oder auf den Seiten eines Buches. Alles andere war lästige Pflicht, schleunigst zu erledigen, damit ich so oft wie möglich die unwahrscheinlichen Welten aufsuchen konnte, die sich über eine Antenne empfangen oder auf Papier drucken ließen.

Bevor meine Mutter es mir irgendwann erklärte, habe ich lange geglaubt, dass sich das, was ich auf dem Bildschirm sah, tatsächlich irgendwo live abspielte. Dass das Fernsehen eine Art Webcam sei, noch bevor es Webcams gab.

Später habe ich dann, einigermaßen misstrauisch, versucht, die fiktiven Figuren mit den strahlenden Promis des Star-Systems in Bezug zu setzen. Ich sah ihre Schlösser in den Zeitschriften, ich verfolgte die Preisverleihungen und die Defilees auf dem roten Teppich, ich merkte mir, wer mit wem verlobt war, wer sich gerade hatte scheiden lassen und wer die eingefleischten Singles waren. Was mich zunächst faszinierte, waren aber weder Ruhm noch Reichtum der Promis, sondern vielmehr die fiktiven Figuren, die sie spielten. Diese menschlichen Wesen, die vielleicht einmal in den Vorstädten gewohnt, vielleicht selbst erstarrt vor ihren Fernsehern gesessen hatten wie ich und dann dazu auserwählt wurden, auf dem Bildschirm ewig zu werden. Auf der anderen Seite des warmen Glases zu existieren, auf das ich oft die Hände legte, um meine Idole irgendwie zu berühren – das also war absolutes Prestige.

Und so lautete meine erste berufliche Entscheidung:

Ich wollte eine fiktive Figur werden, mit einem Körper aus Licht auf dem Bildschirm.

†Fanfreluche, Kinderserie im kanadischen Fernsehen von 1968–1971, geschrieben und gespielt von Kim Yaroshevskaya. (A. d. Ü.)

Über das Erstaunen

Letzten Herbst, an einem Montag um die Mittagszeit, bekomme ich einen Anruf von meinem Vater. Kaum hat er meinen Namen gesagt, mit einem zu schrillen Fragezeichen, wird mir klar, es ist ein Notfall. Er will wissen, ob es mir gut geht. Sofort dreht mein Herzschlag durch. Während er spricht, betrachte ich Anouk, erstarrt in ihrer Pose à la Verzückung der Heiligen Theresa. Das Licht streift sacht die Falten der Kutte, die ihren Körper und einen Teil ihres Kopfes verdeckt. Ich lasse den zweiten Scheinwerfer in der Schwebe, den ich zuerst verschieben wollte, um den mystischen Ausdruck ihres Gesichts besser sichtbar zu machen. Ich höre fast nichts. Aber das ist ziemlich egal. Mein Vater weiß nicht, wie er’s sagen soll. Er weint. Er stammelt, dass meine Mutter in der Notaufnahme ist.

Mein letzter Besuch im Haus meiner Eltern ist über zwei Jahrzehnte her, ich hatte seither nie wieder mit meinem Vater gesprochen.

Unsere letzte Auseinandersetzung war kurz. Brutal.

Ich war gerade zu Hause angekommen, stand noch in Mantel und Stiefeln in der Diele, schon unangenehm berührt durch die Wolke Zigarettenrauch, die seit Ewigkeiten im Haus hing. An dem schmierigen Gesichtsausdruck meines Vaters hatte ich gleich erkannt, dass er schon jetzt, vorm Abendessen, betrunken war. Meine Mutter war noch nicht aus ihrem Sessel aufgestanden, um mich zu begrüßen. Und sofort brach der Ausnahmezustand aus.

Eine Woche zuvor hatte die Lokalzeitung ein Porträt von mir gebracht, in dem meine Aktivitäten in Europa und vor allem mein Mitwirken an einem Gruppenfoto vorkamen: ein gemeinsames Aktfoto von lauter Models, als Aktion für den Tierschutz. Wir waren etwa dreißig Frauen vor weißem Hintergrund, weiches Licht, ungeschminkt, allesamt stehend, ohne wirklich zu posieren. Das Foto wirkte nüchtern; mein Vater fühlte sich trotzdem gedemütigt. Dass der Körper seiner Tochter den Augen der Allgemeinheit dargeboten wurde, war ihm zutiefst peinlich. Er sah keinerlei Unterschied zwischen den Pornofotos, die im Hustler standen, und den stilisierten Bildern, bar jeder erotischen Geste, die in den größten Modezeitschriften erschienen. Ich stand nackt in seinem Lokalblatt, und meine überklebten Brustwarzen verschärften die Beleidigung nur. Mein Vater fixierte mich voller Verachtung, während er seine Wut herausschrie, und schließlich zerknüllte er die Zeitung und warf sie mir vor die Füße. In seinem Furor spuckte er sogar auf den Küchenboden und verkündete mit ernster Stimme: Du ekelst mich an. Dann stapfte er schwerfüßig in sein Zimmer. Meine Mutter hatte sich nicht gerührt, nichts erwidert; sie betrachtete die Plastiktischdecke zwischen ihren Händen und kratzte sich den linken Handrücken mit den Fingern der Rechten. Ich war dermaßen baff, dass mir darauf nichts einfiel. Mir fehlte die Kraft, mich zu verteidigen oder irgendetwas zu erklären.

Ich ging wieder.

Mein Vater hatte sich nie entschuldigt; vielleicht hatte er seinen Anfall sofort wieder vergessen, betrunken wie er war. Vielleicht hatte er immer schon gefunden, dass ich seine Verachtung verdiente. Auch meine Mutter erwähnte den Vorfall nie mehr. Zwanzig Jahre lang schwieg ich lieber, wie sie. Schweigen rund um den Vorfall. Oder um meinen Alltag. Oder darüber, was ich zu egal welchem Thema dachte. Ich wurde noch viel oberflächlicher als das kommerziellste Bild in der Werbung.