Tagebuch eines Süchtigen - Claudio - E-Book

Tagebuch eines Süchtigen E-Book

Claudio

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Ich habe erst mit 24 angefangen, Drogen zu konsumieren, und bin in den Drogensumpf abgeglitten. Ich ließ mir meinen ersten Schuss setzen, wobei ich mich mit dem HIV-Virus infizierte. Anfangs fiel mir das Dealen leicht. Die ersten zehn Jahre hatte ich keine großen Schwierigkeiten damit. Ab dann wurde es immer schwieriger, meinen Konsum zu decken. Meine Freundin unterstützte mich, indem sie anschaffen ging. Zu meinem Glück wurde sie nie abhängig. Dann trennte sie sich von mir. Danach kamen die sehr unangenehmen Seiten der Sucht und meine Gesundheit ging den Bach runter. Lange Klinikaufenthalte folgten. Der Körper war ausgemergelt."

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 282

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und -auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2012 novum publishing gmbh

ISBN Printausgabe:978-3-99010-191-9

ISBN e-book: 978-3-99010-575-7

Lektorat: Christine Schranz

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem -Papier.

www.novumverlag.com

Einleitung

Die Motivation, das folgende Buch zu schreiben, war durchaus egoistisch. Nach unendlich vielen Versuchen, einen Entzug durchzustehen, kam ich auf die Idee, das ich meine Lebenssituation dringend verarbeiten musste. Das Schreiben sollte mir dabei helfen. So entstand dieses „erweiterte Tagebuch“. Ich bin kein Schriftsteller, der Geschichten erfindet: Das vorliegende Werk ist autobiografisch. Natürlich habe ich mich bemüht, etwas Spannung rein zu kriegen. Das vorliegende Buch ist eine Mischung aus Erinnerung und aktuellen Dingen. Ich hoffe, es trifft den Geschmack des Lesers.

Drogensucht ist ein sehr komplexes Thema. Da sind einmal die illegalen Drogen wie Heroin Kokain Marihuana und, um es nicht zu vergessen, legale Drogen wie Alkohol und Nikotin. Die Gefährlichkeit von Alkohol ist dem Heroin etwa gleichzusetzen. Ich habe einfach das Glück, das ich Alkohol nicht besonders gut vertrage. Wäre dem nicht so, wäre ich sicher auch Alkoholabhängig geworden. Die illegalen Drogen habe ich ja auch abwechselnd oder zusammen konsumiert. Das Problem bei den Drogen ist, das man sie gewaltig unterschätzt. Ich zum Beispiel konnte mit den gängigen Vorurteilen wie gefährlich und zersetzend Drogen sind nichts anfangen. Natürlich war ich relativ naiv. Aber die ersten Leute, die ich kennen lernte entsprachen überhaupt nicht dem Bild eines Schwerstsüchtigen, obwohl sie es waren. Ich sah das Ganze erstmal sehr gelassen. Ich begann zu konsumieren und kann nun auf eine 30-jährige Laufbahn als Süchtiger zurückschauen. Darauf bin ich überhaupt nicht stolz, aber ändern kann ich nichts mehr. Eingebracht hat es mir bis auf eine frühe HIV-Infektion und körperlichen Zerfall eigentlich nichts. Man sagt ja gemeinhin, Drogen erhalten einen jung. Ich sehe es eher so, das viele jung sterben. Dann gibt es noch jene wie ich, die als Langzeitüberlebende gelten. Von denen gibt es nicht so viele. So, genug der Worte: Viel Vergnügen mit der Lektüre.

Buch 0

Aging out (im Alter aufhören) sagt man zu einem Phänomen bei Süchtigen. Ich würde sagen, dass dies auf mich zutrifft. Wobei, wenn ich ganz ehrlich bin, ich eigentlich gar nicht aufgehört habe, Drogen zu konsumieren. Ich habe nur die Art und Weise geändert, wie ich diese konsumiere. Bereits 1986 habe ich begonnen, anstatt Heroin auf Methadon umzusteigen. Natürlich habe ich dazwischen immer wieder konsumiert, aber es wurde je länger je weniger. Ich habe alles ausprobiert: Vom Methadon bin ich dann später auf Diaphin (synthetisches Heroin) umgestiegen und dann schlussendlich auf Morphium-Tabletten. Das Wichtigste war, auf Spritzen zu verzichten und auf oralen Konsum umzusteigen. Ich habe meine Venen jahrzehntelang gepeinigt. Diese Einstiche haben meinen ganzen Körper geschädigt. Die Arme und Hände haben sich bis jetzt noch nicht davon erholt. Meine Venen sind durchstochen, verhärtet und vernarbt, und es ist sehr schwierig geworden, mir Blut abzunehmen. Im Universitätsspital, wo ich wegen meiner HIV-Infektion behandelt werde, gibt es eine Frau, die mir immer das Blut abnimmt. Sie ist ein Vollprofi und findet Venen, die nicht einmal ich treffen würde. Diese Untersuchung wird vierteljährlich gemacht und ich bin froh, in guten Händen zu sein. Auch bin ich mit der Abgabe äußerst zufrieden. Ich muss jeden Tag einmal vorbeigehen. Dort kriege ich dann meine Abendration und für den Morgen und Mittag bekomme ich die entsprechenden Medikamente und Morphium. Dafür habe ich diesen Beschaffungsstress und die ewige Warterei nicht mehr nötig, was ein großer Segen ist. Wie viel Zeit habe ich doch in der Vergangenheit darauf gewartet, meinen „Lebenssaft“ zu organisieren. Dadurch hatte ich auch nie Geld übrig. Ein Zustand, den der Süchtige nur zu gut kennt: Man kriegt das Zeug eben nicht gratis! Jetzt läuft alles über die Krankenkasse und das ist auch gut so. Was hat mir denn das Ganze eingebracht? Nichts außer Problemen! Probleme mit der Beschaffung und Probleme mit der Familie. Mein Vater hat sich von mir entfernt und meine beiden Brüder haben auch Abstand zu mir genommen, was ich noch verstehen kann. Nur meine Mutter hat mich nie fallen gelassen, obwohl sie ein paar Male beinahe gestorben wäre aus Sorge um mich. Mutter, es tut mir leid!

Doch alles hat sich schlussendlich zum Guten gewandt – seit etwa Ende 2009 habe ich den separaten Konsum eingestellt. Kurz vor dieser Zeit hatte ich noch einmal Prob- leme mit einer anderen Droge: Kokain. Zu dieser Zeit hatte ich viele Besucher bei mir zu Hause: Konsumenten und Dealer. Sie gaben sich die Klinke in die Hand. Pures Glück das ich nicht meine Wohnung verlor. Aber ich habe einfach Glück gehabt. Schon etwa zwei Jahre haben wir eine Video-Kamera auf den Haupteingang, doch es geschah nichts weiter.

Heute ist der dritte November 2010 und vor zwei Tagen kam ein alter Bekannter, der selbst konsumiert und damals ebenfalls gedealt hat, bei mir vorbei. Er klopfte an das Fenster der Küche und ich ging nachscheuen, wer denn um halb zehn Uhr abends bei mir klopfte. „Hallo, ich bin es!“ „Ja, wer denn?“ Nun, ich habe ihn erst gar nicht wiedererkannt, aber nach und nach dämmerte es mir. Er war im Gesicht wesentlich schmaler als früher, aber es war immer noch die gleiche Person. Er war immer fair zu mir gewesen. Nicht wie andere Leute, die nichts anderes im Sinn hatten, als sich irgendwie zu bereichern oder mich sonst auszunutzen. Im Drogenmilieu gibt es keine Kollegen oder Freunde: Jeder ist der perfekte Egoist und zeigt dir das auch. Es gibt eine Regel, die besagt, wer im Besitz von Material ist, ist der König. Sogar ich muss zugeben, dass es so ist. Wenn du im Besitz von Kokain bist, küssen die Leute dir die Füße, auch wenn du gerade barfuß aus dem Stall gekommen bist. Das ist eine Tatsache, die dir jeder Süchtige bestätigt, wenn er mal ehrlich ist. Nur kommen ehrlich und süchtig irgendwie gar nicht zusammen.

Nun, da stand er und fragte mich: „Willst du einen Base rauchen?“ Ich erwiderte, dass ich eigentlich aufgehört hätte, Drogen zu konsumieren. „Dürfen wir hereinkommen?“ Er hatte noch zwei Frauen bei sich, worauf ich eigentlich überhaupt keine Lust hatte, sind Frauen doch ziemlich die Übelsten unter den Drogenkonsumenten. Ich bin eigentlich Feminist, aber meine Erfahrungen kann ich nicht verleugnen. Tut mir leid! Jedenfalls wusste ich, dass ich, wenn ich ihn hereinließ, es nicht unterlassen könnte, ebenfalls zu konsumieren. Dies war nun das Allerletzte, was ich wollte. Also musste ich wohl oder Übel damit konfrontieren, dass ich ihm den Einlass verwehrte: Er sagte nur OK. Es war einfacher, als ich gedacht hätte. Wie gesagt, er war ein guter Junge. Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, vor der Haustüre einen Base für sich zuzubereiten und diesen dann auch zu rauchen. Das Licht geht hinten an, wenn man in die Nähe des Hauses kommt, aber er ließ sich offensichtlich überhaupt nicht stören. Nun denn. Ich schaute nach einer Weile noch nach, ob er immer noch da sei. Es hätte sich für mich als nachteilig erwiesen, wenn ihn die anderen Mieter dort gesehen hätten. Aber es passierte nichts. Ich war stolz auf mich selbst, dass ich der Versuchung widerstanden hatte, und setzte mich vor den Fernseher – eigentlich verdankte ich meinem Kollegen, dass ich überhaupt mal etwas unternommen hatte in Bezug auf das Aufschreiben meiner Erlebnisse. Er stellte mir damals einen Computer zur Verfügung und ich begann meine Aufzeichnungen etwas professioneller. Später kaufte ich einen eigenen Computer, den ich allerdings meinem Bruder verkauft habe. Nur der Computer, ohne Drucker, Tastatur und Maus. Dann erhielt ich nochmals einen von meinem Kollegen. Der ging aber dann kaputt, jedenfalls konnte ich nichts mehr damit anfangen. Als er mir das zweite Mal einen Computer stellte, überkam ihn eine fürchterliche Paranoia, worauf er meine Dateien löschte, da er überzeugt war, dass die Polizei diese Unterlagen wohl lesen würde. Natürlich ist das völliger Blödsinn, aber ich kann seine Gedanken nachvollziehen, kenne ich doch die Macht einer Paranoia nur zu gut aus eigener Erfahrung. Jetzt hat mir mein Bruder ja einen Computer auf der Internetböse „Ricardo“ besorgt und ihn mir zur Verfügung gestellt.

Ich habe ja bereits letztes Jahr aufgehört, etwas dazu zu konsumieren, aber richtig überdacht habe ich es erst, nachdem ich mir diesen Frühling eine bakterielle Infektion eingefangen hatte. Ich erhielt den Ratschlag meiner Mutter, eine Entzündung im Genitalbereich dem Crossline zu zeigen. Diese schauten es sich an und ich erhielt sofort einen Taxi-Gutschein um ins Triemli-Spital zu fahren. Ab dort verlässt mich meine Erinnerung. Ich erwachte erst zwanzig Tage später aus dem künstlichen Koma und musste dann noch etwa drei Wochen im Spital bleiben. Sie mussten mehrere Operationen durchführen und den Eiter auskratzen, den das Geschwür bei mir verursacht hatte. Danach schnitten sie mir vom linken Bein relativ viel Fleisch und Muskelgewebe heraus. Auch das rechte Bein blieb nicht verschont. Jetzt hatte ich bei beiden Beinen an den Oberschenkeln gegen den Bauch zwei tiefe, grossflächige Wunden. Das Fleisch war etwa einen halben Zentimeter tief ausgeschnitten und es waren zwei ovale Vertiefungen. Dann mussten sie von dem unteren Teil des Oberschenkels Haut darauf verpflanzen. Ich realisierte erst etwa drei Tage später das Ausmass dieser Operation. Die Narben werden bleiben. Es war verheerend, dies zu sehen. Je zwei ovale Vertiefungen in beiden Beinen, welche sehr hässlich wirkten. Man sah direkt auf das Fleisch. Es war ein widerliches Gefühl, das mich überkam. Mein Leben war von Eintönigkeit bestimmt und hat sich auf ein Minimum reduziert. Ich weiss nur von meinem älteren Bruder und den Ärzten, was damals geschehen ist. Wie ich die Infektion bekam wurde nie richtig geklärt. Ich denke, dass ich durch meinen Drogenkonsum die Hygiene etwas vernachlässigt habe und dann kam die Operation. Da der Infektionsherd am Anus hinten entstanden war, haben sie mir einen künstlichen Darmausgang gemacht. Ich kriegte eine Magensonde und wurde künstlich ernährt. Ich musste die nächsten Monate immer mit einem Säcklein herumlaufen, worin sich der Kot sammelte. Es war eine schreckliche Zeit. Die Maschinen übernahmen meine Ernährung. Was mein Körper so alles durchstehen musste. Ich war wieder gezwungen mit der Hand zu schreiben. Leider ist meine Schrift sehr schlecht leserlich

Ich bin anscheinend am 22. Mai 2009 eingeliefert worden und hatte dann zwanzig Tage im Koma gelegen, bis ich in der Notfallstation aufgewacht bin. Es war von Anfang an eine Quälerei, den Tag zu verbringen. Es ist zwar immer jemand für dich da, doch das weiss man Anfangs gar nicht zu schätzen. Traum und Realität vermischen sich und man weiss nicht, wo man gerade ist. Es kam dann der Tag des Abschieds von der Intensiv-Station zur allgemeinen Abteilung. Zuerst nahmen sie mir diese Kanüle aus dem Mund, somit konnte ich mit Übung langsam wieder sprechen. Vorher konnte ich nur unverständliche Dinge von mir geben. Wie gesagt, wurde mein Darm von innen nach draussen verlegt und meine Absonderungen wurden von dort entleert. Sämtliche angelegten Leitungen mit ihren Kabeln und entsprechenden Armaturen um mich herum blinkten wie verrückt. Manchmal ging ein Gerät aus und es piepste sehr laut. Sofort kam das Pflegepersonal, um alles wieder zu justieren. Das Ganze war eine Christbaum-Beleuchtung. Mit der Zeit wurden es immer wenigerGeräte.

Ich war jetzt zehn Tage in der allgemeinen Abteilung und man hatte mit mir gesprochen, wie ich weiter therapiert werden sollte. Die Wahl fiel auf ein Rehabilitations-Zentrum in Wald, das in Verbindung mit dem Triemli-Spital ist. Da kam eine Frau von den Verwaltung und offenbarte mir, dass in Wald auf längere Zeit kein Platz sein würde und sie brachten die Höhen-Klinik in Clavadel (bei Davos) ins Spiel. Jetzt überschlug sich alles und es ging mir beinahe zu schnell. Andererseits kann mir das Triemi keine Rehabilitation anbieten – seit meinem Eintritt ins Spital habe ich etwa zehn Kilo verloren. Bei der Rückverlegung meines Darmausgangs haben die Ärzte einen Darmverschluss verursacht. Ich wurde ganz normal entlassen und ging nach Hause zurück. Ich aß abends etwas und am nächsten Morgen fühlte ich mich bereits schlecht. Daraufhin kehrte ich über den Notfall ins Spital zurück. Am Abend dann die Nachricht des Oberarztes: Darmverschluss! Sofortige Operation war angesagt. Jetzt wurde wieder an mir herumoperiert. Doch damit nicht genug: Bei der Bereinigung dieses Notfalls haben sie mir einen Darmbruch verursacht. Natürlich war nicht an Operation zu denken, da ich kurz hintereinander diverse Vollnarkosen verabreicht bekam. Eine weite Vollnarkose hätte mich zum Vollidioten werden lassen. Das konnte man also vergessen. Jetzt hatte ich zwei Termine im Spital: einen, um eine Computer-Tomografie zu machen, einen, um den Eintritt ins Spital zu erwirken. Da sie mir ein Kontrast-Mittel intravenös eingaben, mussten sie mich stechen. Bei dieser Gelegenheit gab ich dann auch noch Blut ab, das sie für den Spital-Eintritt benötigten. Beim Termin der nächste Schock: Die Werte der roten Blutplättchen meines Blutes waren sehr tief, was eine Verdünnung meines Blutes bewirkte. Zudem hatte ich im September dieses Jahres noch eine Behandlung meines Sprunggelenkes. Ich blieb eine Woche. Diese Tatsache verunmöglichte es meiner Ärztin, die anfällige Darmoperation durchzuführen, und der Termin wurde vom September 2010 auf Januar 2011 verschoben. Es war mir unmöglich, irgendetwas dagegen zu unternehmen, ich musste dies einfach akzeptieren. Zwischenzeitlich war ich noch bei meiner Zahnarztamtsstelle: Die Prothesen mussten neu gestaltet und unterfüttert werden. Zudem zersplitterte meine obere Prothese. Jetzt habe ich für den Dezember diverse Termine für diese Sache sowie die regelmäßige HIV-Untersuchung. Und im Januar darf ich dann hoffentlich endlich einen Schlussstrich ziehen, wenn ich ins Spital eingeliefert werde. Ich hoffe sehr, dass diese Quälerei dann endlich beendet wird.

Nachfolgend meine Aufzeichnungen ab Februar 2009.

Buch 1

Freitag, 13. Februar 2009

Ich habe eben noch die „Großmutter“ (Rückstände, die beim Rauchen von Kokain entstehen und sich an der Pfeife ablagern) geraucht. Ich bin genervt und doch nicht ganz unzufrieden mit mir; habe ich doch dem Südamerikaner die Tür aufgemacht. Das war sehr dumm von mir und begann heute früh um ca. 08.30 Uhr. Die Kette an der Tür war nicht eingehängt, obwohl ich diese blöde Kette auch extra einhänge. Gut, heute war dies eben nicht der Fall. Ich könnte mich ohrfeigen, aber was soll’s. Habe ich halt einen Fehler gemacht, es wird nicht der letzte meines erbärmlichen Lebens sein!

Aber siehe da. Er war anständig, was mich selbst überrascht hat. Er verlangte die Pfeife. Dann nahm er, als ob es seine eigene Wohnung wäre, das Ammoniak heraus und kochte es zusammen mit dem Kokain! Wir sprachen nicht viel. Wozu auch! Er kochte also wenig Kokain auf und gab mir nach seinem Zug die Pfeife mit einem Zug für mich. Es reichte für je zwei Pfeifen. Dann verabschiedete er sich. „Ciao.“ „Ciao!“

Wenn ich mich auch fragte, wie mir das wieder passieren konnte, war ich im Nachhinein doch sehr froh, dass es so friedlich über die Bühne gegangen war. In meinem Innern kamen Sachen auf, die sich an ganz schlimmen Erinnerungen meinerseits orientierten. Ich hatte doch unter anderem wegen ihm fast meine Wohnung verloren. Er hatte mich belogen und bestohlen. Ich wollte nichts mehr mit dieser Person zu tun haben. Ich war froh, ihn nicht mehr zu sehen.

Zu früh gefreut!! Zwei Stunden später läutete die Hausglocke wieder. Nein, das kann doch nicht wahr sein!? Die Kette war jetzt eingeklinkt. Was aber passierte? Ich Idiot öffnete die Tür. Zuerst mit gesenktem Blick, dann aber direkt in sein Gesicht. „Was soll das, Carlos, Carlos“?! Welche Dummheit oder was auch immer mich übermannte, ich löste die Kette. Erst da konnte ich sehen, dass er nicht alleine gekommen war. Er hatte ein junges Mädchen dabei. Ich hätte ihr Vater sein können. Ich war innerlich irgendwie beunruhigt und trotzdem malte ich mir aus, dass es schon gut kommen würde. Tatsächlich ging es friedlich zu und her und er und seine Begleitung waren recht anständig und verließen mich nach je einem Zug auf der Pfeife (die ich eben erst ausgekratzt hatte) unverzüglich. Trotzdem: Es war dumm von mir und ich, etwas erleichtert, hängte die Kette wieder ein. Mit dem Vorsatz, diese nicht mehr zu öffnen, sollte er sich wieder bei mir melden.

Es war etwa halb zehn Uhr und ich hatte noch viel Zeit, um zur Heroin-Abgabestelle zu gehen, um dort mein ärztlich verordnetes Morphin einzunehmen. Morphin-Sulfat in Tablettenform. Irgendetwas, welches ich als Heroin-Ersatz dort bekam. Dazu meine HIV-Medikamente.

12.00 Uhr. Meine Mutter hatte mir noch telefoniert, was für mich normal war. Wir telefonierten etwa zweimal täglich. Ich versicherte ihr, dass alles in Ordnung sei und es mir gut ging. Es war ganz normal und gab mir die Sicherheit, dass ich nicht ganz alleine auf der Welt war.

Ich rasierte mich, zog mich an und ging aus dem Haus. Da ich ziemlich zentral wohne, war ich dann schnell einmal bei der Abgabestelle. Ich sah die üblichen Leute (wir sind meines Wissens etwa 60 Leute im Crossline: Dann gibt es noch das Lifeline, das etwa gleich viele Leute versorgt). Ich konnte vom Aufenthaltsraum in den Abgaberaum und konsumierte meine Medikamente. Mittags erhalte ich eigentlich nur eine Morphium-Tablette und ein Schmerzmittel. Dazu Symbiocorth für die Lunge und Dofulac für den Stuhlgang. Dazu noch eine Kalzium-Brausetablette: Das war’s. Ich rauchte noch eine Zigarette im Treppenhaus und wechselte ein paar Worte mit den anwesenden Mitpatienten. Im Aufenthaltsraum ist Rauchen strikt verboten. Ich persönlich finde dies unangenehm, aber es gehört zu den Auflagen der Klinik. Zurück zum Tram, und diesmal eine Station weiter, um noch etwas Kleines einzukaufen.

Zu Hause angekommen, fand ich noch zwei Mahlzeiten vom Mahlzeitendienst der Spitex. Es waren die letzten, die ich erhalten habe, da ich den Dienst abbestellt hatte. Meine Mikrowelle, welche ich vor ein paar Monaten eben von jenem Essensdienst (eigentlich keine schlechte Sache, dieses Angebot) bestellt hatte. Es war eine günstige Gelegenheit. Es gab Hörnli mit Gehacktem und Apfelmus (meine Mutter hatte am Wochenende gekocht und es blieb noch genug übrig für eine volle Portion). Sehr gut!

Ich machte es mir bequem, zog die Schuhe aus, hängte die Jacke in die Garderobe und wechselte in bequeme Kleidung. Draußen lag noch Schnee von den letzten paar Tagen, und es war trotz des sonnigen Wetters eben doch noch ziemlich kalt.

Ich stellte den vorbereiteten Teller in die Mikrowelle. Circa sechs Minuten später nahm ich mein Essen heraus und genoss meine Mittagsmahlzeit. Meine dritten Zähne meinten es gut mit und ich aß freudig drauflos.

Rrrrgghh! Rrrrgghh! Die Hausglocke läutete! SCHEISSE! Ich hatte es am Morgen wohl doch zu gelassen genommen. Dies rächte sich, wie so viele Sachen im Leben. Nicht schon wieder!? Aber doch …

Dieses Mal überlegte ich etwas und ging zum Fenster. Die Rollladen waren halb hochgezogen. Ich ging also zum Fenster, denn ich wusste mit absoluter Sicherheit, wer da läutete. Ich öffnete das Fenster und schrie „Hallo, hallo!“ Da hörte ich, wie die Hauteingangstüre aufging. Jemand musste den Öffnungsknopf gedrückt haben. Die äußere Verteidigungslinie war gebrochen … Rrrrgghh. Rrrrgghh. Scheiße! Wie konnte das passieren?! Was sollte ich machen?! Fragezeichen über Fragezeichen. Ich zögerte … Wusste nicht, was ich machen sollte: Jedenfalls war es am Morgen irgendwie gut, Ich versuchte es wenigstens, mir das einzureden. Was sollte ich machen?? Ich öffnete die Tür mit eingehängter Kette. „Aber Carlos!“ „Sono solo“, was heißen sollte, dass er alleine sei. Das sollte auch so sein, finde ich.

Irgendwie gelassen und in einer mir eingeredeten Gewissheit, dass alles gut gehen würde, öffnete ich die Tür. Nachdem noch ein paar Sprachfetzen gefallen waren, ging alles wie gewohnt. Die Stimmung war etwas geladen. Ich war schließlich am Essen und plötzlich fühlte ich diese Scheiß-Stimmung. Ich versuchte, ihm mit bestimmter Betonung nahezulegen, dass dies nicht mehr so weitergehen könne. Ich ließ ihn im Zimmer und kehrte zu meinem Essen zurück. Ich sprach kein Wort. Er fühlte sich sicher angegriffen. Das ist immer schlecht!

Ich aß mein Essen fertig und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Da er gerade eine Pfeife geraucht hatte, war ich ruhig. Er präparierte eine Pfeife für mich. Wortlos nahm ich meinen Zug. Die Stimmung hatte nicht viel gewechselt. Jetzt kamen all die Erinnerungen ans letzte Jahr wieder hoch. Es passte ihm gar nicht. Ich versuchte trotzdem, an sein Inneres zu kommen. Sprach von unmöglich und dass ich es traurig fände, dass er den mir nötigen Respekt mitsamt allem trat … Jetzt war es kritisch. Wie würde er es aufnehmen? Er, der Macho, begann Forderungen zu stellen. Er fühlte sich wohl noch im Recht. Er fragte nach einer Jacke … Ruhig und betont versuchte ich ihn darauf aufmerksam zu machen, dass ich selbst nur diese eine Jacke hatte … Was er sich eigentlich vorgestellt hätte?!

In mir kam alles wieder hoch. Es war jetzt etwa ein halbes Jahr her. Er hatte mir alles geklaut, was nicht niet- und nagelfest war: meinen goldenen Siegelring mit dem Wappen unserer Familie, dargestellt in heraldischer Form. Den Siegelring hatte ich extra für mich anfertigen lassen. Gelbgold, mit Weißgold-Platte mit Familienwappen, mein kleiner Ring mit Gelb-Gold- und Weißgold-Platte, mit einem kleinen Brillanten … Das waren die schlimmsten Sachen, die er mir angetan hatte.

All das war im letzten Jahr geschehen, ein paar Monate vor Mai. Ich hatte mir auf der Straße das linke Bein gebrochen. Dazu hatte ich mir eine Lungenentzündung aufgelesen. Sie ließen mich einundzwanzig Tage in künstlichem Tiefschlaf. So habe ich damals mit Spitalaufenthalten (Triemli, Zürich, Re-Ha Clavadel bei Davos, Sunne-Egge von Hr. Sieber) etwa vier bis fünf Monate Abstand gewinnen können, da ich einfach nicht anwesend war. Zudem reagierte ich ab 21.00 Uhr auf kein noch so langes Geläute. Komischerweise: Es funktionierte!

Damals wäre ich fast aus der Wohnung geflogen, was ich heute gut nachvollziehen kann. Es kamen Leute, die ich nicht kannte. Sie kamen zu allen Tages- und Nachtzeiten und immer wieder. Eine davon hat einmal im Hausflur den Schlafsack ausgepackt und hat dann dort geschlafen.Vermutlich haben sie sie gefunden und nach dem Namen gefragt: Ich weiß es ja nicht. Der Brief war entsprechend. Es stand da etwas von Randständigen und deren Unterkunft. Ich habe ein Entschuldigungs-Schreiben an den Vermieter geschickt und es ist dann ja auch nichts weiteres passiert. Der Unterschied von damals zu heute ist, dass ich etwas Abstand zum Kokain habe. Damals ließ ich es einfach geschehen, da ich damit meine Sucht etwas ausleben konnte.

Heute habe ich genug andere Sorgen und Gott möge (auch wenn ich aus der röm.-katholischen Kirche ausgetreten bin) mir helfen, die Notbremse zu ziehen. Ich werde ja auch immer älter, und zum Glück habe ich diesen unbeirrbaren Glauben ins Gute, was mich sogar aus äußerst depressiven Phasen, die ich durchlebe, immer wieder rausgeholt hat.

Wegen heute und diesem Vorfall hoffe ich wenigstens, diesen einen großen Fehler nicht mehr wieder machen zu müssen. Die Tür und die Kette werden mir dabei helfen, diesem Höllenkreis zu widerstehen.

Buch 2

Sonntag, 15. Februar 2009

Wo bin ich jetzt? Viel zu nahe am Abgrund: Gestern läutete es etwa um 14.00 Uhr. Ich wusste sofort, dass es Carlos sein würde. Jetzt bin ich schlauer, dachte ich mir. Ja, sicher! Ich ging schon gar nicht zur Tür, öffnete stattdessen das Fenster und rief: „Hallo … Halloo“ … Ich muss hier hinzufügen, dass ich im Parterre wohne und deshalb ebenerdig zum Gehsteig. Jemand kam auf mein Rufen. Jesus, es war Raffaele, den ich persönlich als positiv einstufe. Einer der Wenigen. Er war aber nicht alleine. Ihr könnt euch denken, wer?! Ich war hin- und hergerissen! Rationell war mir klar, dass ich hart sein sollte und beide zum Teufel schicken müsste.

Wenn man aber ein gefühlvoller Typ, wie ich es nun mal bin, ist, so hat man damit Schwierigkeiten. Ich ließ mich überreden, die Tür zu öffnen. Raffaele entschuldigte sich gebührlich. Carlos war wie immer, und alles ging glatt. Carlos kochte wieder und Raffaele wollte mir noch ein paar Benzodiazepine (Beruhigungs-/Schlaftabletten) anbieten, was ich gelassen ablehnte. Je ein Zug und mein Albtraum war schon fast wieder draußen. Raffaele wollte noch etwas Heroin abpacken, um etwas davon auf den Markt (die Straße) zu bringen. Was für ein Unterschied, die beiden. Beide waren auf der Gasse, verkehrten im Milieu. Ich sagte, dass die Probleme mit Carlos einfach zu groß wären und ich ihn als richtig „kriminell“ einstufte. Zudem sei er gefährlich: für jedermann! Besonders, wenn er konsumiert hatte. Raffaele hörte halbherzig zu. Was hätte er auch sagen können? Er hatte seine Sachen erledigt und ging mit Carlos. „Ciao.“ „Ciao.“ Türe zu.

Nachher war ich leicht verwirrt. Mir wurde klar, dass ich mit Carlos ein Problem hatte, welches ich nicht so einfach kontrollieren konnte. Das war schlecht, wirklich schlecht!

Eine halbe Stunde später rief mich meine Mutter an, mit der Nachricht, dass sie nicht vorbeikommen könnte, da bei ihr im Thurgau sehr viel Schnee gefallen war. Sie traute sich nicht zu, mich besuchen zu können, was meine Stimmung auf null setzte. Ich war traurig. Dazu musste ich erkennen, dass ich gezwungenermaßen plötzlich erwachsen werden musste. Ich, im Alter von 51 Jahren, war nicht fähig, auf mich gestellt zu leben! Meine Bindung zu meiner Mutter war sehr stark. Die Zeit hinterließ ihre Spuren. Trotzdem konnte ich jederzeit auf die Unterstützung durch meine Mutter rechnen, soweit es in ihrem Rahmen möglich war. Da war ich nun ein Kind mit 51 Jahren und einer Mutter von 84 Jahren. Sie lebt nun einmal im fortgeschrittenen Alter und es trifft jeden Menschen einmal das Aus, was ich übrigens als einzige Gerechtigkeit ansehe. Es bedeutet mir sehr viel, dass ich auf sie zurückgreifen kann … Tja …

Ich vergaß zu erwähnen, dass in der Nacht von Freitag auf Samstag die Glocke um circa 05.00 Uhr läutete. Es durchzuckte mich. Nur hatte ich in der Zwischenzeit einen kleinen Schritt vorwärts gemacht und reagierte einfach nicht. Ich war stolz auf mich!

Ich musste etwas tun! Aber was? Natürlich so weitermachen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Es wären sowieso Dinge, die keine Bedeutung hatten. Ich durfte einfach nie mehr jemanden in meine Wohnung lassen. Das ist ausreichend. Es wird dem Südamerikaner schon verleiden, sinnlos vorbeizukommen. Vor ein paar Monaten habe ich die Polizei vorbeikommen lassen: Es hatte mir etwas eingebracht, jedenfalls nützte es mir. Ich hatte etwas Ruhe bekommen. Doch wie sich herausstellte, war es nur ein Hirngespinst und mein südamerikanischer Freund kam ja doch wieder vorbei. Ich denke, er hat in der Zwischenzeit einfach ein paar andere Opfer gefunden und irgendwann bin ich ihm wieder eingefallen. Ich hatte auf jeden Fall eine gewisse Zeit Ruhe. Das war schon etwas wert. Jetzt ist ihm eingefallen, dass es mich ja noch gibt, und er ist wiedergekommen. Schlussendlich, was soll’s.

Am Samstag kam meine geliebte Mutter und brachte etwas zu essen mit. Ich war überglücklich. Zusammen mit meinen eigenen Einkäufen reichte es bis zum nächsten Samstag ohne Probleme. Dazu möchte ich erwähnen, dass ich finanziell am äußeren Rand des Möglichen stand. Drogen zu kaufen hatte ich unter diesem Druck schon lange aufgegeben und war erst einmal zufrieden, mir meine Zigaretten leisten zu können. Meine Sucht auf Tabletten hatte ich auch schon etwas besser im Griff, was schon viel gebraucht hatte. Etwas Strenge mit mir und eine gehörige Portion Demut halfen dabei. Ich konnte meinen finanziellen Engpass so weit regeln, als das ich entsprechende Briefe und Telefonate geführt hatte. So konnte ich die Situation für die nächsten drei oder vier Monate ein wenig entschärfen. Hätte ich das nicht getan, wäre ich total abgedriftet, was dann bald einmal geschehen wäre. Dazu beigetragen hatte auch die Tatsache, dass ich von der Poliklinik „Crossline“ mein Heroin auf Rezept bekam. Ich musste also nicht dauernd irgendwelchen Drogen hinterherlaufen. Ich bekam dort mein Morphium sowie moralische Unterstützung, die ich zunehmend in Anspruch nahm. Ich habe dort einen „Case Manager“, der mir zugeteilt wurde, und ich war echt froh, ihn zu haben. Für mich bedeutet dies, zweimal täglich in die Abgabestelle zu gehen und die entsprechenden Medikamente dort zu konsumieren. Einzig am Abend bekomme ich meine HIV-Medikamente, die ich jeweils morgens einnahm. Alle anderen Medikamente wie das Morphium und das Seresta muss ich bei Sicht konsumieren. Ich habe erst kürzlich vom Heroin (Diaphin) auf MST (Morphium) umgestellt und ich fühle mich damit eigentlich gut bedient. Zuvor hatte ich lange Zeit Methadon (Heroin-Ersatz) und bin froh, dass ich inzwischen umgestellt habe. Man ist damit nicht so müde. Wichtig ist auch, dass ich von intravenösem Konsum auf oralen Konsum umgestellt habe. Meine Arme sind mir äußerst dankbar, dass ich nun so weitermache. Die Venen haben nun genug Zeit, sich wieder zu regenerieren. So hoffe ich wenigstens.

Meine Mutter kochte mir mein Lieblingsessen: Knöpfli mit Heidelbeeren. Natürlich von Hand gemacht, mit aller Liebe dieser Welt. Ich machte mich fein. Da ich mich am Freitag schon rasiert hatte, musste ich mich nur noch duschen. Da war ich wieder frisch und wie aus dem Ei gepellt. Nach dem Mittagessen wurde ich in die Abgabestelle gefahren und genoss es, den Kaffee zu Hause trinken zu können. Meine Mutter verwöhnte mich wie immer. Um circa 14.00 Uhr verließ sie mich. Ich wünschte ihr alles Gute und eine angenehme Heimfahrt. Für ihr Alter war es ein Riesenaufwand, dies alles auf sich zu nehmen. Nur um eines der drei Kinder, die sie auf die Welt gebracht hatte, zu umsorgen. Nicht dass sie die anderen Kinder weniger lieb hatte, aber zu mir hatte sie eine spezielle Bindung, was ich auch zu schätzen wusste. Ich kann mich glücklich schätzen, so eine Mutter zu haben. Sie ließ mich nie fallen; trotz allem, was sie mit mir durchleben musste. Und ich habe fürchterliche Dinge gemacht, die ein Außenstehender kaum verarbeiten würde oder könnte. Im krassen Gegensatz zu meinem Vater, der laut Aussage meiner Brüder nur zwei Söhne hätte und sich gar nicht an mich zurückerinnern könne. Dies sagte vor allem mein älterer Bruder, der am meisten von der Persönlichkeit unseres Vaters geerbt hatte. Doch eben dieser Bruder hat sich im Laufe der letzten Jahre zunehmend von diesem Bild gelöst. Das Leben und sein Schicksal haben ihn in letzter Zeit zunehmend weiser werden lassen. Seine Frau Paula und vor allem das Mädchen Atina veränderten ihn zunehmend zum Guten. Ich gönne es ihm und seiner Familie, ein besseres Leben führen zu können. Mein jüngerer Bruder hat zurzeit auch nicht das beste Leben. Aber seine thailändische Frau, die er liebt, hilft ihm trotz der schlechten Zeit, die er gerade durchläuft. Ich wünsche ihm ebenfalls nur das Beste und hoffe auf eine baldige Änderung seiner Lebenssituation. Das mein Vater mich verstossen hatte und meine Brüder keinen grossen Kontakt mir mir hielten ordne ich meinem Drogenkonsum zu. Ich kann es ja auch in gewisser Weise verstehen.

Da war ich jetzt zu Hause, bequem gekleidet, und schaute mir das Programm an. Es liefen gerade ein paar alte Trickfilme (Bugs Bunny und so), welche ich gerne mochte. Ich genoss es, da morgen, Sonntag, sowieso nicht Gutes gesendet würde.

Rrrgghhh …! Ich war plötzlich nicht mehr guter Laune. Wer konnte jetzt wohl vorbeikommen? Wer wohl …Würde ich Antwort geben oder die Tür öffnen, hätte ich keinen Fortschritt gemacht. Aber ich habe es wohl langsam kapiert. Einfach nicht reagieren, das ist das Einzige, was etwas nützt! Ich darf die Tür nicht mehr öffnen, niemandem. So weit, so gut. Kurz darauf erhalte ich einen Anruf von einem echten Kollegen. Der ist wohlerzogen, freundlich, geht einer Arbeit im Gastgewerbe nach. Alles paletti. Er hat heute und morgen jeweils Spätdienst und deshalb keine Möglichkeit, mit dem Zug nach Hause zu kommen. Somit wird er heute und morgen etwa um 01.30 Uhr zu mir kommen, um bei mir zu übernachten. So jemanden lässt man nicht hängen. Einer der wenigen Kontakte, die mir zum Positiven helfen können. Ich bitte ihn, nicht zu läuten, da ich auf kein Läuten reagieren werde. Er hat es hoffentlich verstanden, dass er vor meiner Tür aus erst anrufen soll, da ich sonst niemandem öffnen werde. Die Nacht vom Samstag auf den Sonntag blieb verhältnismäßig ruhig. Mein Gast, den ich erwartet hatte, rief mich zur verabredeten Zeit an, dass er vor der Tür stehe. Nochmals eine Frage meinerseits, ob er jemanden in der Nähe sehen könne. Er verneinte dies und ich ließ ihn rein, indem ich bei der Gegensprechanlage auf den Türöffner drückte. Ich wartete noch kurz, bis die Haustüre einrastete. Als er alleine vor mir stand und die Türe hinter ihm zugefallen war, überrollte mich eine Welle der Erleichterung. Ich berichtete ihm ausführlich, weshalb ich so paranoid reagierte. Es tat gut, mit jemandem darüber zu reden. Er hörte mir aufmerksam zu und meine Anspannung legte sich allmählich. Er war müde, da er bis 01.00 Uhr arbeiten musste. Er hole seinen Schlafsack heraus, welchen wir auf eine Decke am Boden hingelegt hatten. Dann zog er seine Arbeitskleidung aus und kroch in seinen Schlafsack: Er war bereit, sich von seinem Arbeitsplatz zu erholen. „Gute Nacht.“ „Gute Nacht.“ Ich legte mich in mein Bett und versuchte, meine Gedanken abzustellen. Ich hoffte auf eine ruhige Nacht. Ich vergaß zu erwähnen, dass Carlos mir noch meine Mütze gestohlen hatte (ich mit meiner Glatze), was meinen Vorsatz bestärkte, niemals jemandem die Tür zu öffnen, ohne zu wissen, wer sich davor aufhielt.