Tage mit Ora - Michael Kumpfmüller - E-Book

Tage mit Ora E-Book

Michael Kumpfmüller

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Beschreibung

Zwei Menschen, die sich miteinander etwas trauen. In seinem neuen Roman erzählt Michael Kumpfmüller von einer Frau und einem Mann, die beschließen, gemeinsam zu verreisen. Was ist ungewöhnlich daran? Die beiden kennen sich kaum. Das Einzige, was sie wissen: Sie fühlen sich zueinander hingezogen. Eigentlich kann es mit ihnen nichts werden, aber vielleicht ja doch. Auf der Reise wollen sie es ergründen. Sie begegnen sich auf einer Hochzeitsparty – und bleiben aneinander hängen: die Kunstschneiderin Ora und der Erzähler des Romans. Beide sind Experten in Liebeskatastrophen und allenfalls gemäßigt optimistisch. Aber sie spüren: Dieser neue Mensch interessiert mich. Da ist etwas, das ich ausprobieren will – mit allen Konsequenzen. »Tage mit Ora« erzählt davon, wie die beiden sich auf den Weg machen. Zwei Wochen USA, Westküste, mit dem Mietwagen. Die Stationen ihrer Reise: Orte aus Oras Lieblingssong »June On The West Coast« von Bright Eyes. Mehr Planung gibt es nicht. Mit wunderbarer Leichtigkeit und zärtlichem Humor führt Michael Kumpfmüller vor, was passiert, wenn zwei Stadtneurotiker Spontanurlaub machen. Und sich in fremder Umgebung Schritt für Schritt aufeinander einlassen. Ihr Road Trip wird zu einer Woody-Allen-artigen Komödie des sich Findens und Verfehlens, über deren Ausgang am Ende nur der Leser entscheiden kann.

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Seitenzahl: 178

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Michael Kumpfmüller

Tage mit Ora

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Michael Kumpfmüller

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungeinszweidreivierfünfsechssiebenachtneunzehnelfzwölfdreizehnJune On The West Coast
zurück

Für meinen Bruder

zurück

eins

Seattle – Olympia (61 miles, 1 hour 3 mins)

Ora war Anfang vierzig, als ich sie kennenlernte, der Typ gut aussehende Frau, die über ihre Wirkung genau Bescheid weiß, auf eine ihr lästige Weise verwöhnt, als hätte sie sich, seit sie fünfzehn war, zu ihrem Lobpreis mindestens dreimal das komplette Hohelied anhören müssen: die berühmte Stelle mit den zwei Kitzlein, mit den Lippen, die wie rote Bänder waren, dass Milch und Honig unter ihrer Zunge flossen und der Duft ihrer Kleider wie der Duft des Libanon war.

Ich glaube, von ein paar abgelegenen Dialekten abgesehen, kannte sie das Lied in allen Sprachen der Welt, wozu sie, wie ich mir vorstellte, huldvoll nickte, wie eine orientalische Königin, die es gewohnt ist, täglich Hunderte von Bewunderern und Verzweifelten an ihrem Lager vorbeiparadieren zu sehen.

Es gefiel mir nicht, dass das so war, oder besser: Eben weil es mir nicht gefiel, zog es mich zu ihr hin, als wäre ihr Äußeres nur eine geschickte Lüge, eine Art Tarnung, hinter der sich eine ganz andere, geheimnisvollere Ora verbarg.

Ich war Anfang fünfzig, als sie in mein Leben lief, und man sah mir an allen Ecken und Enden an, dass ich Anfang fünfzig war. Ich war schlank, aber grau, unter den Augen dauerhaft beringt, der Mund noch immer kräftig und voll, aber flankiert von zwei tiefen Furchen.

Das Einzige, was für mich sprach, war meine Seele. Rein seelisch, muss ich sagen, war ich der perfekte Mann; so eine schöne Seele besaßen die Allerwenigsten.

Ich war auch zeitlebens damit beschäftigt, an ihr zu arbeiten, hatte eine komplette Gestalt- und eine Verhaltenstherapie hinter mir, zwei, drei Kriseninterventionen und eine abgebrochene Analyse. Ich hatte meine Seele geschliffen und poliert. Außerdem konnte ich gut reden, ich war witzig, ich war originell, auf bestürzende Weise offen, stellte kluge Fragen, konnte zuhören. Ich äußerte mich auch immer zu dem Gehörten, wusste die Dinge auf überraschende Weise zu verknüpfen, brachte den anderen auf andere Gedanken, tröstete, ermutigte, gab Halt, ohne dass man groß merkte, dass ich selbst mehr oder weniger haltlos war.

Auch Ora erlag dem Zauber meiner Seele. Sie lobte meine Geschichten, bei den paar Gelegenheiten, die wir uns trafen, meinen Witz, den Stoff, der aus den sechsundzwanzig größten Katastrophen meines Lebens bestand, meine milde sarkastischen Pointen.

Katastrophen, wenn sie hinter einem liegen, kann man ja jederzeit als Teil einer nicht enden wollenden Komödie erzählen, und genauso erzählte ich sie, als ginge es nur darum, Ora zu unterhalten, und Ora unterhielt sich prächtig.

Ich möchte dir wochenlang nur zuhören, hatte sie am vierten Abend mit überraschend feierlichem Ernst gesagt.

Es sei wie Urlaub, mir zuzuhören, hatte sie gesagt, womit ich es nach zwei Monaten immerhin zu ihrem Urlaubsmann gebracht hatte – wenn wir in diesem Tempo weitermachten, so war ich versucht zu glauben, wäre der Rest nur eine Frage der Zeit.

*

Das Problem war, dass Ora nicht daran glaubte.

In ihren Augen war es verrückt, sich auf jemand einzulassen, da es doch selten lange gut ging. Zehn Jahre maximal, behauptete sie, wobei zehn Jahre in meinen Ohren wie eine paradiesische Verheißung klang.

Also blieb ich dran, selbst wenn ich gelegentlich zweifelte und aus der Sache rauswollte, doch Ora holte mich jedes Mal mit ein, zwei Sätzen zurück.

Wir müssen uns weiter kennenlernen, war, was sie mantraartig bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholte, wobei ich mich fragte, was dann ihrer Meinung nach sein würde, ich meine, wenn wir uns eines Tages zu-Ende-kennengelernt hätten.

Denn es klang, als würde es dauern, bis wir uns zu-Ende-kennengelernt hätten – Jahre oder sogar Jahrzehnte, in denen wir immer weiter unser beider Leben leben würden, um wie in Liebe in Zeiten der Cholera alt und verschrumpelt die ersten tapsigen Küsse auszutauschen. Wenn sie fünfzig wäre und ich Anfang sechzig, oder schlimmer: sie sechzig und ich Anfang siebzig, falls ich die siebzig überhaupt erreichte, was ich insgeheim bezweifelte, aber im Zweifeln war ich seit der Sache mit Lynn ein Weltmeister. Ich zweifelte an allem, meine Zweifel eingeschlossen.

Und dann sagte ich mir regelmäßig, na gut, aber die Reise. Hatte sie nicht gesagt, dass wir zusammen reisen würden?

Das hatte ich ihr in den ersten Wochen geschrieben, dass ich mir vorstellte, wie es wäre, mit ihr zu reisen.

Es war ein Schuss ins Blaue gewesen, ein nächtlicher Impuls, denn in den Nächten machte ich ihr die unglaublichsten Geständnisse, und dann schrieb sie zurück, das sei mit das Schönste, was ihr je jemand geschrieben habe.

Ich gebe zu, dass mich das überraschte. Aber ich war entzückt, Ora wollte mit mir reisen, und als es nach zwei Wochen bloß noch ein Satz war und ich nachfragte, beteuerte sie, ja, eines Tages würden wir zusammen reisen.

*

Ich habe bis zur letzten Sekunde nicht geglaubt, dass es dazu kommen würde.

Irgendwann hatten wir uns darauf verständigt, welche Wochen infrage kamen, ich hatte zwei Flüge für uns gebucht, doch davon abgesehen spielte die Reise in unseren Gesprächen keine große Rolle. Zwischendurch hatte Ora geschrieben, dass sie dringend ihren Pass verlängern müsse, dann, wie sie das mit ihrem Sohn regeln würde, dass sie gerade packe, dass sie eben, in dieser Minute, auf das Taxi warte und es selbst kaum glaube.

Wir wohnten in verschiedenen Ecken der Stadt.

Ich war wie meistens zu früh und glaubte es erst, als sie im goldenen Mantel winkend aus dem Taxi stieg.

Aber selbst da glaubte ich es im tiefsten Inneren nicht. Ein bisschen mehr, als wir die Kontrollen passiert hatten, als wir weit hinten unsere Plätze einnahmen, obwohl selbst da ein Rest Zweifel blieb.

Ora warf Pläne gerne in letzter Minute um, wie ich aus eigener Erfahrung wusste; ich hielt es für denkbar, dass eine vergessene Flugangst in ihr erwachte und sie in Panik Richtung Ausgang rannte – aber nein, sie legte mit zwei, drei routinierten Griffen den Gurt an, und dazu lächelte sie und sagte, okay, lernen wir uns endlich richtig kennen.

Ora hatte gesagt, dass man sehr gut mit ihr reisen könne, und dasselbe konnte man von mir sagen.

Ich habe auf Reisen keine Listen im Kopf, die ich abarbeiten muss, ich brauche keine Sehenswürdigkeiten, keine Höhepunkte, denen ich hinterherjage bzw. mich innerlich ausliefere, bis ich sie abgehakt habe.

Ich würde die Dinge nehmen, wie sie kamen, bereit, alles interessant zu finden, zumal ich ja mit Ora reisen würde, und was gab es bitte Interessanteres.

*

Von Ora stammte die Idee, dass wir nacheinander vier Orte ansteuern und den Rest mehr oder weniger ignorieren würden. Die Orte hatte sie aus einem Song ihrer Lieblingsband Bright Eyes. June On The West Coast hieß der Song, den sie aus irgendwelchen Gründen liebte und mir mehrfach vorgespielt hatte.

Die vier Städte oder Orte wurden in dem Song in völlig willkürlicher Reihenfolge erwähnt, deshalb hatte Ora sie umstellen müssen, aber im Prinzip sollte es um diese vier Orte gehen.

Nur so als Gerüst, meinte sie. Es gebe ja eigentlich keinen Grund, einen Ort besser zu finden als einen anderen; Reisen sei reine Willkür, also könne man genauso gut den Stationen eines Songs folgen, und was dazwischen passierte, würden wir ja sehen.

Ich war sehr einverstanden mit dieser Sicht, obwohl ich nicht auf die Idee gekommen wäre, mir vom Sänger einer US-Indie-Band unsere Route vorgeben zu lassen, doch im Großen und Ganzen fand ich die Idee charmant.

Okay, sie war bescheuert, aber wissen Sie, wie wenig mich das störte?

Ich wäre mit Ora zu Fuß durch die Wüste Gobi gewandert oder hätte sie auf Schlitten zum Südpol gezogen, um ein paar Tage am Stück in ihrer Nähe zu sein, und verglichen damit war der Plan mit den vier Orten, zu denen außer Olympia Winnetka, San Diego und Mesa gehörten, beinahe ein Kinderspiel.

Winnetka und San Diego liegen in Kalifornien, Olympia weiter nördlich im Bundesstaat Washington und Mesa östlich von Phoenix (Arizona), woraus sich eine von Nord nach Süd und zuletzt nach Osten verlaufende Route ergab, in der Form ungefähr eines Angelhakens.

Wir hatten eine Strecke von 3290 Kilometern vor uns, falls die Google-Maps-Angaben stimmten, und an jedem der vier Orte würden wir einen Tag Station machen, sodass wir durchschnittlich etwa fünfhundert Kilometer täglich zu fahren hatten. Wir würden Zeit haben, zwischendurch anzuhalten, die passenden Quartiere zu finden oder in den Pazifischen Ozean zu springen, obwohl es hier im Norden für Anfang Juni erstaunlich kühl war, 19 Grad, sagte Oras Wetter-App.

*

Aber jetzt waren wir da. Was immer von nun an zu tun war, würden wir gemeinsam tun, wir waren gemeinsam müde von der zerhackten Nacht, passierten gemeinsam die Kontrollen, warteten ergeben auf unser Gepäck.

Das Flughafengebäude mit seiner Wand aus Glas war – na ja – imposant; es hatte etwas von einer Kathedrale, eine kalkulierte Botschaft aus Licht und Raum, ein bisschen zu kalkuliert vielleicht, obwohl der Blick auf den schneebedeckten Gipfel des Mount Rainier – Ora hatte den Namen gleich gegoogelt – einem für Augenblicke fast den Atem nahm.

Ich hatte einen Fiat 500 X City Look für unsere Reise gebucht, weil Ora mal erwähnt hatte, dass sie diese Retro-Autos mochte, Wiedergeborene aus den Sechzigern mit den Annehmlichkeiten des 21. Jahrhunderts, Anschluss für iPod oder Handy, Sitzheizung, Computer.

Es dauerte Ewigkeiten, bis wir ihn hatten. Offenbar war er von einem Mitarbeiter falsch abgestellt worden, zumindest behauptete das die Frau von der Autovermietung, die sich vierhundertmal entschuldigte und zuletzt sogar mit nach draußen kam, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen, dass der Wagen gefunden war und wir endlich fahren konnten.

Okay, das war das, sagte ich.

Willkommen, sagte Ora. Hey, wir sind in Amerika, Tag eins, das wird unsere Reise.

Es war ein seltsamer Moment.

Ora hatte die Warterei genutzt, um sich in einer Toilette umzuziehen, und nun saß sie da in einem ersten Kleid, rot mit weißen Punkten, als wolle sie noch einmal betonen, dass ich es wirklich mit einem Mädchen zu tun hatte, was Oras Umschreibung dafür war, dass sie sich als hoffnungslosen Fall betrachtete.

Ich besaß keine Erfahrung mit Mädchen. Ich hatte mich nie für Mädchen interessiert, wahrscheinlich, weil ich ahnte, dass sie einen verrückt machten, aber eben das gefiel mir jetzt: wie Ora vor sich hin trällerte, wie sie ihre nackten Füße aufs Armaturenbrett legte, am Kragen ihres Kleides nestelte oder den Spiegel auf ihrer Seite herunterklappte und sich mit zwei, drei Strichen eines Feuerwehrrots die Lippen nachzog.

Wir hatten uns in den fünf Monaten, die wir uns kannten, kein einziges Mal berührt, aber jetzt saßen wir nebeneinander in diesem lächerlichen Fiat 500 X City Look und fuhren vom Flughafen Seattle Richtung Olympia, rauchten, hörten ihre Musik, lernten uns kennen, wie Ora es formulierte, dabei hatte ich alle Hände voll zu tun, den Wagen kennenzulernen, wie er zog, wie er sich schaltete, wie er die Kurven nahm.

Draußen gab es nicht viel zu entdecken, aber das kraftvolle Licht fand ich toll, den majestätisch in sich ruhenden Berg, während das Drumrum eine Ansammlung nichtssagender Gebäude, Wege, Brücken war, die kaum einen präzisen Abdruck hinterließ; man war nur da, um schnellstmöglich weg zu sein.

*

Nach Olympia waren es keine hundert Kilometer. Wir würden etwa eine Stunde dafür brauchen und hatten nicht die geringste Ahnung, was uns dort erwartete.

Ora und ich hatten uns absichtlich keine Reiseführer besorgt oder YouTube-Videos angesehen, denn wir waren uns einig, dass man über seine Ziele nur das Nötigste wissen sollte, andernfalls bestand das Reisen ja nur darin, dass man etwas wiedererkannte, und dann hätte man auch zu Hause bleiben können.

Auch der Song gab nicht viel her. On the outskirts of Olympia / where the forest and the water become one, sang Conor Oberst, und dann weiter von der stillen, ruhigen Straße einer Kindheit, von einem Bruder.

Als wir den Großraum Seattle verlassen hatten oder glaubten, ihn verlassen zu haben, wurde das Draußen erfreulicher, aber wahrscheinlich gewöhnte man sich nur daran, dass da weiterhin nicht viel war, zersiedelte Landschaft, die Insignien der Straße, viel Schrift, Aufforderungen, es mit diesem oder jenem zu versuchen, Futterstationen, Schlafgelegenheiten, Sport-Spiel-Spaß am Straßenrand.

Ora wirkte eindeutig euphorischer als ich, aber das lag daran, dass sie auf der Suche war; sie hatte ein Ziel, während ich nur fuhr und ohne rechte Verbindung zu ihr war, rauchte, mich in ihre Musik hineinhörte, ansatzweise verdrossen, obwohl ich mir regelmäßig sagte: Aber sie ist hier, neben dir im Wagen, ihre Sucherei ist albern, aber sie macht sie mit dir, du bist Teil davon.

Das Wasser hätten wir schon mal, freute sie sich, als wir, von Norden kommend, das erste größere Gewässer passierten und uns dem Zentrum von Olympia näherten.

Aber waren das hier richtige Wälder? Und konnten Wald und Wasser wirklich eins werden?

Es ist nur ein Song, sagte sie. Und natürlich ist es idiotisch, dich deshalb in dieses Nest zu schleppen.

Sie warf mir eine Kusshand zu und versuchte zu ergründen, ob das hier die von Conor Oberst besungenen outskirts waren, dabei war bis auf wenige markante Gebäude eigentlich alles outskirts; Olympia war wie die Orte, in denen wir aufgewachsen waren, amerikanisch gedreht und getüncht, aber im Kern das, was wir kannten.

Inzwischen war es früher Nachmittag. Ora wollte ein bisschen gehen, in einer Gegend weit westlich, wenn meine Orientierung stimmte, und tatsächlich glaubte sie, die Stelle nach wenigen Minuten gefunden zu haben. Sie zeigte auf ein weißes Haus mit weitgespannter Veranda – hier und nur hier könne es gewesen sein.

Jetzt müssen wir bloß noch über deinen Bruder sprechen, scherzte sie.

Wir machen alles wie in dem Song, ja?

Die Gegend war nicht im Geringsten bemerkenswert; es gab verschiedene Haustypen, versteckte Garagen, gekieste Zufahrten, die mal nach links, mal nach rechts schwangen, Veranden mit Grillplätzen, ab und zu eine Kinderschaukel, ein Glashaus, dazu jede Menge Vegetation.

Okay, hier also sollte es gewesen sein.

Es hatte keine große Bedeutung für mich, dass wir den Ort gefunden hatten, aber ich mochte, dass sie sich bei mir einhakte und wenig später meine Hand nahm, nicht sehr lang, aber immerhin, als wolle sie prüfen, ob das ginge, und siehe, es ging.

*

Sollten Sie eines Tages in Olympia vorbeikommen, empfehle ich Ihnen die West Bay, wo wir am frühen Abend zusammen aßen. Anthony’s Hearthfire Grill heißt das Restaurant, wenn Sie es genau wissen wollen, Ora und ich mochten es dort: die riesigen Panoramafenster, durch die man bei Bedarf Wald und Wasser studieren konnte, im Eingangsbereich den peinlichen Brunnen, die absurden zweistöckigen Servierwagen.

Es war erst das dritte oder vierte Mal, dass wir zusammen aßen, in dieser Hinsicht waren wir uns wirklich Fremde.

Beim Essen steht ja viel auf dem Spiel; es gibt Essstörungen, Lebensmittelunverträglichkeiten, kleine Marotten, wie jemand eine Suppe isst oder wie lange er beim Bestellen braucht, doch es passte alles gut.

Ora bestellte den Cod und ich das Wagyu-Steak, was snobistischer klang als es letztlich war. Der Laden gab sich angenehm unaufgeregt, man trank Bier, konnte draußen auf dem Parkplatz rauchen.

Nach dem zweiten Bier wollte Ora, dass ich von meinem Bruder erzählte. Doch ich wusste wenig von ihm; er und ich hatten uns nie sonderlich nahegestanden, und so redeten wir über ihre und meine Jahre im Süden.

Ora und ich waren keine großen Fans unserer Jahre im Süden, von denen ein gutes Drittel völlig im Dunklen lag und der Rest in einem unerquicklichen Zwielicht, das wir nur ansatzweise berührten; wir waren beide früh von dort weggegangen.

Ora meinte, am besten würde man gleich mit fünfzehn oder sechzehn geboren, denn mit fünfzehn hatte sie ihren ersten Freund und mit sechzehn den ersten passablen Sex. Ihre Testphase dauerte zehn Jahre. Sie hatte es in allen Variationen probiert, jung und weniger jung, langsam, schnell, abwechselnd mit und ohne Gefühl, bevor sie mit Mitte zwanzig den Vater ihres Sohnes kennenlernte und sich den Wundern der Monogamie überließ.

Bei mir lagen die Dinge umgekehrt. Ich hatte mit siebzehn quasi als Ehemann begonnen, turnte danach ein paar Jahre herum, bevor ich mich neuerlich als Ehemann versuchte, nicht Nein sagte, wenn sich etwas ergab, was sehr selten der Fall war, das meiste hatte ich längst vergessen.

*

Zweimal gingen wir raus und rauchten. Inzwischen dämmerte es, vom Wasser her wurde es empfindlich kühl, und Ora hatte nur eine dünne Jacke.

Wir müssen uns ein Zimmer suchen, sagte ich.

Ja, das müssen wir.

Es entstand eine Pause, ein komplizenhaftes Was nun?, das der Zimmerfrage galt, aber weder sie noch ich schienen abschließend darüber nachgedacht zu haben.

Wir versuchten es in zwei größeren Hotels, die ausgebucht waren, und fanden wenige Straßen weiter etwas in einem heruntergekommenenInn, das nicht sonderlich vertrauenerweckend wirkte, aber nach dem langen Flug war uns das egal.

*

Ich fragte nach zwei Einzelzimmern.

Das junge Ding am Empfangsschalter sah aus, als wäre es höchstens zwölf und würde hier nur vorübergehend aushelfen. Nach ihrem spanischen Akzent zu schließen, stammte sie wahrscheinlich aus Mexiko, obwohl sie genauso gut aus Guatemala oder sonst woher stammen konnte.

Zwei Einzelzimmer, okay, sagte sie, fragte aber zur Sicherheit nach, worauf ich mehrfach nickte und ihr zwei Finger entgegenhielt, als wäre sie nicht richtig bei Verstand.

Ora stand die ganze Zeit daneben und checkte ihre Mails, schüttelte den Kopf, über mich, dass sie hier mit mir in einem mehr als mittelmäßigen Hotel gelandet war, oder was immer sie dazu brachte.

Die Zimmer lagen direkt nebeneinander im ersten Stock. Wir hatten zwei Schlüssel und zwei Gedanken zu diesen Schlüsseln, womit ich sagen will, dass wir beide kurz innehielten, als bliebe da noch was, was wir hier und jetzt zu erledigen hatten oder überlegten, es zu erledigen, ja oder nein, vielleicht, kommt drauf an.

Es hatte etwas Woody-Allen-artig Komisches, wie wir da standen, aber zum Teil gefiel mir das. Ich fühlte mich jung und dumm, ungefähr wie mit sechzehn; so tapsig blöd und furchtsam hatte ich mich zuletzt mit sechzehn gefühlt.

Ora sagte: O Mann.

Jetzt, am Abend, wirkte sie nicht mehr so bezwingend, wie sie vorhin, im späten Abendlicht, gewirkt hatte, man sah die Gebrauchsspuren, dass sie eine gebrauchte Frau war, so wie ich ein gebrauchter Mann, aber ich mochte, wenn etwas gebraucht war.

Bekomme ich keinen Gute-Nacht-Kuss?

Es war wirklich alles wie bei Woody Allen.

Woody Allen hat ja eine ziemlich komische Art zu küssen, ein bisschen wie ein Pinguin, wie jemand, der einen Stock verschluckt hat und nur oben am Kopf beweglich ist, und so, fürchte ich, muss ich ausgesehen haben, als ich Ora küsste.

Aber jetzt küssten wir uns.

Sie hatte einen weichen, nachgiebigen Mund, etwas nachdenklich, kam mir vor, als sei sie mit dem einen oder anderen Gedanken beschäftigt, während sie küsste, an unserem ersten Abend in den Vereinigten Staaten von Amerika, falls wir uns da befanden, und tatsächlich sah es ja beinahe danach aus.

zurück

zwei

Olympia

Ich weiß bis heute nicht, was genau es an Ora war, das mich aus der Fassung brachte. Ich mochte ihren Humor, ihre erstaunlich dunkle Stimme, dass sie nicht wütend war, obwohl es sicher auch finsterere Gründe gab, das Vergangenheitszeug, wie sie sich hier und jetzt bewegte, Fleisch und Knochen, die Strahlung ihres Körpers, sagen wir mal, oder was sonst eine Rolle dabei spielte.

Ich hatte sie Mitte Februar auf einer Hochzeit kennengelernt.

Auf Hochzeiten ist es ja nicht schwer, jemanden kennenzulernen, man trifft jede Menge Bekannte, aber diese Bekannten sind nicht alle untereinander verknüpft, und so kommt es regelmäßig zu hübschen kleinen Überraschungen.

Ich liebe Hochzeiten, den optimistischen Ton, der dort herrscht, die umständlichen Begrüßungen der Gäste, die Auftritte, die salbungsvollen Reden, die auch an diesem Abend gehalten wurden, eine davon von mir.

Auch Ora hatte einen kurzen Auftritt. Sie war der heimliche Star des Abends, sie und das Kleid, denn von ihr stammte das Hochzeitskleid, das auf eine furiose Weise schlicht war, sehr blau, irgendwie königlich, dachte ich, während Ora oben auf der Bühne erklärte, worin ihre Arbeit bestanden hatte; Bräute seien ja durchweg schwierige Kundschaft, eigentlich Querulanten, aber nach gefühlt dreihundert Anproben sei es doch noch zu einem Happy End gekommen.

Ich war sofort hingerissen: wie sie da stand und redend geradezu sang, mit einer nahe der Baritonlinie schwingenden Stimme, wie sie gestikulierte und die Leute mit einfachsten Mitteln zum Lachen brachte, und tatsächlich war mir ihr Lachen auf der Stelle das Liebste.

Später, beim Rauchen, kamen wir ins Gespräch; beim Rauchen kommt man ja jederzeit mit jedem ins Gespräch. Ich gab ihr Feuer, nehme ich an, äußerte mich zu dem Kleid, wie kommt es, dass du Kleidermacherin geworden bist, denn so nannte sie sich, sie las Körper und machte Kleider, und ich mochte Leute, die etwas machten und zwischendurch nicht wussten, wie sie die laufenden Kosten bezahlen sollten.

Ora meinte, schon von mir gehört zu haben, eine Sendung im Fernsehen, glaubte sie, obwohl ich noch nie im Fernsehen gewesen bin, denn dafür sind meine Arbeiten doch zu speziell, Überlegungen zum Begriff des Vergessens, eine Kulturgeschichte der Trägheit, etwas über Gewalt und Kollaboration im gesellschaftlichen Raum.

Ich glaube, es war ihr herzlich egal, womit ich mich beschäftigte, sie nahm zur Kenntnis, dass ich Aufsätze und Vorträge schrieb und alle paar Jahre ein Buch veröffentlichte, und bat mich noch einmal um Feuer.