Tage der Versuchung - Lori Foster - E-Book

Tage der Versuchung E-Book

Lori Foster

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Als Noah seine Verlobte Kara mit einem anderen Mann erwischt, löst er die Verlobung und tröstet sich mit der unerfahrenen Grace. Er weist sie in die Geheimnisse der körperlichen Liebe ein und weckt ungeahnte Leidenschaften in ihr. Schließlich muss Noah sich eingestehen, dass er sich in Grace verliebt hat.

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Seitenzahl: 426

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Inhaltsverzeichnis

Erstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebentes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelEpilogCopyright

Erstes Kapitel

Wie erstarrt stand Noah Harper in der mit Teppich ausgelegten Eingangshalle im Haus seiner Verlobten, während ein unbestimmtes, beunruhigendes Gefühl seine Haut zum Kribbeln brachte. Zorn oder Schmerz war es eigentlich nicht. Und Eifersucht ganz gewiss auch nicht.

Wenn Noah es nicht besser gewusst hätte, hätte er schwören können, dass es ... Erleichterung war. Bei diesem Gedanken schüttelte er den Kopf. Nein, er wollte Kara ja heiraten. Er hatte das als sein Schicksal akzeptiert und es sogar als einen Teil seines großen Plans für die Zukunft betrachtet. Nicht wirklich als seinen Plan, denn er dachte nicht in so großen Begriffen. Das tat seine Großmutter.

Noah mochte Kara, er achtete sie und ihre Eltern – doch seine Großmutter betete sie an. Schon als er Kara kennen gelernt hatte, war jedermann davon ausgegangen, dass sie eines Tages heiraten würden. In einem Monat hätte es so weit sein sollen.

Aber nun ...

Ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben, ging Noah den eindeutigen Geräuschen leisen Stöhnens, gedämpfter Aufforderungen und raschelnder Laken entgegen. Er hatte es nicht sonderlich eilig, denn er wusste bereits, was er vorfinden würde.

Er sollte sich irren. Sehr, sehr irren.

Oh, Kara lag durchaus im Bett und tat genau das, was er erwartet hatte: Sie hatte leidenschaftlichen Sex, während alles, was er jemals von ihr bekommen hatte, eher einer nachlässigen Dienstleistung gleichkam. Es war ihr Partner, der ihn so überraschte.

Nicht, dass das wirklich von Bedeutung gewesen wäre.

Noahs Augen wurden schmal, als Kara besonders wild aufstöhnte und sich ihr schlanker Körper in einem wilden Orgasmus wand. Völlig ungerührt schaute er zu.

Noah überlegte, was angesichts dieser bizarren Umstände zu tun war, und entschied sich dafür, sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen zu lehnen und abzuwarten. Sicher würde er bald entdeckt werden, und im Augenblick verbot ihm sein Revierinstinkt, die beiden allein zu lassen. Immerhin war Kara seine Verlobte – oder besser, sie war es gewesen.

Doch nun hatte sich alles verändert.

Als Kara sich zurücklehnte, war ihre Haut nach der Anstrengung feucht, ihr Blick in einer Weise benommen und sanft, wie Noah es nie bei ihr erlebt hatte. Seufzend meinte sie: »O Gott, das war unglaublich.«

»Mmm«, kam die heisere, zufriedene Antwort. »Ich kann’s dir noch mal besorgen.«

Mit erregtem, gierigem Blick gurrte Kara »Ja?« und stützte sich auf den Ellbogen, um ihrem Liebhaber zuzulächeln.

In diesem Augenblick bemerkte sie Noah.

Karas schönes Gesicht wurde bleich und ihre vom Küssen geschwollenen Lippen öffneten sich zu einem verblüfften, erschrockenen Oh. Ihr Liebhaber, dessen dunkle Augen frech funkelten, rekelte sich in gegnerischem Schweigen.

Paradoxerweise griff Kara nach dem Betttuch, um ihren Körper vor ... Noah zu verbergen.

Noah schüttelte voller Ekel den Kopf – ein Ekel, der sich weitgehend gegen ihn selbst richtete. Was war er doch für ein unglaublicher Narr gewesen! Er war ihr mit Freundlichkeit, Achtung und Geduld begegnet. Und sie hatte ihn betrogen.

»Keine Sorge, Kara. Ich werde hier keine Szene machen.« Er gab sich gar nicht erst damit ab, den anderen Mann mit einem Blick zu bedenken – der war völlig belanglos.

Stattdessen konzentrierte Noah all seine Aufmerksamkeit auf die Frau, von der er angenommen hatte, sie würde seine Ehegattin werden. »Unter diesen Umständen gehe ich davon aus, dass du damit einverstanden bist, die Hochzeit abzusagen.«

Kara keuchte panisch auf. Nachdem er seinen Teil gesagt hatte, machte Noah auf dem Absatz kehrt und stakte hinaus. Er merkte, wie sein Puls raste und die eben getroffene Entscheidung sein Blut in Wallung brachte. Es würde nicht angenehm sein, die weit gediehenen Pläne zu stoppen. Die Upperclass von Gillespe, Kentucky, musste sich auf eine kleine Überraschung gefasst machen.

Karas Eltern, Hillary und Jorge, hatten alle Vorbereitungen für die Feierlichkeit getroffen. Sie hatten einen riesigen Saal gemietet und ein Hochzeitskleid gekauft, das teurer war als so manches Haus. Gäste aus dem ganzen Land waren eingeladen worden, und ganz Gillespe wusste von der bevorstehenden Hochzeit.

Seine Großmutter ... Gott, an Agathas Reaktion wollte Noah lieber gar nicht denken. Sie hielt sich für eine der führenden Persönlichkeiten der Gesellschaft und hatte Hillary und Jorge, die sie wie Verwandte und gleichzeitig wie ihre liebsten Freunde behandelte, fest an der Kandare. In vielerlei Hinsicht betrachtete sie Kara bereits als ihr Eigentum.

Noah sprang immer gleich zwei der mit Teppich bezogenen Stufen der Wendeltreppe hinunter, nur von dem Wunsch erfüllt, dieses Haus hinter sich zu lassen, damit seine Gedanken zur Ruhe kommen und er sich darüber klar werden konnte, was weiter geschehen sollte. Bereits in frühen Jahren, als er zwischen verschiedenen Pflegeeltern hin- und hergeschoben worden war, hatte er gelernt, klare, überlegte Entscheidungen zu treffen und sich ihre Konsequenzen zu vergegenwärtigen, um ein für alle Mal vor Überraschungen gefeit zu sein.

Diesmal blieb ihm kaum eine Wahl, weshalb ihm die Entscheidung leicht fiel. Er würde Kara jetzt nicht mehr heiraten, auch wenn er es hasste, seine Großmutter zu enttäuschen.

Er wollte gerade die Haustür aufziehen, als eine kleine Hand nach seinem Oberarm griff. »Noah!«

Verflucht. Er hatte wirklich gehofft, diese Konfrontation vermeiden zu können. Er seufzte und drehte sich um.

Kara starrte ihn mit feuchten Augen und bebendem Mund an. Ihre schöne Haut war bleicher als sonst, ohne das rosige Glühen, das sie normalerweise zeigte. Sie hatte sich nur hastig einen Morgenrock übergeworfen, der sämtliche Hügel und Täler ihres Körpers betonte – eines Körpers, den er einst für sehr sexy gehalten hatte. Ihr kurzes goldbraunes Haar war zerzaust, und als Noah sie anschaute, gab sie ihn frei und fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirn, um sich die Ponyfransen aus dem Gesicht zu streichen.

Sie stand mit hängenden Schultern da und blickte auf ihre nackten Füße. »Es tut mir Leid.«

Noahs Mund kräuselte sich in einem zynischen Lächeln. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Leid Kara das Ganze in diesem Augenblick tat. Wie hatte er nur jemals daran denken können, sie zu seiner Frau zu nehmen? »Dass ich dich erwischt habe?«

Sie rang die Hände. »Es steht mehr als nur unsere Hochzeit auf dem Spiel, Noah, das weißt du. Meine Eltern ...« Sie erschauerte. »O Gott, ich wage mir gar nicht vorzustellen, wie sie darauf reagieren werden. Alle Welt geht seit so langer Zeit davon aus, dass wir heiraten.«

Noah schnaubte wütend. »Deine Leute, Kara, haben mich hauptsächlich aus Respekt vor meiner Großmutter akzeptiert. Ich bezweifle, dass es ihnen das Herz brechen wird, wenn ich nicht zur Familie gehören werde. Es gibt genug andere Männer, die sie lieber mit dir verheiraten würden, und wir beide wissen das.«

»Sie lieben Agatha.« Mit wildem Blick schaute Kara ihn an. »Ich liebe Agatha.«

Zumindest das stimmte, wie Noah wusste. »Ja, meine Großmutter liebt dich auch.« Viel mehr, als sie sich je aus mir machen wird. »Du bist die Tochter, die sie nie hatte, die Enkelin, die sie sich gewünscht hat, die weibliche Verwandte, die ihr so fehlt. Sie ist vernarrt in dich, und ich glaube nicht, dass sich das ändern wird.«

Kara schluckte schwer. »Das wird sie umbringen.«

Das Lachen platzte völlig überraschend aus ihm heraus. »Agatha umbringen? Die wird uns noch alle überleben.«

»Noah, bitte, tu das nicht.«

»Das?«

Große Tränen kullerten über ihre Wangen, ein Zittern erfasste ihren ganzen Körper, während sie völlig außer sich und flehend vor ihm stand. Warum um alles in der Welt mussten Frauen immer zu Tränen Zuflucht nehmen, um zu ihrem Ziel zu gelangen?

»Bitte, tu mir das nicht an. Tu meiner Familie das nicht an. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass jeder ...«

Als ihm dämmerte, worum es ihr ging, erfasste ihn eine gute Portion Ekel. Kannte Kara ihn denn wirklich so wenig?

Noah schaute in ihre traurigen, angsterfüllten Augen und musste sich eingestehen, dass dem in der Tat so war. Sie hätte ihn geheiratet, aber sie kannte ihn im Grunde nicht.

Genau wie sie ihn niemals wirklich gewollt hatte.

Er sagte sehr sanft: »Hey«, während er beobachtete, wie sie versuchte, sich wieder zusammenzureißen. Gleich würde er eine völlig hysterische Frau auf dem Hals haben.

Betrachtete er nun aber, da er wusste, was sie von ihm erwartete, das Ganze aus ihrer Perspektive, so konnte Noah verstehen, warum.

Von einer Welle des Mitleids erfasst, nahm er ihre zarten Hände in seine. »Hör zu, Kara. Es wird keine Hochzeit geben; daran ist nicht zu rütteln. Aber warum das so gekommen ist, ist einzig und allein unsere Sache, okay?«

Ihr Mund öffnete sich und sie schnappte nach Luft. Sie wischte sich die Augen an der Schulter ab und schniefte laut. »Meinst du das ernst? Meinst du das wirklich ernst?«

Himmel, er hatte schon mehr einstecken müssen als ein wenig Missbilligung. Kara dagegen war ihr Leben lang verhätschelt, von aller Hässlichkeit fern gehalten worden und niemals gezwungen gewesen, den harten Realitäten ins Gesicht zu schauen, die das Leben oft bereithielt.

Noah hatte von Kindesbeinen an gelernt zu überleben. Er konnte Druck viel leichter standhalten als sie. »Klar, warum nicht?« Dann fügte er noch hinzu: »Wenn du willst, werde ich es allen erzählen.«

Sie schälte ihre Hände aus den seinen und kramte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch herum. »Ich kann es noch gar nicht glauben.« Sie rang sich ein zittriges Lachen ab. »Du bist einfach viel zu gut, Noah Harper.«

Na, das war ja wohl ein Witz. »Quatsch. Ich halte bloß nichts davon, gedemütigt zu werden.«

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte auf. »Es tut mir so unendlich Leid. Ich wollte nicht, dass all das geschieht.«

»Wir wären wohl besser nie auf die Idee gekommen zu heiraten, Baby, das denkst du sicher auch.« Noah schaute die Treppe hoch, doch ihr Geliebter ließ sich klugerweise nicht blicken. Noah schüttelte den Kopf, immer noch verwirrt von ihrer Wahl. »Dein Geheimnis ist bei mir in sicheren Händen.«

Sie warf sich in seine Arme, doch ihre Dankbarkeit war ihm unangenehm. Noah wollte einfach nur weg. Selbst zu ihren besten Zeiten hatte er sich mit Kara nie ganz wohl gefühlt. Sie war zu kultiviert, zu proper, zu angepasst – das ganze Gegenteil von ihm.

Noah schob sie von sich und erklärte: »Vielleicht solltest du dir überlegen, eine kleine Reise zu machen, bis du dir darüber klar bist, was für eine Geschichte du erzählen willst. Ich werde bis morgen damit warten, Agatha alles zu sagen, damit du Zeit hast loszufahren.«

Sie brachte ein schmerzliches Lächeln zu Stande. »Danke, Noah. Wirklich.«

Kara hatte ihn gerade davor bewahrt, einen furchtbaren Fehler zu machen. Obwohl er versucht war, ihr ebenfalls zu danken, nickte er ihr bloß zu und ging hinaus. Nicht nur wegen des offensichtlichen Grundes, der oben wartete, wäre es für ihn ein Desaster gewesen, sich an Kara zu binden.

Zum einen hatte er sie einfach nie geliebt. Wenn er das getan hätte, wäre ihm dies alles jetzt viel näher gegangen. Und das hätte er früher erkennen müssen.

Als er die Straße hinunterging, spürte er die Sonne auf seinem Gesicht, die Kühle einer Frühlingsbrise, die Frische des Tages – aber er fühlte weder Schmerz noch Traurigkeit. Ein echtes Verlustgefühl wollte sich einfach nicht einstellen.

Zum anderen war der Sex mit Kara nie mehr als die Befriedigung primitiver körperlicher Bedürfnisse gewesen. Niemals war er bei ihr in Ekstase geraten oder vor Lust schier vergangen. Während ihrer Beziehung war er ihr treu geblieben und hatte sich mit den wenigen schnellen, leidenschaftslosen Ficks zufrieden gegeben, die sie ihm gewährt hatte.

Dabei hatte er bei Gott die sengende Befriedigung von heißem, schweißigem, wildem Sex vermisst. Er hatte den Schmerz vermisst, den die Nägel und Zähne einer Frau verursachen, wenn sie vor Lust außer sich gerät. Er hatte es vermisst, dass sich glatte Schenkel um seine Hüften klammerten und dass sich der Körper einer Frau in weicher, gieriger Umklammerung um seinen Schwanz schloss. Er hatte das kehlige, raue Stöhnen einer Frau vermisst, die einen Orgasmus hat.

Er hatte die Feuchtigkeit vermisst.

Kara war selbst dann noch durch und durch Lady, wenn sie unter ihm lag. Ha! Was für ein blinder Narr er doch gewesen war! Ein blinder Narr, der Glück gehabt hatte, denn jetzt war er frei.

Es würde nicht einfach sein, doch er würde mit allem fertig werden, mit den Familien wie auch mit dem ganzen Klatsch, der sicher aufkäme – und dann würde er sich eine wilde Frau suchen, eine Frau, die in jeder Beziehung zu ihm passte. Er würde sie so hart reiten, bis die ganze Spannung aus seinem Körper heraus war. Und dann würde er derjenige sein, der sie verließ.

Als Noah vom Haus seiner ehemaligen Verlobten wegfuhr, konnte er es kaum erwarten, dass sein neues Sexleben begann.

Grace war so wütend auf sich selbst, dass sie sich hätte anspucken können. Auch der wolkenbruchartige Regenguss schaffte es nicht, ihre platschenden Schritte, in denen sich rasender Zorn ausdrückte, zu verlangsamen, als sie den Bürgersteig entlang auf Noahs Haus zuging. Acht Tage. Acht gottverfluchte Tage war sie weg gewesen, und wahrscheinlich hätte Noah sie gerade da am meisten gebraucht. Sie hatte erwartet, bei ihrer Rückkehr eine Liste mit Dingen vorzufinden, die sie noch für die Hochzeit erledigen sollte, denn Agatha liebte es, ihr solche Listen zu geben.

Stattdessen war sie nach Hause gekommen, um alles in Aufruhr zu finden.

Sie wischte sich die Zornestränen weg, die vermischt mit den Regentropfen ihre Wangen herunterliefen. Es war immer dasselbe. Verletzte man sie, beleidigte man sie, kam sie damit bestens zurecht. Dann brachte sie eine ruhige Würde auf und wusste zu reagieren. Wenn sie aber einmal richtig wütend wurde, heulte sie gleich los wie ein Baby.

Sie verfluchte ihr Auto, weil es eine Panne gehabt hatte, verfluchte Agatha, weil sie solch eine sturköpfige Matriarchin war, und verfluchte alle, die jemals an ihm gezweifelt hatten.

Armer Noah. Armer ehrlicher, loyaler Noah.

Er brauchte sie.

Von dieser Gewissheit angetrieben, eilte Grace weiter. Als sie die Tür zum Foyer aufriss und auf die glatten Marmorfliesen trat, geriet sie ins Rutschen. Wäre nicht Graham, der Portier, gewesen, der sie beim Arm packte und hochriss, wäre sie sicher auf ihrem wohlgepolsterten Hintern gelandet.

»Immer mit der Ruhe!«, sagte Graham in leicht überraschtem Ton, während er Grace, die schon weitereilen wollte, am Arm festhielt.

Er brauchte einen Augenblick, um sie zu erkennen, so wie ihr das Haar in langen, nassen Strähnen ins Gesicht hing und so völlig durchnässt, wie ihre Kleidung war, was diese noch sackartiger aussehen ließ als sonst. Als er sie dann erkannt hatte, weiteten sich seine alten Augen.

»Ms. Jenkins! Was um alles in der Welt treibt Sie denn bei diesem Wetter auf die Straße?«

Grace zwang sich zur Ruhe. »Sorry, Graham. Ist Noah zu Hause?«

»Ja, Ma’am. Sein Bruder ist bei ihm.«

Gott sei Dank. Grace hätte Noah zwar lieber allein angetroffen, ohne Ben als Zuschauer, aber immerhin war Noah zu Hause. Im Übrigen hätte sie sich ohnehin denken können, dass Ben da war. Er achtete seinen Bruder sehr und bot ihm stets ohne Wenn und Aber seine Hilfe an.

Grace war erleichtert, dass Noah diese Pein nicht allein durchstehen musste.

»Mein blödes Auto ist einige Blocks von hier liegen geblieben«, sagte sie zu Graham. »Ich werde von Noah aus den Abschleppdienst anrufen.«

»Soll ich Sie melden?«

Es war eines der unumstößlichen Prinzipien Noahs, dass seine Familie stets willkommen war. Grace war zwar keine Blutsverwandte, doch da sie die Privatsekretärin seiner Großmutter war, dehnte Noah diesen Status auch auf sie aus. Sie hatte ihn vor drei Jahren kennen gelernt. Seit ungefähr dieser Zeit liebte sie ihn auch.

Nicht, dass sie das jemals irgendwem gesagt hätte, von Noah selbst ganz zu schweigen.

»Nein, ich geh einfach rauf. Aber trotzdem danke.«

Als sie sich umdrehte, schüttelte der Portier den Kopf. Wahrscheinlich dachte er bei sich, sie müsse völlig meschuggge sein, bei diesem Hundewetter in der Gegend herumzurennen. Doch sie hatte einfach nicht die Geduld aufbringen können, in ihrem Auto sitzen zu bleiben, bis ein Taxi vorbeikam. Ein bisschen Regen würde ihr nichts ausmachen, sie war ja nicht aus Zucker, und seit sie gehört hatte, was Agatha gestern getan, wie sie Noah wegen der Entlobung behandelt hatte, verspürte Grace das immer dringendere Bedürfnis, ihn zu sehen, um ihn wissen zu lassen, dass zumindest ein Mensch ... was? Noch immer an ihn glaubte, noch immer auf die ihm eigene Ehrenhaftigkeit vertraute?

Der Fahrstuhl war so langsam, dass Grace die ganze Zeit ungeduldig mit dem Fuß wippte, so dass immer mehr Regentropfen von ihrem Körper auf den Boden des Lifts platschten. Im Nu stand sie in einer Lache.

Als sich die Türen öffneten, sprang sie hinaus, nur um sofort wieder zurückzuspringen, weil sie feststellte, dass es die falsche Etage war. Die Frau, die jetzt mit ihr zusammen in den Fahrstuhl stieg, bedachte sie mit einem befremdeten Blick, sagte aber selbst dann kein Wort, als sie um den nassen Fleck im Teppich herumgehen musste.

Grace kaute auf ihrem Daumennagel herum. Eine ekelhafte Angewohnheit – wie ihr Agatha oft genug gesagt hatte –, aber sie konnte es einfach nicht lassen.

Diesmal überzeugte sie sich, bevor sie ausstieg, ob das Stockwerk stimmte. Bei jedem Schritt, den sie machte, glibberten ihre Füße in ihren Pumps herum, die feuchte Tapser auf dem Teppich hinterließen. Bei Noahs Tür angelangt, atmete sie tief durch, schob ihr langes, nasses Haar hinter die Ohren und klopfte energisch an.

Nichts.

Sie klopfte noch einmal und drückte sogar mehrmals auf den Klingelknopf, aber nach wie vor rührte sich nichts. Gleichwohl gab sie nicht auf und versuchte es mit der Tür selbst, die in der Tat nicht abgeschlossen war. Sie schlich sich hinein und rief: »Noah?«, erhielt aber keine Antwort. Und dann hörte sie Stimmen, die vom Balkon herüberdrangen.

Obwohl Grace durch das Apartment huschte, bemerkte sie die leeren Bierflaschen, Pizzakartons und Chipstüten, die überall herumlagen. Ein fast leerer Becher mit einem Crèmefraîche-mit-Schnittlauch-Dip versank halb zwischen den Sofakissen.

Die Putzfrau würde begeistert sein.

Grace fragte sich schon, ob Noah vielleicht eine Party gegeben habe, um die geplatzte Hochzeit zu feiern. Eigentlich sah ihm das aber nicht ähnlich. Schon seit vielen Jahren hatten alle angenommen, dass er und Kara heiraten und in ihrer perfekten Hochglanzwelt glücklich werden würden. Die Entlobung hatte alle wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen – und Grace besonders.

Endlich hatte sie ihn entdeckt.

Noah saß mit seinem Bruder auf dem überdachten Balkon, und zusammen gaben beide ein derart eindrucksvolles Bild ab, dass es Grace den Atem verschlug. Junge, Junge, die zwei hatten ein paar verdammt exzellente Gene mitbekommen. Kein Wunder, dass Agatha all ihren Stolz hatte fahren lassen, um den unehelichen Nachkommen ihres verstorbenen Sohns ausfindig zu machten. Noah war ein Mann, auf den man in der Tat stolz sein konnte.

Die Brüder unterhielten sich, ohne Grace zu bemerken, so dass diese die beiden genauer unter die Lupe nehmen konnte. Ihre großen, nackten Füße lagen auf der Brüstung und wurden vom Regen nass. Beide fläzten sich in ihren Stühlen, Ben war mit seinem sogar zurückgekippelt.

Noah ließ zwischen seinen Fingern eine Bierflasche mit langem Hals herabbaumeln, die andere Hand ruhte schlaff auf seinem festen Bauch. Er steckte in ausgeblichenen Jeans und einem grauen Sweatshirt mit abgeschnittenen Ärmeln. Sein seidiges, kohlrabenschwarzes Haar schien ganz zerzaust, sein Gesicht von Bartstoppeln überschattet. Sein ganzer Körper war Person gewordene Mattigkeit.

Sie hatte noch nie einen Mann getroffen, der so sexy, so anziehend war.

Selbst von dort, wo Grace stand, konnte sie die frappierende Länge seiner dunklen Wimpern erkennen, seiner sündig langen Wimpern, die für einen Mann eigentlich viel zu extravagant waren. Sie bildeten einen scharfen Kontrast zu seiner sonst eher harten Ausstrahlung.

Grace seufzte.

»Soll’n sie doch alle zur Hölle fahren«, meinte Ben. Er sprach undeutlich, nuschelte und hörte sich wütend an.

Grace legte die Ohren an. Oh, oh. Ben klang ... betrunken. Sturzbetrunken.

Wie Noah trank er nur selten, weshalb es sich hier wohl um einen Fall von ... Besäufnis aus Mitgefühl handeln musste. Sie wusste zu wenig von Männern, als dass sie hätte sagen können, welche Gewohnheiten sie an den Tag zu legen vermochten, fand den Gedanken aber ganz einleuchtend.

Sie ließ den Blick durchs Apartment schweifen, und diesmal zählte sie die leeren Bierflaschen, die überall herumlagen. Mein Gott! Sie mussten seit gestern Abend ununterbrochen gepichelt haben. Hatte Noah Ben angerufen, unmittelbar nachdem er von Agatha nach Hause gekommen war? Hatten sie seitdem getrunken?

Mit großen Augen wandte Grace sich wieder den beiden Brüdern zu.

Auch Noahs Stimme klang undeutlich, als er sagte: »Es hat halt einfach jeden kalt erwischt, das ist alles.«

»Yeah, und deshalb ziehen sie den voreiligen Schluss, dass du ein alter Herzensbrecher bist. Die Arschlöcher.«

»Herzensbrecher?« Noah gab einen Laut von sich, der halb Lachen, halb Fluchen war. »Oh, die haben viel drastischere Ausdrücke benutzt, das kannst du mir glauben. Wenn man sie so reden hörte, hätte man annehmen können, ich hätte sie vor dem Altar sitzen lassen.«

Grace schluckte den würgenden Schmerz und die in ihr aufsteigende Wut hinunter. Agatha hatte ihr alles von der grässlichen Zusammenkunft erzählt. Sie hatte ihn in ihr Haus beordert und ihn dort mit Kara und ihren Eltern konfrontiert. Allein gegen alle hatte er dagestanden, hatte ihre Beleidigungen und Beschimpfungen ertragen, ohne sich zu verteidigen – so wie er der Welt die meiste Zeit seines Lebens gegenübergestanden hatte.

Gemeinsam hatten sie ihn zur Rechenschaft gezogen, und als Noah sich geweigert hatte, ihnen zu erklären, warum er die Verlobung aufgelöst hatte, hatte Agatha sogar damit gedroht, ihn zu enterben.

Nein. Grace schlug die Arme um sich, als ein heftiger Schmerz ihr Inneres durchzuckte. Niemals würde sie zulassen, dass das geschah. Noah war inzwischen zu einem Teil der Familie geworden, und das würde er auch bleiben. Sie würde Agatha schon weich kochen. Als ihre Privatsekretärin hatte sie einigen Einfluss auf sie.

Hoffte sie zumindest.

»In Situationen wie diesen«, ließ sich Ben aus, wobei er mit der Bierflasche gestikulierte, »weiß ich genau, warum ich ihr diesen beschissenen Bluttest verweigere.«

Noah streifte seinen jüngeren Bruder mit einem Blick. »Du weißt, dass sie vorsichtig sein muss, Ben. Aber im Grunde ihres Herzens weiß Agatha, dass du zur Familie gehörst. Sie ist nur halsstarrig und misstrauisch.«

»Sie sollte einfach das glauben, was meine Mutter sagt.«

»Stimmt. Aber das lässt ihr Stolz nicht zu.«

»Und der Stolz von allen anderen kann zur Hölle fahren, ja?«

Noah zuckte die Achseln. »Agatha hat mehr Stolz als die meisten anderen.«

»Ha! Sie ist eine ...«

»Pass auf, was du sagst.« Noahs Augen verengten sich. »Ich habe im Augenblick zwar eine Stinkwut auf sie, aber sie ist immer noch meine Großmutter. Und deine Großmutter.«

»Was sie nicht zugibt.«

Ohne auf diese Bemerkung einzugehen, fügte Noah hinzu: »So wie du mein Bruder bist.«

»Halbbruder.« Noah setzte seine Flasche an, kippte den Rest Bier hinunter und rülpste.

»Ganz, halb, da ist doch drauf geschissen! Du bist mein Bruder, und das wissen wir auch ohne alle Bluttests.«

Grace wurde das Herz weit, während die in ihr aufsteigenden Gefühle ihr die Kehle zuschnürten. Ja, Ben war Noahs Bruder, war Agathas Enkel. Das sah man an dem glänzenden schwarzen Haar, das er mit Noah gemein hatte, an der breitschultrigen Statur, dem olivfarbenen Teint.

Mit sechs Fuß und vier Inch war Noah von ebenso beeindruckender Größe, wie es sein Vater gewesen war. Ben brachte es zwar nur auf sechs Fuß, aber seine Körperhaltung war dieselbe wie die seines Bruders, und beide hatten sie das gleiche herausfordernde sexy Lächeln.

Nur die Augen wirkten unterschiedlich. Noah hatte helle, auffallend blaue Augen, die kalt wie Eis, aber auch so heiß sein konnten, dass es einem die Seele versengte. Bens Augen waren das genaue Gegenteil, nämlich schwarz und sündig wie die Nacht. Er brauchte eine Frau nur anzuschauen und schon wurde sie rot und geriet ins Stottern.

Agathas Sohn hatte mit zwei verschiedenen Frauen zwei Söhne in die Welt gesetzt, von denen er keinen anerkannt hatte. Was wohl auch Agatha nicht getan hätte, wäre ihr Sohn nicht gestorben und hätte sie nicht völlig allein und ohne Familie dagestanden. Deshalb hatte sie vor fünfzehn Jahren einen Privatdetektiv beauftragt, Noah ausfindig zu machen, den Agatha heute aufrichtig liebte. Dessen war Grace sich absolut sicher, auch wenn Agatha es nie zugegeben hätte. Trotz der momentanen Missstimmung blieb Noah ihr ein und alles.

Obgleich Agatha voll und ganz damit zufrieden gewesen war, einen Enkelsohn ausfindig gemacht zu haben, der die Lücke in ihrem privaten wie geschäftlichen Leben auszufüllen vermochte, war der Detektiv auch noch auf Ben gestoßen, bevor Agatha die Suche abblasen konnte.

Vom ersten Augenblick an – Ben war damals noch ein respektloser Rüpel von vierzehn Jahren – war zwischen ihm und Agatha alles schief gelaufen. Aber Grace wusste, dass Agatha ihn schließlich doch noch akzeptieren würde. Wie sollte sie auch nicht, wenn Ben Noah in den wichtigsten Punkten so sehr glich und damit bewies, dass er ihr eigen Fleisch und Blut war?

Das Problem war leider, dass Agatha mit eiserner Hand vorzugehen pflegte und ihren Stolz häufig allem anderen voranstellte. Doch Ben war sein eigener Herr, der sich weigerte, sich den Launen einer alten Frau zu beugen. Insgeheim freute Grace sich sogar über Bens Widerspenstigkeit. Er brachte Agatha zur Weißglut, was sie in Trab hielt und verhinderte, dass sie verkalkte.

»Wir brauchen mehr Bier«, verkündete Noah, während er seine leere Flasche auf den steinernen Balkonboden fallen ließ.

Mehr Bier!

»Das musst du schon holen«, meinte Ben, ohne sich auch nur zu rühren. »Ich kann kaum noch gerade stehen.«

»Weichei.« Laut ächzend versuchte Noah sich hochzurappeln.

»Nein.« Grace machte einen Schritt nach vorn und zog damit die Aufmerksamkeit beider Männer auf sich. Sie drehten sich in ihren Stühlen um und starrten sie mit unverhohlener Überraschung an.

»Hey«, sagte Noah, um in seiner Verwirrung dann noch anzuhängen: »Wo kommst du denn her?«

»Die Wohnungstür war nicht abgeschlossen.«

»So?«

In missbilligendem Ton meinte Grace: »Ich glaube, ihr beide habt wirklich genug getrunken.«

Die Männer wechselten einen Blick und Ben grinste. »Ah, Gracie, kann es sein, dass irgendjemand versucht hat, dich zu ertränken, Schätzchen?«

»Ha, ha.« Sie machte eine Grimasse in Bens Richtung. Er hatte stets eine spöttische Bemerkung auf den Lippen, was ihr normalerweise aber gefiel. »Nein, ich bin nur in den Regen geraten.« Verlegen schob sie sich erneut die Haare hinter die Ohren. Ihr Pullover klebte an ihren Brüsten und an ihrem Rücken, während sich die prallen Schenkel und der Bauch deutlich unter ihrem langen Rock abzeichneten. »Mein blödes Auto ist liegen geblieben«, erklärte sie, um von ihrem Anblick abzulenken.

Noah richtete sich auf und stand steifbeinig auf. »Warum zum Teufel hast du mich denn nicht angerufen? Ich wär’ dich holen gekommen.«

Als Grace sah, wie Noah schwankte, zog sie eine Augenbraue hoch. »In deinem Zustand? Ich glaube, dass wäre nicht nur gefährlich, sondern auch gesetzwidrig gewesen.«

Er nahm ihr Kinn in die Hand und beugte sich vor. »Dann hätte ich halt ein Taxi für dich gerufen.«

Allein die schlichte Berührung am Kinn ließ Graces Herz fast explodieren. Erschauernd atmete sie durch, machte sich von ihm los und sammelte geschäftig die leeren Bierflaschen ein.

Um sie herum wütete noch immer das Unwetter. Regen klatschte auf den Balkon, während der Abendhimmel in einer atemberaubenden Entfesselung elektrischer Energie erstrahlte. Der Donner grollte fast in einem fort, rüttelte an den Fenstern und ließ den Fußboden vibrieren, so dass es nur zu verständlich war, dass die beiden ihr Klopfen nicht gehört hatten.

»Ist doch egal«, erwiderte Grace, als beide Männer sie weiterhin anstarrten, was sie ganz nervös machte. »Jetzt bin ich ja hier.«

Sie ging zurück ins Apartment, merkte aber, dass sie hinter ihr hertorkelten. »Außerdem hatte ich es sehr eilig.«

Ben lehnte sich gegen die Wand. Auch er trug Jeans, die jetzt bis zu den Knien nass waren, und ein Poloshirt, das seine breite Brust besonders gut zur Geltung brachte. Sein Gesicht, sein Hals und seine kräftigen Arme waren sonnengebräunt und zeugten davon, dass er viel Zeit im Freien und in der Nähe eines Pools verbrachte.

»Yeah?«, wunderte er sich. »Warum das?«

Verwirrt fragte Grace: »Warum was?«

»Warum hattest du es so verflucht eilig?«

Schlagartig fiel ihr der Grund ihres Besuchs wieder ein. Sie fuhr derart zusammen, dass sie die Flaschen fast hätte fallen lassen. Noah nahm ihr einige davon ab und knallte sie auf den Esstisch. »Grace, bist du okay?«

»O mein Gott«, stieß sie hervor. Dann packte sie Noah mit beiden Händen beim Sweatshirt und hielt ihn fest, während sie sein attraktives Gesicht musterte. »Als ich euch beide da draußen betrunken hab sitzen sehen, habt ihr so süß ausgesehen, dass ich fast alles vergessen hätte.«

Ben gluckste und murmelte das Wort ›süß‹ vor sich hin, doch Noah schüttelte den Kopf. »Hör auf, an meinen Sachen zu zerren, und sag mir, was du vergessen hast.«

»Fast vergessen.« Dann wurde Grace sehr weich und gefühlvoll. »O Noah, es tut mir alles so furchtbar, furchtbar Leid.«

Er und Ben wechselten abermals einen Blick, in dem sich diesmal eine gewisse Sorge ausdrückte. »Was denn?«

»Was? Alles, was passiert ist, tut mir Leid!« Ihre Hände, die immer noch sein Sweatshirt umklammerten, trommelten gegen seine Brust. »Dass Agatha einen derart falschen Schluss gezogen hat und wie sich alle dir gegenüber verhalten und ...«

Noah presste zwei große warme Finger auf ihre Lippen, woraufhin sich ihre Zehen in den durchnässten Schuhen kräuselten und eine Welle sinnlicher Lust sie durchströmte. »Was für einen falschen Schluss hat Agatha denn gezogen? Und wie zum Teufel behandeln mich denn deiner Ansicht nach alle?«

Seine Finger lagen noch immer auf ihrem Mund. Grace schluckte schwer, griff nach seinem kräftigen Handgelenk und zog seine Hand sanft nach unten. O Gott, dieser Mann brachte sie zum Zittern ... aus vielerlei Gründen.

»Agatha geht völlig zu Unrecht davon aus, dass du an der geplatzten Hochzeit schuld bist. Und nach allem, was sie mir erzählt hat, hat sich die Familie von Miss Callen nicht viel klüger verhalten.« Schon wieder geriet Grace in Wut, als sie sich in Erinnerung rief, wie man ihn behandelt hatte. »Man könnte fast annehmen, dass keiner von denen dich wirklich kennt!«

Ben stieß sich von der Wand ab. Sein Gang war kaum sicherer als zuvor. »Willst du damit sagen, du gibst ihm nicht die Schuld an der Sache?«

Grace wirbelte zu ihm herum. »Ben Badwin! Du solltest es wirklich besser wissen!«

»Hey ...« Er hatte beide Hände erhoben und war kurz davor loszulachen. »Ich habe ja nicht gesagt, dass ich ihm die Schuld gebe.«

»Das will ich auch hoffen.«

Noah verschränkte die Arme und lehnte sich mit der Hüfte gegen den Esstisch. Er schwankte noch immer ein wenig, schaukelte nach vorn und wieder nach hinten. »Und wem gibst du dann die Schuld?«

»Na ... niemandem.« Grace fuchtelte mit der Hand herum. »Oh, natürlich habe ich gehört, dass Kara geweint hat und wie fertig sie ist und all das. Agatha meint, du hättest sie vor allen Leuten in Gillespe gedemütigt, indem du sie hast sitzen lassen, nachdem schon alle Vorbereitungen getroffen waren, und dass Kara emotional völlig am Boden sei und sich vielleicht nie wieder davon erholen werde. Und sie tut mir auch entsetzlich Leid, wirklich.«

Ben brach abermals in Gelächter aus.

»Aber ich weiß, dass ihr beide eure eigenen Gründe gehabt haben müsst. Zumindest weiß ich, dass du ihr niemals so wehgetan hättest, wenn du irgendeine andere Wahl gehabt hättest.«

Grace entfuhr ein Quieken, als Ben seine kräftigen Arme von hinten um sie legte und sie hochhob. Ihr Gewicht schien für ihn nicht zu existieren, und Grace kam der Gedanke, dass es für einen Mann von Bens Größe tatsächlich so sein mochte.

Und Noah war sogar noch größer!

Bens Umarmung hatte Grace derart überrascht, dass ihre Arme und Beine starr abstanden – wie bei einem strangulierten Seestern, der versuchte, das Gleichgewicht zu wahren.

Regenwasser troff aus ihrer Kleidung, tropfte an ihrem Körper herunter und landete schließlich auf Ben. Er gab ihr einen schmatzenden Kuss auf den Hals. Seine impulsive Geste ließ Grace erstarren. Sie konnte die Male, wo solch ein hinreißender Mann ihren Hals geküsst hatte, an einer Hand abzählen.

Eigentlich konnte sie es sogar an einem Finger abzählen, denn das war eine Premiere.

Noah betrachtete sie unterdessen eingehend, registrierte jede ihrer Reaktionen, was Bens Verhalten zur völligen Nebensache machte. In ihr glomm ein verzehrendes Feuer auf, und sie wusste, dass sie die Lage in den Griff bekommen musste.

Sie bedachte Ben, der sie nun zwar freigab, gleichwohl aber sein schelmisches Grinsen beibehielt, mit einem argwöhnischen Blick. Sie wandte sich Noah zu, um seinen Gesichtsausdruck zu studieren. Seine muskulösen Arme hatte er noch immer vor der Brust verschränkt, seine ausdrucksstarken blauen Augen zu Schlitzen verengt. Aufmerksam musterte er sie. Auf seinem Gesicht drückte sich Verwirrung und noch etwas anderes aus, vielleicht ... Zärtlichkeit.

»Ich wäre schon früher gekommen«, stieß Grace krächzend hervor, immer noch um Fassung ringend. »Aber ich war nicht in der Stadt.«

»Ach ja«, murmelte Noah und hielt sie weiter mit seinem Blick gefangen. »Agatha hat dich als Headhunter losgeschickt, nicht wahr?«

»Ja, um einen neuen Küchenchef anzuwerben, von dem sie gehört hatte. Er hat ihre Bedingungen angenommen, und sie hat ihn, äh, eingestellt. Er fängt sofort an.«

»Na großartig.«

Noah klang eher verärgert als begeistert. Schon seit Jahren waren diese Einstellungen Noahs Aufgabe. Wenn Agatha sich einmischte, führte das oft zu Schwierigkeiten, die Noah dann ausbügeln musste.

Grace wollte ihn jedoch jetzt nicht mit Sorgen dieser Art belästigen. »Aber das ist ja nicht so wichtig.«

»Nein? Was ist dann wichtig?«

Grace kaute auf der Unterlippe herum und versuchte, Noahs Stimmung zu erkennen. Wenn er wollte, konnte er eine absolut steinerne Miene aufsetzen, der sich rein gar nichts entnehmen ließ, und im Augenblick hatte er sich vollends hinter diese Maske zurückgezogen. Er wirkte entspannt, unbeteiligt, bestenfalls ein wenig neugierig.

Doch diese silberblauen Augen, diese von langen dichten Wimpern überschatteten Augen, hörten nicht auf zu brennen. Und Grace spürte, wie die Hitze bis in ihr Inneres drang. Sie schaute zu Ben hinüber, der aber nur zwinkerte, während seine braunen Augen spitzbübisch funkelten.

»Wichtig ist«, sagte Grace, »dass du weißt: Nicht alle geben dir die Schuld.«

»Aber das tun doch alle.«

»Ich nicht.«

Ben schlang erneut die Arme um sie und legte sein Kinn auf ihren Kopf. »Wie kommt das, Süße?«

Oh, bitte, dachte Grace in einem leichten Anfall von Panik. Ben konnte doch nicht allen Ernstes annehmen, sie würde auch nur ein vernünftiges Wort herausbringen, wenn er direkt hinter ihr und Noah vor ihr stand? Das Testosteron schien sie förmlich zu umflirren, so dass sie sich von purem Machismo in die Zange genommen fühlte. Unmöglich, jetzt etwas zu sagen.

Es war ja schon irritierend genug, dass Ben einen Körper wie eine Statue aus Stahl hatte und obendrein auch noch sexy war. Dass er sie in einer Weise anfasste, in der sie nie zuvor angefasst worden war, machte die Sache nur noch schlimmer. All das brachte sie gewaltig aus der Fassung.

Doch obgleich Ben sie mit seiner dynamischen Präsenz verwirrte, hatte er ihre Gefühle niemals in der Weise aufgewühlt, wie es Noah vermochte, hatte er es niemals geschafft, dass ihr abwechselnd heiß und kalt und sie sich ihres Körpers derart bewusst wurde.

Vor allem jetzt, da Noah kaum mehr als einen Fuß von ihr entfernt stand, die nackten Füße gespreizt, das dunkle Haar feucht vom Regen, die Augen heiß und blau wie eine Flamme. Graces Herz hämmerte wie wild, und sie wunderte sich, dass Ben es nicht bemerkte.

Dann sandte Noah seinem Bruder einen amüsierten Blick zu. »Du treibst sie noch in eine Ohnmacht, Ben.«

»Tatsächlich?« Ben spähte über Graces Schulter, um ihre Miene zu betrachten. Sie konnte seinen Atem an ihrer Wange spüren. »Ist dir schwummerig zu Mute, Honey?«

»Ich, äh ...«

»Hör auf damit, Ben.« Noah schaute sie an, als wüsste er, was sie empfand, und obwohl er über ihre missliche Lage lächeln musste, wollte er ihr helfen.

Grace atmete zitternd durch. »Ich bin es, äh, nicht gewohnt, von Männern angefasst zu werden.«

Noahs Augen funkelten. »Ha, was für ein Geständnis!«

Bevor Grace auf den Unterton in Noahs Stimme reagieren konnte, rettete Ben sie, indem er sich schockiert gab. Theatralisch rief er aus: »Nein! Das glaube ich einfach nicht, Gracie.«

Grace nahm es Ben nicht übel, dass er sich über sie lustig machte. Fast jede andere fünfundzwanzigjährige Frau, die sie kannte, hatte schon längst ihre Jungfräulichkeit verloren.

Ohne Noah anzusehen, erklärte sie: »So ist es aber.« Dann fügte sie in dem Versuch, die Spannung zu durchbrechen, hinzu: »Zumindest nicht von so großen, attraktiven und sexy Männern, wie du einer bist.«

»Du hast es also auf mich abgesehen?«, fragte Ben mit einem verschmitzten Grinsen. Er konnte ein so charmanter Halunke sein.

»Nein«, versicherte Grace ihm, »denn ich wüsste nichts mit dir anzufangen.«

Auflachend schüttelte er den Kopf. Dann tätschelte er ihr die Wange und ließ sie los. »Sie gehört ganz dir, Noah.«

Noah lächelte.

Als Grace dieses Lächeln sah, musste sie schwer schlucken.

Ben bemerkte Graces Verlegenheit offenbar nicht oder scherte sich nicht darum, denn er fügte noch hinzu: »Ich würde vorschlagen, du befreist sie erst einmal von diesen nassen Kleidern, bevor du dein Verhör fortsetzt.« Er blickte über die Schulter zu Grace zurück und ließ seine Augenbrauen mehrmals hochschnellen. »Ich würde dir ja gern behilflich sein, weißt du, aber ich muss jetzt gehen. Verdammt, ich bin vielleicht betrunken! Hoffentlich schaffe ich es noch bis zu meinem Bett.«

Grace wirbelte herum und hielt Ben von hinten am Hosenbund fest. »Du kannst in deinem Zustand doch nicht Auto fahren!«

Ben war so unsicher auf den Beinen, dass er fast in Grace hineingefallen wäre, als sie seinen Abgang so jäh unterbunden und ihn zu zwei stolpernden Rückwärtsschritten gezwungen hatte. Im letzten Moment konnte er sich dann aber doch noch halten und lachte los. »Alles, was ich vorhabe, Gracie, ist, mir meine Schuhe zu nehmen, zum Fahrstuhl zu wanken und dann Graham zu bitten, mir ein Taxi zu rufen. Vorausgesetzt, ich schaffe es, in aufrechtem Gang bis zur Lobby zu kommen. Dank unserem guten Noah habe ich mehr getrunken, als ich gewohnt bin.«

»Tatsächlich?«, fragte Noah, wobei er eine seiner glänzenden schwarzen Augenbrauen in die Höhe zog. »Ich meine mich zu erinnern, dass du derjenige warst, der hier mit dem ersten Kasten Bier aufgetaucht ist.«

Der erste Kasten Bier? Grace hielt Ben noch immer fest. »Ich bringe dich zu Graham.«

Ben blickte auf ihre Hände, die seinen Bund weiter fest im Griff hatten. »Lass mich los, Frau. Ich schaff’s auch allein.«

Sie schaute fragend zu Noah hinüber.

»Lass ihn nur«, meinte Noah. »Ich ruf unten an und bitte Graham, ein Auge auf ihn zu haben.«

»Na gut.« Grace gab ihn frei und Ben stolperte vorwärts. Er stieß gegen das Sofa, rappelte sich zurecht und suchte dann seine Schuhe. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, sie anzuziehen.

»Benehmt euch anständig, ihr beiden, okay?«

Noah, der fast genauso unsicher auf den Beinen war wie Ben, brachte seinen Bruder zum Fahrstuhl. Danach rief er über die Hausleitung Graham an.

Unterdessen schnappte sich Grace einen leeren Bierkasten, in den sie die leeren Flaschen stellte. Während sie noch damit beschäftigt war, kam Noah ins Zimmer zurück.

Noch immer hatte er dieses nicht ganz geheure, feurige Glitzern in den Augen, das sie ausgesprochen nervös machte. Und ihr voll und ganz zu Bewusstsein brachte, dass er ein Mann war.

»Du hast gehört, was Ben gesagt hat«, meinte Noah, der jede ihrer Bewegungen verfolgte.

»Äh, nein.« Grace leckte sich über die trockenen Lippen. »Was hat er denn gesagt?«

Noah kam auf sie zu, leicht schwankend zwar, aber trotzdem ausgesprochen zielstrebig. Wenn er doch nur nicht den einen Mundwinkel zu diesem verruchten Lächeln verzogen hätte. »Du bist absolut ...« Sein Blick glitt über ihren molligen Körper, dessen Rundungen sich unter den an ihr klebenden Kleidern abzeichneten, glitt vom Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück und machte sie derart verlegen, dass ihr Herz bis zum Hals schlug. Ihre Blicke trafen sich. » ... nass.«

Grace öffnete den Mund, brachte aber kein einziges Wort heraus.

Noah kam näher und näher, obgleich sie instinktiv zurückwich. Zumindest solange, bis er direkt vor ihr stand, bis die Kraft, die er ausstrahlte, bis der starke männliche Geruch, den er verströmte, sie überwältigte.

Ihr stockte der Atem, ihr Puls raste.

»Gracie«, murmelte er. Er berührte ihre Wange und schaute sie in einer Weise an, in der er sie nie zuvor angeschaut hatte, in der sie überhaupt nie zuvor ein Mann angeschaut hatte. Sein Lächeln wurde immer intensiver, der Glanz in seinen Augen heller. »Du solltest zusehen, aus deinen nassen Sachen zu kommen.«

Grace schloss die Augen und wünschte sich, dass er nicht mehr betrunken wäre. Aber Wünschen half natürlich nichts. Er war betrunken – allein dass er ihr einen derart empörenden Vorschlag gemacht hatte, bewies das –, und das hieß, dass sie die Situation nicht ausnutzen durfte, egal, was er sagte, egal, wie gern sie es auch getan hätte.

Verflucht noch mal.

Zweites Kapitel

Selbst in seinem benebelten Zustand wusste Noah, dass die Hälfte dessen, was er sagte oder tat, in keiner Weise zu ihm passte. Oder besser: Es passte nicht zu dem Mann, der er zu sein versucht hatte, um den Vorstellungen seiner Großmutter gerecht zu werden.

Aber zum ersten Mal seit Jahren war er wieder mit sich selbst im Reinen. Er war ein freier Mann, der machen konnte, was er wollte – und mit wem auch immer er wollte. Er war Kara keine Rechenschaft schuldig – und nach dem Wutausbruch seiner Großmutter war er auch ihr keine Rechenschaft mehr schuldig.

Wie es seine Art war, hatte er zunächst einmal gründlich darüber nachgedacht, wie er die Dinge angehen sollte, jetzt, da er verstoßen worden war. Erst dann hatte er Pläne gemacht, die er zum Teil auch schon in die Tat umgesetzt hatte. In Kürze wäre er von Agatha völlig unabhängig. Wenn sie danach immer noch miteinander zu tun hatten, wenn seine Großmutter danach immer noch ihre Ansprüche auf ihn geltend machen würde, dann einzig und allein deshalb, weil sie es wollte, nicht weil sie ihn brauchte.

Da er nicht dazu neigte, sich Illusionen zu machen, war er auf jede Reaktion von ihr vorbereitet.

Auf Grace hingegen war er nicht vorbereitet gewesen. Sie hatte ihn in einen emotionalen Strudel gerissen, indem sie ihm ohne Wenn und Aber ihre Unterstützung und Loyalität angeboten hatte. Als der uneheliche Sohn, der er war und der erst spät in der Harper-Familie Aufnahme gefunden hatte, bedeutete Loyalität für Noah alles.

Vielleicht, weil sie ihm selbst nie zuteil geworden war.

Agatha hatte erst kürzlich unter Beweis gestellt, dass er sie von ihr nicht zu erwarten hatte, ganz gleich, was für Verrenkungen er machte – und deshalb würde er für sie auch keine Verrenkungen mehr machen.

Und es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass sie ihm nie von seinen Pflegeeltern zuteil geworden war, die ihn ohnehin nur widerwillig aufgenommen hatten. Nur sein Bruder, den er aber erst kennen gelernt hatte, als er fast schon erwachsen war, hatte ihm bisher diese Form bedingungsloser Unterstützung gewährt.

Und jetzt Grace.

Agatha hatte an dem Tag, als sie Grace Jenkins einstellte, eine exzellente Wahl getroffen. Noah erinnerte sich noch an das Bewerbungsgespräch, bei dem er diese etwas zu dralle Zweiundzwanzigjährige, die frisch vom College kam und nicht eine einzige Empfehlung vorweisen konnte, zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war ganz auf sich gestellt, ihre Eltern waren vor Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Damals hatte er sich auf seltsame Weise zu ihr hingezogen gefühlt. Beide waren sie allein, eigensinnig und resolut.

Grace hatte ihr rundes Kinn vorgestreckt, Agathas scharfen Blick gelassen erwidert und aufgezählt, was sie für ihre besten Eigenschaften hielt.

Belastbarkeit, Arbeitseifer, Intelligenz, Sachlichkeit, Loyalität.

Die Erinnerung ließ Noah die Stirn runzeln. Er nahm Grace bei der Hand und zog sie in Richtung Schlafzimmer. »Weiß Agatha, dass du hier bist?«

Noah musste sie förmlich mit sich zerren, solchen Widerstand leistete sie. Aber er ließ nicht locker. Er mochte es, wie ihre weiche Hand in seiner lag, und vor allem gefiel ihm, wie sie ihn mit diesen unglaublich großen braunen Augen anschaute. Sie waren sexy, keine Frage. Schon immer hatte er ihre Augen genauso gemocht wie ihre Entschlossenheit und ihr Rückgrat.

Und jetzt mochte Noah sie besonders.

Natürlich war er im Augenblick einfach scharf auf sie, aber da war auch noch etwas anderes. Es war ... er wusste nicht so recht, wie er es nennen sollte, aber im Moment war er auch weit davon entfernt, nach dem richtigen Wort zu suchen. »Gracie?«

Er zog sie ins Schlafzimmer und drehte sich um, damit er sie ansehen konnte.

Sie schaute durch die Wimpern zu ihm hoch. Lange nasse Strähnen ihres braunen Haars klebten ihr im Gesicht und am Hals. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen und befeuchtete sich die Lippen. »Wie?«

»Weiß Agatha, dass du hier bist?«, fragte er noch einmal.

»Ja.«

Noah verschränkte die Arme. »Ich könnte wetten, dass sie nicht besonders glücklich darüber ist.«

Ihr wunderbar resolutes Kinn reckte sich nach oben. »Ich bin eine erwachsene Frau, Noah Harper. Ich treffe meine Entscheidungen selbst.«

Noah schüttelte den Kopf und wandte sich von ihr ab, um in einem Schubfach herumzuwühlen. »Willst du damit sagen, sie hat dir verboten herzukommen?«

Grace war schon dabei zurückzuweichen, als er ein weißes T-Shirt entdeckte und es herauszog. Er hielt sie am Oberarm fest. Sie war ... sehr weich. Drall, ja das wusste er schon, aber auch weich, warm und ungemein weiblich.

Er konnte ihr nasses Haar riechen, ihre feuchte Haut. Sein Blut geriet in Wallung.

Es war noch nicht allzu viel Zeit vergangen, seit er Kara in flagranti ertappt hatte, aber seitdem hatte er viel erledigen müssen und keine Zeit gehabt, sich eine Frau zu suchen. Gerade weil er wusste, dass er nun seine wahre Natur entfalten konnte, fiel ihm das Warten doppelt schwer. Er war so frustriert, sexuell so aufgeladen nach der langen, durch seine Verlobung bedingten Enthaltsamkeit und der emotionalen Belastung, die die Entlobung mit sich gebracht hatte, dass er nun die Bereitschaft in sich spürte, alle Hemmungen abzuschütteln.

Doch er durfte nicht vergessen, dass er es hier mit Grace zu tun hatte, der Sekretärin seiner Großmutter, einer Dame, einer sehr respektablen, unschuldigen Frau.

Ich bin es nicht gewohnt, von Männern angefasst zu werden. Gott, allein die Vorstellung, dass er ihr erster Mann wäre, ließ seine Fantasie auf Hochtouren laufen und führte dazu, dass sich alle seine Muskeln anspannten.

»Grace«, sagte Noah mit zu schroffer Stimme, »wirst du Ärger kriegen, weil du hierher gekommen bist?«

Sie zuckte mit der Schulter. »Keine Ahnung. Damit werde ich mich später auseinander setzen. Ist auch nicht so wichtig.« Ein wildes Funkeln, das ihre ganze Bereitschaft, ihn zu schützen, ausdrückte, glomm in ihren Augen. »Niemand von denen hatte das Recht, dich ans Kreuz zu nageln. Ich konnte doch nicht tatenlos zusehen und dich glauben lassen, wir würden alle so denken.«

»Weil du nicht so denkst?«

»Natürlich nicht.«

»Weil du mich so gut kennst?«

Sie stammelte herum, riss sich dann aber zusammen. »Noah Harper, ich kenne dich jetzt seit drei Jahren. In vielen Dingen bist du genau wie ich. Du kannst hart arbeiten, bist stolz und gewissenhaft. Du würdest niemals so etwas Schäbiges tun, wie eine Verlobung auflösen, wenn du nicht gute Gründe dafür hättest.«

Ihr Vertrauen zu ihm tat ihm unendlich wohl. Es sickerte förmlich in ihn hinein, wärmte ihn von innen und baute einen Teil seiner inneren Spannung ab.

Noah war einigermaßen stolz auf seine Fähigkeit, Situationen zu analysieren und in aller Ruhe vernünftige Entscheidungen zu treffen. Jetzt war er jedoch außerstande, Grace oder die Gefühle, die sie in ihm weckte, zu verstehen.

Ohne weiter darüber nachzudenken, beugte Noah sich zu ihr herunter und küsste sie.

Grace prallte derart zurück, dass sie ihr Gleichgewicht verlor und auf dem Hintern landete.

Verwirrt von ihrer Reaktion, runzelte Noah die Stirn und bückte sich, um ihr hochzuhelfen. Dabei verlor er ebenfalls das Gleichgewicht und landete beinahe auf ihr. Sie stemmte die Arme gegen ihn, bis er sein Gleichgewicht zurückgewonnen hatte und wieder aufrecht stand.

»Also, wirklich, Noah!«, stammelte Grace, die ihm immer noch zu Füßen saß.

In der Hoffnung, eher sanft als wie ein Räuber zu klingen, schaute Noah zu ihr hinunter und sagte: »Raus aus diesen nassen Sachen, Baby.«

Unbeholfen rappelte sie sich in aller Eile hoch und verschränkte die Hände vor dem Pullover, als wolle sie ihn unter gar keinen Umständen ausziehen.

Was denn? Glaubte Grace etwa, er wolle sich auf sie stürzen? Verdammt noch mal, schließlich konnte er kaum gerade stehen. Nicht, dass die Vorstellung, sie unter sich zu spüren, ihn nicht angemacht hätte. O nein. Ganz im Gegenteil. Aber Noah bezweifelte, dass er viel zuwege bringen würde. Immerhin war Gracie eine Art Frau, die eine besondere Behandlung verdiente.

Sie war ganz gewiss nicht die Frau für einen schnellen Fick.

Trotzdem bemerkte er, wie ihre prächtigen Brüste erregt auf und ab gingen. Ohne den Blick davon lösen zu können, versuchte er sich vorzustellen, wie sie wohl nackt aussähe. Dann fragte er: »Was ist denn los, Grace?«

Noah hörte förmlich, wie sie schluckte. Es war sehr, sehr lange her, seit er eine schüchterne Frau getroffen hatte. Irgendwie gefiel ihm das. Vor der Verlobung mit Kara – und einige Male auch während der Verlobung – hatte er es stets mit Frauen zu tun gehabt, die mit einem unerschütterlichen Glauben an den eigenen Körper ausgestattet waren. Selbst Kara hatte trotz ihrer kühlen, vornehmen Art nie an ihrem Sexappeal oder ihrer Wirkung auf ihn gezweifelt.

Grace dagegen sah wie ein verängstigtes Kaninchen aus, das aufspringen und davonrennen würde, sobald er nur Buh sagte.

Aber vorhin, als sie seine verletzte Ehre so vehement verteidigt hatte, hatte sie nicht so ausgesehen. Noah grinste. Ja, das gefiel ihm. Sie gefiel ihm. Sehr.

»Ich habe keinen Grund, meine Sachen zu wechseln«, murmelte Grace, »denn ich werde sowieso wieder nass, wenn ich gehe.«

Noah war betrunken, keine Frage, aber er war nicht tot. Grace war Balsam für ihn, war wie ein warmer Sonnenstrahl inmitten eines Unwetters. Er wollte sie.

Er wartete, bis sie zu ihm aufsah, um dann ihren Blick einzufangen. Argwöhnisch riss sie die Augen auf. »Ich will nicht, dass du gehst, Grace.«

»Nein?«

Noah merkte, wie er schwankte, und drückte die Brust heraus. »Würdest du bei mir bleiben, Gracie?«

Ihr Blick glitt zu dem Bett hinter ihm. »Hier?«, piepste sie.

Dieses eine Wort kam einer Offerte, einer Verführung gleich. Ihm wurde ganz flau im Magen. »Ja.«

Grace blickte schockiert drein und ... vielleicht auch sehnsüchtig? Noah wünschte inständig, er wäre nicht so benebelt. Er hatte den Eindruck, dass es kompliziert werden könnte, sich mit Grace zu befassen. Vor allem, weil er im Augenblick nicht so recht wusste, was er eigentlich wollte – von dem, was sie wollte, ganz zu schweigen. Er wusste nur, dass er wollte und dass das irgendwie an Grace gekoppelt war.

Zumindest jetzt.

»Warum?«, fragte Grace, die nach wie vor ihre Hände umklammert hielt und noch immer sehr unsicher wirkte.

»Ich brauche dich.«

Das sagte er, ohne nachzudenken, doch Grace schien daraufhin vor seinen Augen dahinzuschmelzen. Ihre Knie wurden weich, und sie stützte sich auf die Kommode, während ihre tiefen dunklen Augen ihn förmlich verschlangen. Ihr voller Mund entspannte sich, ihr Gesicht wurde ganz weich und drückte Zärtlichkeit, Bereitwilligkeit und Liebe aus.

Erst als Noah alles, wonach es ihn verlangte, deutlich in Graces Gesicht geschrieben sah, wurde ihm klar, wie ausgehungert er war.

»O Noah«, flüsterte sie.