Systemische Organisationsanalyse - Günther Mohr - E-Book

Systemische Organisationsanalyse E-Book

Günther Mohr

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Beschreibung

Mohr präsentiert zehn zentrale Dynamiken, die in Unternehmen und anderen Organisationen wirksam sind. Diese Systematik reduziert in optimaler Weise die Komplexität eines Organisationssystems, ohne die Zusammenhänge zu simplifizieren. Sie ermöglicht, eine Organisation angemessen einzuschätzen und die entscheidenden Punkte für die Beeinflussung des Systems zu finden. "Dieses Buch bietet, gut aufbereitet, entscheidende Perspektiven für das Verstehen von Organisationen. Für gehobene Professionalität ist wichtig, neben Methoden und Rezepten auch die wesentlichen Prinzipien, die in Organisationen wirken, zu verstehen. Anhand von vielen konkreten Beispielen wird anschaulich vom Alltag in Unternehmen berichtet und von den Herausforderungen, denen sich die Menschen darin gegenübersehen." (Bernd Schmid)

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EHP – HANDBUCH SYSTEMISCHE PROFESSIONALITÄT UND BERATUNG

Hg. Bernd Schmid

Der Autor:

Günther Mohr (Jg. 1956) integriert als Volkswirt und Psychologe in seiner Arbeit zwei wesentliche Bezüge des Wirtschafts- und Organisationslebens: die ökonomische und die menschliche Perspektive. Als Organisationsentwickler und Coach berät er Unternehmen und andere Organisationen. Seine Vorstandstätigkeit im internationalen Berufsverband ITAA (International Transactional Analysis Association) lässt ihn auch Bezug nehmen auf die globale Wirtschaftsentwicklung und deren Auswirkungen auf Unternehmen und Menschen. Sein aktuelles Arbeitsfeld ist die Beratung zur Professionalisierung und Entwicklung von Organisationen in den Bereichen Führung und Management. Mit seiner Lehrberechtigung in Transaktionsanalyse bildet er außerdem Organisationsberater und Coaches aus. Mit einer Reihe von Fachpublikationen hat er die Entwicklung der Arbeitsfelder Coaching und Organisationsentwicklung unterstützt. www.mohr-coaching.de.

© 2006 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbach www.ehp.biz

Redaktion: Corinna Roßbach, Hannah Michels

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagentwurf: Gerd Struwe - unter Verwendung eines Bildes von Felix Nikolaus Mohr: ›Berg‹ - Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, Berlin Druck und Verarbeitung: LegoPrint, Lavis TN

Alle Rechte vorbehalten All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher.

eBook-ISBN 978-3-89797-536-1

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Inhalt

Geleitwort des Herausgebers

Vorwort

1. Grundlage: Systemische Organisation

1.1 Die neue Qualität der wirtschaftlichen Entwicklung

1.2 Die Tiefenstruktur eines Organisationssystems

1.3 Organisationssysteme im Unterschied zu anderen Systemen

1.4 Das Modell der Organisationssysteme

1.5 System Design and System Emergence

1.6 Systemdynamiken ordnen das Chaos

1.7 Die Erkundungsreise

2. Systemstruktur

2.1 Die Dynamik der Aufmerksamkeit

2.1.1 Aufmerksamkeit

2.1.2 Aufmerksamkeit, Wirtschaftinstitutionen und Investitionen

2.1.3 Tiefenbilder von Organisationen

2.1.4 Die Entwicklung gemeinsamer Aufmerksamkeit

2.1.5 Herrschende Blickwinkel und Komplexität

2.1.6 Wünschenswertes und Abschließendes

2.2 Die Dynamik der Rollen

2.2.1 Rollen

2.2.2 Das Organisationssystem und Metarollen

2.2.3 Unternehmensfunktionen und Funktionsrollen

2.2.4 Vier-Welten-Modell: Im Spannungsfeld der Kontexte

2.2.5 Dynamische Rollenveränderung

2.2.6 Wünschenswertes und Abschließendes

2.3 Die Dynamik der Systembeziehungen

2.3.1 Systembeziehungen

2.3.2 Der fundamentale Attributionsfehler

2.3.3 Rollenbeziehungen und Personenbeziehungen

2.3.4 Übertragungsbeziehungen

2.3.5 Führungsbeziehungen

2.3.6 Machtbeziehungen

2.3.7 Versuche, Systembeziehungen angemessen zu regeln

2.3.8 Weitere Beispiele zu Systembeziehungen

2.3.9 Wünschenswertes und Abschließendes

3. Systemprozesse

3.1 Kommunikationsdynamiken

3.1.1 Kommunikationsdynamiken als Muster

3.1.2 Kann man doch nicht kommunizieren?

3.1.3 Der Hintergrund der Kommunikationsdynamik

3.1.4 Information in die gesamte Organisation kommunizieren

3.1.5 Die Dynamik der Macht-Kommunikation

3.1.6 Spezielle Kommunikationsdynamiken

3.1.7 Wünschenswertes und Abschließendes

3.2 Problemlösungsdynamiken

3.2.1 Problemlösungsdynamiken

3.2.2 Komplexität, Individualisierung, Gleichzeitigkeit

3.2.3 Die Dynamik von Problemtrance und Lösungstrance

3.2.4 Standardlösungen

3.2.5 Die Dynamik der Fehlerkultur

3.2.6 Spezielle Problemlösungsdynamiken

3.2.7 Konflikte als typische Problemlösungsdynamiken in Unternehmen

3.2.8 Weitere Beispiele für Problemlösungsdynamiken

3.2.9 Wünschenswertes und Abschließendes

3.3 Erfolgsdynamiken

3.3.1 Erfolgsdynamiken und ihr Erleben

3.3.2 Hintergrund der Erfolgsdynamiken: Bedürfnisse, Gefühle

3.3.3 Spezielle (Miss-)Erfolgsdynamiken in unternehmerischen Systemen

3.3.4 Weitere Beispiele zu Erfolgsdynamiken

3.3.5 Wünschenswertes und Abschließendes

4. Systembalancen

4.1 Dynamik der Gleichgewichte

4.1.1 Gleichgewichte

4.1.2 Balancierte Motivationsdynamiken

4.1.3 Rückwärtsdynamiken: Die Historie als Gleichgewichtsvorrat

4.1.4 Seitendynamik: Nischengleichgewichte

4.1.5 Der Weg von Gleichgewicht zu Gleichgewicht

4.1.6 Changedynamik im Einzelnen

4.1.7 Wünschenswertes und Abschließendes

4.2 Dynamik der Rekursivität

4.2.1 Die Schachbrettmetapher

4.2.2 Die Dynamik der Rekursivität

4.2.3 Lösungsillusionen: Cleverness, Parallelprozesse, Zahlen-Distanz

4.2.4 Kaskadisches Denken und eine ganzheitliche Lenkung der Rekursivität

4.2.5 Positive Rekursivität durch fraktale Beratung und praxisberatende Qualifikationssysteme

4.2.6 Gelebte Rekursivität

4.2.7 Managementsysteme und Versuche, die Rückbezüglichkeit zu steuern

4.2.8 Wünschenswertes und Abschließendes

5. Systempulsation

5.1 Äußere Pulsation

5.1.1 Die Dynamik der äußeren Grenzlinien

5.1.2 Die Dynamik von Offenheit und Geschlossenheit

5.1.3 Hintergrund: Zugehörigkeit, Bindung und Existenzsicherung

5.1.4 Fließende Grenzlinien

5.1.5 Die föderale Organisation – eine Flexibilisierung der äußeren Grenzlinien

5.1.6 Weitere Beispiele für äußere Pulsation

5.1.7 Wünschenswertes und Abschließendes

5.2 Innere Pulsation

5.2.1 Die Dynamik der inneren Grenzlinien

5.2.2 Subsysteme

5.2.3 Stammes- und Reviergrenzen

5.2.4 Lösungsillusionen

5.2.5 Gegenübertragung

5.2.6 Wünschenswertes und Abschließendes

6. Systemische Organisationsanalyse, Beratung und Tools

Tools: Anregungen für Arbeitsblätter

Literatur

Stichwortverzeichnis

Geleitwort des Herausgebers

Günther Mohr setzt mit dieser umfassenden Darstellung der systemischen Organisationsanalyse die Reihe Systemische Professionalität und Beratung auf würdige Weise fort.

Dieses Buch ist unterhaltsam zu lesen und bietet in vieler Weise einen frischen Blick auf Organisationen, und es dürfte bei Betroffenen und Akteuren viele Aha-Effekte auslösen, sei es als leises Stöhnen, sei es als Schmunzeln oder als freudige Erregung über gewonnene Erkenntnisse oder neue Möglichkeiten. Darüber hinaus erhalten auch Berater und andere Fachleute im Bereich Organisationen eine dichte Übersicht aktueller systemischer Ansätze und ihrer praktischen Bedeutung.

Dieses Buch bietet, gut aufbereitet, entscheidende Perspektiven für das Verstehen von Organisation. Für gehobene Professionalität ist wichtig, neben Methoden und Rezepten auch die wesentlichen Prinzipien, die in Organisationen wirken, zu verstehen. Dennoch gelingt das hier ohne eine abgehobene Darstellung. Anhand von vielen konkreten Beispielen wird anschaulich vom Alltag in Unternehmen berichtet und von den Herausforderungen, denen sich die Menschen darin gegenübersehen.

Überhaupt ist dies ein integratives Buch. Einerseits werden Strukturen, Prozesse und Prinzipien als Systemmerkmale beschrieben, andererseits werden die beteiligten Menschen, ihr Erleben und ihr Handeln, also gelebte Organisationskultur dargestellt.

Beide Perspektiven zusammen sind für Erfolg und Vitalität einer Organisation von entscheidender Bedeutung.

Bernd Schmid

Wiesloch im Herbst 2005

Vorwort

Firmen haben mich von Anfang an fasziniert. Mir ist heute noch der Geruch von Öl und frisch geröstetem Kaffee in der Nase, wenn ich an die ersten Besuche in »der Firma«, in der mein Vater arbeitete, denke. Es war ein kleiner regionaler Lebensmittelgroßhändler, bei dem Kaffee, Öl und Getreide noch »lose« verkauft wurden. Vor allem kommen mir sofort die freundlichen Gesichter der im blaugrauen Overall gekleideten Lagerarbeiter und der weiß bekittelten Büroangestellten in Erinnerung, die offensichtlich Spaß bei der Arbeit hatten. Diesen Aspekt habe ich mir anscheinend gemerkt: Arbeit in und für Organisationen kann prinzipiell Spaß machen.

In der Zwischenzeit hatte ich die Gelegenheit zahlreiche Organisationen kennen zu lernen, sowohl als Arbeitnehmer wie auch als externer Organisationsberater. Spaß steht in diesen Organisationen nicht unbedingt im Vordergrund. Aber man kann Firmen beeinflussen und ändern.

In diesem Sinne sind die Hauptziele des Buches, die Interessantheit von Unternehmen darzustellen und auch praktische Ansatzpunkte für die Beeinflussung einer Firma zu liefern. Das hier vorgestellte neue Konzept, mit dem man Organisationen – ob Wirtschaftsunternehmen, Dienstleister, Behörden oder Non-Profitunternehmen – betrachten kann, lässt offene und verdeckte Dynamiken sichtbar werden. So werden zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Verbesserung einer Organisation deutlich. Nach der Erörterung einiger Grundlagen der systemischen Vorstellung von Organisationen erfolgt die Darstellung von vier Dynamikfeldern mit für Organisationen wesentlichen Dynamiken.

Das Buch präsentiert zehn zentrale Dynamiken, die in Unternehmen und anderen Organisationen wirksam sind. Die Systematik der zehn Perspektiven auf die Unternehmensrealität reduziert in optimaler Weise die Komplexität eines Organisationssystems, ohne die Zusammenhänge zu simplifizieren. Sie ermöglicht, eine Organisation angemessen einzuschätzen und die entscheidenden Punkte für die Beeinflussung des Systems zu finden.

1. Grundlage: Systemische Organisation

1.1 Die neue Qualität der wirtschaftlichen Entwicklung

Ein Bote des Teufels kommt von einem Besuch bei den Menschen zurück und berichtet dem Teufel: »Luzifer, bei den Menschen ist eine gute Idee entwickelt worden, die den Menschen Heilung und Glück bringen kann. Wir müssen etwas unternehmen. Was soll ich tun?« Da antwortet Luzifer: »Sorge dafür, dass die Idee organisiert wird!«

Organisationen haben durchaus etwas Zwiespältiges. Man kann eine gute Idee organisieren, damit aus ihr etwas wird. Eine Organisation kann aber auch zum Selbstzweck, zum Hemmschuh werden und die gute Idee ruinieren.

Organisationen sind so vielfältig wie die Menschen, die in ihnen arbeiten. [DAS VIELFÄLTIGE AN ORGANISATIONEN] Es gibt die Familienunternehmen, die schon seit vielen Generationen bestehen und auf Tradition und Beständigkeit aufbauen. Es gibt die Konzerne, die viele Zehntausend Menschen beschäftigen und oft eine ganze Region ernähren. Es gibt Verwaltungsapparate, an denen Luzifer seine wahre Freude hätte und es gibt die Start-Ups, die täglich neu gegründet werden und – da genügt ein Blick in den Bundesanzeiger – auch täglich wieder Pleite gehen. Trotz aller Bestrebungen, sich mittels Benchmarking an Messlatten von vermeintlich Besten zu orientieren und diese zu kopieren, sind die unterschiedlichsten Formen von Unternehmen erhalten geblieben und existieren nebeneinander. Aber alle haben einen gemeinsamen Kern: eine charakteristische Tiefenstruktur mit den dort wirksamen Dynamiken.

In diesem ersten Kapitel geht es um Grundfragen:

• Wie kann man aus der systemischen Perspektive die Organisation betrachten?

• Welche Systematik hilft, eine Organisation zu erfassen?

• Wie prägen die Dynamiken, die Organisationen entstehen lassen, das Handeln in Organisationen?

In sieben Schritten wird durch diese Fragestellungen geführt. Sie können sich selbst dem Thema nähern, indem Sie für sich klären, welche Bilder von Organisationen und anderen sozialen Systemen Sie selbst haben. Sie können für sich prüfen, worauf Sie die Entwicklung von Firmen, Institutionen und anderen Organisationen zurückführen.

Ein kritischer Punkt

Unternehmen sind an einem kritischen Punkt angelangt. Daten wie Umsätze, Gewinne und Aktienkurse beschreiben die tatsächlichen Verhältnisse in Unternehmen und ihre Leistungsfähigkeit nur noch unzureichend. Einerseits geben diese Daten aufgrund ihrer rückwirkenden Betrachtung nicht die entscheidungsrelevanten Informationen. Andererseits sind sie sehr interessengeleitet. Das zeigen Mogeleien an den Bilanzen, die immer wieder aufgedeckt werden und die Glaubwürdigkeit des Zahleninstrumentariums und sogar des unternehmerischen Tuns generell in Frage stellen.

Doch die Zahlen sind nicht das einzige Problem. [DER MEDIALE AUFFÜHRUNGSDRUCK] Nachrichten über eine Firma sind immer nur die Spitze eines Eisberges, selbst wenn sie bei Unternehmen, die stark in der öffentlichen Beobachtung stehen, fast täglich erscheinen. Der große Teil des Unternehmens ist das, was unter der Oberfläche verborgen bleibt, mit seinen so unterschiedlichen Dynamiken. Diese haben oft eine Qualität, dass man sich wundert, wie in diesen Organisationen tatsächlich Ertrag produziert wird.

Was hier über Wirtschaftsunternehmen gesagt wird, lässt sich auf andere Organisationen wie Behörden oder soziale Organisationen übertragen. Der Begriff Unternehmen bezeichnet jedoch einen wesentlichen Aspekt der hier betrachteten Dynamiksysteme. Eine Unternehmung ist das aktive Angehen einer konkreten Fragestellung mit dem Ziel, dabei Erfolg zu erlangen. Organisation beleuchtet zunächst mehr die gewählte Form des Zusammenwirkens mehrerer in Richtung auf ein größeres Ziel, das ein Einzelner nicht alleine erreichen kann. Mittlerweile haben sich beide Begriffe in der Praxis aufeinander zu bewegt.

Viele Nichtwirtschaftsorganisationen integrieren unternehmerisches Denken. [NEUE QUALITÄT DER WIRTSCHAFTLICHEN ENTWICKLUNG] Im Folgenden wird der Begriff Unternehmen für ein sehr weites Spektrum von Organisationen gebraucht. Dies beinhaltet Wirtschaftsunternehmen wie auch öffentliche und soziale Organisationen.

Global denken – lokal handeln

Die heutige Form der Globalisierung ist ein Faktum, das es in der jetzigen Form noch nicht gab. Die ihr zugrundeliegende technologische Entwicklung produziert im Gegensatz zu früheren internationalen Wirtschaftsentwicklungen neue Bedingungen. Denen kann sich heute kaum eine Organisation mehr entziehen. [WELTGESELLSCHAFT] Der Soziologe Ulrich Beck beschreibt das Kräftespiel, das sich entwickelt hat: »Wir leben in einer multidimensionalen, polyzentrischen, kontingenten, politischen Weltgesellschaft, in der transnationale und nationalstaatliche Akteure Katz und Maus miteinander spielen.« (Beck 1997, 195) Die Akteure sind Unternehmen, Staatsregierungen, überstaatliche politische Institutionen (EG, UNO, …), NGOs (Greenpeace, Amnesty International, attac, …). [NON GOVERNMENTAL ORGANISATION (NGO)] Das Gewicht einzelner Unternehmensleitungen im Vergleich zu beispielsweise demokratischen staatlichen Organen hat sich massiv verschoben. Der Einfluss der Unternehmen ist gewachsen.

Institutionen, die in der Lage sind, das Kräftespiel zu regeln, fehlen zur Zeit noch. Beck spricht davon, dass ein global desorganisierter Kapitalismus entsteht, für den es keine hegemoniale Macht und kein internationales Regime – weder ökonomisch noch politisch – gibt. Die Verwobenheit der Kräfte bringt auch neue Tätigkeitsfelder für Organisationen. Zum Teil können die NGOs Probleme anpacken, die sich Nationalstaaten aus Rücksichtnahme nicht zu benennen trauen. Insgesamt erhöht die aktuelle Globalisierung die Komplexität des Umfeldes für alle Organisationen.

1.2 Die Tiefenstruktur eines Organisationssystems

Eine Organisation entsteht, wenn ein Einzelner oder eine Gruppe von Personen sich entschließt, ein größeres Ziel zu erreichen, das ein Einzelner nicht schaffen kann. [EIN ORGANISATION ENTSTEHT] Dieser Prozess der Organisation lässt sofort zusätzlich ein System von Beziehungen entstehen. Der Begriff System bedeutet ein wechselseitiges Aufeinanderwirken der Menschen in einem Beziehungsnetz. Dies betrifft auch die unterschiedlichen Zielvorstellungen, Herkünfte und Interessen der Menschen. All diese Aspekte sind für die Beteiligten nur zu einem Teil wahrnehmbar. Die systemische Wirkung dieser Verschiedenheit und Vielschichtigkeit ist jedoch der Startpunkt einer Tiefenstruktur der Organisation. Unbewusst vereinbart man sich quasi, dass bestimmte Dinge offen verhandelt werden. Andere werden außen vor gelassen, wieder andere sind gar nicht im Blickfeld, so dass sie automatisch ausgeblendet werden. [EINE TIEFENSTRUKTUR AUS MUSTERN UND DYNAMIKEN] Diese Struktur der Organisation aus teils in der Aufmerksamkeit und teils nicht direkt im Fokus stehenden Elementen ergibt eine für jede Organisation charakteristische Mischung. Neben der offenen Oberflächenstruktur gibt es eine Tiefenstruktur, die auch aus Mustern und Dynamiken besteht, die das Denken und Fühlen und daraus resultierend das Handeln der Systemmitglieder bestimmen. Wer neu in eine Organisation kommt, hat oft noch einen verwunderten Blick für diese als »Selbstverständlichkeit« existierenden Muster. Wenn man ein Organisationssystem tatsächlich beeinflussen will, muss man an die Tiefenebene heran. [DIE TYPISCHE CHARAKTERISTIK] Die Tiefenstruktur und auch die Relation zwischen der offiziell in Verlautbarungen gepflegten Oberflächenstruktur und der Tiefenstruktur bestimmen jenseits aller Organisationsdiagramme, Firmenbroschüren und Leitlinien die eigentliche Dynamik eines Unternehmens- oder Organisationssystem. Wie bei einem Eisberg sind für ein Unternehmen sehr unterschiedliche Tiefenschichten relevant.

Das System als eigenständiger Beziehungspartner

Insbesondere für größere Unternehmen gilt, dass sogar das System ein eigenständiger Beziehungspartner jenseits der einzelnen Personen wird. Die im Unternehmen Arbeitenden bauen eine Beziehung zu der Gesamteinheit Unternehmen auf. Aus den unterschiedlichen Perspektiven jedes Beteiligten wird eine Ganzheit des unternehmerischen Systems wahrgenommen und »das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«, wie Aris toteles vermerkte. Die Tiefenstruktur kann von unterschiedlichen Personen unterschiedlich bewertet werden. Ein Humansystem selbst entwickelt bestimmte Gewohnheiten und sogar eine bestimmte »geistige Kraft«. Diese trägt sich weiter, auch wenn einzelne Personen wechseln. Dieser Geist der Tiefenstruktur wird zwar geschaffen durch die beteiligten Kräfte, er ist aber auch unabhängig von ihnen. Auch beispielsweise ein Wechsel im Topmanagement hat hier kurzfristig nur begrenzten Einfluss. [DIE ESSENZ DES HUMANSYSTEMS] Manchmal scheint es sogar so, als wäre einem Unternehmen die geistige Kraft regelrecht abhanden gekommen. Wenn man in diese Firmen kommt, wirken alle bezüglich des Unternehmens hoffnungslos. Man macht zwar sein Tagwerk, aber ein »wofür« ist nicht mehr klar. Es ist keine geistige Kraft mehr für das Unternehmen da. Alle versuchen noch irgendwie durchzuhalten, aber das Leben und die Ausstrahlung ist verloren gegangen. Die geistige Kraft eines Unternehmens kann mehr oder weniger stark sein. Sie kann sogar zum Erlöschen gebracht werden. Dies ist manchmal sehr schnell spürbar, wenn Menschen über ihr Unternehmen sprechen.

Jeder Mensch, der an einem Organisationssystem in irgendeiner Weise beteiligt ist, gestaltet mit an der gemeinsamen Ausstrahlung dieses Systems. Er bringt sich selber als Person mit seiner Persönlichkeitsstruktur ein. Dabei hat natürlich nicht jeder den gleichen Einfluss. Macht ist ein sehr wirksames Systemphänomen in Organisationen (siehe dazu auch Kap. 2.3). Sie kann genutzt oder missbraucht werden. Der Geist eines Systems kann eine Zeitlang von einer führenden Person bestimmt werden. Diese bestimmt dann alles, aber nur, wenn die anderen sie gewähren lassen.

1.3 Organisationssysteme im Unterschied zu anderen Systemen

Ein Organisationssystem unterscheidet sich von anderen Systemen, etwa der Familie. [VERTRÄGE ALS CHARAKTERISTIKUM EINES ORGANISATIONSSYSTEMS] Die Zugehörigkeit im Organisationssystem beruht auf Verträgen, nicht auf Verwandtschaft oder Elternschaft. Dennoch ist schon dieser Aspekt oft kaum zu spüren, da genau das Familienbild für die meisten Menschen die erste Erfahrung eines Systems ist und deshalb zur Übertragung reizt. Das »unternehmerische« am Organisationssystem legt den Fokus auf das größere Ziel, eine Dienstleistung zu kreieren, ein Produkt herzustellen oder eine andere Aufgabenstellung gemeinsam anzugehen. [DAS UNTERNEHMERISCHE EINES ORGANISATIONSSYSTEMS] Die sogenannten Nonprofit-Unternehmen werden heute ihrem Pendant, den Profitunternehmen, die offen Gewinnerzielung propagieren, zunehmend ähnlicher. Nonprofit-Unternehmen versuchen sich klarer an bestimmten Zielen zu orientieren und versuchen auch ihre Geld- und Ressourcenströme mehr an betriebswirtschaftlichen Prinzipien zu orientieren.

Abb. 1

Erwartungen an Organisationen

Von Organisationen handelt auch die Geschichte des indischen Weisheitslehrers Jiddu Krishnamurti. [ORGANISATIONEN UND DAS SEELENHEIL] Die theosophische Gesellschaft war Anfang des 20. Jahrhunderts eine große spirituelle Gemeinschaft, die das Gemeinsame der großen Religionen verbinden und dadurch den einzelnen Menschen zum Heil führen wollte. Krishnamurti wurde als junger Mann in Indien aufgrund seiner Ausstrahlung, die er schon als Kind und Jugendlicher besaß, von der theosophischen Gesellschaft entdeckt und dann an den besten Schulen Englands ausgebildet. Man versprach sich von ihm, dass er ein zweiter Messias werden könnte. Als er dann später in den 1920er Jahren zum Präsidenten der theosophischen Gesellschaft gewählt worden war, richtete man einen großen Kongress aus. Auf diesem Kongress stand Krishnamurti auf und sagte: Erstens bin ich kein Messias. Davon müsst ihr euch verabschieden. Zweitens löse ich kraft meines Amtes als Präsident der theosophischen Gesellschaft diese auf, denn eine Organisation kann nicht das Seelenheil des einzelnen erreichen. Dies kann er nur selbst tun.

In Krishnamurtis Organisation wurde seine Botschaft nur von der Hälfte der Mitglieder begeistert aufgenommen. Die andere Hälfte nahm ihm das sehr übel und setzte ihre Organisationsaktivitäten fort. Die Anhänger Krishnamurtis fanden eher zu besonderen Anlässen und in loser Form zueinander. Heute würde man von einem Netzwerk sprechen, auch eine Form von Organisation.

Wesentlich daran ist die Aussage, dass die Organisation dem Individuum nicht seine Verantwortung abnehmen kann. Dennoch können Organisationen sehr viel dafür tun, dass das Leben von Menschen reichhaltiger wird. Organisationen haben eine hohe Verantwortung für die Menschen. Sie auf das reine Jonglieren von Zahlen zu begrenzen, wie es bestimmte Wirtschaftstheorien – gut gemeint zur Komplexitätsreduktion – suggerieren, blendet wesentliche Auswirkungen von Organisationen aus. [DAS LEBEN REICHHALTIGER MACHEN] Schließlich verbringen Menschen in Organisationen eine Menge Lebenszeit. Dort werden Beziehungen gepflegt, wird Selbstbewusstsein bezogen und Lebensunterhalt erwirtschaftet. In diesen Bereichen können Organisationen für die Menschen sehr viel bewirken. Dies betrifft Mitarbeiter wie auch Kunden der Organisation, bei großen Organisationen ganze Staaten.

1.4 Das Modell der Organisationssysteme

Um die Komplexität im Unternehmen, um die Dynamik des Systems fassen und beeinflussen zu können, ist eine Klassifizierung hilfreich. Vier Kategorien von Betrachtungsperspektiven helfen bei Organisationssystemen:

Abb. 2

– die Systemstruktur

– die Systemprozesse

– die Systembalancen

– die Systempulsation

Die Systemstruktur: Aufmerksamkeit, Rollen und Systembeziehungen (A, R und S)

[AUFMERKSAMKEIT] Die Systemstruktur enthält die Systemaspekte, die als strukturelle Bedingungen wirken. Wir beginnen mit der grundlegenden Dimension der Aufmerksamkeit: Wohin wird in einer Organisation die Aufmerksamkeit gerichtet? Jede Organisation hat zu einem bestimmten Zeitpunkt ihre wesentlichen Themen. Dort geht die Aufmerksamkeitsenergie hin. Insgesamt entsteht eine herrschende Wirklichkeitskonstruktion in diesem Unternehmen. Die kann richtig oder falsch, einheitlich oder chaotisch, klar oder nebulös sein. Auch die Elemente des normativen, strategischen und operativen Managements bekommen je nach Unternehmen ihre spezifische Aufmerksamkeit. Offizielle Struktur und Identitätsvorgaben stehen mehr oder weniger mit der tatsächlich gelebten Kultur im Spannungsverhältnis. Die herrschende Aufmerksamkeit ist der härteste Investitionslenker in Organisationen.

Die Struktur eines Unternehmen findet außerdem ihren äußeren Ausdruck in den vorhanden Rollen. [ROLLEN] Sie zeigen eine für jeden sichtbare Oberflächenstruktur einer Organisation. Die Rollen werden durch Personen ausgefüllt und werden dadurch in ihrer Qualität durch die Personen und ihre spezifischen Persönlichkeitsstrukturen mit Leben gefüllt. Andererseits wird auch eine Persönlichkeit in einer Organisation nur so wirksam, wie sie mit einer bestimmten Rolle verbunden wird.

Neben den Rollen charakterisieren die spezifischen Beziehungsstrukturen ein System. [SYSTEMBEZIEHUNGEN] Beziehungen bestehen zunächst auf der Rollenebene, sind aber ebenfalls auf der Ebene der Persönlichkeiten relevant. Wie stark die Rollenebene die Beziehungen und die Persönlichkeitsebene prägt, charakterisiert wiederum die einzelne Organisation. Hier gibt es sehr unterschiedliche Kulturen.

Die Systemprozesse: Kommunikation, Problemlösung und Erfolg (K, PL und E)

Es existieren drei grundlegende Prozesse, die in jedem unternehmerischen System beherrscht werden müssen. Alle Veränderungen und alle Beziehungen werden durch Kommunikation praktisch in Szene gesetzt und gestaltet. [KOMMUNIKATION] Ohne Kommunikation läuft in einem Unternehmen nichts. Der Organisationssoziologe Niklas Luhmann definiert Organisationen gar als Kommunikationszusammenhänge. Dennoch zeigt die Praxis: Wenn man gerade Veränderungsprozesse betrachtet, wird der Dynamik von Kommunikationsprozessen oft zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Der zweite grundlegende Prozess ist die Problemlösung. [PROBLEMLÖSUNG] Organisationssysteme haben die zentrale Aufgabe der Problemlösung. Dies beginnt schon bei der grundlegenden unternehmerischen Leistung, Lösungen für die Herausforderungen des Marktes zu produzieren. Dabei etablieren sich in jedem Unternehmen spezifische Muster, wie an Probleme heran gegangen wird. Ein Extrembeispiel dazu ist die Haltung »Bei uns gibt es keine Probleme«. Die Art, Entscheidungen zu fällen, genauso wie die Art, mit Konflikten umzugehen, sind charakteristische Problemlösungsmuster für eine Organisation.

Im dritten Systemprozess spiegelt sich die Erfahrung: [ERFOLG] »Keine Organisation kommt langfristig ohne Erfolge aus.« Alle Zielsetzungsprozesse machen nur im Zusammenhang mit Erfolgsprozessen Sinn. Die Handhabung der Erfolgsdynamik ist ein zentraler Ansatzpunkt für Energie und Motivation im unternehmerischen Handeln.

Die Systembalancen: Gleichgewicht und Rekursivität (Gg und R)

Lebende Systeme zeigen ein grundlegendes Streben nach Ordnung, Sicherheit und Überleben. [INNERE BALANCE-MUSTER VON ORGANISATIONEN] In Gleichgewicht und Rekursivität (dem sich Wiederholen von Mustern auf unterschiedlichen Ebenen der Organisation) werden wesentliche Prinzipien der Entwicklung von unternehmerischen Systemen deutlich. Diese Grundtendenz sagt noch nichts über die Qualität des Gleichgewichts aus. Die zuletzt so oft beschworene stetige Veränderung muss den Menschen immer wieder nahegebracht werden. Es ist nur die eine Seite der Entwicklung und viele erhoffen bei Veränderungen eigentlich nur die Ruhe danach. Möglichst ein Gleichgewicht zu erringen, ist eine Kraft in Systemen. Auch Visionen und Zielpunkte sind vorgestellte Gleichgewichte. Man macht sich mit diesen Instrumenten die Gleichgewichtstendenz zunutze. Häufig sind Gleichgewichte auch rückwärtsgewandt. Das, was einmal war, wird verklärt und erscheint als nostalgisches Gleichgewicht in der Erinnerung.

Die Rekursivität bezieht sich auf den Aspekt, inwieweit Systeme auf unterschiedlichen Ebenen gleiche Prinzipien zeigen. [REKURSIVITÄT] Wie eine russische Puppe, die in sich mehrere jeweils kleinere Spiegelbilder ihrer selbst enthält, zeigen Systeme auf unterschiedlichen Ebenen ähnliche Strukturen. Man muss nicht immer das Ganze erfassen, auch viele Teile beinhalten die wesentlichen Aspekte. Die »fraktale Beratung«, die einen Zipfel des Systems anpeilt, aber darin alle wesentlichen Aspekte zu berühren versucht, macht sich dies zunutze.

Die Systempulsation: Äußere Pulsation und innere Pulsation (ÄP und IP)

Pulsation ist die Veränderung der äußeren und inneren Grenzlinien eines Systems. [PULSIERENDE BEWEGUNGEN] Organisationssysteme zeigen über die Zeit pulsierende Bewegungen an inneren und äußeren Grenzlinien. Dabei gibt es sehr viele Möglichkeiten die äußere Grenzlinie zu ziehen. Ein Trend ist heute die Flexibilisierung der Grenzziehungen. Organisationen schöpfen gegenüber ihren Mitgliedern ein breites Spektrum an Arbeits-, Dienst-, Werk- und Beratungsverträgen aus. »Föderale« Organisationsstrukturen mit unterschiedlichen Mitarbeitergruppen, wie der Organisationsforscher Charles Handy sie nennt, sind die Folge. Offenheit bezeichnet die Grundfähigkeit eines Systems mit seinem Innen und dem Außen in Beziehung zueinander umzugehen.

Die inneren Grenzlinien haben in der Dynamik zwischen den Subsystemen entscheidende Folgen. Bereiche, Abteilungen und Gruppen stellen Subsysteme im Unternehmen dar. Aber auch Frauen und Männer, die Alten und die Jungen, die in der Zentrale und die »am Markt« können eigene Subsysteme bilden. Große Umstrukturierungen, strategische Neupositionierungen der Gesamtorganisation erzeugen neue Subgruppen. Im schlechten Fall stehen einigen Gewinnern viele Verlierer gegenüber. Subsysteme entstehen aber immer durch die Kategorien der Beobachter und Gestalter von Unternehmen.

Die vier Dynamikfelder beinhalten so insgesamt zehn Dimensionen. Der Stern zeigt die wichtigsten Perspektiven, ein unternehmerisches System zu betrachten.

Abb. 3

Abb. 4

Man kann die Betrachtung an einer beliebigen Stelle der folgenden Punkte beginnen. Die folgende Tabelle zeigt einzelne Fragen, wie man sich die Dimensionen im praktischen Beispiel erschließen kann.

1.5 System Design und System Emergence

Das Denken über Unternehmen und Organisationen hat durch die Forschung über lebende biologische Systeme wesentliche neue Impulse erhalten. Insbesondere die Eigenbezogenheit von Systemen und die daraus resultierenden Konsequenzen dafür, wie man überhaupt ein Humansystem beeinflussen kann, gaben hier wichtige Erkenntnisse. Die Übertragung auf Humansysteme wie Organisationen und Unternehmen konnte davon profitieren. Dabei haben der Engländer Stafford Beer und der Amerikaner Peter Senge dem Phänomen des »Systems« beziehungsweise dem »Systemischen« in Bezug auf Unternehmen große Aufmerksamkeit geschenkt. Peter Senge unterscheidet zwischen »System Design« und »System Emergence«.

System Design

Beim »System Design« geht es um die bewusste Planung und aktive Gestaltung von Organisationssystemen. Diese Sichtweise, dass man eine Organisation aktiv planen und gestalten kann, ist sehr verbreitet. Zahllose Unternehmensberater leben davon, lineare Gestaltungspläne zu entwerfen. Eine Firma wird analysiert, ein Plan entworfen und dann wird versucht, diesen Plan detailliert umzusetzen.

System Emergence

»System Emergence« ist die Entwicklung aus der jedem System innewohnenden Eigendynamik. Denn die Erfahrung zeigt, dass in Unternehmen viele maßgebliche Entwicklungen nach John Lennons Satz »Life happens while we make other plans« geschehen.

Eine Frage ist dabei, ob und wie Unternehmen aus sich selbst heraus einen erfolgreichen Pfad beschreiten können. Auf der volkswirtschaftlichen Ebene unterstellte der theoretische Vater der Marktwirtschaft, Adam Smith, eine »unsichtbare Hand« (»invisible hand«), die dafür sorgt, dass sich eine langfristig gute Entwicklung vollzieht. Er postulierte, dass im Eigeninteresse liegendes Handeln rational ist und dadurch das Gesamte optimiert. [DIE »INVISIBLE HAND« LENKT DEN MARKT] Die Voraussetzungen, die er dafür annahm, waren außerdem, dass Menschen grundsätzlich moralisch handeln und dass Freiheit des wirtschaftlichen Agierens besteht. Verfolgt man die wirtschaftspolitischen Diskussionen, so scheinen die meisten Wirtschaftstheoretiker und Wirtschaftspolitiker weiter an die »invisibile hand« zu glauben.

Vielleicht gibt es in Unternehmen auch eine unsichtbare Hand, die als unmerklicher Bereinigungsprozess wirkt, der aber im Extremfall auch zur Auflösung der Organisation führen kann. Mehr zur Vorstellung der »invisible hand« in Kap. 2 bei »Radikale Marktwirtschaft«.

Eigendynamik und »große Männer«

Jedes Unternehmen hat eine Eigendynamik, eine eigengesteuerte, unabhängige Entwicklung (System Emergence). Die Beachtung dieser Eigendynamik ist wichtig für jede beabsichtigte Einflussnahme. Aber wie kommt die Eigendynamik genau zustande? Hier hat der Satz »Menschen machen Wirtschaft« besonderen Sinn. Aber es sind nicht »die großen Männer«, wie manch individualistische Unternehmenstheorie vorgibt, sondern das spezifische systemische Zusammenwirken der Kraftfelder eines Unternehmens. Selbst wenn einzelne Personen großen Einfluss auf soziale Systeme haben, ist dies nur durch eine flankierende oder unterstützende Haltung anderer Systemkräfte möglich. [DAS ENDE DER GROSSEN MÄNNER] Beispielsweise kann der Vorstandsvorsitzende nur dann seine charismatische Seite in Gefolgschaft umsetzen, wenn andere Systemkräfte wie die Vorstandskollegen oder die anderen Manager ihn dabei unterstützen. Die Auswirkungen dieser Eigendynamik werden häufig erst im Nachhinein deutlich. In den Unternehmen regieren Menschen, die Entscheidungen treffen und Strategien vorgeben. Doch auch wenn nach einem Skandal mancher seinen Chefsessel räumen muss und die Vorstände ausgetauscht werden, ändert sich damit meist nicht das System. So musste sich der Aufsichtsrat eines großen Industriekonzerns wundern. [DER GORBATSCHOW-EFFEKT] Er hatte gerade für den ausscheidenden charismatischen Vorstandsvorsitzenden einen jungen, starken Nachfolger bestimmt. Der versprach alles zu ändern, war aber nach kurzer Zeit genauso weit weg von den realen Erfordernissen wie der alte Chef, der zuletzt nur noch sein Lebenswerk unbefleckt und unbeschadet erscheinen lassen wollte. Äußerst selten findet man den Gorbatschow-Effekt, dass einer, der im System langsam nach oben gestiegen ist, plötzlich das ganze System von oben verändert.

Es gilt, die beiden Perspektiven, System Design und System Emergence, zusammen zu bringen. Das heißt heraus zu finden, welche Steuerungsdimensionen ein Unternehmen in seiner inneren Dynamik charakterisieren und wie sich darauf Einfluss nehmen lässt.

Das Chaotische an komplexen Systemen

Zunächst sollen Sie einmal alle Standardperspektiven auf Unternehmen beiseite lassen. Vergessen Sie Hierarchiediagramme und Charts. Stellen Sie sich vor, Sie kommen von einem anderen Stern und begegnen einer Firma oder einer anderen Organisation, die Sie kennen. Gehen Sie ganz unvoreingenommen an das unternehmerische System heran!

Ein unternehmerisches System ist ein komplexes System. [JE NACH PERSPEKTIVE FÄLLT ETWAS ANDERES INS AUGE] Es zeigt sich zunächst in sehr vielen verschiedenen Aspekten. Je nach dem, worauf man schaut, gewinnt ein anderer Gesichtspunkt die Aufmerksamkeit. Bei der Zusammenschau der vielen Aspekte erscheint es zuweilen chaotisch.

Man versucht Ertrag und Umsatz zu erreichen. Zahlen und Zeiten spielen eine große Rolle. Menschen verbringen Zeit miteinander, bewegen sich in Räumen, begegnen sich manchmal. Es gibt Erfolge und Niederlagen. Es wird gefeiert und man giftet sich an. Einige Themen enthalten Sprengstoff, andere sind tödlich langweilig. Manche Beteiligte haben mehrere Rollen, »tragen eine Menge Hüte« und jonglieren mit diesen herum. Andere fühlen sich eher am Rande, manchmal sogar außerhalb, als hätten sie mit der ganzen (Unternehmens-)Sache nichts zu tun. Technik ist allenthalben zu sehen. Waren gehen rein und raus, Datenströme fließen umher. Verschiedene Sprachen werden gesprochen: »betriebswirtschaftlich«, »technisch«, »IT-isch«, »umgangssprachlich«, »fremdsprachlich«. Es gibt Zusammenkünfte von Menschen, ganz so wie sich Menschen schon seit Tausenden von Jahren gerne in größeren Gruppen versammeln.

Aber gibt es denn dann die Möglichkeit ein unternehmerisches System auch zu steuern? Mit welchen Phänomenen muss man umgehen, um das Organisationssystem zu steuern? Wie sind die Aspekte zu identifizieren, die relevant sind für das Verhalten, Denken und Fühlen der Menschen im unternehmerischen System?

1.6 Systemdynamiken ordnen das Chaos

Ausgetretene Pfade

Viele versuchen ein Unternehmen zu erfassen, indem sie sich mit Standardbegriffen nähern:

– »Welche Bilanz hat das Unternehmen?«

– »Wie ist sein Cash Flow?«

– »Welche Erträge werden erwirtschaftet?«

– »Wie ist das Organigramm?«

Alles keine schlechten Fragen. Aber sind sie relevant, wenn man auf den Erfolg wirklich Einfluss nehmen will? Gerade Topmanager, die diese Informationen kennen, klagen über die unzureichende Beeinflussbarkeit ihres eigenen Unternehmens. Man müsse es nur schlanker machen, dann gehe es wieder. Vom großen Tanker ist die Rede. Darin steckt leider nur manchmal die Demut, nicht alles zu können. Häufiger ist es aber die innere Distanz zum wirklichen Geschehen, die den Manager wie einen Feldherrn im Sandkasten Schlachten schlagen lassen, Truppenverbände bewegen und auch manchmal ganze Bereiche opfern lässt.

Die Distanz der betriebswirtschaftlichen Messgrößen

Bisher ist es üblich, auf den ausgetretenen »Zahlen«-Pfaden mit sehr viel Distanz auf die lebendigen Prozesse in Unternehmen zu schauen. Vermeintlich scheinen sie einen Überblick zu geben, tatsächlich erzeugen sie lediglich einseitige Grobmarkierungen, so als ob man Länder nur nach ihren Höhenunterschieden bemisst. Welche »Bodenschätze« vorhanden sind, welche »Temperaturen« herrschen, welches Leben festzustellen ist, bleibt unberücksichtigt. [»KÄSTCHEN« DES ORGANIGRAMMS] Ob also die betriebswirtschaftlichen Zahlenkolonnen für das Unternehmen gute Abbildungen sind, ist fraglich. Dennoch, interne und externe Revisoren, Controller, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Unternehmensberater und Analysten, alle schauen auf die Magie einer recht überschaubaren Reihe von Zahlen. Eine Lösung wird häufig in derselben Logik gesehen: Man kreiert noch mehr Zahlen. »Kennzahlen müssen her«, heißt dann die Devise. Der Effekt ist, man erfasst noch mehr desselben. Dynamische und qualitative Aspekte bleiben weiter außen vor. Es gilt eine bessere Landkarte für Unternehmenssysteme zu finden.

[KRISE DES BENCHMARKING] Auch die bisher herrschenden deutlich auf die Aufbaustrukturen ausgerichteten Beschreibungen für Unternehmen wie die Kästchen des Organigramms haben sich als wenig aussagefähig erwiesen. Sie geben scheinbar ein vergleichbares Bild einzelner Teile des Unternehmens wieder. Beunruhigenderweise scheint es keine idealtypische Organisationsform zu geben. Die Methode des Benchmarking kommt in die Krise. Das Schielen nach dem anderen, dem Optimalen ist nur eine Kerze im Nebel der Komplexität. Der Erfolg einer Organisation scheint relativ unabhängig von beispielsweise Zentralisierung oder Dezentralisierung zu sein. Wirkliche Entwicklungen in eine erfolgreiche oder nicht erfolgreiche Richtung liegen nicht auf dieser Ebene. Viel interessanter ist: Wie kommt die Struktur zustande und welche Dynamiken stehen dahinter?

Spürbare Dimensionen

In Bezug auf Organisationssysteme gilt es, die für die Menschen wirksamen Dimensionen zu erfassen. [DIE LEBENSENERGIE EINES UNTERNEHMENS] Die hier vorgestellten Dimensionen richten dabei den Fokus auf die tatsächliche Situation der Lebensenergie eines Unternehmens. Es geht um die für Menschen direkt spürbaren, erfahrbaren und dadurch entscheidenden Fragen:

– Worauf richten die Menschen tatsächlich ihre Energie und Aufmerksamkeit?

– Wie wirken sich die Menschen und die Beziehungen aus?

– Wie schafft die Firma die Verbindung zu den Bewegkräften der Menschen?

– Wie geht man mit veränderten Szenarien um?

Bewegungskräfte

Die zentralen Aspekte einer Unternehmensorganisation sind die Bewegungskräfte. Struktur, Abläufe und Dimensionen der »weichen Daten«(wie Kultur, Kommunikation, Leistungsmotivation) sind nicht statisch, sondern in Bewegung begriffen. Deshalb sind hier dynamische Kräfte am Werk. Dynamik zeigt Lebendigkeit an. [DYNAMISCHE DIMENSIONEN] Dabei bedeutet Dynamik keineswegs hektisches Zappeln und Strampeln. Sie kann eine ruhige, kraftvolle Bewegung sein. Sie kann aber auch eine schnelle Veränderung sein. Egal ob es sich um ein Großunternehmen, einen Handwerksbetrieb, eine politische Partei oder einen Fußballverein handelt, bestimmte Dynamiken sind im inneren Zusammenspiel immer wirksam. Die entscheidende Frage ist, wie auf ein Unternehmenssystem so Einfluss genommen werden kann, dass die Menschen tatsächlich ihre Ziele und Werte mit denen des Unternehmens verbinden können.

Das Wort »Unternehmen« bezeichnet schon das Gegenteil von Stillstand. Es sollte etwas »unternommen« und nicht »unterlassen« werden. Die dynamischen Dimensionen im Organisationssystem betreffen das tatsächlich gelebte Leben in Unternehmen. Wohin wird die Aufmerksamkeit der Unternehmensangehörigen gelenkt? [LENKUNG DER AUFMERKSAMKEIT] Dies wird häufig im Kontrast der großen strategischen Vorgabe und dem konkreten Handeln – beispielsweise eines Mitarbeiters im direkten Kundenkontakt vor Ort – deutlich. So befassen sich Unternehmenslenker wie Vorstände und Geschäftsführer statistisch gesehen sehr viel mit taktisch-politischen Einzelfragen. Dabei machen diese nur ca. zehn Prozent des Erfolges aus, während die strategische Gesamtausrichtung zu fast 70 Prozent den Erfolg bestimmt (Schwaninger 2001).

Dynamiken sind das, was ständig lebendig und in Veränderung begriffen ist. Dadurch liegen stetige Aufgabenfelder vor. Dies macht auch Führung zu einem kontinuierlichen Prozess der Einflussnahme auf dynamische Vorgänge. [DYNAMIKEN ALS FRÜHINDIKATOREN] Denn die Dynamiken haben einen entscheidenden Einfluss auf die betriebswirtschaftliche Zahlenebene. In lebenden Systemen gibt es immer eine Entwicklungsgeschichte und einen Trend der Entwicklung. Jedoch werden Unternehmen noch von Menschen gemacht. Es sind Menschen, die außer zu dem System Unternehmen auch zu anderen Systemen gehören. Aber auch viele Führungskräfte haben die Grundaufgabe ihres »Berufes Führungskraft« noch nicht bemerkt. [DER BERUF FÜHRUNGSKRAFT] Sie besteht im aktiven, stetigen Bemühen, eine größtmögliche Überschneidung der Ziele der Menschen mit den Zielen des Unternehmenssystems zu erreichen.

Kontext erzeugt Verhalten

Für Organisationen ist ein weiteres Phänomen wichtig. Eine Gruppe von Menschen zeigt nur dann ein bestimmtes Verhaltensmuster, wenn sie in einem bestimmten Kontext zusammenkommt. [DIE VERHAKTE VORSTANDSCREW]