Tagebuch - Witold Gombrowicz - E-Book

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Witold Gombrowicz

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Beschreibung

»Ich muss mein eigener Kommentator, besser noch mein eigener Regisseur werden. Ich muss einen Gombrowicz-Denker schmieden, zusammen mit einem Gombrowicz-Genie, einem Gombrowicz-Kulturdemagogen und vielen anderen unverzichtbaren Gombrowiczen«, beschreibt der polnische Schriftsteller sein Tagebuch-Projekt, das er seit 1952 als eigenständiges literarisches Werk konzipierte und das zu einem seinem Hauptwerk heranwuchs. Darin setzt sich Gombrowicz mit »einem Maximum an Frechheit« mit der Welt auseinander, äußert sich zu philosophischen, historischen, kulturellen, religiösen, gesellschaftlichen Themen, aber auch zu seinem Emigrantenschicksal und seiner Homosexualität. Die über 1000 Seiten sind ein Thesaurus aus Reflexionen, Analysen, Paradoxien und Provokationen, aus Erlebtem und Erfundenem, die den Leser zu Gelächter, Zustimmung und Widerspruch reizen und damit zum Nachdenken provozieren. Das Tagebuch von Witold Gombrowicz ist Autobiographie, Essay und Kunstwerk in einem. Vor allem aber ein Pamphlet gegen jedwede Unterdrückung und ideologischen Dogmatismus und das Manifest einer gnadenlosen Individualität. Maßlos und über- bordend, ein Buch ohne Ende, ein einzigartiges literarisches Monument des 20. Jahrhunderts.

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Witold Gombrowicz

Tagebuch 1953-1969

Aus dem Polnischen von Olaf Kühl

Kampa

Tagebuch

Erstes Buch1953–1956

1953

I

Montag

Ich.

Dienstag

Ich.

Mittwoch

Ich.

Donnerstag

Ich.

Freitag

Józefa Radzymińska hat mir großherzig einige Ausgaben der Wiadomości und des Życie zur Verfügung gestellt, und zugleich fielen mir ein paar Exemplare der heimatlichen Presse in die Hände. Ich lese diese polnischen Zeitungen wie den Bericht über einen sehr guten und nahen Bekannten, der dann aber plötzlich verreist ist, zum Beispiel nach Australien, um dort merkwürdige Abenteuer zu erleben … Abenteuer, die insofern gar nicht mehr wirklich sind, als sie jemand anderen und neuen betreffen, der nur noch in einem Zustand loser Identität mit der uns einst bekannten Person ist. So stark spürbar ist die Zeit auf diesen Seiten, dass in uns der Hunger nach Unmittelbarkeit, Lebenslust und der Wunsch nach einer wenn auch nur unvollkommenen Realisierung wach werden. Aber das Leben ist wie hinter Glas – so weit entfernt – es scheint uns alles nicht mehr zu betreffen, so als sähen wir es aus dem fahrenden Zug.

Wenn in diesem Reich vergänglicher Fiktion eine wirkliche Stimme zu hören wäre! Aber nein – das ist entweder Echo, fünfzehn Jahre alt, oder auswendig gelernter Singsang. Die Presse in der Heimat singt die Pflichtmelodie und schweigt dabei wie ein Grab, wie ein Abgrund, ein Geheimnis, und die Emigrantenpresse ist – bieder. Zweifellos ist uns der Geist in der Emigration verbiedert. Die Emigrantenpresse erinnert an ein Krankenhaus, wo den Rekonvaleszenten nur leicht verdauliche Süppchen gereicht werden. Wozu alte Wunden aufreißen? Weshalb der Härte, mit der das Leben uns gesalbt hat, noch Härte hinzufügen, und sollten wir denn nicht eigentlich ohnehin artig sein, da wir doch schon einen Klaps bekommen haben? …

So herrschen hier denn alle christlichen Tugenden, Güte, Menschlichkeit, Erbarmen, Achtung vor dem Menschen, Maß, Bescheidenheit, Anstand, Umsicht und Verstand, und alles, was geschrieben wird, ist vor allem gutmütig. So viele Tugenden! So tugendhaft waren wir nicht, als wir noch fester auf den Beinen standen. Ich habe kein Vertrauen zu der Tugend von Pechvögeln, zu einer aus Not geborenen Tugend, und diese ganze Moralität erinnert mich an das Wort Nietzsches: »Die zunehmende Sanftheit unserer Sitten ist Folge unserer Schwächung.«

Im Gegensatz zur Stimme der Emigration klingt die Stimme der Heimat scharf und kategorisch, es scheint ganz unglaublich, dass dies nicht die Stimme der Wahrheit und des Lebens sein soll. Hier weiß man wenigstens, worum es geht – Schwarz und Weiß, Gut und Böse –, hier tost die Moral und schlägt wie ein Knüppel. Großartig wäre dieser Gesang, wären die Sänger nicht entsetzt von ihm und spürte man nicht ein Zittern in ihrer Stimme, das Mitleid erregt … In gigantischem Schweigen gestaltet sich unsere uneingestandene, stumme und geknebelte Wirklichkeit.

Donnerstag

»Krakau. Statuen und Paläste, die ihnen ganz großartig vorkommen – für uns Italiener aber ohne größeren Wert sind.«

Galeazzo Ciano, Tagebuch

Ein Artikel von Lechoń in den Wiadomości unter dem Titel »Die polnische Literatur und die Literatur in Polen«. Wie aufrichtig kann das gemeint sein? Diese Ausführungen sollen wieder einmal beweisen (ach, das wievielte Mal?!), dass wir den besten Literaturen der Welt gleich sind – gleich, aber vergessen und unterschätzt! Er schreibt (bzw. sagt, denn das war eine Rede, die in New York für die dortigen Auslandspolen gehalten wurde):

»Unsere Schriftgelehrten konnten, weil sie überwiegend mit dem Polnischen beschäftigt waren, nicht der Aufgabe gerecht werden, unserer Literatur einen geeigneten Platz unter den anderen zu finden und unseren Meisterwerken Weltrang zuzuweisen … Nur ein großer Dichter, ein Meister seiner eigenen Sprache, hätte seinen Landsleuten einen Begriff vom Niveau unserer Dichter geben können, die den Größten der Welt nicht nachstanden, und sie davon überzeugen können, dass diese Dichtung aus dem gleichen Metall, vom gleichen Feingehalt ist wie Dante, Racine und Shakespeare.«

Und so weiter. Aus dem gleichen Metall? Das ist Lechoń wohl danebengegangen. Denn gerade der Stoff, aus dem unsere Literatur gemacht ward, ist anders. Mickiewicz mit Dante oder mit Shakespeare zu vergleichen hieße, eine Frucht mit Konfitüre, ein Naturprodukt mit einem verarbeiteten Produkt, Wiese, Feld und Dorf mit Kathedrale oder Stadt zu vergleichen, die ländliche mit der städtischen Seele, die in den Menschen, nicht in der Natur wurzelt und mit Wissen vom Menschengeschlecht geladen ist. War denn Mickiewicz nun kleiner als Dante? Wenn wir uns schon mit solchen Messungen befassen sollen, so sei gesagt, dass er die Welt von den sanften Hügeln Polens aus betrachtete, während Dante auf den Gipfel eines gewaltigen Berges (aus Menschen) gehoben war, von dem sich andere Perspektiven eröffneten. Dante, ohne vielleicht »größer« zu sein, hatte einen höheren Standort: Das macht ihn überragend.

Doch genug damit. Es geht mir viel mehr um das Altmodische der Methode und die nie endende Wiederholbarkeit dieses erbaulichen Stils. Wenn Lechoń stolz erwähnt, dass Lautréamont »sich gern auf Mickiewicz berief«, fischt mein müder Sinn eine ganze Reihe ähnlicher, stolzer Offenbarungen aus der Vergangenheit hervor. Wie oft hat nicht dieser oder jener, vielleicht Grzymala, vielleicht auch Dębicki, urbi et orbi nachgewiesen, dass wir denn doch keine Affen aus dem Urwald sind, denn »Thomas Mann hielt die Ungöttliche für ein großes Werk«, oder »Quo vadis? wurde in sämtliche Sprachen übersetzt«. Das ist der Zucker, den wir uns schon immer schmecken ließen. Ich würde nur gern den Augenblick erleben, da das Pferd der Nation mit den Zähnen nach Lechońs süßer Hand schnappt.

Ich verstehe Lechoń und sein Unterfangen. Das ist, denkt man an den historischen Augenblick in der aufgezwungenen Fremde, vor allem eine patriotische Pflicht. Es ist die Rolle des polnischen Schriftstellers. Zum andern aber glaubt er bestimmt bis zu einem gewissen Grade an das, was er schreibt – »bis zu einem gewissen Grade«, sage ich, denn diese Wahrheiten erfordern ihrer Natur nach viel guten Willen. Und natürlich, wenn es um das »Konstruktive« geht, so ist dieser Auftritt völlig in Ordnung und hundertprozentig positiv.

Gut. Aber ich habe eine andere Einstellung zu diesen Dingen. Einmal war es mir bestimmt, an einer jener Versammlungen teilzunehmen, die dazu dienen, sich nach polnischer Art gegenseitig zu kräftigen und sich Mut zu machen … wo man nach dem Absingen der Rota und dem Tanzen eines Krakowiak daranging, einem Redner zuzuhören, der die Nation lobte, denn »wir haben Chopin hervorgebracht«, denn »wir haben die Curie-Skłodowska« und den Wawel sowie Słowacki und Mickiewicz, und außerdem waren wir ein Bollwerk des Christentums, und die Konstitution des Dritten Mai war sehr fortschrittlich … Er machte sich und den Versammelten klar, dass wir ein großes Volk seien, was vielleicht keinen Enthusiasmus mehr unter den Zuhörern hervorrief (die dies Ritual kannten – sie nahmen daran teil wie an einem Gottesdienst, von dem man keine Überraschungen zu erwarten hat), dennoch aber nahm man gewissermaßen befriedigt zur Kenntnis, dass der patriotischen Pflicht Genüge getan ward. Ich aber empfand diese Zeremonie als eine Ausgeburt der Hölle, dieser nationale Gottesdienst wurde mir zu etwas teuflisch Hohnlachendem und boshaft Groteskem. Denn indem sie Mickiewicz erhoben, erniedrigten sie sich – und mit diesem Lobgesang auf Chopin bewiesen sie nur, dass sie Chopin nicht gewachsen waren – und indem sie in der eigenen Kultur schwelgten, entblößten sie ihre Primitivität.

Genies! Zum Teufel mit diesen Genies! Ich hatte Lust, den Versammelten zu sagen: »Was geht mich Mickiewicz an? Ihr seid mir wichtiger als Mickiewicz. Und weder ich noch irgendjemand anders wird das polnische Volk nach Mickiewicz oder Chopin beurteilen, sondern danach, was hier in diesem Saal geschieht und was hier gesprochen wird. Selbst wenn ihr ein an Größe so armes Volk wäret, dass euer größter Künstler Tetmajer oder die Konopnicka wäre, dafür aber mit der Freiheit geistig unabhängiger Menschen über sie sprechen könntet, mit dem Maß und der Nüchternheit reifer Menschen, wenn eure Worte keinen hinterwäldlerischen, sondern einen Welthorizont hätten … dann würde euch sogar ein Tetmajer zum Ruhme gereichen. Wie aber die Dinge liegen, dient euch Chopin mit Mickiewicz nur zur Hervorhebung eurer Kleinlichkeit – ihr fuchtelt dem gelangweilten Ausland doch nur deshalb so naiv mit diesen Polonaisen vor der Nase herum, um euer angegriffenes Selbstwertgefühl zu stärken und eure Bedeutung zu steigern. Wie ein Bettler seid ihr, der sich damit brüstet, dass seine Großmutter einen Gutshof hatte und oft in Paris weilte. Ihr seid die armen Verwandten der Welt, die sich und den anderen imponieren wollen.«

Aber nicht das war das Schlimmste und Peinlichste, nicht das erniedrigte und schmerzte am ärgsten. Am Schrecklichsten war, dass hier Leben und lebendiger Verstand Toten geopfert wurden. Denn diese Akademie ließ sich als gegenseitige Verdummung der Polen im Namen Mickiewiczs definieren … und keiner der Versammelten war so dumm wie die Versammlung, die er bilden half und die nach billiger, prätentiöser und unaufrichtiger Phrase roch. Die Versammlung wusste übrigens, dass sie töricht war – töricht, weil sie Fragen berührte, die sie weder gedanklich noch gefühlsmäßig beherrschte – daher diese Ehrerbietung, diese beflissene Demut vor der Phrase, diese Bewunderung für die KUNST, diese floskelhafte und angelernte Sprache, dieser Mangel an Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Hier wurde rezitiert. Von Verklemmtheit, Künstlichkeit und Unaufrichtigkeit war die Versammlung aber auch deshalb gekennzeichnet, weil Polen daran teilnahm, und Polen gegenüber weiß sich der Pole nicht zu benehmen, es bringt ihn aus der Fassung und macht ihn manieriert – verschüchtert ihn dermaßen, dass ihm nichts mehr richtig »gerät«, es versetzt ihn in einen Krampfzustand – zu sehr will er Ihm helfen, zu innig ist sein Wunsch, Es zu erhöhen. Denkt einmal daran, dass die Polen sich Gott gegenüber (in der Kirche) normal und korrekt verhalten – gegenüber Polen verlieren sie sich, das ist etwas, woran sie sich noch nicht gewöhnt haben.

Ich erinnere mich an eine Teegesellschaft in einem argentinischen Haus, auf der mein Bekannter, ein Pole, auf Polen zu sprechen kam – und natürlich wurden wieder Mickiewicz, Kościuszko samt König Sobieski und der Schlacht bei Wien aufgetischt. Die Ausländer lauschten artig dem hitzigen Vortrag und nahmen zur Kenntnis, dass »Nietzsche und Dostojewski polnischer Abstammung waren« und dass »wir zwei Literatur-Nobelpreise haben«. Ich dachte daran, dass es eine grobe Taktlosigkeit wäre, sich oder seine Familie auf solche Weise zu loben. Dachte daran, dass dieses Gepoker mit anderen Nationen um Genies und Helden, um Verdienste und kulturelle Errungenschaften unter dem Gesichtspunkt der Propagandataktik eigentlich äußerst ungeschickt ist – denn mit unserem halb französischen Chopin und nicht ganz astreinen Kopernikus können wir gegen die italienische, französische, deutsche, englische und russische Konkurrenz nicht bestehen; gerade unter diesem Gesichtspunkt sind wir zur Zweitrangigkeit verurteilt. Die Ausländer aber hörten weiter geduldig zu, so wie man Leuten zuhört, die den Anspruch erheben, adlig zu sein, und bei jeder Gelegenheit darauf hinweisen, dass ihr Ururgroßvater Burgvogt von Liw gewesen sei. Und sie lauschten umso gelangweilter, als ihnen das völlig gleichgültig war, denn sie selbst, als junges und zum Glück von Genies freies Volk, waren außer Konkurrenz. So hörten sie denn nachsichtig und sogar mitfühlend zu, denn eigentlich konnten sie sich ja in die psychologische Situation del pobre polaco hineinversetzen; der aber, von seiner Rolle mitgerissen, war nicht zu bremsen.

Meine Situation jedoch spitzte sich immer mehr zu. Als polnischer Schriftsteller bin ich keineswegs darauf erpicht, irgendetwas außer mir selbst zu repräsentieren, doch zwingt uns die Welt solche Repräsentationsfunktionen gegen unseren Willen auf, und es ist nicht meine Schuld, dass ich für diese Argentinier ein Vertreter der zeitgenössischen polnischen Literatur war. Ich konnte also wählen: entweder diesen Stil des armen Verwandten zu ratifizieren oder ihn zu vernichten – wobei die Vernichtung auf Kosten aller für uns mehr oder weniger schmeichelhafter und günstiger Informationen geschehen musste, die hier bekannt gemacht worden waren, und das gewiss zum Nachteil unserer, der polnischen, Interessen. Und dennoch verbot mir nichts anderes als mein nationales Ehrgefühl jegliche Hintergedanken – bin ich doch ein Mensch von zweifellos geschärftem persönlichen Ehrgefühl, und so ein Mensch, selbst wenn er seiner Nation nicht durch gewöhnlichen Patriotismus verbunden wäre, wird immer auf die Ehre der Nation achten, sei es nur aus dem Grund, dass er von ihr nicht loskommt und für die Welt ein Pole ist – deshalb erniedrigt jene Erniedrigung der Nation auch ihn persönlich gegenüber den Menschen. Diese Empfindungen aber, die gewissermaßen zwanghaft und von uns unabhängig sind, sind hundertfach stärker als alle angelernten und abgedroschenen Sentiments.

Wenn uns so ein Gefühl erfasst, das stärker ist als wir, handeln wir blindlings, und solche Augenblicke sind wichtig für den Künstler, dann nämlich bilden sich die Ausgangsbasen der Form, wird die Haltung zu einem brennenden Problem bestimmt. Was also sagte ich? Mir war klar, dass nur ein radikaler Wechsel der Tonart die Befreiung bringen konnte. Ich bemühte mich also, Geringschätzung in meine Stimme zu legen, und sprach dann wie jemand, der den bisherigen Errungenschaften seines Volkes keine größere Bedeutung beimisst und dessen Vergangenheit weniger wert ist als seine Zukunft – für den das höchste Recht dasjenige der Gegenwart ist, das Recht auf maximale Geistesfreiheit im gegebenen Augenblick. Ich hob die fremden Elemente im Blut der Chopins, Mickiewiczs und Kopernikusse hervor (damit man nicht denke, ich hätte etwas zu verbergen oder irgendetwas könnte mir die Bewegungsfreiheit nehmen) und sagte, die Metapher, wir, die Polen, hätten sie »hervorgebracht«, sei doch wohl nicht ganz ernst zu nehmen; seien sie doch nur unter uns geboren. Was habe eine Frau Kowalska mit Chopin gemein? Erhöht sich denn das Gattungsgewicht eines Herrn Powalski auch nur einen Deut dadurch, dass Chopin seine Balladen geschrieben hat? Kann die Schlacht vor Wien einem Herrn Ziębicki aus Radom irgendwie zum Ruhm gereichen? Nein (sagte ich), wir sind nicht die direkten Erben vergangener Größe noch Kleinheit – nicht des Verstandes noch der Dummheit – weder der Tugend noch der Sünde – und jeder ist nur für sich allein verantwortlich, jeder ist er selbst.

An dieser Stelle hatte ich jedoch den Eindruck, nicht tief genug zu sein und (wenn das, was ich sagte, eine Wirkung haben sollte) die Angelegenheit umfassender behandeln zu müssen. So gab ich denn zu, dass in den großen Errungenschaften einer Nation, in den Werken ihrer schöpferischen Kräfte bis zu einem gewissen Grade die spezifischen Tugenden zum Ausdruck kommen, die der Gemeinschaft eigen sind, sowie jene Spannungen, Energien, Reize, die in der Masse entstehen und ihr Ausdruck sind – und traf damit genau den Grundsatz der nationalen Selbstvergötterung. Wie ein wirklich reifes Volk seine eigenen Verdienste maßvoll einschätzen müsse, sagte ich, so müsse ein wirklich vitales Volk lernen, sie gering zu schätzen, müsse unbedingt über alles erhaben sein, was nicht seine heutige, aktuelle Angelegenheit und sein gegenwärtiges Werden sei …

»Destruktion« oder »Konstruktion«? Eins ist sicher – diese Worte waren insofern empörend, als sie das eifrig errichtete Gebäude der »Propaganda« untergruben, ja selbst die Ausländer verbittern konnten. Aber was ist das für ein Genuss: nicht für jemanden, sondern für sich selbst zu sprechen! Wenn jedes Wort dich in dir bestärkt, dir innere Kraft verleiht und dich von tausenderlei ängstlichen Rücksichtnahmen befreit – wenn du beim Sprechen nicht der Sklave des Effekts bist, sondern ein freier Mensch!

Et quasi cursores, vitae lampada tradunt.

Doch erst ganz am Schluss meiner Philippika kam ich auf einen Gedanken, der mir – in der Atmosphäre jener trüben Improvisation – am treffendsten schien. Nämlich, dass nichts Eigenes dem Menschen imponieren kann; wenn uns also unsere Größe oder unsere Vergangenheit imponieren, beweist das, dass sie uns noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen sind.

Freitag

Das Aufschlussreichste in den Wiadomości sind die Leserbriefe.

»An den Redakteur der Wiadomości: In der letzten Ausgabe Zbyszewski wie immer unüberlegt, Mackiewicz ohne Perspektive, dafür aber die Naglerowa Spitze. – Feliks Z.«

»An den Redakteur der Wiadomości … Schade, dass unsere Schriftsteller so wenig an sich arbeiten, gutes Material, aber ungeschliffen, einzig und allein Hemar ist ein echter Europäer. Arbeiten heißt es! Józef B.«

»An den Redakteur der Wiadomości … In der letzten Ausgabe habe ich geschrieben, Herr Roman sei besser als Żeromski, jetzt sage ich, er ist überhaupt der Beste, Donner und Doria, Herr Roman, für diese letzte Heldentat, eine Delikatesse war das!!! Nur weiter so! Ein Küsschen den Kindern! Konstanty F.«

Eine ehrbare Ecke! Eine Ecke, in der sich auch Herr Wincenty mal so richtig aussprechen, in der Herr Walery seiner Empörung Ausdruck verleihen und Frau Franciszka mit ihrem Wissen auftrumpfen kann. Was ist schlecht daran? Nichts, bestimmt nicht. Auf diese Weise wird immerhin Literatur unter die Leute gebracht, und davon gedeiht die Aufklärung.

Aber dass sich hier im stillen Winkel Personen ausleben, die kein Anrecht erworben haben, an anderem, weniger biederen Ort aufzutreten … diese Biederkeit eben ist mir zuwider. Denn die Literatur ist eine Dame von strengen Sitten, und es geht nicht an, sie mal eben so zu zwacken, wenn niemand guckt. Kennzeichen der Literatur ist Schärfe. Selbst wenn sie dem Leser gutmütig zulächelt, ist Literatur das Ergebnis einer scharfen, harten Entwicklung ihres Schöpfers. Und der Literatur muss an der Verschärfung des Geisteslebens gelegen sein, nicht an einer derartigen Winkeltoleranz.

Dieses Detail, an und für sich bedeutungslos, ist doch insofern charakteristisch, als es die Invasion von Weichheit in ein Gebiet aufzeigt, das hart sein sollte. Eine Literatur, die ständig von allerlei Romane und Feuilletons fabrizierenden biederen Tanten aufgeweicht wird, von den Lieferanten der letzten Prosa und Dichtung, von wortgewandten Weichlingen, eine solche Literatur ist in Gefahr, ein weich gekochtes Ei zu werden, statt – wie es ihre Berufung wäre – ein hart gekochtes zu sein.

Sonnabend

Aus dem Artikel eines Herrn B.T. in den Wiadomości: »Ich wage jedoch den Verdacht zu äußern, dass der polnische Optimismus – entgegen allem Anschein – einfach eine Folge von Denkfaulheit ist … Wann immer die Situation brenzlig wird, flüchten wir uns in die Tradition der ›Erbauung‹ …«

Nebenan, auf derselben Seite, in einem Artikel von W. Gr.:

»Wir vergessen allmählich, dass die Größe der Literatur auf ihrer Selbstherrlichkeit beruht. Die Kunst dient niemandem …«

Eine Hitze. Meine Ermüdung will nicht weiterlesen … und doch beunruhigen diese Wendungen. Ich könnte sie unterschreiben, ihr Inhalt steht mir nahe. Und gerade deshalb, weil sie mir inhaltlich nahe sind, werden sie beunruhigend feindlich. Denn der Inhalt stammt von jemand anderem, ist Ergebnis anderer Welten, eines anderen stilistischen, geistigen Hinterlandes. Es genügt, wenn ich einige weitere Sätze des Herrn W. Gr. lese:

»Der verliebte Modegeck, das ist echte Literatur … ein selbstgenügsames Kleinod, wie auch ein gesunder Mensch in fröhlichem Sonnenschein oder luftigem Schatten ein selbstgenügsames Kleinod ist …«

… und allein diese Kombination Kleinod/Gesundheit, bei der mir einfällt, was ich aus seinen anderen Arbeiten von diesem Autor weiß, entfernt mich von ihm und macht mir jene Aussage von ihm unsympathisch. Wie viel hängt davon ab, aus welchem Munde wir eine Meinung hören, die auch die unsere ist, die wir unterstützen. Und ich finde, den Ideen in Polen haben immer die Menschen gefehlt … das heißt, die Menschen waren nicht in der Lage, den Ideen nicht nur genug Kraft, sondern auch jene magnetische Anziehungskraft zu verleihen, die eine gut »gelungene« Seele besitzt. Das ist umso verwunderlicher, als wir eine ungewöhnliche Zahl edler und sogar erhabener Schriftsteller hatten. Und dennoch war die Persönlichkeit eines Zeromski, eines Prus oder Norwid, ja selbst eines Mickiewicz nicht in der Lage, jenes Vertrauen zu erwecken (zumindest in mir nicht), mit dem Montaigne bis zum Rande erfüllt. Das sieht so aus, als hätten unsere Schriftsteller auf ihrem Entwicklungsweg irgendetwas in sich verheimlicht und seien infolge dieser Verheimlichung nicht zu allseitiger Aufrichtigkeit fähig gewesen, als hätte ihre Tugend nicht allen Arten der Sünde ins Auge schauen können.

Aber die oben zitierten Sätze ärgern mich auch aus einem anderen Grunde. Dies autodidaktische »wir« … Wir Polen sind so und so … Uns Polen passiert das und das … Der Fehler von uns Polen ist, dass … Quälend ist dieser Stil, weil er epidemisch ist, wer von uns belehrte heute das Volk nicht auf diese Weise? Das ist eine jener stilistischen Fallen, die auf den Schreibenden lauern und denen man – ich spreche aus eigener Erfahrung – unerhört schwer entgeht.

Und wie immer ist dieser stilistische Ausrutscher Symptom einer ernsteren Krankheit. Der Irrtum dieser Auffassung ist treffend beschrieben mit dem Aphorismus: Medice, cura te ipsum. In Wirklichkeit ist dieses »wir« nur eine Floskel – denn der Autor spricht als Erzieher, als derjenige, der uns mit Europa konfrontiert und unsere Unzulänglichkeiten kummervoll konstatiert. Hinter solchen scheinbar bescheidenen Belehrungen verbirgt sich also eine geballte Ladung Überheblichkeit, ganz zu schweigen davon, dass die doch recht schwerfällige Pädagogik solcher Formulierungen allzu schlicht und billig ist … jeder kann sie sich erlauben, wenn er nur auf »Europäer« macht. Die tiefste und grundlegendste Wurzel dieses Irrtums aber reicht so tief in uns herab, dass es einer gewaltigen Operation bedürfte, ihm endgültig »Ade« zu sagen.

Wie soll man das definieren? Das ist eine Frage von Energie und Lebenskraft. Das betrifft unsere ganze Lebenseinstellung. Ach, der kleine Adam überlegte auf der Schule ständig, was für Fehler er habe und wie er sie ausrotten könne, er wollte fromm sein wie Zdziś, praktisch wie Jozio, vernünftig wie Henryś, witzig wie Wacio … die Lehrer lobten ihn sehr dafür. Aber die Kameraden mochten ihn nicht und prügelten ihn gern.

II

Montag

Nach 16-stündiger, ganz erträglicher Fahrt mit dem Bus von Buenos Aires (wären nur die Tangos nicht gewesen, die der Lautsprecher spie!) die grünen Höhen von Salispuedes, und ich in ihrer Mitten, ein Buch von Miłosz mit dem Titel Verführtes Denken unter dem Arm. Weil es gestern gegossen hat, komme ich heute mit der Lektüre zu Ende. Das also war euch bestimmt, dies euer Schicksal, so euer Weg, ihr alten Herren Bekannten, Freunde und Genossen aus der Ziemiańska oder vom Zodiak – hier ich – dort ihr – so hat sich das herausgeschält – so demaskiert. Miłosz erzählt die Geschichte vom Bankrott der Literatur in Polen fließend, und ich fahre mit seinem Buch glatt und schlaglochlos über diesen Friedhof, so wie vorgestern mit dem Bus über die asphaltierte Landstraße.

Entsetzlicher Asphalt! Nicht das Tempora mutantur entsetzt mich, sondern das Nos mutamur in illis. Nicht der Wechsel der Lebensbedingungen, der Niedergang von Staaten, die Auslöschung von Städten und andere Überraschungsgeysire, die aus dem Schoße der Geschichte sprudeln, entsetzen mich, sondern dass ein Typ, den ich als X kannte, plötzlich zu Y wird, seine Persönlichkeit wechselt wie das Hemd und beginnt, im Widerspruch zu sich selbst zu handeln, reden, denken und fühlen – das ängstigt mich, macht mich verlegen. Fürchterliche Schamlosigkeit! Lachhaftes Ableben! Ein Grammophon zu werden, dem man eine Platte mit dem Titel »His Master’s Voice« auflegt – die Stimme meines Herrn? Wie grotesk ist das Schicksal dieser Schriftsteller!

Schriftsteller? Wir könnten uns manche Enttäuschung ersparen, wenn wir nicht jeden, der »schreiben« kann, gleich als »Schriftsteller« bezeichneten … Ich kannte diese »Schriftsteller« – das waren Personen von überwiegend seichter Intelligenz und recht beschränktem Horizont, aus denen, so weit ich zurückdenken kann, nichts geworden war … deshalb haben sie auch heute eigentlich auf nichts zu verzichten. Diese Leichname zeichneten sich zu Lebzeiten durch folgende Eigenschaft aus: Es fiel ihnen leicht, sich ein moralisches und ideologisches Antlitz zu fabrizieren, um so das Lob der Kritiker und der ernster zu nehmenden Leser zu ernten. Keine fünf Minuten habe ich an den Katholizismus von Jerzy Andrzejewski geglaubt, und nachdem ich ein paar Seiten aus seinem Roman gelesen hatte, bedachte ich seine vergeistigte Leidensmiene im Café Zodiak mit so skeptischem Blick, dass der beleidigte Autor sofort sämtliche Beziehungen zu mir abbrach.

Aber sowohl der Katholizismus wie das Märtyrerhafte des Buches wurden mit »Hosianna«-Rufen von Naivlingen begrüßt, die den aufgewärmten Klops für ein blutiges Lendenbeefsteak nahmen. Der versoffene Nationalismus eines Gałczyński, der übrigens wirklich begabt war, taugte nicht mehr als die Intellektualismen Ważyks oder die Ideologie der Gruppe Prosto z mostu. In den Warschauer Cafés bestand damals, ähnlich wie in den Cafés der ganzen Welt, eine Nachfrage nach »Idee und Glauben«, sodass die Schriftsteller von heute auf morgen an dies oder jenes zu glauben begannen. Was mich betrifft, ich hielt das immer für Kinderei; ich tat sogar ganz amüsiert, auch wenn mich beim Anblick dieses Vorspiels zur späteren Großen Maskerade insgeheim die Angst überkam. All das war vor allem billig, und nicht weniger billig war in den meisten Fällen die rührselige Menschenfreundlichkeit des Frauenvölkchens, das Dichtertum Tuwims und der Gruppe Skamander, die Erfindungen der Avantgarde, der ästhetisch-philosophische Wahnwitz der Peipers und Brauns sowie andere Erscheinungen des literarischen Lebens.

Geist entsteht aus der Imitation von Geist, und ein Schriftsteller muss Schriftsteller spielen, um schließlich ein solcher zu werden. Die Vorkriegsliteratur in Polen war, von einigen kleinen Ausnahmen abgesehen, eine ganz gelungene Imitation von Literatur, aber mehr auch nicht. Diese Leute wussten, wie ein großer Schriftsteller zu sein hat – »authentisch« – »tief« – »konstruktiv« –, also waren sie geflissentlich bemüht, diese Anforderungen zu erfüllen; den Spaß verdarb ihnen aber das Bewusstsein, dass nicht ihre eigene »Tiefe« und »Erhabenheit« sie zum Schreiben trieb, sondern dass sie – umgekehrt – jene Tiefen in sich fabrizierten, um Schriftsteller zu sein. So lief eine subtile Erpressung mit Werten ab, und man konnte nicht mehr sagen, ob jemand vielleicht allein deshalb zur Demut aufrief, um sich hervorzutun und berühmt zu werden, oder ob ein anderer den Bankrott von Kultur und Literatur womöglich zu dem Zweck verkündete, ein guter Autor zu werden. Je hungriger aber diese in den eigenen Widersprüchen gefangenen Wesen nach einem wahren und reinen Wert wurden, desto verzweifelter empfanden sie, dass allmählich alles nur noch Schund und Plunder war. Oh, diese ausgefeilten Intelligenzen, diese hochgeschraubten Niveaus, an den Haaren herbeigezogenen Subtilitäten und Seelenqualen, die dem Leser da vorgesetzt wurden! Es gab nur ein Mittel, dieser Hölle zu entkommen: die Wirklichkeit aufdecken, diesen ganzen Mechanismus entblößen und den Primat des Menschlichen vor dem Göttlichen loyal anerkennen – aber gerade davor hatte nicht nur unsere Literatur Angst, das wollten die Literaten um keinen Preis eingestehen – obwohl allein das ihnen zu einer neuen Wahrheit und Aufrichtigkeit hätte verhelfen können. Das ist der Grund, warum die polnische Vorkriegsliteratur immer mehr ins Epigonentum abrutschte. Das ehrbare Völkchen aber, das diese Literatur ernst genommen hatte, war sehr erstaunt zu sehen, dass ihre »führenden Autoren«, vom historischen Moment an die Wand gedrängt, reibungslos zum neuen Glauben konvertierten und überhaupt nach fremder Pfeife zu tanzen begannen. Schriftsteller! Aber das ist es ja gerade, dass diese Schriftsteller um keinen Preis aufhören wollten, Schriftsteller zu sein, sie waren zu den heldenhaftesten Opfern bereit, um nur bei ihrer Schriftstellerei zu bleiben.

Ich behaupte keineswegs, dass ich, wäre ich demselben Druck ausgesetzt gewesen wie sie, nicht ebenso versagt hätte, halte das sogar für sehr wahrscheinlich – aber ich hätte mich wenigstens nicht so dumm gestellt wie sie, weil ich mir selbst gegenüber aufrichtiger war und mir diese absoluten Werte nicht so reich über die Lippen kamen. Damals in den drangvollen und lauten Cafés von Warschau hatte ich schon so eine Art Vorgefühl von dem nahenden Tag der Konfrontation, der Aufdeckung und Entblößung und vermied deshalb auf alle Fälle lieber jede Phrasendrescherei. Und dennoch: Nicht alles an dieser Pleite ist Pleite, und heute suche ich in Miłoszs Buch eher nach neuen Entwicklungsmöglichkeiten als nach Anzeichen des völligen Scheiterns. Mich interessiert die Frage: Inwieweit können diese finsteren Erfahrungen den Schriftstellern des Ostens eine Überlegenheit über ihre westlichen Kollegen verschaffen?

Denn es ist unleugbar, dass sie in ihrem Niedergang den Westen auf eine spezifische Weise überragen, und Miłosz betont mehr als einmal die eigenartige Kraft und Klugheit, die die Schule der Verlogenheit, des Terrors und der konsequenten Deformation vermitteln kann. Aber Miłosz selbst ist eine Illustration dieser eigenartigen Entwicklung, denn sein ruhiger, flüssiger Stil, der seinen Gegenstand mit kaltblütiger Ruhe observiert, schmeckt nach einer eigenartigen Reife, die sich in mancher Hinsicht von der unterscheidet, welche im Westen gedeiht. Ich möchte sagen, Miłosz kämpft in seinem Buch an zwei Fronten: Hier geht es nicht nur darum, im Namen der westlichen Kultur den Osten zu verdammen, sondern auch darum, dem Westen ein eigenes, andersartiges Erlebnis, das man von dort mitgebracht hat, und das neue Wissen von der Welt zwingend mitzuteilen. Und dieses schon beinah persönliche Duell des zeitgenössischen polnischen Schriftstellers mit dem Westen, in dem es darum geht, den eigenen Wert, die eigene Kraft und Andersartigkeit zu beweisen, ist für mich interessanter als die Analyse der Probleme des Kommunismus – die, auch wenn sie außerordentlich scharfsinnig ist, doch nichts wirklich Neues mehr bringen kann.

Er selbst, Miłosz, hat sich einmal ungefähr so ausgedrückt: Der Unterschied zwischen dem westlichen Intellektuellen und dem östlichen besteht darin, dass Ersterer nie richtig eins in die Fresse gekriegt hat. Im Sinne dieses Aphorismus bestünde unser Trumpf (ich schließe mich selbst nicht aus) darin, dass wir Vertreter einer brutalisierten Kultur sind, also dem Leben näherstehen. Doch Miłosz kennt die Grenzen dieser Wahrheit selbst sehr gut – und es wäre traurig, wenn sich unser Prestige ausschließlich auf diesen geprügelten Körperteil stützen sollte. Denn ein geprügelter Körperteil ist kein Körperteil im normalen Sinne, und Philosophie, Literatur und Kunst sollten doch denjenigen dienen, denen man nicht die Zähne ausgeschlagen, die Augen blau gehauen und die Kiefer verrenkt hat. Und schaut euch Miłosz an, wie er – trotz allem – versucht, seine Verwilderung an die Erfordernisse westlicher Verweichlichung anzupassen.

Seele und Leib. Es kommt vor, dass leiblicher Komfort die Seele schärfer macht und dass hinter lauschigen Gardinen, im stickigen Zimmer des Bourgeois eine Härte heranwächst, die jene, die mit Flaschen auf Panzer losgingen, sich nie hätten träumen lassen. Unsere brutalisierte Kultur wäre also nur dann zu etwas nütze, wenn sie, gut verdaut, zu einer neuen Form wirklicher Kultur würde, zu unserem durchdachten und organisierten Beitrag zum universalen Geist.

Frage: Sind Miłosz oder eine freie polnische Literatur in der Lage, dieses Programm auch nur zum Teil zu erfüllen? Ich schreibe dies alles auf meinem Zimmerchen und muss nun abbrechen, denn das Abendbrot in der Pension Las Delicias wartet auf mich. Ade also nun für kurze Zeit, mein geliebtes Tagebuch, treuer Hund meiner Seele – aber winsle nicht – dein Herrchen geht zwar jetzt, aber es kommt wieder.

Mittwoch

Seit einiger Zeit (verursacht vielleicht von der Eintönigkeit meiner Existenz hier) packt mich oft eine Neugier, die ich in dieser hochkonzentrierten Intensität nie zuvor gekannt habe – die Neugier, was im nächsten Augenblick passieren wird. Vor meiner Nase – eine Mauer aus Dunkelheit, aus der das unmittelbarste Sofort wie eine drohende Offenbarung hervortritt. Was wird sein … hinter dieser Ecke? Ein Mensch? Ein Hund? Wenn ein Hund, welcher Gestalt, welcher Rasse? Ich sitze am Tisch, und im nächsten Augenblick wird die Suppe gereicht, aber … was für eine Suppe? Diese grundlegende Erfahrung ist bisher von der Kunst nicht recht bearbeitet worden, der Mensch als Instrument, das Unbekanntes in Bekanntes verwandelt, zählt nicht zu ihren Haupthelden.

 

Ich habe Miłoszs Buch durchgelesen.

Eine unerhört lehrreiche und anregende Lektüre für uns alle, für die polnischen Schriftsteller darüber hinaus erschütternd. Ich denke fast ununterbrochen daran, wenn ich allein bin, und immer weniger interessiert mich Miłosz als Verteidiger der westlichen Zivilisation, immer mehr dafür Miłosz als Gegner und Rivale des Westens. Dort, wo er bewusst anders sein will als die westlichen Schriftsteller, ist er für mich am bedeutsamsten. Ich spüre in ihm, was auch in mir steckt, nämlich Abneigung und Geringschätzung gegenüber diesen Autoren, mit einem Beigeschmack bitterer Ohnmacht. Ein Vergleich Miłoszs mit Claudel zum Beispiel, oder mit Cocteau, oder selbst mit Valéry, führt zu merkwürdigen Ergebnissen. So sollte es scheinen, dass dieser polnische Schriftsteller, Kollege von Andrzejewski und Galczyński, Stammgast im Café Ziemiańska, über mehr realistische Kraft verfügt und »moderner«, ja sogar geistig freier, offener für die Wirklichkeit und loyaler ihr gegenüber ist; und weiter erhält man den Eindruck, dass er womöglich noch einsamer ist; und weiter, dass er die Reste jener Illusionen abgestreift hat, an die die westlichen Dichterpropheten sich noch klammern (denn Valéry, obwohl man ihm sämtliche Illusionen ausgetrieben hat, findet doch noch immer Halt in seinem Milieu und einem gewissen gesellschaftlichen Festland – Miłosz dagegen ist ganz und gar aus dem Sattel geworfen). Man könnte also meinen, dass diese brutalisierte Kultur eine – gar nicht geringe – Überlegenheit verschafft. Doch das alles ist irgendwie noch nicht zu Ende gedacht, nicht zu Ende gesprochen, nicht gefestigt, und uns fehlt vielleicht jene völlige Bewusstseinsklarheit, die unserer Wahrheit zur vollen Kraft und Eigenart verhelfen würde. Uns fehlt der Schlüssel zu unserem Rätsel.

Wie ärgerlich, dass unsere Einstellung zum Westen so unklar ist! Mit der Welt des Ostens konfrontiert, ist der Pole genau definiert und von vornherein bekannt. Steht er aber mit dem Gesicht nach Westen, schaut er trübe aus den Augen und ist voll unklaren Zorns, Misstrauens und geheimen Ärgers.

Donnerstag

Es regnet und ist ziemlich kalt. Las deshalb den ganzen Tag in den Brüdern Karamasow, in einer hervorragenden Ausgabe, die auch die Briefe und Kommentare Dostojewskis enthält.

Freitag

Post. R. hat mir Briefe und Zeitschriften geschickt, darunter die letzte Kultura. Ihr entnehme ich, dass Miłosz den Prix Européen für einen Roman erhalten hat, den ich nicht kenne: La prise du pouvoir. In derselben Kultura – Bemerkungen von Miłosz über die Trauung und Trans-Atlantik.

Sonnabend

Die meisten der wenigen Briefe, die ich zu Trans-Atlantik bekomme, sind weder Ausdruck des Protestes wegen »Beleidigung heiligster Gefühle« noch Polemik oder auch nur Kommentar. Nein. Nur zwei gewaltige Probleme sind es, die diese Leser fesseln: Wie kann ich es wagen, mitten im Satz Wörter mit großen Anfangsbuchstaben zu schreiben? Wie mich erdreisten, das Wort »Schei…« zu benutzen?

Was soll man von dem intellektuellen und überhaupt dem Niveau einer Person halten, die bis heute nicht weiß, dass ein Wort sich ändert, je nachdem, wie es benutzt wird – dass sogar das Wort »Rose« seinen Duft verlieren kann, wenn eine affektierte Ästhetin es in den Mund nimmt, und dass selbst das Wort »Sch…« ganz wohlerzogen daherkommen kann, wenn es mit zielbewusster Disziplin eingesetzt wird?

Aber die lesen wörtlich. Wenn jemand erhabene Worte benutzt, ist er edel; benutzt er kräftige, ist er stark; ordinäre – ordinär. Und diese stumpfsinnige Wortwörtlichkeit grassiert selbst in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen – wie soll man da von einer polnischen Literatur auf breiter Basis träumen?

Dienstag

(Zwei Wochen später, nach der Rückkehr nach Buenos Aires)

Ich habe einen Brief von Miłosz bekommen, der folgende Kritik von Trans-Atlantik enthält:

»Bei dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen mitteilen, was ich von Ihren Arbeiten halte. Bisweilen habe ich den Eindruck, Sie gingen wie Don Quijote vor, der Windmühlen und Schafen ein eigenartiges Leben verlieh. Aus der Sicht der Heimat (oder überhaupt im Hinblick auf die gewaltigen Prügel, die man dort bezogen hat) sind ›die Polen‹, die Sie von ihrem Polentum befreien wollen, jämmerliche Existenzen von überaus schemenhafter Daseinsintensität … Mit anderen Worten, Sie tun manchmal so, als hätte es das alles, das heißt diese ganze, so furchtbar erfolgreiche Liquidation dort in Polen nicht gegeben, als wäre Polen von einer Mondkatastrophe hinweggefegt worden, und da kommen Sie mit Ihrer Abneigung gegen das unreife, provinzielle Polen der Zeit vor 1939. Die Abrechnung auf eigene Faust ist vielleicht nützlich, oder sogar notwendig, aber für mich sind das Menschen, mit denen schon gründlich genug abgerechnet worden ist. Und eine Menge Fragen sind schon gründlich abgehandelt. Das ist ein sehr kompliziertes Problem, das darauf beruht, dass der Marxismus liquidiert (so wie zum Beispiel die Zerstörung einer Stadt alle Ehestreitigkeiten, Möbelsorgen usw. liquidiert).«

»Doch gibt es da so eine nihilistische Falle, und wir schwanken zwischen dem Wunsch, die Menschen in Polen zu erreichen, d.h. eine post-marxistische Geisteshaltung zu schaffen (die den Marxismus aufnehmen und verdauen muss), und dem Bedürfnis nach einem ganz eigenen, selbstständigen Denken (das keine Rücksicht auf das Klima nehmen kann, das dort in den unterjochten Ländern herrscht und immerhin so real ist, dass es Vergangenheit wie Zukunft verändert). Wenn ich Sie lese, muss ich immer daran denken …«

 

Darauf antwortete ich:

»Lieber Czesław Miłosz, wenn ich richtig verstanden habe, erheben Sie gegen Trans-Atlantik zwei Einwände: dass ich mich mit dem Polen vor 1939 beschäftige, das sich in Luft aufgelöst hat, und das aktuelle, wirkliche Polen außer Acht lasse; und dass mein Denken, wie ein Kater, allzu sehr seine eigenen Wege geht, dass ich meine eigene Welt besitze, die schimärisch oder veraltet scheinen mag.

Aber wie Sie richtig bemerken, beurteilen Sie das aus der Sicht der Heimat. Und ich kann die Welt nicht anders betrachten als aus meiner eigenen Sicht.

Um eine gewisse Ordnung in meine Gefühle zu bringen, habe ich mir vorgenommen (und das schon vor langer Zeit), nur über meine eigene Wirklichkeit zu schreiben. Ich kann nicht über das heutige Polen schreiben, weil ich es nicht kenne. Diese ›Erinnerungen‹, die Trans-Atlantik ja sind, betreffen meine Erlebnisse aus dem Jahr 1939 angesichts der damaligen polnischen Katastrophe.

Kann denn die Beschäftigung mit dem Polen der Vergangenheit für das gegenwärtige Polen wichtig sein? Sie erwähnen in Ihrem Brief Don Quijote – und ich glaube, Cervantes hat den Don Quijote geschrieben, um mit den fürchterlichen Ritterromanen seiner Zeit abzurechnen, von denen keine Spur blieb. Der Don Quijote aber ist geblieben. Daraus kann man, können auch bescheidenere Autoren die Lehre ziehen, dass man auf unvergängliche Weise über vergängliche Dinge schreiben kann.

Über das Polen von 1939 zielt Trans-Atlantik auf jedes Polen der Gegenwart und Zukunft ab, denn mir geht es um die Überwindung der nationalen Form als solcher, um die Gewinnung von Distanz zu jeglichem ›polnischen Stil‹, wie immer er beschaffen sei. Heute sind die Polen in der Heimat auch einem bestimmten ›polnischen Stil‹ ausgeliefert, der dort unter dem Druck des neuen kollektiven Lebens entsteht. Wenn wir in hundert Jahren noch eine Nation sind, werden sich andere Formen zwischen uns herausgebildet haben, und mein später Enkel wird sich gegen sie auflehnen, so wie ich mich heute auflehne.

Ich greife die polnische Form an, weil sie die meine ist … und weil alle meine Werke in einem gewissen Sinne (in einem gewissen – denn das ist nur ein Sinn meines Unsinns) das Verhältnis des modernen Menschen zur Form revidieren wollen – zu der Form, die nicht unmittelbar aus ihm folgt, sondern ›zwischenmenschlich‹ geschaffen wird. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass dieser Gedanke mitsamt all seinen Verzweigungen ein Kind der heutigen Zeit ist, da die Menschen ganz bewusst darangehen, den Menschen zu formen – mir scheint sogar, dieser Gedanke ist zentral für das heutige Bewusstsein.

Aber obwohl ich nichts schrecklicher finde als Anachronismen, will ich mich nicht allzu sehr an die aktuellen Tageslosungen binden, die sich doch schnell ändern. Ich meine, die Kunst sollte sich von allen Slogans besser fernhalten und eigene, persönlichere Wege suchen. In Kunstwerken gefällt mir am meisten jene geheimnisvolle Abweichung, die bewirkt, dass das Werk, obwohl seiner Epoche verhaftet, doch die Schöpfung eines besonderen Einzelnen ist, der sein eigenes Leben lebte …«

 

Ich führe diesen Briefwechsel an, um dem Leser einen Einblick in Gespräche von Schriftstellern zu verschaffen, die wie Miłosz und ich – jeder auf seine Weise – nach ihrer schriftstellerischen Linie suchen. Aber dazu noch ein Kommentar: Mein Brief an Miłosz wäre viel ehrlicher und vollständiger, hätte ich in ihm die Wahrheit gesagt, dass mir gar nicht so sehr an diesen Thesen, Wegen und Problemen liegt; dass ich mich zwar damit abgebe, aber eigentlich ohne große Lust; im Grunde bin ich vor allem kindlich … Ob Miłosz auch vor allem kindlich ist?

Mittwoch

Miłosz ist eine Kraft ersten Ranges. Ein Autor von klar umrissener Aufgabe, dazu berufen, unser Tempo zu beschleunigen, damit wir mit der Epoche Schritt halten – und ein großartiges Talent, das für diese seine Bestimmung bestens gerüstet ist. Er besitzt etwas, das mit Gold nicht aufzuwiegen ist und das ich als »Willen zur Wirklichkeit« bezeichnen möchte, zudem ein Gespür für die drastischen Punkte unserer Krise. Er gehört zu den wenigen, deren Wort Bedeutung hat (das Einzige, was ihm zum Verhängnis werden könnte, ist Überhastung).

Aber dieser Autor ist gegenwärtig zu einem Spezialisten für Polen, also auch für den Kommunismus geworden. So wie ich zwischen dem westlichen und dem östlichen Miłosz unterschied, so sollte man vielleicht auch zwischen Miłosz als »absolutem« Schriftsteller und Miłosz als dem Protokollanten allein des historisch aktuellen Moments unterscheiden. Und dieser westliche Miłosz (d.h. der, der im Namen des Westens den Osten verurteilt) ist nun gerade von geringerem Format und eher ein Kind seiner Zeit. Gegen den West-Miłosz lassen sich mehrere Einwände erheben, die insgesamt jenen Zweig der Gegenwartsliteratur betreffen, der nur von einem Problem lebt: dem Kommunismus.

Der erste Einwand ist: Sie übertreiben. Nicht in dem Sinne, dass sie die Gefahr unnötig aufbauschten, sondern dass sie jener Welt Züge einer geradezu dämonischen Einmaligkeit verleihen und sie als etwas nie Gesehenes und somit Frappierendes darstellen. Diese Einstellung ist aber mit Reife unvereinbar – die nämlich kennt das Wesen des Lebens und lässt sich von seinen Ereignissen nicht überraschen. Revolutionen, Kriege, Katastrophen – was bedeutet dieser Schaum im Vergleich zum fundamentalen Grauen des Daseins? So etwas habe es noch nicht gegeben, sagt ihr? Ihr vergesst, dass in dem Krankenhaus um die Ecke nicht minder furchtbare Dinge geschehen. Millionen kommen um, sagt ihr? Ihr vergesst, dass pausenlos Millionen umkommen, ohne Unterlass, seit die Welt besteht. Solche Schreckensbilder entsetzen euch, weil eure Phantasie eingeschlafen ist und ihr vergesst, dass wir ständig mit einem Bein in der Hölle stehen.

Das ist wichtig – denn der Kommunismus kann nur vom Standpunkt strengster und tiefster Existenz wirksam verurteilt werden, niemals vom Standpunkt eines oberflächlichen und gemilderten: eines bürgerlichen Lebens. Ihr lasst euch von dem typischen Künstlerbedürfnis hinreißen, das Bild möglichst ausdrucksvoll und grell zu zeichnen. Daher ist eure Literatur eine Aufbauschung des Kommunismus, und ihr konstruiert eine derart mächtige und einmalige Vorstellung, dass nicht viel fehlt, und ihr fallt selbst vor ihr auf die Knie.

Ich frage deshalb, ob es der Geschichte und unserem Wissen von der Welt und dem Menschen nicht angemessener wäre, wenn ihr diese Welt hinter dem Vorhang nicht als eine neue, unerhörte und dämonische Welt betrachtetet, sondern nur als Entstellung und Verzerrung der gewöhnlichen Welt; und wenn ihr die Proportionen zwischen diesen Konvulsionen einer aufgewühlten Oberfläche und dem unaufhörlichen, machtvollen und tiefen Leben wahrtet, das darunter abläuft?

Zweiter Einwand: Indem ihr alles auf diese eine Antinomie zwischen Osten und Westen zurückführt, müsst ihr – das ist unvermeidlich – den Schemata zum Opfer fallen, die ihr selbst erschafft. Dies umso mehr, als man nicht unterscheiden kann, was bei euch Wahrheitssuche und was Versuch einer psychischen Mobilisierung zu diesem Kampf ist. Damit will ich nicht behaupten, dass ihr Propaganda betreibt – will nur sagen, dass in euch tiefe Kollektivinstinkte wirksam sind, die die Menschheit heutzutage zwingen, sich auf eine Schlacht zu konzentrieren. Ihr treibt im Strom der Massenphantasie, die sich ihre Begriffe, Bilder und Mythen schon geschaffen hat, und diese Strömung reißt euch weiter mit, als euch lieb ist. Wie viel Orwell steckt in Miłosz? Wie viel Koestler in Orwell? Wie viel haben beide von den tausend und abertausend Worten, die die Druckerpressen – zu ebendiesem Thema – Tag für Tag produzieren, was keineswegs von amerikanischen Dollars verursacht ist, sondern seinen Grund in unserer Natur hat, die die Welt gern definiert mag. Der grenzenlose Reichtum des Lebens wird bei euch auf einige Probleme reduziert, ihr operiert mit der Konzeption einer simplifizierten Welt, einer Konzeption, deren provisorischer Charakter euch sehr wohl klar ist.

Nun beruht aber der Wert der reinen Kunst darauf, dass sie Schemata zerschlägt.

Und der dritte Vorwurf ist noch schmerzlicher: Wem wollt ihr dienen? Dem Einzelnen oder der Masse? Denn der Kommunismus unterwirft doch den Menschen der Gemeinschaft, und die treffendste Art, den Kommunismus zu bekämpfen, ist folglich die Stärkung des Einzelnen gegenüber der Masse. Wenn es nur zu verständlich ist, dass Politik, Presse und die auf praktische Wirkung abzielende Gebrauchsliteratur eine Kollektivkraft schaffen wollen, die zum Kampf gegen die Sowjets fähig ist, so ist doch die Aufgabe der ernsten Kunst eine andere – und entweder wird sie ewig bleiben, was sie von Anbeginn der Welt war, nämlich Stimme des Individuums, Ausdruck des Menschen in der Einzahl, oder sie wird eingehen. In diesem Sinne sind eine Seite Montaigne, ein Gedicht von Verlaine, ein Satz Proust »antikommunistischer« als der anklagende Chor, den ihr darstellt. Sie sind frei – und damit befreiend.

Und schließlich der vierte Vorwurf: Die wirklich ehrgeizige Kunst (und diese Vorwürfe gelten nicht all und jedem, sondern nur Künstlern mit hochgesteckten Zielen, die auf den Titel des Künstlers Wert legen) muss ihrer Zeit voraus, muss immer Kunst von morgen sein. Wie ist diese gewaltige Aufgabe mit der Aktualität der Kunst, d.h. mit ihrer Bedeutung in der Gegenwart zu vereinbaren? Die Künstler sind stolz darauf, dass die letzten Jahre ihr Bild vom Menschen ungeheuer erweitert haben – so sehr, dass im Vergleich dazu unlängst verstorbene Autoren schon naiv wirken –, doch all diese Wahrheiten und Halbwahrheiten wurden ihnen nur dazu gegeben, um sie zu überwinden und andere zu entdecken, die sich hinter ihnen verbergen. Die Kunst muss also Zerstörerin der heutigen Begriffe im Namen der kommenden sein. Aber diese neuen, kommenden Geschmäcker, morgigen Gefühle, uns bevorstehenden Geisteslagen, Konzeptionen und Emotionen – wie sollen sie einer Feder entfließen, die allein danach strebt, die heutige Vision, die heutigen Widersprüche zu zementieren? Miłoszs Anmerkungen in der Kultura zu meinem Theaterstück illustrieren das ausgezeichnet. Er hat einen Blick für das in der Trauung, was »zeitgemäß« ist – Verzweiflung und Klage über die Erniedrigung der Menschenwürde und den gewaltsamen Zusammenbruch der Zivilisation –, aber er bemerkt nicht, wie sehr Lust und Vergnügen hinter der Fassade des Heute lauern, um den Menschen jeden Augenblick über seine Niederlage zu erheben.

Allmählich bekommen wir die heutigen Gefühle satt. Unsere Symphonie nähert sich dem Moment, da der Bariton sich erhebt und intoniert: O Freunde, nicht diese Töne, sondern lasst uns angenehmere anstimmen …! Doch der Gesang der Zukunft wird nicht von denen geschrieben werden, die allzu sehr der Gegenwart verhaftet sind.

Es wäre unklug von mir, Leuten einen Vorwurf zu machen, die Alarm schlagen, weil sie’s brennen sehen. Das ist nicht meine Absicht. Aber ich sage: Jeder soll tun, wozu er berufen und begabt ist. Eine Literatur schweren Kalibers muss weit schießen und vor allem darauf achten, dass ihr die Reichweite nicht beschnitten wird. Wollt ihr, dass das Geschoss weit fliegt, so richtet den Lauf nach oben.

Freitag

Eine neue Ausgabe der Wiadomości, darin meine Erzählung Bankett. Sowie ein »schmeichelhafter« Artikel über Miłosz. Ich lese: »Das Verführte Denken ist eine große Abschaffung des Pompösen in der Emigrationsliteratur.« Weiter: »Bestimmte Kapitel von Miłosz erinnern mich von den mir bekannten Sachen vor allem an die Schreibweise Prousts, nur dass sie besser sind als Prousts Werke.« Dann so ein Abschnitt: »Die übrigen Kapitel sind historisch-ökonomisch-philosophische Theorien, die den Wissensschatz des Autors sichtlich überschreiten. Das sind glänzend formulierte Aphorismen, denen die Grundlage von Wissen und Wissenschaft fehlt: Die Prätentionen dieses Buches gehen weit über seinen tatsächlichen Wert hinaus.«

Ich fürchte, die Prätentionen dieser Rezension gehen weit über ihren realen Wert hinaus. Wenn die Emigrationsliteratur noch eine »Abschaffung des Pompösen« braucht und wenn das Miłoszs größtes Verdienst sein soll, dann … dann verliert man lieber kein Wort über Proust, der hat denn doch weniger elementare Sorgen. Überhaupt ist die Zusammenstellung Miłoszs mit Proust dazu angetan, dem Leser sämtliche Sinne zu verwirren und ihm einen Aufschrei der Art »Was soll die Kuh auf dem Dach?!« zu entlocken.

Aber das ist weniger wichtig. Mehr Aufmerksamkeit verdient der dritte von mir zitierte Passus. Wer von den Literaten, wer von den Gebildeten, Herr Mackiewicz, wer selbst von den Weisen besitzt denn jene »Grundlagen von Wissen und Wissenschaft« in der notwendigen Vollständigkeit? Ist es nicht so, dass unsere Bibliotheken unsere Aufnahmefähigkeit inzwischen übersteigen, dass wir alle mehr oder minder Ignoranten sind und uns gar nichts anderes übrig bleibt, als uns in bester Absicht des Wissensschatzes zu bedienen, den wir besitzen? Hätte also jemand von so hervorragender Intelligenz wie Miłosz nicht das Recht, ganz einfach seine persönlichsten Erlebnisse zu erzählen und die ihm gemäße Wahrheit darin zu suchen, ohne dass man ihn als eingebildeten Ignoranten beschimpft? In der sechsten Klasse war ich Mitglied im Diskussionsklub und erinnere mich, dass das die mörderischsten Vorwürfe waren – mörderischer umso mehr, als sie wie ein Bumerang zurückkamen:

Du bist ein eingebildeter Ignorant, nicht ich!

Und wo hat er das mit den historisch-ökonomisch-philosophischen Theorien her, die angeblich den Großteil des Buches ausmachen? Wirklich, über Bücher wird der größte Blödsinn geschrieben.

Mein Verhältnis zu den Wiadomości (auch zur Kultura) und zu St. Mackiewicz ist kompliziert. Ich halte die Wiadomości für ein ausgezeichnetes und außerordentlich nützliches Wochenblatt und lese Mackiewicz mit dem größten Vergnügen, selbst wenn er mich ärgert – aber die erdrückende Leichtigkeit, mit der die literarische Publizistik die Literatur abfertigt, reizt mich zum Widerstand. Die literarische Presse hat etwas, dass sie der Literatur im Halse stecken bleibt.

Donnerstag

Einmal habe ich jemandem erklärt, man müsse sich Folgendes vorstellen, um die wahrhaft kosmische Bedeutung zu erfassen, die der Mensch für den Menschen besitzt: Ich bin ganz allein in der Wüste; niemals habe ich Menschen gesehen und habe auch keine Ahnung, dass es einen anderen Menschen geben könnte. Da erscheint in meinem Gesichtsfeld ein analoges Wesen, das doch nicht ich ist – das gleiche Prinzip, verkörpert in einem anderen Leib – jemand Identisches und dennoch Fremdes – und ich erfahre wunderbare Vervollständigung und schmerzliche Zweiteilung zugleich. Vor allem aber eine Offenbarung: Ich bin grenzenlos geworden, unvorhersehbar für mich selbst, in all meinen Möglichkeiten vervielfacht durch diese fremde, frische und doch identische Kraft, die sich mir da nähert, so als näherte ich selbst mich mir von außen.

Um die Gedanken zu Miłosz abzuschließen: Ich versuche zu verstehen, welches die Schlüsselidee sein könnte, die unsere östlichen Erfahrungen dem Westen vermitteln, welches der Beitrag der modernen polnischen Literatur zur Literatur des Westens sein könnte.

Sicher fasse ich diese Sache ein wenig subjektiv auf. Ich bin kein Denkspezialist und verhehle nicht, dass für mich der Gedanke lediglich ein Hilfsgerüst ist. Ich will nur sagen, welche Saiten jene östliche, unsere, Wirklichkeit in mir anschlägt.

Für einen gläubigen Kommunisten ist die Revolution der Triumph von Vernunft, Tugend und Wahrheit, für ihn hat sie also nichts, was von der normalen Linie menschlichen Fortschritts abwiche. Dem »Heiden« dagegen, wie Miłosz sagt, verschafft die Revolution ein anderes Bewusstsein, das er in folgendem Satz formuliert: Der Mensch kann mit dem Menschen alles machen.

Darin steckt jenes Etwas, das uns östliche Literaten in etwa vom Westen zu trennen beginnt. (Seht, wie vorsichtig ich bin. Ich sage »in etwa«, »beginnt«.) Der Westen lebt trotz allem der Vision des vereinzelten Menschen und der absoluten Werte. Uns dagegen wird immer spürbarer eine andere Formel bewusst: Mensch plus Mensch, Mensch mal Mensch – und sie sollte keineswegs mit einem Kollektivismus gleich welcher Art assoziiert werden. Der jüdische Philosoph Buber hat das recht gut formuliert, als er davon sprach, dass die bisherige individualistische Philosophie schon am Ende ist und die größte Enttäuschung, die der Menschheit in nächster Zukunft harrt, der Bankrott der kollektiven Philosophie sein wird, die den Einzelnen, indem sie ihn als eine Funktion der Masse begreift, in Wirklichkeit solchen Abstrakta wie gesellschaftliche Klasse, Staat, Nation, Rasse unterwirft; und erst auf den Leichnamen dieser Weltanschauungen wird das dritte Bild des Menschen erstehen: der Mensch im Zusammenhang mit dem anderen, konkreten Menschen, ich in Verbindung mit dir und mit ihm …

Der Mensch durch den Menschen. Der Mensch in Bezug auf den Menschen. Der vom Menschen immer neu geschaffene Mensch. Der vom Menschen potenzierte Mensch. Ist es eine Illusion von mir, darin eine verborgene, neue Wirklichkeit zu sehen? Aber ich stoße doch, wenn ich über die Missverständnisse nachdenke, die gegenwärtig zwischen uns und dem Westen erwachsen, ständig auf diesen »anderen Menschen«, der zur Kategorie einer schaffenden Kraft erhoben ist. Man kann das in zwanzig verschiedenen Definitionen fassen, auf hundertfünfzig Weisen sagen, Tatsache bleibt doch, dass uns Söhnen des Ostens das Problem des individuellen Gewissens, an dem sich noch die halbe französische Literatur mästet, zwischen den Fingern zerrinnt und Lady Macbeth und Dostojewski unglaubwürdig werden … dass uns mindestens die Hälfte der Texte verschiedener Mauriacs vorkommt, als wären sie auf dem Mond geschrieben, und wir aus den Stimmen eines Camus, Sartre, Gide, Valéry, Eliot, Huxley unverdauliche Finesse heraushören, ein Überbleibsel aus Zeiten, die für uns vergangen sind. Und diese Unterschiede werden in der Praxis so deutlich, dass ich zum Beispiel (und ich sage das ohne jede Übertreibung) überhaupt nicht in der Lage bin, mit Künstlern über Kunst zu reden – denn der Westen, seinen absoluten Werten weiter treu, glaubt noch an die Kunst und an den Genuss, den sie uns vermittle, für mich aber ist das ein aufgezwungener Genuss, der zwischen uns entsteht – und wo sie einen Menschen vor der Musik Bachs knien sehen, sehe ich Menschen, die sich gegenseitig zum Knien und zu Begeisterung, Genuss und Bewunderung zwingen. So eine Auffassung von Kunst muss sich auf meinen ganzen Umgang mit ihr auswirken, und ich bin anders darin, wie ich ein Konzert höre, die großen Meister bewundere oder Lyrik beurteile.

So ist es mit allem. Wenn dieses Empfinden in uns sich bisher noch nicht entsprechend stark geäußert hat, so deshalb, weil wir in einer überkommenen Sprache befangen sind; es dringt aber immer stärker durch die Ritzen der Form an die Oberfläche. Was wird, was könnte entstehen in Polen und in den Seelen der ruinierten und brutalisierten Menschen, wenn eines Tages auch diese neue Ordnung verschwindet, die die alte erwürgt hat, und das Nichts beginnt? Man stelle sich das bildlich vor: das ehrwürdige Gebäude einer tausendjährigen Zivilisation zusammengebrochen, Stille und Leere ringsum, wir auf seinen Trümmern – ein Schwarm grauer und kleiner Menschenwesen, die sich vor Verblüffung noch nicht fassen können. Denn ihre Dome, die Altäre, Gemälde, Kirchenfenster und Statuen, vor denen sie knieten, das Gewölbe, das ihnen Schutz bot, liegen in Schutt und Asche, und sie selbst stehen in all ihrer Nacktheit da. Wo Schutz suchen? Was vergöttern? Zu wem beten? Wen fürchten? Worin einen Quell von Inspiration und Glauben finden? Wäre es ein Wunder, wenn sie in sich selbst die einzige schöpferische Kraft und die einzige ihnen zugängliche Gottheit sehen würden? Das ist der Weg, der von der Verehrung der Menschenprodukte zur Entdeckung des Menschen als entscheidende und nackte Kraft führt.

Die Bewohner des Prachtbaus der westlichen Zivilisation sollten sich auf eine Invasion von Obdachlosen mit ihrem neuen Gespür für den Menschen vorbereiten … die nie erfolgen wird. Jetzt eben habe ich meine Meinung geändert. Denn ein Bulgare traut dem andern nicht, ein Bulgare verachtet den Bulgaren, ein Bulgare hält den anderen für ein … (hier wäre das berühmte auspunktierte Wort einzusetzen). So zwingen wir denn niemandem unser Empfinden auf, weil wir unsere Empfindungen nicht ernst nehmen. Und es wäre zu verwunderlich, wenn ein solches Menschenbild unter Menschen entstünde, die sich nicht für voll nehmen.

Dienstag

Eine andere Rezension, diesmal im Orzeły Biały, über »Trans-Atlantik und die Trauung«. Jan Ostrowski. Wenn schon ich von diesen zerzausten, ungewaschenen Sätzen mit verrenkten Gliedern, diesem wilden Gestammel, nichts verstehe – was sollen dann andere verstehen?

»Wie üblich treffen die avantgardistischen Horchposten die drastischsten Dinge im herausgestreckten ›Popo‹.«

»Nach seinen Erklärungen zu urteilen, liegt Gombrowiczs Problematik in … der Aufdeckung einer teilchenhaften Vollkommenheit.« »Vom Importeur literarischer Neuigkeiten während des Krieges hat Gombrowicz sich zu einem Exporteur polnischer Literaturerzeugnisse gewandelt.«

Oder so ein grammatikalischer Schnitzer:

»Der fertige Text als Kunstwerk können die Theorien des Autors nicht gutmachen.«

Drei Spalten solchen Schmutzes. Ostrowski ist, soviel ich weiß, Leiter der Literaturabteilung im Orzeł. Diesen Artikel konnte tatsächlich nur derjenige zum Druck freigeben, der ihn geschrieben hat.

Weshalb pufft das verführte Denken des Herrn Redakteurs mein Buch in die Rippen und zwackt es nach Kräften? Ich bin diesem Geheimnis nachgegangen und habe die Lösung in folgendem Satz gefunden: »Er hat sich und die Emigration ›besudelt‹ … Jetzt bekommt er erst einmal polemische Prügel und eine kräftige Dosis anästhesierendes Schweigen.« Herr Ostrowski hat eingesehen, dass polemische Prügel wirksamer sind, obwohl jemand, der nicht sprechen kann, lieber anästhesierend schweigen sollte. Wer nur Blödsinn redet, Herr Ostrowski, schweigt mich besser tot. Was anfangen mit dem entzückenden Phänomen eines »Feuilletonisten« à la Ostrowski? Der genüssliche Kiebitz, der in wenigen Worten Weltanschauungen zerschlägt, Lehren erteilt, Wahrheiten aufdeckt, gestaltet, konsolidiert, formiert, demaskiert, konstruiert, lanciert, orientiert … Sogar mit Gott pfeffert er sein Feuilleton, aber bei Gott, es geht ihm gar nicht um Gott, sondern allein darum, jemandem eine Nadel in den … zu stecken. Was berechtigt ihn zu einem derartigen Missbrauch des Gottesnamens und so vieler geachteter Namen, mit denen er sein Feuilleton gespickt hat, und dem Missbrauch der Gutgläubigkeit des Lesers? Was? Natürlich – gesunde Ideale. Ich aber als schändlicher Zerstörer und Zyniker weiß, dass nichts leichter ist, als gesunde Ideale zu haben. Das kann doch jeder. Gesunde Ideale hat jeder – wenigstens nach seiner eigenen Überzeugung. Diese gesunden Ideale sind das Verderbnis, die Krankheit, der Fluch unseres unredlichen Jahrhunderts. Ostrowski ist eine Mikrobe genau der Krankheit, deren Diagnose Miłosz uns liefert – so zeitigen kleine Ursachen furchtbare Wirkungen. Ideale zu haben ist keine Kunst, aber eine Kunst ist es, im Namen sehr großer Ideale keine kleinen Fälschungen zu begehen.

III

Mittwoch

Bei einer Begegnung mit dem jungen Maler Eichler bei Grodzickis erklärte ich: Ich glaube nicht an die Malerei! (Musikern sage ich immer: Ich glaube nicht an die Musik!) Später erfuhr ich von Zygmunt Grocholski, dass Eichler ihn gefragt hat, ob ich solche Paradoxe zum Spaß betreibe. Sie ahnen gar nicht, wie viel Wahrheit in diesem Spaß steckt … wahrhaftigere Wahrheit wohl als jene, von denen ihre sklavische »Kunstverbundenheit« sich nährt.

Gestern ließ ich mich von N.N. überreden und ging mit ihm ins Museo Nacional de Bellas Artes. Der Überfluss der Gemälde quälte mich, noch bevor ich dazu kam, sie zu betrachten; wir gingen von Saal zu Saal; blieben vor einem der Bilder stehen; traten dann an ein anderes heran. Mein Gefährte strahlte selbstverständlich »Einfachheit« und »Natürlichkeit« aus (jene sekundäre Natürlichkeit, die Überwindung der Künstlichkeit) und hütete sich ganz nach den Regeln des Savoir-vivre vor allem, das man der Exaltiertheit hätte zeihen können … ich atmete Apathie, bunt schillernd zwischen Ekel, Unlust, Rebellion, Wut und Widersinn.

Außer uns vielleicht noch zehn Personen … die herantraten, betrachteten, sich entfernten … das Mechanische ihrer Bewegungen, ihre gedämpfte Stille ließen sie wie Marionetten erscheinen, und im Vergleich zu den Gesichtern, die da von den Leinwänden auf sie herabsahen, hatten sie gar keine. Nicht zum ersten Mal sehe ich, wie das Antlitz der Kunst die Gesichter lebendiger Menschen auslöscht. Wer geht denn auch ins Museum? Irgendein Maler – öfter ein Kunststudent oder ein Gymnasiast – eine Frau, die zu viel Zeit hat, ein paar Liebhaber – Personen, die von fern gekommen sind und die Stadt besichtigen – aber sonst fast niemand, obwohl alle auf Knien schwören könnten, Tizian oder Rembrandt seien Wunderwerke, von denen man eine Gänsehaut bekommt.

Mich wundert diese Menschenleere nicht. Große, leere, bilderbehängte Säle sind abstoßend widerwärtig und dazu angetan, in tiefste Verzweiflung zu stürzen. Gemälde eignen sich nicht dazu, eins neben dem anderen an der kahlen Wand zu hängen, ein Gemälde ist dazu da, den Raum zu schmücken und diejenigen zu erfreuen, die Zugang zu ihm haben. Hier wird Gedränge produziert, die Quantität erdrückt die Qualität, Meisterwerke, nach Dutzenden gezählt, sind keine Meisterwerke mehr. Wer kann sich einen Murillo anschauen, wenn daneben ein Tiepolo einen Blick erheischt und weiter entfernt dreißig Gemälde schreien: Guck, guck her! Es besteht ein unerträglicher, erniedrigender Kontrast zwischen der Intention dieser Kunstwerke, deren jedes das einzige und ausschließliche sein will, und ihrer Aushängung in diesem Gebäude. Aber die Kunst – nicht nur die Malerei – ist reich an solchen beiläufigen Misstönen, Absurditäten, Hässlichkeiten und Dummheiten, die wir aus unserer Wahrnehmung verbannen. Ein welkender Tenor in der Rolle des Siegfried, kaum noch erkennbare Fresken, eine Venus mit abgebröckelter Nase, eine alternde Frau, die junge Gedichte rezitiert – das stört uns alles nicht.

Ich aber bin immer weniger geneigt, meine Empfindsamkeit in säuberlich getrennte Fächer einzuteilen und die Augen vor Absurditäten zu verschließen, die mit der Kunst einhergehen, ohne Kunst zu sein. Ich verlange von der Kunst nicht nur künstlerische Qualität, sondern auch, dass sie im Leben gut verankert ist. Weder will ich ihre allzu lächerlichen Heiligtümer tolerieren noch die Gebete … die uns allzu sehr der Lächerlichkeit preisgeben. Wenn das Meisterwerke sind, die uns mit Begeisterung erfüllen sollen – weshalb ist unser Gefühl dann ängstlich und unsicher und stolpert umher? Bevor wir vor einem Meisterwerk auf die Knie fallen, überlegen wir uns, ob das auch ein Meisterwerk ist, wir fragen schüchtern, ob es uns überwältigen sollte, informieren uns emsig, ob wir jenes himmlische Entzücken empfinden dürfen – und geben uns erst dann der Begeisterung hin. Wie ist die angeblich erschütternde Gewalt der Kunst, die so unwiderstehlich, spontan und offensichtlich sein soll, mit der Unsicherheit unserer Reaktion zu vereinbaren? Und auf Schritt und Tritt wird die Verlogenheit unserer Sprache von ergötzlichen Fauxpas, fürchterlichen Reinfällen und fatalen Irrtümern kompromittiert. Immer wieder ohrfeigen die Tatsachen unsere Unaufrichtigkeit. Weshalb ist dieses Original 10 Millionen wert, während jene Kopie von ihm nur 10