Tagebücher 1950–2009 - Isa Vermehren - E-Book

Tagebücher 1950–2009 E-Book

Isa Vermehren

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Beschreibung

Früh erkannte Isa Vermehren die Gefahren, die von den Umbrüchen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts für Kirche und Gesellschaft ausgingen. Sie wurde zu einer Stimme, die in der Öffentlichkeit Gehör fand, unter anderem in der Fernsehsendung »Das Wort zum Sonntag«. Auch als Zeitzeugin für die Verheerungen der nationalsozialistischen Diktatur wurde sie einem breiten Publikum bekannt. Immer ging es ihr darum, für die Sache des von Gott geliebten, verletzlichen Menschen einzutreten sowie Alltag und Weltgeschehen im Licht des Glaubens zu deuten. Die nun erschienenen Tagebücher ihrer letzten 60 Jahre sprechen von der unwiderstehlichen Gnade und dem hohen Einsatz, den die Hingabe an sie verlangt.

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Seitenzahl: 1059

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Impressum

1. Auflage 2017

© Patrimonium-Verlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Erschienen in der Edition »Patrimonium Theologicum«

Patrimonium-Verlag

Abtei Mariawald

52396 Heimbach/Eifel

www.patrimonium-verlag.de

Herstellung und Vertrieb:

Druck & Verlagshaus Mainz GmbH

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Abbildungsnachweise

Umschlag (Vorderseite): Isa Vermehren (kurz vor ihrem 90. Geburtstag),

© Katholische Nachrichten-Agentur/KNA-Bild)

Umschlag (Rückseite): alle Abbildungen Privatarchiv der Verfasserin

ISBN-13: 978-3-86417-102-4

Hinweise zur Edition und Danksagungen

Zum Textbestand:

Für die Jahre 1950–1960 gibt es ausschließlich handschriftliche Notizen. Sie umfassen 22 Hefte oder Schreibblöcke im Format 14,5 cm in der Höhe und 9–10,5 cm in der Breite und 1 Heft und 1 Schreibblock von je 19,5 mal 12,5 cm, alle dicht beschrieben. Ab 1961 finden sich durchgehend maschinenschriftliche Texte auf doppelseitig eng beschriebenen Blättern mit gelegentlichen handschriftlichen Einschüben in 9 Ringbüchern im DIN A 5-Format, von denen die letzten 3 weniger gefüllt sind. 1 DIN A 4-Ordner enthält etwa 150 grob geordnete, einseitig beschriebene Blätter; der Text wurde von August – Oktober 1997 während der Aufenthalte im Krankenhaus und in der Reha-Klinik in ein Diktaphon gesprochen und von einer Sekretärin transkribiert (Auszüge sind hier als Anhang 2 angefügt). Die Satire »Ordensreform« (Anhang 1) liegt ebenfalls als Maschinenskript vor.

Zur Bearbeitung:

Die Fülle des Materials sowie die gebotene Diskretion gegenüber Personen und persönlichen Beziehungen verlangten nach einer Auswahl und Kürzung der Texte, ohne dabei ihren Gesamtcharakter zu beschädigen. Um dem Leser den Zugang in die Gedankenwelt der Autorin zu erleichtern, wurde außerdem innerhalb der texteigenen chronologischen Ordnung eine thematische Gliederung gewählt. So besteht das Buch aus sechs Hauptteilen, die jeweils einen zeitlichen Abschnitt aus dem Leben Isa Vermehrens umfassen. In jedem dieser Hauptteile sind dann die Inhalte nach Themen zusammengestellt. Da einige Überschriften in jedem der Teile wiederkehren, andere dagegen verschwinden oder neu hinzukommen, ist es für den Leser möglich, sich rasch zu orientieren oder auch die Auseinandersetzung mit einzelnen Problemen über die gesamte Zeit der Eintragungen zu verfolgen.

Der Vorspann und die Einführungen, die jedem Abschnitt vorangestellt sind, versuchen, Daten und Fakten zu ergänzen, die für das Verständnis der Texte nötig sind. Orthographie und Zeichensetzung wurden behutsam an die gegenwärtig gebräuchlichen Regeln angeglichen. Textergänzungen und -erläuterungen der Herausgeberin sind in eckige Klammern gesetzt.

An dieser Stelle möchte ich denen einen sehr herzlichen Dank aussprechen, die mich bei meiner langwierigen Arbeit unterstützt haben. Er gilt vor allem Frau Helena Novak Penga, Bibliothekarin der Stadtbibliothek in Zadar, Kroatien, die nicht nur die Struktur des Buches angeregt, sondern mich mit ihrem klaren Urteil auch immer wieder ermutigt hat, es zu veröffentlichen; sowie Frau Charlotte Bardenhewer, vormals Nationale Präsidentin der Vereinigung ehemaliger Sacré-Cœur-Schülerinnen, die Isa Vermehren sehr gut kannte und daher in den letzten Jahren den Fortgang der Arbeit mit persönlicher Anteilnahme und kritischen Hinweisen hilfreich begleiten konnte.

Von Herzen danke ich auch Herrn DDr. F. Erich Zehles, Leiter des Bernardus- und des Patrimonium-Verlages, der mit seinem lebhaften Interesse und Engagement das Erscheinen der Tagebücher ermöglicht hat, und Herrn Wolfgang Müller für die gute Zusammenarbeit und die sorgfältige und ästhetisch schöne Ausgestaltung des Werkes. Schließlich gilt ein ebensolcher Dank allen, die für den Bildteil ihre Fotos zur Verfügung gestellt haben.

Im Sommer 2016

Helga Böse

Vorspann

Die vorliegenden Aufzeichnungen beginnen im Jahr 1950. Isa Vermehren ist damals 32 Jahre alt. Sie hatte zwar schon als vierzehnjähriges Mädchen angefangen, ihre Gedanken und Erfahrungen aufzuschreiben, aber diese alten Hefte waren den inneren und äußeren Aufräumarbeiten vor dem Eintritt ins Kloster zum Opfer gefallen. Doch die Gewohnheit und das Bedürfnis, sich in Zeiten des Umbruchs sowie der allgemeinen und persönlichen Orientierungslosigkeit einen Überblick zu verschaffen, um den eigenen Standpunkt zu klären, brachen sich auch und gerade im geistlichen Leben von neuem Bahn. Und so schrieb sie – trotz mancher Bedenken – bis wenige Monate vor ihrem Tod. Immer ging es ihr um die Lauterkeit in der Nachfolge Christi, oder anders ausgedrückt: um Erkenntnis der Wahrheit und der wahren Liebe und um ihre Verwirklichung im Alltag.

1950 lag ihr Tagebuch auf dem Schreibtisch im Gästezimmer des Herz-Jesu-Klosters in Pützchen/Bonn, wo sie sich auf das Staatsexamen für das Höhere Lehramt vorbereitete, das ihr endlich die Tür zur Gesellschaft vom Heiligsten Herzen Jesu (Sacré Cœur) öffnen sollte.

Ihre frühe Karriere als Sängerin und Schauspielerin hatte ihr dabei lange im Weg gestanden. Aber nicht nur die damaligen Ordensoberen konnten sich nicht vorstellen, wie sich diese Laufbahn in das Leben einer Ordensfrau fügen sollte, auch in der Öffentlichkeit hielt sich bis in die Gegenwart hartnäckig ein gewisses Unverständnis. Selbst die Biographie von Matthias Wegner50 *, die auf vielen Gesprächen mit Schwester Vermehren beruht und 2003 erschien, trägt noch den irreführenden Untertitel »Die zwei Leben der Isa Vermehren« – eine Interpretation, die sie schon in dem vorangestellten Motto entschieden abwehrte: »Ich habe von meinem Leben immer den Eindruck gehabt, dass es schnurgerade gegangen ist – so wie ein Flugzeug, das langsam abhebt und dann ziemlich gerade sein Ziel anfliegt …«

Immerhin hatte sie schon mit achtzehn Jahren ihre Zukunft nicht mehr auf der Bühne gesehen – auch wenn sie ihr Ziel noch nicht kannte. Im Januar 1936 sang und spielte sie zum letzten Mal das Lied von der lustigen Seefahrt, mit dem sie als Fünfzehnjährige in dem Berliner Kabarett »Katakombe« von Werner Finck einen furiosen Einstand gefeiert hatte. Diesmal sang sie es unter Beschimpfungen nationalsozialistischer Störtrupps, die »Verunglimpfung der Kriegsmarine!« schrien und einen Tumult verursachten (Wegner, S. 70), und sie sang es in diesem Augenblick bewusst als innere Absage an den Beruf, der damit verbunden war. Zwar musste sie auch künftig noch auf ihre Begabung zurückgreifen, um Geld zu verdienen, aber das änderte nichts an der neuen Ausrichtung ihres Kompasses.

Es waren vor allem die Umstände, die sie im November 1933 aus der beschaulichen Enge ihrer Geburtsstadt Lübeck – einer Enge, die mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten bedrohlich zu werden begann – in das brodelnde Berlin getrieben hatten. Weil sie sich aus Solidarität mit einer jüdischen Mitschülerin geweigert hatte, bei einem öffentlichen Aufmarsch der Schule die Hakenkreuzfahne zu grüßen, hatte man dem auch sonst eigenwilligen Mädchen nahe gelegt, das Ernestinengymnasium zu verlassen. Ein Bekannter der Familie, der begeistert war von ihrem musikalisch-schauspielerischen Urtalent, schlug vor, sie solle es doch mal beim politisch-literarischen Kabarett von Werner Finck versuchen. Die Idee zündete, und weil die Mutter, Petra Vermehren, in dieser Zeit für sich den Anfang einer Laufbahn als Journalistin in Berlin sah, zog sie mit der Tochter in die Hauptstadt.

Das Milieu der Berliner Kleinkunstbühnen mit begabten und »hochbegabten Dichtern und Versemachern, Komponisten und Schauspielern« und sicher auch der Erfolg, der ihr fast mühelos zufiel, überwältigten das junge Mädchen für eine Weile. Aber im Grunde genügte ihr all das nicht. »Ich habe etwa zwei Jahre gebraucht«, sagte sie später, »um in dieser total anders denkenden und funktionierenden Wirklichkeit mich selbst wieder zu finden bzw. nach einer befriedigenden Antwort zu suchen auf die Frage, was ich denn in dieser neuen Umwelt tun, sein oder werden wollte.«12

Vor allem wollte sie erst einmal das Abitur nachholen und zog sich zur Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung in die Unterprima des Abendgymnasiums für ein halbes Jahr in das stille Ostseebad Haffkrug zurück. Unter der Anleitung zweier Lehrer aus Lübeck stieß sie vor allem im Deutsch- und Geschichtsunterricht auf Einsichten und Ideen, die zur Auseinandersetzung mit den weltanschaulichen Vorstellungen der Nationalsozialisten zwangen, wie sie täglich über den Volksempfänger verbreitet wurden. Dabei schälte sich für sie als entscheidendes Problem die »Frage nach der rechten Religion [heraus] bzw. nach DER Wahrheit, in der alles Bestand hat«, nach der Wahrheit also, auf die man sein Leben bauen kann. »Ein Buch von Otto Karrer (Das Religiöse in der Menschheit und das Christentum38) hatte mich aufhorchen lassen; seitdem wollte ich mehr, wollte ich alles wissen über den Gott, zu dem sich die Christen bekennen.«38

In Berlin begegnete sie bald darauf in einer Abendgesellschaft der jungen Elisabeth Gräfin Plettenberg, die in einem Disput – inmitten der aufflammenden Kirchenverfolgung – mit Leidenschaft und bestechender Klarheit den katholischen Glauben und die Kirche verteidigte. Am Ende des Abends bat Isa Vermehren sie: Wenn es diesen Gott wirklich gibt, würden Sie mich dann bitte zu ihm führen? So begann nicht nur eine gründliche Glaubensunterweisung, die das gesamte Sein und Dasein umfasste, sondern auch eine tiefe geistliche Freundschaft, die ein Leben lang halten sollte. 1938 trat die evangelisch-lutherische Taufchristin glückselig in die römisch-katholische Kirche über. Auch der jüngere Bruder, Erich Vermehren, konvertierte, fasziniert von der Wahrheit der katholischen Lehre und zunehmend auch von der Lehrerin, die einige Jahre später seine Frau wurde.

Dass es mit dem logischen Verständnis der Glaubenszusammenhänge allein nicht getan ist, das machte die strenge und unbestechliche Seelenführerin ihren Konvertiten bald klar: der Glaube, der die Existenz Gottes so ernst nimmt, dass er die ganze Person erfasst, muss aus dem persönlichen Gespräch mit Gott erwachsen!

Isa Vermehren erinnerte sich immer wieder und noch in hohem Alter an diesen Moment, der alles veränderte. An einem Juninachmittag 1937 war sie voller Unruhe nach Hause gekommen, denn Elisabeth Plettenberg hatte gesagt: »Wenn Sie wissen wollen, ob es Gott gibt, dann müssen Sie beten. Ganz einfach: lieber Gott, wenn es Dich gibt, dann offenbare Dich mir.« Der Einwand, dass sie nicht beten könne, war beiseite gewischt worden mit der Bemerkung: Beten kann man, indem man es tut! »Die Angst vor dem Tun und gleichzeitig das Verlangen nach einer Antwort«, berichtete sie, »hatten mich lange in Untätigkeit auf der Couch liegend festgehalten, als ich plötzlich von der Gewissheit durchdrungen wurde: Gott ist hier anwesend, steht im Türrahmen. Unsichtbar, aber ganz wirklich teilte sich seine einzigartige Wahrheit meinem Innern mit, alles erfüllend, alles erfassend, wahrhaft mich total überzeugend. Ich war aufgestanden und hatte mich hingekniet – aus eigenem Antrieb? oder auf den Rat meiner Mentorin hin, das weiß ich nicht mehr – und hatte mit vernehmlicher Stimme gesagt: ›Mein Gott, ich weiß zwar nicht, was ich hier tue, aber ich bete und ich danke es Dir.‹

Ich habe diesen Wortlaut nie vergessen, weil ich ihn so Zeugnis gebend finde. Ich könnte ihn heute genau so wiederholen, nur dass ich heute weiß, was ich tue.«12

Doch Isa Vermehren wäre nicht sie selbst gewesen, wenn sich ihr aus diesem Erleben nicht sofort eine Fülle neuer Fragen ergeben hätte: »Wer ist dieser Gott, der sich mir so deutlich zu erkennen gegeben hat: Wie heißt er? Was erwartet er? Was soll ich tun? Wie soll ich sein? Wo ist mein Platz in der Beziehung zu ihm?…«12 Die Katechismusantworten, die sie doch gerne gelernt hatte, genügten ihr offenbar nicht. Auch in Zukunft wird es ihr nie nur um Erkenntnis gehen, sondern immer auch darum, der erkannten Wahrheit mit ihrem eigenen Dasein und Handeln zu entsprechen. Es sind im Grunde diese selben Fragen, die ihr gesamtes geistliches Leben durchziehen, ein Leben, das aus der Mitte dieser einen Begegnung erwächst, die wie ein Fels standhält, auch in allen Veränderungen und Zumutungen der nächsten Jahre.

Auf eine einzige Karte wollte Isa Vermehren ihre Existenz setzen, und so zog sie im Februar 1939 für ein Jahr in das Studentinnenheim des Sacré Cœur im Grunewald, um katholisch leben zu lernen. Was sie dort fand, war ihre große Liebe. Das Kloster gewann »eine unwiderstehliche Anziehungskraft« für sie, mit der »keine andere Vorstellung von einem erfüllten Leben […] konkurrieren«12 konnte. Aber ihre erste Bitte um Aufnahme in den Orden wurde abgelehnt.

Dann überrollte der Krieg alle Pläne. Der Orden wurde von den Nazis aufgehoben und die Nonnen als Krankenschwestern verpflichtet. Isa meldete sich freiwillig beim Roten Kreuz und half bei der Pflege »der ersten Verwundeten, die von der polnischen Front zurückkamen.« (Wegner, S. 113) Sie sang und filmte und nahm von 1942–44 zwei- bis dreimal jährlich an der sog. Truppenbetreuung teil, in der Gruppen von zwei oder drei Unterhaltungskünstlern in die abgelegensten Frontabschnitte geschickt wurden, um die Soldaten aufzumuntern. Auf einer solchen Reise begriff sie 1943 angesichts der unendlich sich hindehnenden Weiten Russlands, wie aussichtslos die Hoffnung auf einen deutschen Sieg geworden war. In demselben Jahr verlobte sie sich mit dem Architekten Karl Heinrich Beutler, und für einen Augenblick schien das Zukunftsbild einer glücklichen Familie auf. Doch Beutler fühlte sich gleichzeitig zu einem Leben als katholischer Priester hingezogen. So wurde die Verlobung trotz aller Liebe bald und einvernehmlich wieder gelöst, weil beide beschlossen, ihrer ursprünglichen Berufung zu folgen. Karl Heinrich Beutler kehrte an die russische Front zurück; sein Schicksal dort ließ sich auch nach dem Krieg nicht klären. Ebenfalls 1943, im Dezember, beschlossen Erich und Elisabeth Vermehren, sich von Istanbul aus, wo er dem Militärattaché der deutschen Botschaft als juristischer Berater zugeordnet war, zu den Alliierten abzusetzen. Anfang 1944 gelang ihnen eine abenteuerliche Flucht nach London, aber die Familien mussten als erste Sippenhäftlinge des Dritten Reiches dafür büßen. Isa Vermehren wurde in das Frauen-KZ Ravensbrück eingeliefert und blieb von Februar 1944 bis Juni 1945 in Haft – also noch über den Waffenstillstand vom 8. Mai hinaus –, zuletzt unter der Hoheit der Amerikaner, die die teilweise sehr prominenten Häftlinge verhören wollten. Ihre Erlebnisse hat sie sich in der »Reise durch den letzten Akt«13 unmittelbar nach der Heimkehr in langen Diktaten von der Seele geredet. Es war einer der ersten Berichte aus den Lagern, die in Deutschland erschienen, und er berührte und berührt vor allem durch die tiefe Menschlichkeit der erst siebenundzwanzigjährigen Schreiberin.

Turbulente Jahre mit einschneidenden Erlebnissen und erschütternden Erfahrungen lagen hinter ihr. Sie sind hier absichtlich in nur einem Absatz zusammengefasst, denn einen Bruch in ihrem Leben, der sie dann ins Kloster geführt hätte, wie man es immer wieder unterstellt hat, bedeuteten sie gerade nicht. Die Erkenntnis, dass ihr Weg nicht auf eine Ehe zulief mit den vielen Kindern, die sie sich voll Freude gewünscht hatte, brachte bei allem Schmerz nicht Enttäuschung, von der man sich nicht mehr erholen kann, sondern Sicherheit und Klarheit. Und im KZ fielen dann alle Illusionen über die Natur des Menschen, über das ihm angeborene Gutsein, idealistische Vorstellungen des Bildungsbürgertums, wie sie ihr in den Gesprächen am Familientisch vermittelt worden waren. Doch auch diese Ent-Täuschung ließ keine Bitterkeit zurück, die Anlass zur Weltflucht hätte werden können, sondern enthüllte eine entscheidende Wahrheit. Vor ihrem Mut, sich das Grauen im Lager genau anzuschauen, und unter der Wärme ihres Blicks hatte sich in der Bosheit der Täter oft genug eine tiefe Hilflosigkeit aufgetan: sie hatten sich einem unmenschlichen System ausgeliefert, und nun taten sie, was man von ihnen erwartete. Und auf der anderen Seite erlagen auch die Opfer nicht selten der Versuchung, sich im Schatten der Macht das eigene Schicksal mit Übergriffen auf die Schwächeren zu erleichtern. Isa Vermehren sah, dass Schuldige und Schuldlose nicht so einfach auseinander zu halten waren, und deshalb stellte sie ihrem Bericht die dringliche Bitte um Vergebung aus dem Vaterunser voran.

Der Glaube an das Rousseausche Ideal vom »natürlicherweise ›guten‹ Menschen« (Reise durch den letzten Akt, Vorwort) war ihr in den Monaten der Haft endgültig ausgetrieben worden. Überzeugend und unvergesslich aufgegangen waren ihr dafür der Charakter und der wahrhaft einzigartige Wert dieses so brüchigen Wesens Mensch. »Wollen wir […] einmal wieder in menschenwürdigen Zuständen leben«, schrieb sie im November 1945 im Vorwort zur »Reise durch den letzten Akt«, »so müssen wir zuerst und vor allem anderen uns darauf besinnen, dass der Mensch das Kostbarste ist, was es auf der Welt gibt. Und ich glaube, wir tun gut daran, das vordringlichste Merkmal dieser Kostbarkeit in seiner äußeren, mehr noch in seiner inneren Verwundbarkeit zu erkennen.« Das waren Sätze, in denen mitten in der materiellen und geistigen Trümmerwüste, die das Dritte Reich hinterlassen hatte, Hoffnung und Orientierung aufleuchteten.

Es war schwer, sich in den ersten Jahren nach dem Krieg zurechtzufinden, Inseln zu suchen, an denen man landen, auf denen man leben konnte, nachdem jede Ordnung zusammengebrochen war. Für Isa Vermehren waren das erste Auftritte mit ihrer Ziehharmonika und 1946/47 eine Rolle in dem Film »In jenen Tagen«, in dem Ernst Schnabel und Helmut Käutner von Schicksalen unter der eben vergangenen Naziherrschaft erzählen. Es war Isas erste Charakterrolle, und es wurde ein bedeutender Film, der einzige, auf den sie noch nach Jahren stolz war. Im Juli 1948 schloss sie einen Vertrag mit Werner Finck, der im Juni in Stuttgart sein neues Kabarett, »Die Mausefalle«, eröffnet hatte. Der rote Teppich einer zweiten Karriere schien sich vor ihr auszurollen. Aber da wohnte sie schon in Bonn, wohin sie 1947 gezogen war mit dem Gedanken, Theologie zu studieren, vor allem aber endlich ins Kloster einzutreten. Und wieder wurde sie abgelehnt, diesmal im Herz-Jesu-Kloster in Pützchen bei Bonn, dem Mutterhaus der deutschen Ordensprovinz. Man war grundsätzlich skeptisch gegenüber dem Eifer von Konvertitinnen, und diese hatte noch dazu nichts zu bieten, was der Gemeinschaft nützlich sein konnte. Außerdem war sie mit ihren 29 Jahren zu alt für das Noviziat.

Erst als sie sich auf einer Reise nach England, die ihre Schwägerin Elisabeth ihr vermittelt hatte, der dortigen Provinzoberin mit Erfolg vorstellte, drehte sich der Wind. Denn als Mutter Maria Tiefenbacher, Haus- und Provinzoberin in Pützchen, von dieser Wendung erfuhr, erhob sie energisch Anspruch auf die Bewerberin, die schließlich nach Deutschland gehöre. Und dennoch baute sie eine hohe Hürde vor ihr auf: Zuerst einmal solle sie studieren und ein anständiges Staatsexamen ablegen, denn der Orden brauche gute Lehrerinnen. Lehrerin zu werden, daran hätte Isa nicht mal im Traum gedacht! Zudem ließen ihre eigene lückenhafte Schullaufbahn – nur von 1929–1933 hatte sie kontinuierlich eine öffentliche Schule besucht – sowie die ersten Erfahrungen an der Theologischen Fakultät sie an ihrer Studierfähigkeit eher zweifeln. Aber das eine, das wahre Lebensziel war jetzt so greifbar nahe gerückt, dass sie alle Bedenken beiseite fegte und sofort Ja sagte.

Ihr Vater war bereit, das Studium zu bezahlen, und auf ihre Bitte durfte sie in den letzten zwei Jahren ein Zimmer in Pützchen beziehen, das zum Bereich des Pensionats gehörte. Das ermöglichte ihr, sich – fern von jeder Ablenkung – intensiv auf das Examen vorzubereiten und ebenso aufmerksam all ihre »Antennen und Fühler in die Klosterwelt«12 auszustrecken. So kannte sie bei ihrem Eintritt fast alle der etwa sechzig Klosterfrauen beim Namen, obwohl sie nur mit denjenigen sprechen konnte, die für sie zuständig waren.

Die Gesellschaft vom Heiligsten Herzen Jesu (Société du Sacré Cœur de Jésus), eine französische Gründung aus dem Jahr 1800, war damals noch ein sehr strenger Orden, gegliedert in Chorfrauen, die das lateinische Offizium beteten und als Erzieherinnen in Internat und Schule tätig waren, und Laienschwestern mit einem deutschen Stundengebet und verantwortlich für die praktischen Arbeiten. Dazu gehörte – besonders wichtig für die Versorgung nach dem Krieg – auch eine eigene Landwirtschaft. Für alle galt eine strikte Klausur, das heißt die Ordensfrauen durften das Klostergelände nur in dringenden Fällen verlassen, z. B. für den Besuch beim Zahnarzt, und auch dann nur in Begleitung. Abgesehen vom Apostolat, lebten die Schwestern in tiefem Schweigen. Was für die Arbeit wichtig war, hatte man sich in wenigen Worten, mit leiser Stimme und an einem festgelegten Ort (in den sog. Sprechecken) mitzuteilen. Zwiegespräche gab es nur mit den Vorgesetzten. Auch in den täglichen »Erholungen« konnte die Mitteilungsfreude nicht ausufern, denn da redete man in großer Runde und über ein gemeinsames Thema.

Oft und selbst im Kloster noch wurde Isa Vermehren gefragt, warum sie mit ihrem lebhaften Temperament denn so tief greifende Beschränkungen auf sich nehmen wollte. Und ob sie mit ihrer Musikalität und ihrer ungewöhnlich ausdrucksstarken Stimme ihren Ort nicht besser beim Gotteslob der Benediktinerinnen gefunden hätte. Doch es war der steile Weg, der sie angezogen hatte, die Hingabe in Glaube und Gehorsam, so unvergleichlich vermischt mit hohen intellektuellen Anforderungen. Und dann: lässt sich Liebe erklären? »Ich wollte in diesen Herz-Jesu-Orden eintreten«, sagte sie ihrem Biographen, »die Sache war mir so in die Nase gestiegen wie ein unglaublich schöner, süßer Duft…, das ist so eine Wahl, die trifft man nicht, sondern man wird getroffen. Dieses Sich-für-den-Orden-berufen-Fühlen, das macht man nicht, das findet man plötzlich vor.« (Wegner, S. 220) Nach einem wirklich katholischen Leben hatte sie gesucht, und es war ihr in den Ordensfrauen vom Sacré Cœur in überzeugender Form begegnet, in der inneren Haltung, von der sie so spürbar durchdrungen waren.

Ziel und einziger Grund für das Bestehen dieser Ordensgesellschaft ist die Verehrung des Herzens Jesu. Die Qualitäten dieses Herzens kennen zu lernen und sie für sich zu erschließen, um Christus immer besser nachfolgen zu können – zum eigenen Heil und zu dem der anderen – das steht im Zentrum aller geistlichen Mühen. Die Schwestern versuchen zu begreifen, was Jesus in seinem Tun und Reden bewegt hat. Sie suchen ihn von innen her zu verstehen und ihn so immer mehr zum Maßstab für ihr eigenes Leben und Handeln werden zu lassen, so dass sie nach und nach umgeformt und ihm in seiner Herzensliebe zum Vater und zu den Menschen ähnlich werden. Aus seinem geöffneten Herzen werden sie alles Notwendige schöpfen dürfen, um mit seiner Liebe zu lieben.

Auf diesem geistlichen Weg hat das Gotteslob im Offizium weniger Gewicht als das persönliche Gebet. Deshalb versenkt sich jede Schwester vor der Eucharistiefeier in eine einstündige Betrachtung, die gewöhnlich Abschnitte aus der Hl. Schrift zum Gegenstand hat und den Exerzitien-Anweisungen des hl. Ignatius von Loyola35 folgt. Diese Betrachtung führt sie in die Begegnung mit sich selbst und mit Jesus Christus.

Die »Seele« dieses nach innen gerichteten und auf das Innere hin gesammelten Lebens aber ist das Schweigen, so heißt es in der Ordensregel (Const., Deuxième partie, Chapitre second, XXVI)16. Und auch diese kostbare Gewohnheit muss mühsam und geduldig eingeübt werden. Sie sorgt dafür, dass inmitten der Alltagstätigkeiten die Aufmerksamkeit auf Gott hin gerichtet bleibt, der nur so zur Quelle allen Handelns werden kann. Das Schweigen erhält die innere Sammlung, es bewahrt die Erfahrungen und Eindrücke, die sich im Gebet erschlossen haben, davor, dass sie durch schnelle, unbedachte Worte verwässert oder durch die Vielfalt des äußeren Geschehens zerstreut und schließlich verdrängt werden.

Letztes Ziel eines so reichen und anspruchsvollen Gebetslebens war jedoch nicht das geistliche Wachstum der Ordensfrauen zu ihrem eigenen Heil, sondern die Vorbereitung auf ihre Aufgabe: die Verbreitung der Herz-Jesu-Verehrung in der Welt. Um die Liebe Christi sichtbar zu machen und andere damit anzustecken, mussten die Schwestern sich zuerst ganz von ihr durchdringen und formen lassen. Kontemplation und Apostolat bildeten so eine innere Einheit; damit zählte das Sacré Cœur zu den so genannten gemischten Orden. Neben den drei üblichen Gelübden des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit legten die Ordensfrauen ein viertes ab: sich der Erziehung und Ausbildung von Mädchen zu widmen.

Eine große Schar künftiger Anbeterinnen des Heiligsten Herzens Jesu sah Sophie Barat vor sich, als sie das Sacré Cœur in der Glaubenswüste gründete, die die französische Revolution hinterlassen hatte. Dabei dachte sie nicht zuerst an Nachwuchs für den Orden, sondern vor allem an Frauen, die eine tragende Rolle beim Wiederaufbau einer christlich bestimmten Gesellschaft spielen könnten. Da die Schwestern in Klausur lebten, kamen für diese Aufgabe nur Internate in Frage, eine damals vor allem in Frankreich durchaus übliche Form, in der die Zöglinge genau so abgeschlossen lebten wie die Ordensfrauen selbst.

»Cor unum et anima una in Corde Jesu«, ein Herz und eine Seele im Herzen Jesu, stand auf dem Brustkreuz der Ordensfrauen. Die Überzeugung, dass es auf die Erhaltung dieses einen Geistes ankomme, wenn Gebet und Arbeit Frucht bringen sollten, durchformte die Gesellschaft bis in die Strukturen hinein. Die innere Einheit (unité), die sich im Alltag in einem lebhaften Familiensinn kundtat und in der Anrede »Mutter« für die Vorgesetzten, wurde auch nach außen hin sichtbar. Das galt für die Tracht ebenso wie für den Lebensstil, der sich über die Ordenshäuser aller Länder hinzog (conformité). Wurde eine Ordensfrau ins Ausland versetzt, so fand sie sich doch in einer vertrauten Umgebung wieder, und es war ihr leicht, sich auch hier als Glied des einen Corpus zu fühlen, dessen Leitung der Generaloberin anvertraut war.

Nach dem II. Vatikanischen Konzil zeigten sich in diesem scheinbar intakten Bild sehr bald Risse und Brüche. Die Einheit zerstob vor den Ansprüchen der kirchen- und gesellschaftspolitischen Gegenwart sowie vor der Vielfalt individueller Neigungen und Interessen innerhalb der Ordensgesellschaft, und es begann eine dramatische Auseinandersetzung um die Bewahrung und Fortführung des geistlichen Erbes inmitten der notwendigen und wünschenswerten Neuerungen.

H. B.

* Siehe Nachweise in den Anmerkungen dieses Bandes.