Durch die Philosophie in 6 Stunden und 15 Minuten - Witold Gombrowicz - E-Book

Durch die Philosophie in 6 Stunden und 15 Minuten E-Book

Witold Gombrowicz

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Beschreibung

Seinen philosophischen Crashkurs hielt Gombrowicz vom Krankenbett aus, auf Drängen seines Freundes Dominique de Roux, der den Schriftsteller vom Nachdenken über den nahen Tod ablenken wollte. Gombrowicz gab schließlich nach und schrieb dem Freund: »Kommen Sie, wir werden sehen, ob Sie ein Esel sind.« Auch Rita, Gombrowiczs Frau, nahm teil und schrieb mit. Gombrowicz sollte keine Gelegenheit mehr haben, seine »Improvisationen« zu überarbeiten: Am 25. Juni 1969 brechen die Aufzeichnungen ab, zwei Monate später ist Gombrowicz tot. Wie in seinen literarischen Werken nimmt er auch hier kein Blatt vor den Mund: Nietzsches Ideal vom Übermenschen hält er für eine dumme Idee, von Hegel spräche man nicht mehr, wären da nicht seine geschichtsphilosophischen Überlegungen, Marx werde bald vergessen sein, deshalb widmet er ihm nur eine Viertelstunde. Schopenhauer hingegen verehrt Gombrowicz, und auch den Königsberger lässt er gelten, so wie Sartre, dessen Überlegungen zum (Sein und) Nichts Gombrowicz in Ferdydurke gewissermaßen vorweggenommen hat. Ein intellektuelles Kleinod, reich an sardonischem Witz, brillanten Erkenntnissen und einigen steilen Thesen.

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Witold Gombrowicz

Durch die Philosophie in sechs Stunden und fünfzehn Minuten

Aus dem Französischen von Jutta Baden

Kampa

Francesco Matteo CataluccioGombrowiczs Philosophie

Es ist keine Legende: Allem Anschein nach haben die Begeisterung für die Philosophie und seine Führung Durch die Philosophie in sechs Stunden und fünfzehn Minuten Witold Gombrowicz vor dem Selbstmord bewahrt. 1969, in Vence, niedergestreckt von einer Lungenkrankheit, die ihn seit seiner Jugend quälte, drängte der polnische Schriftsteller seine Freunde Konstanty A. Jeleński und Dominique de Roux, ihm eine Pistole oder Gift zu beschaffen.

Er hatte vor, ein Drama über den Schmerz zu schreiben, und wetterte gegen die zeitgenössische Philosophie, insbesondere gegen Jean-Paul Sartre: »Die wirklich realistische Einstellung dem Leben gegenüber ist das Wissen, dass der Schmerz das Konkrete, die eigentliche Realität ist. Doch die zeitgenössische Philosophie schlägt einen gelehrten, professoralen Ton an, als gäbe es den Schmerz nicht. Sartre geht sogar so weit zu sagen, die Folter könne ein Vergnügen sein für den, der glaubt, nach dem Tod in den Himmel zu kommen. Für mich stimmt das überhaupt nicht. Ich glaube vielmehr, dass vom Schmerz leichthin und im Kathederton zu sprechen einer der Fehler der zeitgenössischen Philosophie ist, die extrem bürgerlich ist und meist von Akademikern produziert wird. […] Ich möchte etwas schreiben, das eine Vorstellung vom Schmerz vermittelt, etwas, das richtig Furcht erregend und absolut, das Fundament der Realität ist. Ich sehe das Universum als etwas vollkommen Schwarzes und Leeres, in dem das einzig Wirkliche das ist, was wehtut: eben der Schmerz. Das ist die wahre Hölle, der Rest ist nichts als Geschwafel.«[1]

Gombrowiczs Philosophielektionen in sechs Stunden und fünfzehn Minuten, gehalten im April/Mai 1969 für seine Frau Rita Labrousse und seinen Freund Dominique de Roux, halfen dem polnischen Schriftsteller, die letzten Monate seines Lebens zu ertragen. Er bereitete sich gewissenhaft vor. Dazu griff er auf seine Notizen und einige Bücher zurück, die er aus Argentinien mitgenommen hatte: spanischsprachige Ausgaben von Heideggers Sein und Zeit, Marvin Farbers Husserl-Monographie und Alphonse de Waelhens’ Heidegger-Monographie, Jean Wahls Petite histoire de l’existentialisme, Jean-François Lyotards Essay über die Phänomenologie und Manuel García Morentes Lecciones preliminares de filosofia.[2]

Der Philosophiekurs war eine Idee von Dominique de Roux gewesen – Koautor eines Gesprächsbands über Gombrowiczs Gesamtwerk und seine Ideen[3] –, der begriffen hatte, dass nur die Philosophie die Krankheit für Gombrowicz erträglicher machen könnte.[4] Er schlug vor, die Rolle des »Schülers« gegenüber dem »Meister der Philosophie« Gombrowicz zu übernehmen. Die Witwe des polnischen Schriftstellers bestätigt: »Dominique hatte verstanden, dass zu diesem Zeitpunkt, da es mit ihm körperlich dermaßen bergab ging, einzig die Philosophie seinen Geist mobilisieren konnte.«[5]

Durch die Philosophie in sechs Stunden und fünfzehn Minuten ist eine persönliche Wiederbegegnung mit den neuzeitlichen Denkern, die Gombrowicz zufolge die Philosophie des 20. Jahrhunderts hervorgebracht haben. Seine Philosophiestunden fassen das Denken anderer und sein eigenes zusammen. Besser gesagt: sein Denken durch das Denken anderer. Und sie sind auch voller Humor und brillanter Einfälle.

Gombrowiczs Ziel war, eine Art »Genealogie des Existenzialismus« zu rekonstruieren, einen »Stammbaum«, dessen Stamm Kierkegaard darstellte. Bereits 1960 hatte er auf einer Seite des Tagebuchs ein Skizze angefertigt mit den Namen all jener Autoren, die nötig sind, um die Existenzphilosophie zu begreifen: »Nur … zu Marx, ebenso wie zu Kierkegaard, braucht man Hegel. Und Hegel ist nicht zu knacken ohne die Kritik der reinen Vernunft. Die wiederum hat gewisse Verbindungen zu Hume, zu Berkeley; im Weiteren waren dann zumindest Aristoteles und ein wenig Platon nötig, aber auch Descartes, der Vater des neuzeitlichen Denkens, ist hier nützlich, und zwar auch als Prolegomena der Phänomenologie (Husserl), ohne die man weder Das Sein und das Nichts noch Sein und Zeit lesen kann.«[6]

Durch die Philosophie in sechs Stunden und fünfzehn Minuten ist der Schlüssel zur Lektüre und zum Verständnis von Gombrowiczs ganzem erzählerischen und dramatischen Werk und erst recht des Tagebuchs. Tatsächlich war die Philosophie, zusammen mit der Musik, seine große Leidenschaft. Der Lyriker Czesław Miłosz erinnert sich: »Eigentlich sprach er nur gern über Philosophie.«[7] Diese grenzenlose Leidenschaft war auch spürbar, wenn er unterrichtete. 1959 hielt er in Buenos Aires im Klub Amigos del Arte Vorlesungen über Heidegger.[8]1936 hatte ihm der Schriftsteller Bruno Schulz, der seine Leidenschaft für Husserl teilte, prophetisch geschrieben: »Du hast das Zeug zu einem großen Humanisten, was ist denn Deine pathologische Empfindlichkeit für Antinomien sonst, wenn nicht Sehnsucht nach dem Universalen, Sehnsucht nach dem Humanisieren nicht vermenschlichter Gebiete, Sehnsucht nach der Enteignung partikularer Ideologien und ihrer Eroberung zugunsten der großen Einheit.«[9]

Bereits 1937, als Gombrowiczs erster Roman Ferdydurke[10] erschien (dessen Erscheinungsdatum allerdings meist mit 1938 angegeben ist), bemerkten die Kritiker, dass es sich dabei um eine einzigartige Mischung aus Erzählung und philosophischem Essay handelte.

Wacław Kubacki beispielsweise stellte fest, dass die darin behandelten Themen Unreife und Infantilität, von Gombrowicz als kulturelle und gesellschaftliche Phänomene verstanden, die typisch für unser Zeitalter sind, sehr wichtige philosophische Implikationen hatten.[11] Und genau diese beiden Themen, die zum ersten Mal in der europäischen Literatur derart grundlegend und sarkastisch behandelt wurden, stellen den ursprünglichen Kern von Gombrowiczs »Philosophie« dar. Die Unreife schien ihm die fruchtbarste Kategorie zu sein, um den Zustand des modernen Menschen in seinem Land und im übrigen Europa zu beschreiben. Er sah – wie wenige andere Autoren, insbesondere in Mitteleuropa – Millionen infantiler Individuen, denen eine Vaterfigur fehlte und die mit dem Gesetz nicht recht klarkamen und die sich deshalb mit Begeisterung dem Totalitarismus und billigen Ideologien in die Arme warfen, was sie noch infantiler machte und dazu bewegte, sich gegenseitig und andere umzubringen im Namen von »Vaterland«, »Rasse«, »Proletariat«, »Jugend« und »Konsum«. Kennzeichen der Moderne sind wie bei Peter Pan und Josi (der Hauptfigur von Ferdydurke) die Weigerung, erwachsen zu werden, Verantwortung zu übernehmen, die traurige Bürde der Reife, die schwindelerregende Orientierungslosigkeit, die durch Freiheit und Demokratie bewirkt werden. Gombrowicz erklärte seine Absichten wie folgt:

»Meine Absicht war es, nicht nur die fremde Unreife zum Ausdruck zu bringen, sondern auch die eigene. […] Es geht mir um die Unreife, die jede Kultur im Menschen freisetzt, wenn sie nicht genügend assimiliert, geistig verarbeitet, nicht organisch genug ist. […] Es ist […] der Aufschrei des Individuums, das sich gegen die Schlaffheit wehrt, nach Hierarchie und Form verlangt und gleichzeitig sieht, dass jede Form es beeinträchtigt und beschränkt – das sich gegen die Unvollkommenheit anderer wehrt, im vollen Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit.«[12]

Infantilität und Unreife sind eng verbunden mit dem Problem der Form, das für Gombrowiczs Weltsicht zentral ist. Im Vorwort zur argentinischen Ausgabe von Ferdydurke bringt er es so auf den Punkt: »In Ferdydurke gibt es zwei Hauptthemen: die Unreife und die Form. Es ist eine Tatsache, dass die Menschen gezwungen sind, ihre Unreife zu verbergen, denn nach außen zeigt man nur, was an Reife in einem steckt. Ferdydurke stellt die Frage: Seht ihr nicht, dass unsere äußerliche Reife nichts als eine Fiktion ist und dass alles, was ihr ausdrücken könnt, nicht eurer inneren Realität entspricht? Solange ihr so tut, als wärt ihr reif, lebt ihr tatsächlich in einer ganz anderen Welt. Wenn es euch nicht gelingt, diese beiden Welten miteinander zu verknüpfen, wird die Kultur für euch immer ein Instrument der Täuschung sein. In Ferdydurke geht es aber nicht nur um das, was wir als natürliche Unreife des Menschen bezeichnen könnten, sondern vor allem um Unreife, die durch künstliche Mittel bewirkt wird: wenn ein Mensch einen anderen zum Unreifsein drängt. […] Die Figuren von Ferdydurke tun nicht, was sie wollen, noch empfinden sie, wie es ihrem Wesen entspricht, sondern der Großteil dessen, was sie empfinden und tun, wird ihnen von außen aufgedrängt. Sie bringen einander in Haltungen, Situationen, zwingen einander Gefühle und Gedanken auf, die ihrem eigenen Willen fremd sind, und erst im Nachhinein passen sie sich psychisch dem an, was sie getan haben, und suchen, bedroht vom Absurden und der Anarchie, nach Rechtfertigungen und Erklärungen dafür.«[13]

Laut Gombrowicz hat die Menschheit das nicht nachlassende Bedürfnis, sich zu gestalten: »… wie eine Woge, die aus Milliarden chaotischer Teilchen besteht und doch immer wieder eine bestimmte Gestalt annehmen muss.«[14] Die Form dominiert, weil wir in dem leben, was er im Tagebuch als »Menschenkirche« (Kosciół międzyludzki) bezeichnet: Der Mensch wird vom Menschen geschaffen, der Mensch ist unablässig im Kontakt mit anderen Menschen, nichts lässt sich dem determinierenden Druck des Vorhandenseins anderer Menschen entziehen. Form muss in ihren beiden Bedeutungen begriffen werden: 1) als Maske, die andere uns aufzwingen und die wir nicht ablegen können; 2) als Verhalten, das wir freiwillig übernehmen, um akzeptiert zu werden (wir möchten frei sein, aber mehr noch fürchten wir, isoliert zu sein). Gombrowicz verwandelt sich mit seinen Werken in einen »Paladin der Antiform«: Sein Ziel ist die Befreiung von den Einschränkungen der Außenwelt. Denn er sieht, dass die Menschen zutiefst unauthentisch sind: »Das menschliche Wesen äußert sich nicht in unmittelbarer, mit seiner Natur übereinstimmender Weise, sondern immer in einer bestimmten Form, und diese Form, dieser Stil, diese Verhaltensweise stammt nicht nur aus uns selbst, sondern wird uns von außen auferlegt – und eben deshalb kann ein und derselbe Mensch sich nach außen klug oder dumm, blutrünstig oder engelsgleich, reif oder unreif offenbaren, je nachdem, welcher Stil ihn gerade ankommt und inwiefern er von anderen Menschen abhängt. […] so stellen wir ohne Unterlass der Form nach, zanken mit anderen Menschen um unseren Lebensstil und unsere Verhaltensweise […] – immer, ohne Pause, suchen wir nach Form, ergötzen uns an ihr oder leiden an ihr, passen uns an sie an oder vergewaltigen und zerschlagen sie oder lassen sie uns formen, amen.«[15] Der Mensch ist somit nie authentisch, sondern immer deformiert, hat keine komplette Existenz, sondern immer eine verdorbene unter der tatsächlichen Wirklichkeit. Aber was ist die tatsächliche Wirklichkeit des Menschen? Für Gombrowicz ist sie etwas unrettbar Verlorengegangenes. Jahrhunderte später ist es unmöglich, den authentischen, natürlichen Menschen wiederzufinden, der Jean-Jacques Rousseau vorgeschwebt hat. Das Gesicht unter der Maske der Formen ist durch Luftmangel und Gewohnheiten entstellt. Wir sind dazu verdammt, mit einer Maske aufzutreten: »Der [Mensch ist der] ewige Schauspieler, aber Schauspieler von Natur, denn das Künstliche ist ihm angeboren, es kennzeichnet sein Menschentum – Menschsein heißt Schauspieler sein – Menschsein heißt den Menschen spielen. [ …] Doch wohl nicht so, als sollte der Mensch seine Maske ablegen – denn er hat ja darunter kein Gesicht –, man kann nur verlangen, dass er sich seine Künstlichkeit bewusst mache und sie eingestehe.«[16]

Die Form ist dem Chaos entgegengesetzt, so wie die Überlegenheit der Unterlegenheit. Voll Bitterkeit enthüllt Gombrowicz, dass wir uns unablässig um Form und Überlegenheit bemühen, uns gleichzeitig aber immer von Chaos und Unterlegenheit angezogen fühlen, weil wir glauben, darin freier sein zu können. Tatsächlich besteht die einzig mögliche, obschon nur partielle, Freiheit in der künstlerischen Kreativität. Auch wenn der Künstler der Form nicht entfliehen oder keine vollkommene Form schaffen kann – immerhin hat er die Freiheit, damit zu »spielen«. Er kann die Reife der künstlerischen Konvention oder seine eigene Unreife »sichtbar« machen, statt sie zu verbergen, und indem er zu beiden eine gesunde Distanz hält, kann er sich in einem gewissen Maß der Unterdrückung durch sie entziehen. Im Chaos der Existenz ist die Kunst für Gombrowicz das einzige Mittel, das die Menschen haben, um ihrer Form einen gewissen Wert zu verleihen.

Eng verknüpft mit dem Thema »Form« ist das Thema »Subjekt-Objekt-Beziehung«. Wie die Figuren seiner Geschichten konnte auch Gombrowicz schier durchdrehen, wenn sein Blick einen Gegenstand oder sein Geist einen Gedanken fixierte. Diese Obsession wird besonders deutlich in Kosmos.[17] Der Roman ist wie ein Krimi konstruiert, die Geschichte einer quälenden Suche nach Anhaltspunkten, die den Figuren inmitten des allgemeinen Durcheinanders wichtig erscheinen. Einen Gegenstand als »Anhaltspunkt« zu betrachten heißt, ihm einen Sinn zu verleihen, was wiederum die Frage nach sich zieht, warum uns gerade dieser Gegenstand aufgefallen ist. Das Vorgehen eines Detektivs ist für Gombrowicz eine Art Symbol für das, was jeder Mensch im Prozess des Erkennens mit der Wirklichkeit anstellt: »Ich bezeichne dieses Werk gern als ›Roman über die Erschaffung von Wirklichkeit‹. Und da der Kriminalroman genau das ist – nämlich der Versuch, das Chaos zu organisieren – hat auch Kosmos ein wenig die Form des Kriminalromans.«[18] Für Gombrowicz gibt es keine objektive Welt, sie lässt sich so wenig erkennen wie Kants Noumenon.

Sowie ein Mensch sich seiner selbst bewusst wird, versucht er Ordnung (Kosmos) in die ihn umgebende Unordnung (Chaos) zu bringen, versucht er, das Ende des Knäuels aus unendlich vielen Eindrücken, die jeden Tag auf ihn einstürzen, zu erhaschen. Vom Chaos zum Kosmos, vom Durcheinander zu einer subjektiven Ordnung zu schreiten, ist uns angeboren: »Wie kommt es, dass wir, aus dem Chaos geboren, es doch nie zu fassen kriegen, kaum schauen wir hin, schon entsteht Ordnung unter unserem Blick … und Gestalt …«[19] Jedes Individuum »erschafft« die Wirklichkeit. Und das tun auch der Schriftsteller, der Philosoph oder der Wissenschaftler. Ein Roman beispielsweise ist eine Welt für sich, eine Ordnung vieler ausgewählter Elemente. Aber diese Ordnung, die der Wirklichkeit verliehen wird, ist etwas sehr Persönliches, Isoliertes, Privates. Die Ordnung, die der Mensch der Welt verleiht, ist laut Gombrowicz eine wahnhaft subjektive. Der Inbegriff dieses kognitiven Subjektivismus ist Don Quijote. Der Ritter aus der Mancha zeigt, dass es keine Welt mehr gibt (so es sie denn je gegeben hat), die als Prüfstein zur Unterscheidung von Wahnsinn und Wirklichkeit, Traum und Wachsein taugen würde. Es gibt vielmehr so unendlich viele Welten, wie es Subjekte gibt, die sie denken. Don Quijote ist ein Beispiel für kognitiven Subjektivismus in extremis: Die ganze Wirklichkeit muss sich der Rückkehr des Protagonisten in die Epoche heldenhaften Rittertums anpassen, in der er Zuflucht sucht. »Don Quijote nimmt Kant vorweg«[20] – etwas muss in der Wirklichkeit existieren, wenn sein Hirn es hervorgebracht hat.

Der Mechanismus unserer obsessiven Beziehung zur Welt der Objekte, »eine echte Falle«, wird von Gombrowicz so beschrieben: »Aus der Unmenge der Phänomene, die um mich geschehen, greife ich eines heraus. Ich nehme zum Beispiel den Aschenbecher auf meinem Tisch wahr (die übrigen Gegenstände auf dem Tisch entschwinden ins Nichtsein). Wenn ich begründen kann, weshalb mir gerade der Aschenbecher aufgefallen ist (›Ich will die Zigarettenasche abstreifen‹), ist alles in Ordnung. Wenn ich den Aschenbecher zufällig bemerkt habe, ohne jede Absicht, und nicht weiter an diese Wahrnehmung denke, ist auch alles, wie es sein sollte. Hast du jedoch diesen belanglosen Gegenstand bemerkt und kommst darauf zurück … dann wehe! Weshalb ist er dir erneut aufgefallen, wenn er belanglos ist? Ach, er bedeutet dir also doch etwas, da du auf ihn zurückgekommen bist? … Und so wird das Ding allein durch die Tatsache, dass du dich unberechtigt eine Sekunde zu lange darauf konzentriert hast, zu etwas Besonderem, wird bezeichnend. […] Das Bewusstsein hat etwas, das es zur Falle macht für sich selbst.«[21]

Die Subjekt-Objekt-Beziehung in der philosophischen Theorie wird von Gombrowicz beschrieben in einer langen Passage seines Tagebuchs, die in voller Länge zu zitieren sich lohnt:

»Die tiefste Zerrissenheit des Menschen, seine blutende Wunde, ist genau damit bezeichnet: Subjektivismus – Objektivismus. Sie ist grundlegend. Heillos. Die Beziehung Subjekt/Objekt, also Bewusstsein und Objekt des Bewusstseins, ist Ausgangspunkt des philosophischen Denkens. Stellen wir uns vor, die Welt würde sich auf einen einzigen Gegenstand reduzieren. Wenn es niemanden gäbe, der sich die Existenz dieses Gegenstands bewusst macht, würde dieser nicht existieren. Das Bewusstsein transzendiert alles, es ist letztgültig, bewusst bin ich mir meiner Gedanken, meines Körpers, meiner Eindrücke und Empfindungen, und deshalb existiert das alles für mich.

Schon in der Frühzeit spaltet sich das Denken bei Platon und Aristoteles – in das subjektive und das objektive Denken. Aristoteles wirkt über Thomas von Aquin auf verschiedenen Wegen in unsere Zeit hinein, während Platon über den hl. Augustin, über Descartes, über den blendend hellen Ausbruch der Kantschen Kritik und die von ihr sich herleitende Richtung des deutschen Idealismus, über Fichte, Schelling und Hegel, über die Husserlsche Phänomenologie und den Existenzialismus zu gewaltiger Blüte gelangte, mehr noch als in ihren ersten Tagen. Das objektive Denken dagegen verwirklicht sich heute vor allem im Katholizismus und im Marxismus; jedoch ist der Marxismus, wie Marx selbst sagte, keine Philosophie, und der Katholizismus ist eine Metaphysik, gestützt auf den Glauben – er ist, so paradox das klingt, die subjektive Überzeugung, dass eine objektive Welt existiert.