Tagebuch eines griechischen Euro - Jorgo Chatzimarkakis - E-Book

Tagebuch eines griechischen Euro E-Book

Jorgo Chatzimarkakis

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Beschreibung

Am 8. April 2001 wird um 11.33 Uhr in der staatlichen Münzprägeanstalt Athens eine griechische Ein-Euromünze gestanzt. Als monetärer Newcomer beginnt dieser griechische Euro spontan Tagebuch zu führen und tut dies bis zu seinem vorzeitigen Ende am Meeresgrund vor der Insel Ägina im März 2015. Dazwischen liegen turbulente Jahre, in denen die hellenische Euromünze durch die Hände mehrerer Besitzer wandert: Bettler und Oligarchen, Griechen und Deutsche, Politiker und Demonstranten, Einwanderer und Nationalisten. In den ersten Jahren seiner Existenz beherrscht ein Hochgefühl die Hellenen. Voller Stolz bekennen sie sich zu ihrer Mitgliedschaft in der Euro-Familie, gewinnen die Fuß-ball-Europameisterschaft, Athen wird zum Schauplatz der Olympischen Spiele und Griechenland wähnt sich angekommen im Zentrum der Welt. Dann schleichen sich erste politische Manipulationen ein. Das Vertrauen zwischen Nord- und Südeuropäern wird erschüttert. Das Ausbrechen der Staatschuldenkrise 2009 wirft den griechischen Euro in ein Wechselbad der Gefühle; von den großen Demonstrationen in Athen bis hin zum politischen Gipfeltreffen in Cannes, das die deutsche Bundeskanzlerin weinen und den griechischen Ministerpräsidenten zurücktreten lässt. Unser Protagonist spürt schmerzlich den wachsenden politischen Liebesentzug. Er erlebt die Erfahrungswelten sowohl der Leidtragenden als auch der Nutznießer dieser alles erfassenden Eurokrise, durchleidet die Doppelzüngigkeit von Politikern und Bänkern ebenso wie die Hilflosigkeit der einfachen Menschen. Am Ende wird unser griechischer Euro zum Hauptzeugen aller Rettungsversuche der Anfang 2015 gewählten Regierung und macht sich Gedanken grundsätzlicher - um nicht zu sagen: existenzieller - Art über das eigene Sein. Jorgo Chatzimarkakis erlaubt dem Leser mit seinem "Tagebuch eines griechischen Euro" einen Blick hinter die Kulissen der Eurokrise - aus der Perspektive der täglichen Nutzer und Ausnutzer der europäischen Währung.

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Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buchin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage September 2015© Größenwahn Verlag Frankfurt am Mainwww.groessenwahn-verlag.deAlle Rechte vorbehalten.ISBN: 978-3-95771-073-4eISBN: 978-3-95771-074-1

Jorgo Chatzimarkakis

Tagebuch eines griechischen Euro

Eine europäische Geschichte

 

 

IMPRESSUMTagebuch eines griechischen Euro

AutorJorgo Chatzimarkakis

SeitengestaltungGrößenwahn Verlag Frankfurt am Main

SchriftenConstantia

CovergestaltungMarti O´Sigma

CoverbildMarti O´Sigma

LektoratAlexandra von Streit

Größenwahn Verlag Frankfurt am MainSeptember 2015

ISBN: 978-3-95771-073-4eISBN: 978-3-95771-074-1

Alle Personen in diesem Buch sind frei erfunden.Etwaige Namensähnlichkeiten sind reiner Zufall.

 

Für meine TöchterDanaë, Melina und Elena,die mit dem Euro groß werden.

 

8. April 2001

Heute bin ich um 11:33 Uhr in der staatlichen Münzprägeanstalt in Chalandri in Athen gestanzt worden, seit heute gibt es mich. Ich bin jetzt eine griechische Ein-Euromünze. Mein Durchmesser beträgt 23,25 Millimeter, dabei bin ich 2,33 Millimeter dick. Ich wiege 7,5 Gramm.

Meine Vorderseite sieht genauso aus wie die der übrigen Ein-Euromünzen. Ein messingfarbener Ring umgibt kreisförmig eine Nickelmünze mit einer ganz großen 1 auf der linken Seite. Die Zehenspitze der Ziffer 1 ragt vom Nickel- in den Messingbereich hinein. Rechts sieht man die geographische Darstellung der Europäischen Union in Umrissen und kann den Grenzverlauf zwischen den Mitgliedstaaten erkennen. In lateinischen Buchstaben steht hier das Wort ‚Euro‘. Am oberen und unteren Rand sind jeweils sechs Sterne, insgesamt also zwölf. Schon bei den alten Griechen symbolisierte die Zahl Zwölf das Thema Harmonie.

Besonders stolz bin ich auf meine Rückseite. Dort befindet sich ein Motiv, das bereits 2500 Jahre alt ist: Erstmals erschien es auf der athenischen 4-Drachmenmünze aus dem 5. Jahrhundert vor Christus. Viele sagen, die Drachme sei die älteste Währung der Welt. Ob das stimmt, weiß ich nicht, aber die abgebildete Eule, genauer gesagt der Steinkauz, war so etwas wie das Wappentier Athens. Diese Eulenart galt im antiken Hellas als Symbol der Weisheit und als Sinnbild der Göttin Athene, daher auch der offizielle Name dieses Tiers: Athene Noctua, übersetzt »nächtliche Athene«.

Übrigens verdanke ich dem Eulensymbol auf meiner Rückseite eine fast magische Fähigkeit: Selbst bei Dunkelheit verfüge ich über einen ausgezeichneten, nahezu röntgenartigen Sehsinn - nicht umsonst sind Eulen als nachtaktive Vögel bekannt. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich Ihnen Augenzeugenberichte liefern werde aus düsteren Kellern, verschwiegenen Hosentaschen und zugeknöpften Portemonnaies. Dank des griechischen Wappenvogels ist meine Sehschärfe legendär!

Wie alle meine Kollegen, auch denen aus anderen Euroländern, bestehe ich aus zwei Legierungen: Kupfernickel und Messing. Der Ring ist aus Messing gefertigt, der innere Teil, die sogenannte Pille, aus Kupfernickel.

Bevor ich so richtig zum Einsatz komme, muss ich noch mehrere Monate warten. Dann erst wird der Euro zur offiziellen Währung in der Eurozone. Ich bin schon sehr gespannt darauf, von den Menschen getauscht zu werden, und glaube, dass es für mich viel zu erleben gibt. Jetzt muss ich aber erst mal in den Tresor der griechischen Zentralbank, hier werde ich aufbewahrt, bis es endlich losgeht.

3. Januar 2002

Heute ist der große Tag, ich darf endlich raus! Jetzt darf ich das machen, wofür ich geschaffen wurde: Ich stelle den Gegenwert dar für etwas, was Menschen oder Firmen haben wollen. Mein Wert ist genau ein Euro, er bleibt auch ein Euro. Im Verhältnis zum amerikanischen Dollar oder zum chinesischen Yüan wechselt mein Wert. Aber das muss nicht an mir liegen. Es kann auch mit der schwachen Nachfrage nach dem US-Dollar zu tun haben, dass mein Wert steigt, einfach im Verhältnis der Währungen zueinander. Da ich eine völlig neue Währung verkörpere, muss das Vertrauen in mich erst noch wachsen. Zwei Jahre gab es mich schon als Buchwert; also, rein rechnerisch konnte ich schon testen, was ich wert bin. Aber so richtig los geht es vom Gesamtgefühl erst, wenn die Menschen mich in ihren Händen halten, wenn sie sich unter dem Euro etwas Konkretes vorstellen können.

Da kommt auch schon der Gabelstapler, der meine Palette abholt. In wenigen Momenten werde ich das Licht erblicken. Ein gesichertes Fahrzeug bringt mich zur Nationalbank von Griechenland. Dort, in der Athener Hauptfiliale, werde ich den heutigen Tag verbringen. Bin gespannt, wohin es danach geht, ob ich in der Hauptstadt bleibe oder vielleicht doch in eine entferntere Gegend verfrachtet werde.

Einige meiner Kollegen sind schon seit zwei Wochen unterwegs. Es ist noch keiner von ihnen zurückgekehrt. Ich habe aber bereits mitbekommen, dass die Euro-Einführung ein großer Erfolg war. Es gab keine Engpässe in der Versorgung mit frischem Geld, also mit Banknoten und mit Münzen. Auch die Menschen haben offenbar die neue Währung sehr freundlich in Empfang genommen. Sogar in Ländern, wo es eine große Euro-Skepsis gab, war die Stimmung gut. In Deutschland, dem größten Mitglied der Eurozone, hieß es sogar in einer Schlagzeile, der Euro sei sexy. Das hört man gerne! Und dazu aus einem Land, das sehr stark an der alten Währung, der D-Mark hing. Dann wollen wir den Siegeszug über die alten Währungen mal fortsetzen! Wann komme ich endlich ins erste Portemonnaie?

5. Januar 2002

Meine Palette ist gestern abend in einem gesicherten Lastkraftwagen in den Hafen von Piräus und dann auf ein Fährschiff nach Kreta gebracht worden. Aha, dorthin geht’s also: Kreta, jene Insel, auf die einst – der Sage nach – eine phönizische Prinzessin namens Europa von Gottvater Zeus entführt wurde. Auf Kreta, so sagt man, gab es die erste europäische Hochkultur, die minoische Kultur. Ein wunderbarer Ort, um im wahrsten Sinne des Wortes »das Licht der Welt zu erblicken«.

In den frühen Morgenstunden kommen wir im Hafen von Heraklion an. Polizisten achten darauf, dass meinem LKW nichts geschieht. Nach einer guten halben Stunde haben wir den Bauch des Schiffes verlassen und es geht weiter in den Osten der Insel. Zwei Stunden später erreichen wir die malerische Stadt Agios Nikolaos. Vor dem Gebäude der Nationalbank im Herzen der Stadt bewachen zwei Polizisten auf Motorrädern den Eingang. Ein kleiner Hubwagen hievt mich und meine Kollegen in das Bankgebäude. Die Angestellten sind schon ganz aufgeregt, uns in die entsprechenden Safes zu befördern. Man merkt ihnen den Stolz an, dass auch ihr Land, und dazu noch das kleine Agios Nikolaos im Osten von Kreta ebenfalls zu dieser vieldiskutierten Eurozone gehört.

Mein Karton liegt ziemlich weit unten, er wird als letzter von der Palette genommen, und siehe da, ich habe Glück und lande nicht im Safe. Gemeinsam mit meinen Freunden in der Papprolle werden wir in den Kundenraum der Bank getragen. Jetzt wird es Zeit, sich von meinen Kollegen hier zu verabschieden, wir waren aber auch lange genug aneinandergepresst. Noch vor der Mittagspause schaffe ich es in die zentrale Kasse der Filiale. Wenn jetzt jemandem Wechselgeld ausgehändigt wird, bin ich draußen!

Nach einer knappen Stunde ist es so weit. Ein junger Mann, gutaussehend trotz oder gerade wegen der zu vielen grauen Haare für sein Alter, hat eine Rechnung einbezahlt und bekommt Kleingeld heraus. Der Herr an der Kasse, Zigarette in der Hand, legt mich mit einigen anderen Münzen auf den Tresen. Der junge Mann lacht, es scheint, als sei das alles noch ganz neu für ihn. Er hebt mich hoch und führt mich ganz nah an sein Auge. »Na, sind die auch echt?«, fragt er den Mann an der Kasse. »Sind gerade frisch aus Athen gekommen!«, bekommt er zur Antwort. Ich lande in seinem Portemonnaie, braunes Leder, könnte aus griechischer Produktion stammen. Jetzt bin ich endlich raus aus der Bank und mitten im Leben! Der Grauhaarige braust mit seinem Motorroller davon. Zuhause angekommen zeigt er mich allen Bekannten und Verwandten. Staunende Augen sind auf mich gerichtet. Könnte ich rot anlaufen, würde ich das jetzt tun. Ein wenig stolz bin ich schon.

6. Januar 2002

War ganz interessant im Portemonnaie des jungen Mannes. Neben einer Zwei-Euromünze und einigen Centmünzen lagen noch drei 100-Drachmenmünzen darin. Natürlich haben die drei und ich uns sofort gegenseitig misstrauisch beäugt. Was bildet der sich ein?, schien eines der Drachmenstücke zu argwöhnen und stichelte zu seinem Kollegen: »Was hat der bloß, was wir nicht haben?« Als Neuer zog ich es vor, erst mal höflich zu schweigen. Obwohl ich mich, ganz klar, für etwas Besseres halte. Ob die mir das angemerkt haben?

Der junge Grauhaarige nutzt vorzugsweise die Drachmen zur Bezahlung, holt sich Zigaretten zum Selberdrehen und eine Zeitung. Zunächst bleibe ich in seinem Geldbeutel. Der Januar 2002 ist der Monat des Wechsels. Die Menschen werden so schnell wie möglich die alte Währung loswerden wollen. Kann ich gut verstehen, das Neue ist immer interessanter. Außerdem sehen wir Euromünzen ja wirklich attraktiv aus, da können diese Drachmen motzen, so viel sie wollen. Bin mal gespannt, wann ich die erste nicht-griechische Euromünze kennenlerne.

Mit seinem Motorroller fährt der junge Grauhaarige am Meer entlang. Von Agios Nikolaos geht es nach Norden in den Ort Elounda. Im Sommer verbringt hier die Schickeria der Welt ihre Ferien. Spannend! Vielleicht lande ich ja mal in der Geldbörse von einem Superpromi? Mein vorübergehender Besitzer trinkt einen Kaffee mit einem Freund, Cappucino ohne Zucker. Er zahlt jetzt mit der Zwei-Euromünze und 50 Cent. Er rechnet nach, indem er die Lippen bewegt und fast flüstert. Dann beschwert er sich: »Der Kaffee ist teurer geworden, Michali!« Der Wirt gibt zurück, er habe sich erkundigt, was das Getränk in Spanien oder Italien kostet, und sich dem allgemeinen Preisspiegel angepasst. Der Grauhaarige runzelt die Stirn. »Dann werden wir wohl einiges an Preissteigerungen zu erwarten haben!«, murmelt er unwirsch.

7. Januar 2002

Vielleicht aufgrund der Verärgerung über den möglichen Preisanstieg wurde ich gestern nicht mehr ausgegeben. Der junge Mann mit den grauen Haaren scheint verunsichert zu sein, wie sich das Preisniveau im Euro-Zeitalter entwickeln wird. Am Morgen fährt er mit seinem Jeep auf ein Feld nahe der Stadt Agios Nikolaos. Er schneidet Äste eines Baumes ab, hackt Holz. Dann fährt er zu einem älteren Ehepaar – offenbar handelt es sich um seine Eltern – und lädt dort das Holz fein säuberlich ab. Die kleine Hütte im Hinterhof scheint der ideale Aufbewahrungsort für das Brennholz zu sein. Ein offener Kamin im Winter auf Kreta ist ja auch eine tolle Sache.

Gemeinsam mit seinen Eltern fährt er jetz in der Limousine seines Vaters zum Mittagessen. Es geht nach Plaka, rund 15 Minuten Fahrt, dem Ort gegenüber der berühmten Kleininsel Spinalonga, einer alten venezianischen Festung, die im 20. Jahrhundert bis in die fünfziger Jahre hinein als Quarantäne für Lepra-Kranke genutzt wurde. Plaka ist bekannt für seine wenigen, aber exzellenten Fischrestaurants, die auch im Winter geöffnet sind. Hier trifft der Grauhaarige weitere Verwandte. Sein Bruder, der in Deutschland wohnt, ist über Neujahr zu Besuch.

»Na, habt ihr schon Euros in der Tasche?«, fragt der Gast aus dem Norden.

Der Vater nickt mit einem stolzen Lächeln auf den Lippen.

»Der erste Cappucino in Euro war ganz schön teuer«, ärgert sich mein Besitzer erneut. »Hoffentlich kostet uns das Fischessen hier kein kleines Vermögen!«, ruft er vernehmlich. »Keine Sorge«, wirft der Wirt ein, »wir haben die Preise exakt so belassen wie sie waren.«

Der Vater will wissen: »Und am Ende immer ein wenig aufgerundet, nicht wahr?«

Prompt antwortet der Wirt: »Manchmal auf- und manchmal abgerundet. Am Ende bleibt das Preisniveau gleich. Wir sollten froh sein, dass unser Land überhaupt bei der Währungsunion dabei ist. Was für eine Ehre! Wer hätte vor kurzem gedacht, dass wir auf einer Stufe stehen mit Franzosen und Deutschen? Wer sich jetzt bereichern will, der hat keinen Sinn für diese historische Errungenschaft. Wegen ein paar Euros mehr Gewinn sollten wir nicht unseren Ruf aufs Spiel setzen!«

»Wenn alle so im Sinne des Gemeinwohls dächten wie du, Manoli, gäbe es keine Kriege mehr auf der Welt. Hoffen wir mal, dass die staatliche Aufsicht scharf kontrolliert und die Preise im Rahmen bleiben. Welchen Fisch kannst du uns heute frisch servieren?«, fragt der Gast aus Deutschland und leitet zum familiären Teil des Treffens über.

Es gibt zunächst eine Fischsuppe, die allen gut mundet. Heute ist es besonders kühl, und der Blick aufs Meer lässt auf heftigen Wind schließen, das Wasser braust auf, die Wellen schäumen stark. Immer wieder regnet es, manchmal prasselt es laut auf das Holzdach der Fischtaverne mit dem wunderbaren Blick auf Spinalonga.

Dorade und Sardinen werden serviert. Leider kann ich selber ja nichts essen, aber es ist ein Genuss, der Familie beim Essen zuzuschauen. Die Gespräche kreisen um die wirtschaftliche Perspektive der Menschen auf Kreta. Wird der Euro eher nutzen oder schaden? Der Bruder aus Deutschland verweist auf den großen Währungsraum, der die Wirtschaft ankurbeln wird:

»Auch die Exporte aus Kreta werden dadurch leichter ihre Abnehmer finden. Gurken, Tomaten, Olivenöl. Jetzt gibt es ja nur noch eine Währung, das heißt auch mehr Sicherheit für Ein- und Ausfuhr.«

»Hoffen wir das Beste!«, sagt der Vater, während er zum Bezahlen ansetzt. Der Bruder drückt den Unterarm des Vaters, dessen Portemonnaie gleitet wieder in die Hosentasche.

»Heute bin ich dran. Schließlich kommen die Regeln für die Euro-Stabilität ja aus Deutschland«, wirft der deutsche Grieche ein und zückt zwei Euronoten – einen Fünfziger und einen Zwanziger. Dann fügt er hinzu: »Symbolisch sollten wir noch eine Euromünze drauflegen. Hier ist eine deutsche. Wer hat eine griechische?«

Sollte das jetzt mein großer Moment sein, wo ich endlich eine andere Euromünze treffe? Habe schon lange darauf gewartet, und dann ausgerechnet eins der großen Geschwister aus Deutschland. Ja! Ich lande gemeinsam mit dem deutschen Euro auf dem Tablett des Wirtes. Der hat Tränen in den Augen:

»Ihr seid die ersten, die mich in Euro bezahlen. Was für ein historischer Moment! Verzeiht bitte, aber ich bin gerührt«, schluchzt er.

»Stimmt so!«, rufen die Brüder fast im Chor.

»Lass es dir gut gehen! Auf dass viele Gäste dir viele Euros hier lassen dieses Jahr!«, ergänzt der Grauhaarige mit sanfter Stimme.

Von meinem ersten Besitzer muss ich mich jetzt verabschieden, ebenso von den miesepetrigen Drachmen in dessen Portemonnaie. Der Wirt mit dem großen Schnurrbart schaut zunächst meinen deutschen Kollegen genau an, dann prüft er mich mit seinen blau-grauen Augen. Wieder kullert eine Träne. Während der deutsche Euro auf der Vitrine ausgelegt wird, lande ich in einem noch ganz neuen Geldbeutel. Offenbar benutzt der Mann mit dem Schnäuzer die alte Geldbörse für Drachmen, die neue für Euro. Viele Gäste hatte er heute nicht zu bewirten. Er scheint trotzdem glückselig.

10. Januar 2002

Wenig ist passiert die letzten zwei Tage. Das scheint mein Schicksal zu sein: Mal werde ich ganz oft die Hände wechseln, mal lande ich für lange Zeit an einem meist dunklen Ort. Immerhin gesellte sich gestern der deutsche Kollege zu mir ins Portemonnaie. Offenbar hatte der Wirt sich an seinem Anblick auf der Fischvitrine sattgesehen. Vielleicht haben wir uns sogar ein wenig angefreundet, der deutsche Euro und ich? Er sieht auch nicht schlecht aus. Vorne ist natürlich alles gleich, so wie bei mir. Statt meiner Eule trägt er aber hinten einen stolzen Adler. Eingerahmt in einen Ring aus zwölf Sternen handelt es sich um den sogenannten Bundesadler, das Wappentier der Bundesrepublik Deutschland. Mein Kollege erzählt mir voller Leidenschaft, dass der Adler das älteste heute noch bestehende Hoheitszeichen ist. Er berichtet, früher habe der Bundesadler mal Reichsadler geheißen und immer seinen Kopf nach links geneigt. Das Symbol finde in Deutschland und auch in Österreich viele hoheitliche Anwendungen, werde aber oft unterschiedlich dargestellt. Angeblich habe dieser Bundesadler auch die alte Ein- und Zwei-D-Mark-Münze geziert, später dann die Fünf-D-Mark-Münze. Sehr stolz beschreibt er das, der geschätzte deutsche Euro. Aber wenn der wüsste, wie alt mein Wappentier ist! Ich setze an, um es ihm zu erzählen, komme aber nicht zu Wort. Völlig begeistert, endlich mal einen nichtdeutschen Euro aufklären zu können, schwelgt er von seiner großartigen Geschichte, insbesondere von der Bedeutung seiner Vorgängerwährung, der D-Mark.

»Die D-Mark war eine der erfolgreichsten Währungen der Welt. Nach dem zweiten Weltkrieg lag Deutschland am Boden. Durch Fleiß und Beharrlichkeit haben die Deutschen dann aber mit Hilfe der D-Mark das deutsche Wirtschaftswunder geschaffen.« Der Deutsch-Euro kriegt sich gar nicht mehr ein. »Hast du nicht etwas Wichtiges vergessen?«, frage ich ihn vorsichtig. Oh je. Die Münze mit dem Bundesadler scheint ungehalten, weil ich sie zu unterbrechen gewagt habe. Aber ich bleibe dran: »Waren es wirklich nur Fleiß und Beharrlichkeit, die den Deutschen so schnell wieder auf die Beine geholfen haben? Oder gab‘s damals nach dem Krieg nicht einen Schuldenschnitt, der dem Land erst den Weg in sein berühmtes Wirtschaftswunder geebnet hat?« Die Reaktion meines deutschen Kollegen fällt ungnädig aus: »Ach was, Schnee von gestern, was sollen die ollen Kamellen?« Und er fährt mit ungebremstem Enthusiasmus fort: »Ende der 1950er, insbesondere aber in den 1960er Jahren ging es mit der Wirtschaft bergauf. Die D-Mark wurde immer stärker, sie war immer mehr wert. Schon in den 1970er Jahren war sie die Leitwährung im sogenannten Europäischen Währungssystem. Hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben, dann gäbe es die D-Mark heute noch!«

Jetzt werde ich stutzig: »Wieso?«, frage ich neugierig.

»Weißt du denn nicht, dass wir Euros nur entstanden sind, weil damals der französische Präsident dem deutschen Bundeskanzler gesagt hat, eine Wiedervereinigung Deutschlands gebe es nur, wenn die Deutschen auf ihre Vormachtstellung in Währungsfragen verzichten?«

Ich muss zugeben, das war mir gar nicht bekannt. Mein deutscher Kollege scheint ziemlich viel Ahnung zu haben. Aber ich kann mir nicht helfen, irgendwie macht er den Eindruck, als fühle er sich nicht so richtig wohl als Euro und wäre lieber D-Mark geblieben.

»Heißt das, dass die beiden deutschen Staaten DDR und Bundesrepublik sonst nicht vereinigt worden wären? Aber warum wollte denn Frankreich damals die gemeinsame Währung als Gegenleistung?«, bohre ich weiter.

»Na, ganz einfach«, antwortet der deutsche Euro, ohne zu zögern, »die Bundesbank hatte vor der Euro-Einführung alle wichtigen Fragen der Währungspolitik in Europa alleine bestimmt. Wenn zum Beispiel der Leitzins für die D-Mark herauf- oder heruntergesetzt wurde, dann mussten alle anderen Länder im Währungssystem notgedrungen folgen. Sonst hätten diese Länder Probleme mit ihrer Wirtschaft bekommen. Die Bundesbank hatte damals wie heute ihren Sitz in Frankfurt. Und Frankfurt bestimmte den Kurs der Währungspolitik, ob Paris, Rom und London das wollten oder nicht.«

»Frankfurt bestimmt ja auch heute noch. Die Stadt ist schließlich Sitz der Europäischen Zentralbank«, werfe ich ein, um dem ›großen Bruder‹ zu signalisieren, dass ich nicht völlig ahnungslos bin. Schließlich ist mir während meiner Wartezeit im Tresor der Nationalbank einiges zu Ohren gekommen.

»Das war ein kleines Zugeständnis, das der französische Präsident Mitterand dem deutschen Bundeskanzler Kohl damals machte. Er wollte das Recht haben, über Währungsfragen mitzubestimmen. Das Symbol Frankfurt sollte aber erhalten bleiben, stand doch diese Stadt und die Bundesbank für währungspolitische Stabilität«, belehrte mich der Kollege.

»Wie mir scheint, haben wir beide eine recht unterschiedliche Vergangenheit«, kommentiere ich seinen Vortrag. »Gerne hätte ich dir auch etwas von meiner großen Geschichte erzählt. Ein andermal. Aber weißt du, was absolut gleich ist bei uns?«

»Bis auf die Vorderseite kann ich mir da kaum etwas vorstellen.« Täusche ich mich oder höre ich da einen selbstgefälligen Unterton heraus? Mein deutscher Gegenpart fährt fort: »Dir ist doch wohl klar, dass wir deutschen Euros nach wie vor den Ton angeben in Europa, allein schon weil wir viel mehr sind als die Euros aus den anderen Ländern.«

Jetzt hat er den Bogen überspannt, finde ich. »Unser Wert ist gleich«, kontere ich entschieden. »Du bist einen Euro wert genauso wie ich. Da gibt es keinen Unterschied.« Das saß. Mein deutscher Kolle macht einen ganz schön verdutzten Eindruck. Nach einer kurzen Denkpause lenkt er ein:

»Wenn ich es mir überlege, hast du tatsächlich recht. Naja, bist ja auch ganz nett … eigentlich«, kommt es zögerlich aus ihm hervor.

13. Februar 2002

Immer noch im Portemonnaie des kretischen Wirtes. Im Restaurant ist wenig los zur Zeit, somit werde ich wohl noch einige Zeit hier verweilen. Am frühen Nachmittag fährt der schnauzbärtige Chef der Fischtaverne mit seinem roten Pick-up auf ein Feld mit Olivenbäumen. Dort wird er von drei Arbeitern erwartet. Sie stammen aus Albanien, sprechen aber Griechisch, zwei sehr gut, einer radebrechend.

»Habt ihr die Bäume beschnitten?«, fragt der Wirt und Besitzer des Feldes.

»Ja, alles in Ordnung. Du kannst dich davon überzeugen, dass wir es genauso gemacht haben, wie du es uns gesagt hast«, sagt der mit den besten Griechischkenntnissen.

Der Wirt mustert die Äste, er scheint zufrieden.

»Du hast wirklich Erfahrung, Pavlo, das sehe ich. Es ist gar nicht so einfach, Olivenbäume richtig zurückzustutzen. Seit wann machst du das schon?«, fragt der Wirt anerkennend.

»Seit acht Jahren, mein Herr. Am Anfang sprach ich noch nicht so gut Griechisch, aber in meinem Land hatte ich viele Wörter schon von den griechischstämmigen Albanern im Süden gelernt. Du weißt ja, viele sprechen Griechisch dort, bei uns in der Familie aber nicht. Das mit den Oliven hat mir schon mein Großvater beigebracht, wir haben ja auch welche in Albanien. Man braucht ein gutes Auge, um die dreijährigen Äste zu erkennen, die herausgeschnitten werden müssen, damit die Ernte im nächsten Jahr ertragreicher wird. Eure Oliven hier auf Kreta haben eine bessere Qualität, aber irgendwann wird auch mein Land so weit sein und gutes Öl produzieren für den Export«, antwortet der Vorarbeiter der Truppe langatmig.

»Eure Arbeit gefällt mir, dafür sollt ihr auch bezahlt werden, und zwar in Euro statt in Drachmen, davon habt ihr wohl schon gehört?« Mit dieser Bemerkung glaubt der Schnauzbärtige die Albaner zu überraschen, liegt damit aber falsch.

»Das wissen wir genau, wir haben schon unsere ersten Schnäpse nach getaner Arbeit mit Euro bezahlt«, ruft Pavlo voller Genugtuung und vergewissert sich: »Bleibt es bei den vereinbarten sechs Euro pro Stunde?«

»Woanders hättet ihr nur fünf Euro bekommen, aber ihr habt einen guten Job gemacht. Es bleibt bei sechs. Wie viel insgesamt?«, will der Wirt wissen.

»Wir haben gestern insgesamt 20 Stunden hier gearbeitet, die letzten zwei Tage und heute. Macht also 20 mal sechs, das sind 120. Wir sind drei Mann, also 360 Euro insgesamt«, präsentiert der Olivenexperte die Rechnung.

»350 habe ich sicherlich in Scheinen. Lass mal sehen. Da sind die 50-Euro-Scheine, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs und sieben. So, jetzt noch zehn Euro, hier ist ein Fünfer, den Rest muss ich euch in Münzen geben. Aber es ist eine deutsche Euro-Münze dabei, die ist vielleicht mehr wert«, schmunzelt der Wirt mit seinem Schnauzbart.

»Wir hätten auch albanische Euro genommen«, entgegnet Pavlo schlagfertig und grinst mit seinen beiden albanischen Helfern um die Wette.

»Die neue Währung wird in Albanien sehr geschätzt. Es wird jetzt einfacher für uns, auf Anschaffungen hin zu sparen. Ich werde mir ein großes Grundstück kaufen für meine eigene Olivenplantage und eine Ölmühle. In ein paar Jahren kann ich mir das leisten, wenn ihr weiter gut in Euro bezahlt. Vielleicht werde ich ja irgendwann Ihre Oliven pressen, mein Herr«, lässt Pavlo seinen Geschäftssinn durchblicken und nimmt das Geld für sich und seine Kollegen entgegen.

»Wenn ich wieder Arbeit für euch habe, melde ich mich. Macht es gut, und danke! Setzt euch auf den Pick up, ich bringe euch ins Dorf«, verabschiedet sich der Wirt.

An einer Weggabelung mit Bushaltestelle springen die drei vom Auto und winken ihrem vorübergehenden Arbeitgeber nochmals zu. Pavlo freut sich, so einen großen Batzen Euro in den Händen zu halten.

»Was wir uns davon alles in der Heimat kaufen könnten!«, sinniert sein radebrechender Kollege mit fast träumerischem Blick.

»Das macht also 120 Euro für jeden, zwei Fünfziger, und hier habe ich noch Kleingeld.« Pavlo teilt den Lohn auf.

»Gib mir den deutschen Euro!«, ruft sein Freund mit begehrlichem Blick.

»Was willst du damit, der ist nicht mehr wert als die griechischen! Aber wenn du ihn unbedingt haben willst, hier, bitte«, entgegnet Pavlo.

»Ist er nicht schön, so klar und geradlinig mit dem deutschen Adler«, schwärmt der Empfänger.

»Mir gefällt der griechische Euro tausendmal besser. Die Eule erinnert an die Antike und ist viel sympathischer als der stramme Adler«, erwidert Pavlo bestimmt.

Ich freue mich natürlich über diese netten Worte und bin froh, bei Pavlo zu verbleiben, wo er mich doch so schön findet. Wenn der albanische Kollege wüsste, wie arrogant der deutsche Euro die ganze Zeit war! Nun denn, es sei ihm vergönnt, dass er auf seinen neuen Besitzer so viel Eindruck macht.

Der ist gar nicht mehr zu bremsen vor lauter Begeisterung: »Nachher in der Stadt werde ich meine Frau in Albanien anrufen und ihr berichten, dass ich endlich einen deutschen Euro habe.«

»Wenn das bei euch zuhause reicht, um eine Frau glücklich zu machen, dann hast du es gut. Viel Glück und viel Spaß mit deinem deutschen Euro«, lacht sich der dritte Kollege kaputt, der bisher noch gar nichts gesagt hatte.

Die drei warten nun auf den Bus nach Agios Nikolaos. Nicht weit entfernt von der Haltestelle liegt der Sandstrand. Dort holen sie sich jeweils eine Limonade mit Strohhalm, um die Zeit zu überbrücken.

»Traust du dich ins Wasser zu springen?«, fragt Pavlo den Kollegen mit dem deutschen Euro.

»Viel zu kalt! Nur wenn ich jemanden retten müsste, würde ich das tun«, kommt es zurück.

»Da ja heute dein Glückstag ist mit deinem deutschen Euro, wollen wir mal sehen, ob das Glück auch anhält. Ich werfe jetzt meine griechische Euro-Münze, und wenn es Zahl gibt, dann brauchst du nicht ins Wasser. Wenn aber die Eule obenauf liegt, musst du springen«, schaut Pavlo ihn prüfend an.

»Heute werde ich Glück haben. Wirf die Münze!«, kommt die siegessichere Antwort.

»Dann wollen wir mal sehen«, sagt Pavlo, greift mich, drückt den Daumen auf den Zeigefinger und legt mich auf den Daumennagel. Mir wird ein bisschen schummerig. Dann spannt er die Finger und schleudert mich mit großem Schwung in die Luft.

»Hoppla, der fliegt aber hoch! Seht ihr ihn noch?«, fragt Pavlo besorgt.