Tägliche Sportstunde an Grundschulen in NRW - Jörg Thiele - E-Book

Tägliche Sportstunde an Grundschulen in NRW E-Book

Jörg Thiele

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dieses Buch beschreibt den Prozess und die Ergebnisse des von der Universität Dortmund wissenschaftlich begleiteten Pilotprojekts "Tägliche Sportstunde an Grundschulen in NRW", in dem versucht wurde, auf der Basis einer breit angelegten Längsschnittstudie unterschiedliche Veränderungen genauer in den Blick zu nehmen. Dabei interessieren die Entwicklungsverläufe der Schülerinnen und Schüler ebenso wie die Entwicklungsverläufe, die die beteiligten Schulen nehmen, wenn es zur systematischen Ausweitung der Bewegungszeiten kommt. Die wissenschaftliche Begleitung nahm also die beteiligten Akteure ebenso in den Blick wie die Institution Schule.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 544

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Edition Schulsport Band 18

Jörg Thiele & Miriam Seyda (Hrsg.)

Tägliche Sportstundean Grundschulen in NRW

Modelle – Umsetzungen – Ergebnisse

Autoren: Jörg Thiele Miriam Seyda Michael Bräutigam Ulrike Burrmann Esther Serwe-Pandrick

Meyer & Meyer Verlag

Herausgeber der Edition Schulsport:

Heinz Aschebrock & Rolf-Peter Pack

Tägliche Sportstunde an Grundschulen in NRW

Modelle – Umsetzungen – Ergebnisse

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie das Recht der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren – ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, gespeichert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2011 by Meyer & Meyer Verlag, Aachen

Auckland, Beirut, Budapest, Cairo, Cape Town, Dubai, Indianapolis,

Kindberg, Maidenhead, Sydney, Olten, Singapore, Tehran, Toronto

Member of the World

Sport Publishers’ Association (WSPA)

eISBN: 9783840330551

E-Mail: [email protected]

www.schuleundsport.de

www.dersportverlag.de

Inhalt

Vorwort der Reihenherausgeber

Einleitung

TEIL I: Theorie und Methode

1 Das Pilotprojekt „Tägliche Sportstunde an Grundschulen in NRW“– Ausgangssituation, Hintergründe und Diskussionsstand

Jörg Thiele

1.1 Veränderungen in der Lebenswelt von Kindern

1.2 Schule als Ort der Bewegungssozialisation

1.3 Forschungs- und Diskussionsstand

2 Theoretische Grundlagen

Miriam Seyda & Michael Bräutigam

2.1 Grundanlage der empirischen Untersuchung

2.2 Untersuchungsebenen

2.2.1 Schülerebene: Koordinative und psychosoziale Dimension

2.2.2 Lehrerebene: Lehrerprofessionalität und Lehrerpersönlichkeit

2.2.3 Handlungspraxis: Schule und Unterricht

3 Methodisches Vorgehen

Miriam Seyda

3.1 Untersuchungsdesign und -stichproben

3.2 Untersuchungsinstrumente bzw. -dokumente

3.2.1 Quantitative Verfahren – Fragebogen

3.2.2 Quantitative Verfahren – Koordinationstest

3.2.3 Qualitative Verfahren – Interview

3.2.4 Dokumentenanalyse und Variablenbildung

Teil II: Ergebnisse der Studie

4 Darstellung der Untersuchungsergebnisse –Akteure und Organisation

4.1 Akteursebene I: Schülerinnen und Schüler – Test und Befragung

Miriam Seyda

4.1.1 Datengrundlage

4.1.2 Ausgangsbedingungen zum ersten Messzeitpunkt (vor Projektbeginn)

4.1.3 Veränderungen in den untersuchten Merkmalen über die Zeit (vom ersten zum vierten Schuljahr)

4.1.4 Effekte der „Täglichen Sportstunde“

4.1.5 Unterschiede hinsichtlich der „Konzeptorientierung“

4.1.6 Einzelschulvergleiche

4.1.7 Zusammenfassung und Diskussion

4.2 Akteursebene II: Lehrerinnen und Lehrer – Befragung

Ulrike Burrmann

4.2.1 Datengrundlage

4.2.2 Rahmenbedingungen der Schule

4.2.3 Selbstwirksamkeit und Belastungen im Lehrerberuf

4.2.4 Einschätzungen zum Sportunterricht

4.2.5 Reflexionen zur „Täglichen Sportstunde“

4.2.6 Zusammenfassung und Diskussion

4.3 Organisationsebene I: Wie Schulen Schule „entwickeln“

Esther Serwe-Pandrick

4.3.1 Vorbemerkung

4.3.2 Voraussetzungen – was prägt Innovationen?

4.3.3 Mitstreiter – wer leistet Entwicklungsarbeit?

4.3.4 Aktivitäten – wie wird der Innovationsprozess gestaltet?

4.3.5 Resultate – welche Veränderungen finden statt?

4.4 Organisationsebene II: Wie Schulen täglich Schule „machen“

Michael Bräutigam

4.4.1 Vorbemerkung

4.4.2 Prozessstrukturen: Das „kleine Einmaleins“ der Projektentwicklung

4.4.3 Organisation – wie gewinnen Schulen zusätzliche Sportstunden?

4.4.4 Unterrichtspraxis – was „läuft“ in der „Täglichen Sportstunde“?

4.5 Organisationsebene III: Entwurf einer Entwicklungstypologie

Jörg Thiele

4.5.1 Grundsätzliches zur Typologisierung

4.5.2 Rahmenbedingungen und Typologisierungskriterien

4.5.3 Verlaufstypen der Projektschulen

4.6 Ergebnisreflexion

Jörg Thiele

Teil III: Entwicklungspraxis

5 Entwicklungsporträts –einzelschulische Umsetzungen der „Täglichen Sportstunde“

Jörg Thiele & Esther Serwe-Pandrick

5.1 Die Grundschule Hohe Mark

5.2 Die Biedenkopf-Grundschule

5.3 Die Grundschule Neusser Straße

5.4 Die Comenius-Grundschule

6 Wege zur täglichen Sportstunde –Hilfestellung zur Konzeption und Umsetzung

Jörg Thiele

6.1 Diagnose – Status quo und Ressourcen

6.2 Konzeptentwicklung

6.3 Hilfen für die Umsetzung – Grundlagen

7 Zusammenfassung/Ausblick

Jörg Thiele

Literatur

Statistischer Anhang

Bildnachweis

Vorwort der Herausgeberder Edition Schulsport

Der vorliegende Band 18 der Edition Schulsport dokumentiert den wissenschaftlichen Abschlussbericht über ein ausgesprochen komplexes Schulentwicklungsprojekt, das im Land Nordrhein-Westfalen in den Jahren 2004 – 2008 durchgeführt wurde und auf die Einführung einer täglichen Sportstunde an ausgewählten Grundschulen abzielte.

Während in den 1990er Jahren bundesweit gerade in den Grundschulen Tendenzen zu einer stärkeren Verankerung von Bewegung, Spiel und Sport in Schulprogrammen und im Schulleben Aufmerksamkeit und Verbreitung in der Schulentwicklung erzielten, ging dieses sehr ehrgeizige nordrhein-westfälische Pilotprojekt vor allem in Bezug auf seinen Eingriff in die Regelungen zur Umsetzung der Rahmenstundentafeln einen deutlichen Schritt weiter: In Fortsetzung der festzustellenden Tendenz zur Etablierung von bewegungsorientierten Schulprofilierungen erhielten nicht weniger als 25 nordrhein-westfälische Grundschulen die behördlich genehmigte Entwicklungsperspektive, den schulischen Sportunterricht über die gesamte Grundschullaufbahn von vier Jahren systematisch zu einer täglichen Sportstunde zu erweitern.

Wissenschaftlich begleitet und evaluiert wurde dieses Pilotprojekt mit sehr differenzierten interdisziplinären Untersuchungsinstrumentarien von einem Forschungsteam der TU Dortmund unter der Leitung von Prof. Dr. Jörg Thiele. Nach internen Zwischenberichten hat dieses Team den hier vorliegenden Endbericht verfasst. Wir freuen uns sehr darüber, dass wir diesen Beitrag in der Edition Schulsport veröffentlichen und damit einen weiteren Impuls zur Stärkung der Schulsportforschung in der Sportpädagogik setzen können.

Eines der herausragenden Ergebnisse des hier dokumentierten Forschungsvorhabens ist sicherlich die positive Einschätzung des Pilotprojekts von Lehrkräften, Schulleitungen, Schülerinnen und Schülern sowie von den Eltern. Dabei wird deutlich, dass für eine in der Breite wirksame Schulentwicklung nicht allein eine programmatische Idee, sondern vor allem deren stetige Umsetzung in den Einzelschulen mit ihren jeweils konkreten Bedingungen und den vor Ort handelnden Personen entscheidend ist.

Aufgrund der Vielzahl von Hinweisen auf Gelingensbedingungen in beteiligungsoffenen Schulentwicklungsprozessen an Einzelschulen, die in den Untersuchungsergebnissen zu finden sind, richtet sich dieser Band nicht nur an wissenschaftlich interessierte Personengruppen in den Hochschulen, sondern vor allem auch an Entscheidungsträger und Mitwirkende in derartigen Schulentwicklungsprozessen.

Das Pilotprojekt „Tägliche Sportstunde an Grudschulen in NRW“ wurde zu Beginn von allen im nordrhein-westfälischen Landtag vertretenen Fraktionen beschlossen, im weiteren Verlauf von zwei Landesregierungen politisch-administrativ gesteuert und von starken Trägern (Landessportbund NRW, Landesverband der Betriebskrankenkassen NRW und Unfallkasse NRW) maßgeblich inhaltlich und finanziell unterstützt. Es wird interessant sein zu beobachten, wie die nunmehr vorliegenden Projektergebnisse in der weiteren Schul- und Schulsportentwicklung im Land Nordhrein-Westfalen fruchtbar werden und ob sie auch eine bundesweite Aufmerksamkeit finden.

Heinz Aschebrock und Rolf-Peter Pack

Einleitung

Im Zuge der Diskussionen um die sich verändernden Lebenswelten von Heranwachsenden spielt der Bereich von Bewegung, Spiel und Sport seit etwa Mitte der 1990er Jahre eine zunehmend prominenter werdende Rolle. Der Verlust von ehemals vorhandenen Bewegungsräumen, der rapide Bedeutungszuwachs konkurrierender Freizeitaktivitäten (insbesondere in Form der Medien) und daraus mutmaßlich sich herleitende Veränderungen im Gesundheitsstatus der Kinder und Jugendlichen bilden dabei die Grundlagen für insgesamt bedrohliche Szenarien zukünftiger Entwicklungen. Nimmt man diese Veränderungen ernst, dann ergibt sich zwangsläufig auch die Frage danach, wie solchen Entwicklungsprozessen gegengesteuert werden kann. Ein – vielleicht sogar der – zentrale Ort der Einflussnahme auf Kinder und Jugendliche ist traditionell die Schule. Dies gilt auch für den Bereich von Bewegung, Spiel und Sport. So haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten auch immer wieder Initiativen stattgefunden, die in der einen oder anderen Form eine möglichst dauerhafte Stärkung, Intensivierung oder Ausweitung des Schulsports zum Ziel hatten. Eine – wie sich noch zeigen wird – gar nicht so neue Idee basiert dabei auf dem Versuch einer systematischen Ausweitung des schulischen Sportunterrichts, wohl besser bekannt unter dem Schlagwort der Forderung nach einer „Täglichen Sportstunde“. Das vorliegende Buch wendet sich dieser Thematik nun systematisch zu.

Den Ausgangspunkt dazu bietet ein landesweites, wissenschaftlich begleitetes Projekt, das auf Wunsch der Landesregierung in NRW unter Zustimmung aller Fraktionen des Landtags an 25 Grundschulen des Landes von 2004-2008 durchgeführt wurde. In Fortsetzung des Trends zur Etablierung von bewegungsorientierten Schulprofilierungen sollten die beteiligten Schulen Konzepte zur Umsetzung einer täglichen Sportstunde bzw. täglichen, systematischen Bewegungszeit entwickeln und an ihren Schulen realisieren. Gelingen konnte diese umfangreiche Maßnahme nur durch die zusätzliche Unterstützung der begleitenden Trägerorganisationen (Landessportbund NRW, Landesverband der Betriebskrankenkassen NRW, Unfallkasse NRW). Da von Beginn an die Option einer Ausweitung der Grundidee nach der Durchführung der Pilotphase angedacht war, wurde versucht, durch die Auswahl der Projektschulen eine möglichst angemessene Abbildung der Grundschullandschaft in NRW zu erreichen.

Von Anfang an war das Projekt zentral mit dem Gedanken der Schulentwicklung bzw. Schulsportentwicklung verbunden. Angesichts der eingangs skizzierten Diskussionen kommt der Schule als dem einzigen Ort in unserer Gesellschaft, an dem alle Kinder noch systematisch erreicht werden können, eine ganz besondere Bedeutung und Verantwortung zu. Der Aufmerksamkeitsfokus für ein Projekt „Tägliche Sportstunde“ sollte also entsprechend sowohl auf die beteiligten Akteure (Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Eltern) als auch auf dahinter stehende Organisationen bzw. Institutionen ausgerichtet werden. Folgerichtig werden in der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts auch sehr unterschiedliche Entwicklungsdimensionen auf der Akteurs- und Organisationsebene systematisch untersucht. Damit erhält das Projektdesign eine komplexe Struktur. Nur auf diesem Weg scheint aber eine Annäherung an die in der Realität ablaufenden Entwicklungsprozesse gewährleistet.

Getragen ist das Projekt zudem konsequent von der Idee der Einzelschulentwicklung. Auch wenn die „Einzelschule“ im Verlauf der bildungswissenschaftlichen und -politischen Diskussionen der letzten Jahre etwas in den Hintergrund gedrängt worden ist, so hat sich dennoch nichts an der Grundeinsicht geändert, dass konkrete Entwicklungsprozesse immer „vor Ort“ umzusetzen sind. Eine Idee, wie die einer „Täglichen Sportstunde“, kann zwar als übergeordneter Leitgedanke formuliert und mit einigen Rahmenvorgaben versehen werden, die Umsetzung der Idee geschieht aber immer an der einzelnen Schule mit ihren je spezifischen Kontextbedingungen.

Aus diesem Grund wurde in der Projektanlage konsequent darauf verzichtet, ein von außen an die Schulen herangetragenes Konzept zum Gegenstand einer verbindlichen Umsetzung für alle beteiligten Schulen zu machen. Stattdessen gehörte es zur expliziten „Projektphilosophie“, die Konzeptentwicklung den einzelnen Schulen zu überlassen, da nur die einzelne Schule die konkreten Rahmenbedingungen vor Ort in ihren Potenzialen und Begrenzungen angemessen einzuschätzen vermag. Auch damit ist eine erhebliche Komplexitätssteigerung impliziert, denn erwartungsgemäß haben die Schulen sehr unterschiedliche Konzepte der Umsetzung entwickelt und realisiert.

Folgerichtig ist das Projekt als ein Evaluationsprojekt angelegt und nicht als ein klassisches Interventionsprojekt. Zwar wird eine Intervention – die Einführung einer „Täglichen Sportstunde“ – begleitet, die Intervention stellt sich aber in jeder Schule anders dar und folgt so nicht dem klassischen Interventionsparadigma, der Evaluation einer in ihren Elementen genau definierten und damit auch gut vergleichbaren Maßnahme (z. B. in Form eines in allen Schulen durchgeführten Trainingsprogramms).

Eine Projektanlage, wie die soeben skizzierte, hat durchaus auch forschungsstrategische und pragmatische Nachteile, über die der Ergebnisteil auch Auskunft erteilt. Sie hat aber auch bedeutsame Vorteile, die aus unserer Sicht überwiegen und daher auch zur Entscheidung für diesen Weg geführt haben.

Das vorliegende Buch ist in drei große Teile gegliedert, die die jeweiligen thematischen Schwerpunkte benennen. Der erste Teil des Buches versucht einen theoretischen Aufriss des Gegenstands „Tägliche Sportstunde“ sowie die Beschreibung des in der Untersuchung benutzten methodischen Inventars (Kap. 1-3). Theoretisch wird die aktuelle Bedeutung des Themas an gesellschafts- und schultheoretische Diskurse geknüpft, wobei allerdings auch deutlich wird, dass das Thema über eine durchaus beachtliche Tradition verfügt. Dem stehen allerdings bislang sowohl national wie international nur vereinzelte empirische Befunde gegenüber. Vor diesem Hintergrund werden dann die Fragestellungen und Schwerpunkte der eigenen empirischen Untersuchung entwickelt und theoretisch begründet, bevor zum Abschluss des ersten Teils die zur Beantwortung der Forschungsfragen ausgewählten Untersuchungsinstrumente vorgestellt werden.

Der zweite Teil ist der ausführlichen Darstellung der empirischen Ergebnisse der vierjährigen Längsschnittstudie gewidmet (Kap. 4). Durch den Einsatz unterschiedlicher methodischer Verfahren und Analyseebenen ergibt sich ein komplexes Bild. Unterschieden werden dabei die Ebene der Akteure und die Ebene der Organisation. Auf der Akteursebene interessiert einerseits die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler in unterschiedlichen Dimensionen (Kap. 4.1), aber auch die Sichtweisen und Einschätzungen der am Projekt beteiligten Lehrkräfte (Kap. 4.2). Die Organisationsebene nimmt demgegenüber die einzelne Schule und ihren Entwicklungsweg über die vier Jahre in den Blick. Unterschieden werden hier zum einen die Prozesse der Entwicklung von Organisationsstrukturen (Kap. 4.3) und die Aktivitäten der Lehrkräfte bei der Umsetzung des Konzepts der „Täglichen Sportstunde“ in die alltägliche Handlungspraxis (Kap. 4.4). Anschließend folgt der Versuch, auf der Grundlage der vorhandenen Daten eine Systematisierung der einzelschulischen Entwicklungsverläufe in Form einer Schultypologie zu entwerfen (Kap. 4.5). Am Ende der vielschichtigen und insgesamt komplexen Ergebnisdarstellung steht dann eine Reflexion und Einordnung der gefundenen Ergebnisse (Kap. 4.6).

Der dritte und letzte Teil des Buches (Kap. 5 und 6) basiert auf den vorhergehenden Überlegungen, legt den Aufmerksamkeitsfokus aber nun auf die Entwicklungspraxis. Die Absicht dieses Teils ist eine doppelte. Einerseits soll mit Blick auf den möglichen Nutzen von Forschung im Bereich der Schulsportentwicklung ein Beispiel für die Konstruktion anwendungsorientierten Wissens gegeben werden. Darüber hinaus dienen die Darstellungen aber auch insofern der konkreten Schulsportentwicklung, als interessierte Schulen hier Ratschläge und Hinweise finden können, wie sich die Idee einer „Täglichen Sportstunde“ in die alltägliche Realität vor Ort transformieren lässt. In einem ersten Schritt werden dazu Entwicklungsprozesse in Form von Porträts prototypisch nachgezeichnet (Kap. 5).

Die vier Porträts werden dabei bewusst und systematisch variiert, um einerseits die Vielfalt zu dokumentieren, andererseits aber auch Schulen konkrete Identifikations- und Anschlusschancen zu offerieren. Den Abschluss bildet schließlich eine – wenn man so will, zu „Erfahrungswissen“ verdichtete – Sammlung von Hinweisen und Ratschlägen, die Schulen bei der Realisierung vor Ort hilfreiche Dienste erweisen können (Kap. 6). Das Rad, so die Botschaft dieses Kapitels, muss nicht immer neu erfunden, trotzdem aber selbst hergestellt werden.

Mit der Publikation dieses Buches findet ein nunmehr sechsjähriger Forschungsprozess seinen vorläufigen Abschluss. Es ist offen, ob die Idee einer „Täglichen Sportstunde“ dieses Mal über den „Projektstatus“ hinausgelangt und eine größere Zahl von Schulen erreichen kann. Einige Vorzeichen deuten in diese Richtung, andere eher nicht. Nimmt man die bislang vorliegenden empirischen Erkenntnisse zusammen, dann gibt es keinen erkennbaren Grund, warum es interessierten und lernbereiten Schulen nicht möglich oder erlaubt sein sollte, eine derartige Profilierung in Angriff zu nehmen.

Neben den Autorinnen und Autoren sind immer auch viele andere an der Realisierung eines solchen Produkts beteiligt. Ihnen gebührt zum Schluss unser Dank, da ohne sie vermutlich nicht einmal der Buchdeckel existieren würde.

Da sind zum einen und unverzichtbar natürlich die beteiligten Schulen mit allen ihren Akteuren zu nennen, die sich dem Wagnis einer „Täglichen Sportstunde“ und den Zumutungen einer wissenschaftlichen Begleitung gleichermaßen unterzogen haben. Da sind zudem die eingangs benannten, begleitenden Träger des Projekts, ohne deren beträchtliche finanzielle, aber auch inhaltliche Unterstützung das Projekt ebenfalls nicht hätte realisiert werden können. Hans-Georg Uhler-Derigs als dem Koordinator der Steuergruppe sei hier stellvertretend und namentlich für seine fast ständige Erreichbarkeit gedankt.

Namentlich seien zum Schluss auch die studentischen Mitarbeiter genannt, die über den Zeitraum der wissenschaftlichen Begleitung in unterschiedlichen Funktionen das Getriebe am Laufen hielten: Andrea Rösener, Dajana Sbosny, Marion Walter und Julia Weber.

TEIL I:

Theorie und Methoden

1 Das Pilotprojekt„Tägliche Sportstunde anGrundschulen in NRW“ –Ausgangssituation, Hintergründeund Diskussionsstand

Von Jörg Thiele

Das Pilotprojekt „Tägliche Sportstunde an Grundschulen in NRW“ entstand auf Initiative des Ministeriums für Schule und Weiterbildung NRW und des Engagements verschiedener Trägerorganisationen (Betriebskrankenkasse NRW; Landessportbund NRW; Unfallkasse NRW). Dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt vor dem Hintergrund bestimmter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen aus der Taufe gehoben wurde, ist sicher kein Zufall. Im nachfolgenden einleitenden Kapitel sollen einige dieser Rahmungen mit dem Ziel skizziert werden, die daraus sich ergebenden Konsequenzen für die Konzeption und das Design des Forschungsprojekts besser nachvollziehen zu können. Dies soll in drei Schritten geschehen. Zunächst werden Veränderungen in der Lebenswelt von Kindern betrachtet, die vor allem im Kontext des zunehmend auch ins gesellschaftliche Bewusstsein rückenden Themas des Bewegungsmangels diskutiert werden (vgl. Kap. 1.1). Schule erweist sich dabei als der Ort, an dem Bewegung systematisch und verpflichtend für alle Kinder zum Gegenstand gemacht werden kann.

Der spezifischere Fokus auf die Schule zeigt in einem zweiten Schritt, dass die Einbeziehung der an einer schlichten Defizitperspektive orientierten Thematik Bewegungsmangel zwar notwendig ist, aber nicht hinreichend, um die konstruktiven sport- und schulpädagogischen Dimensionen der Bewegungsthematik auch mit Ziel einer Ausweitung innerhalb der Institution Schule angemessen zu erfassen und zu begründen (vgl. Kap. 1.2).

Der dritte Schritt schließlich unternimmt im Sinne einer noch engeren Fokussierung eine Zusammenschau des bisherigen (inter-)nationalen Forschungsstands zur Frage der systematischen Ausdehnung von Bewegungszeiten bzw. Sportunterricht (Kap. 1.3).

1.1 Veränderungen in der Lebenswelt von Kindern

Niemand wird ernsthaft in Frage stellen können, dass moderne Gesellschaften eine enorme Entwicklungsdynamik produzieren. Technisierung, Medialisierung, Ökonomisierung oder Globalisierung sind nur einige der Schlagworte, die solche Prozesse gleichermaßen bezeugen wie mit vorantreiben. Die Dynamik scheint sich dabei stetig zu erhöhen und ein Ende ist offenbar nicht in Sicht. Angekoppelt an diese Avantgarde der Entwicklung sind auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungsprozesse, die allerdings – so hat es den Anschein – anderen Veränderungsgeschwindigkeiten unterliegen. So benötigen beispielsweise politische Entscheidungsprozesse nach wie vor vergleichsweise viel Zeit, von deren Umsetzung gar nicht zu reden. Während moderne Kapitalmärkte mittlerweile fast seisomografisch auf kleinste Veränderungen im Minutentakt reagieren, benötigen Planfeststellungsverfahren zur Entwicklung infrastruktureller Maßnahmen immer noch Jahre oder Jahrzehnte. Konstatierbar ist demnach eine wachsende Asychronizität in den Teilsystemen moderner Gesellschaften, die immer größere Differenzen zwischen den Teilsystemen moderner Gesellschaften zur Folge haben.

Trotz dieser Unterschiede, die auf der Wahrnehmungsseite zu nicht unerheblichen Problemen führen, verändern sich auch die „Lebenswelten“ der Menschen in modernen Gesellschaften langsamer zwar als in den oben skizzierten Prozessen, aber vermutlich auch schneller als die Lebenswelten vergangener Generationen. Die „relative“ Langsamkeit lebensweltlicher Veränderungen führt, wie angedeutet, auch zu Problemen ihrer angemessenen Wahrnehmung, sodass Beschreibungen derartiger Prozesse zumeist mit einiger zeitlicher Verzögerung erfolgen, von Konsequenzen noch gar nicht zu reden.

Diese Feststellung gilt ohne Einschränkung auch für die Prozesse, die mittlerweile im Kontext der Veränderung der Lebenswelten von Kindern fast standardmäßig beschrieben werden. Seit mehreren Jahrzehnten – und hier zeigen sich schon die zeitlichen Maßstäbe – finden Veränderungsprozesse statt, die in der jüngeren und jüngsten Vergangenheit – vielleicht seit zwei Jahrzehnten – zu massiven und essenziellen Umstrukturierungen der Lebenswelten von Kindern führen, ohne dass über die daraus sich ergebenden Konsequenzen bereits Klarheit bestünde (vgl. z. B. Fölling-Albers, 1992; Fölling-Albers, 2001; Rohlfs, 2006). Das eindringlichste Beispiel dafür liefert wohl der sogenannte Prozess der Medialisierung. Es ist bereits ein Vierteljahrhundert her, dass Neil Postman mit Blick auf den Siegeszug des Fernsehens vom „Verschwinden der Kindheit“ gesprochen hat (1983) und von den „neuen Medien“ überhaupt noch keine Rede war. Gerade der Prozess der Medialisierung führt die Ungleichzeitigkeit technologischer Entwicklungen, lebensweltlicher Umstrukturierungen und gesellschaftlicher Reaktionsgeschwindigkeiten drastisch vor Augen. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Handys auch bei Kindern und Jugendlichen, einschließlich der damit einhergehenden Veränderung von Kommunikationsgewohnheiten, mag als bislang letztes Beispiel für diese Entwicklung genügen (vgl. KIM-Studie, 2008).

Der entscheidende Punkt bei dieser Betrachtung ist, dass in den letzten Jahrzehnten und Jahren massive Veränderungsprozesse innerhalb der Lebenswelten von Kindern stattfinden, deren gesellschaftliche Wahrnehmung aber in aller Regel mit erheblicher zeitlicher Verzögerung geschieht, sodass bei problematischen Entwicklungen das Kind – im wahrsten Sinne des Wortes – schon am Rand des Brunnens steht, bevor die prekäre Situation überhaupt zur Kenntnis genommen wird.1 Bezogen auf den in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückten Aspekt des Bewegungsmangels, der im Folgenden noch genauer umrissen werden soll, werden insbesondere zwei Tendenzen der Veränderung kindlicher Lebenswelten als Mitverursacher ins Feld geführt: die Umstrukturierung der räumlichen Umwelten und die schon genannte Medialisierung.

Der Prozess der Medialisierung durchzieht unsere Gesellschaft seit mehr als einem halben Jahrhundert, wenn man darunter die flächendeckende Verbreitung der elektronischen Medien versteht. Zunächst auf die Erwachsenenwelt begrenzt, sind die elektronischen Medien dabei, sich auch die Lebenswelten von Jugendlichen und zunehmend auch von Kindern zu erobern. Ausgehend vom Fernsehen, über Video, Computer, Internet und Handy, kann man von einer extrem schnell steigenden Ausbreitung sprechen. Fernsehen und Video befinden sich heute in jedem Haushalt, oftmals besitzen Kinder eigene Fernseher, die Ausbreitung von Computer und Internet ist auf dem Vormarsch und die Verbreitungsgeschwindigkeit von Handys schlägt alles bislang Bekannte – es ist also durchaus angezeigt, von einer zunehmenden Medialisierung auch schon der kindlichen Lebenswelt zu sprechen, dabei allerdings auch einen differenzierten Blick zu bewahren (vgl. KIM, 2008, S. 63ff.). Anders liegen die Dinge wie immer, wenn man von der Deskription zur Bewertung kommt. Wir umgehen diese Problematik, indem wir uns auch hier auf eine Beschreibung der normativen Einschätzungen beschränken. Diese fallen weitgehend negativ aus, indem sie die unerwünschten Konsequenzen des Medienkonsums in den Vordergrund rücken. Bezogen auf den Bewegungsmangel, werden hier zum einen quantitative Argumente ins Feld geführt, da die im Kontext von Medien genutzte Zeit einer potenziellen Bewegungszeit verloren geht, zum anderen auch qualitative Argumente, die die reduzierte Form der Auseinandersetzung mit der Umwelt ins Feld führen. Die passiv-konsumierende und sinnlich-reduzierende Haltung wird als den kindlichen Entwicklungs- und insbesondere Bewegungsbedürfnissen wenig angemessen dargestellt (vgl. die Diskussion zusammenfassend Burrmann, 2005).

Die Veränderung der räumlichen Umwelten ist eine zweite zentrale Dimension der Veränderung kindlicher Lebenswelten (vgl. z. B. Dietrich, 1996; Schmidt, 2006, S. 50ff.). Auch hier werden sehr unterschiedliche Prozesse beschrieben, die innerhalb der Kindheitsforschung häufig mit dem Etikett der „Verhäuslichung“ versehen werden. Im Vergleich zu ehemals eher außerhalb der eigenen Wohnung stattfindenden Prozessen kindlicher Sozialisation (z. B. „Straßenkindheit“) haben sich auch hier innerhalb der letzten Jahrzehnte eindeutige Tendenzen zu einer zunehmenden Verlagerung dieser Prozesse in die eigenen vier Wände feststellen lassen (vgl. Schmidt, 1998, S. 115ff.). Sowohl die neu entstandenen Optionen durch mehr zur Verfügung stehenden Wohnraum als auch der Verlust von einer ehemals offenen Nutzung zugänglichen Flächen oder Straßen durch zunehmende Bebauung oder Versiegelung haben zu dieser Entwicklung geführt, die in ihrer Grundtendenz auch eher als negativ bewertet wird.

Bezogen auf die Bewegungsmöglichkeiten von Kindern, wird in der „Verhäuslichung“ auch ein Veränderungsprozess identifiziert, der einem Bewegungsmangel Vorschub leistet. Plausibilisiert wird diese Einschätzung nicht allein durch die Optionenvielfalt, die eine räumliche Umwelt außerhalb der Wohnung bietet, sondern auch durch die Notwendigkeit zur Bewegung, die allein durch die räumlichen Abstände und Wege quasi erzwungen wird. Wird die „Draußenkindheit“ so als Bewegungskindheit verstanden, so wird die „Drinnenkindheit“ mit einer „Stubenhockerkindheit“ gleichgesetzt.

Veränderungen in der Lebenswelt von Kindern sind also in beträchtlichem Ausmaß auch Veränderungen der Bewegungswelt von Kindern, die in der Konsequenz zu einem Bewegungsmangel von Kindern führen. Die These des Bewegungsmangels wird insbesondere im Rahmen von sportwissenschaftlichen Diskussionen seit ein bis zwei Jahrzehnten mit unterschiedlicher Intensität geführt2, sie hat aber in den letzten Jahren auch durch eine erhebliche und kontinuierliche Resonanz in den Massenmedien massiv an Aufmerksamkeit gewonnen.

Es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, das Phänomen „Bewegungsmangel“ genauer zu spezifizieren oder zu definieren (vgl. dazu Kretschmer, 2003). Wie häufig beobachtbar in solchen, auch medial geformten Diskussionen, verliert das Phänomen zunehmend an Klarheit und Eindeutigkeit und wird mit anderen, zum Teil völlig disparaten Phänomenen vermischt. Behauptet wird dann nicht mehr nur ein Mangel an Bewegung, sondern auch Übergewicht oder Faulheit (vgl. kritisch Schorb, 2009).

Auch wenn es im Wesentlichen diese medialen Diskurse sind, die die gesellschaftliche Aufmerksamkeit steuern, so zeigt doch auch ein Blick auf den sportwissenschaftlichen Diskurs, dass sich die These vom Bewegungsmangel auch empirisch zu erhärten scheint. Auch wenn empirisch immer noch einige, zum Teil wesentliche Fragen offen sind, so lassen sich dennoch deutliche Tendenzen nicht verleugnen, die für eine seriöse Auseinandersetzung mit der Problematik sprechen. Entscheidend für die sowohl gesellschaftspolitische wie auch wissenschaftliche Thematisierung dieses Feldes dürfte der Blick auf die gesundheitlichen Risiken und Konsequenzen sein, die dem Thema Bewegungsmangel inhärent sind.

Am deutlichsten wird dies in der zunehmend konstatierbaren Verknüpfung der beiden Diskussionsstränge um Bewegungsmangel einerseits und Übergewicht andererseits (vgl. zusammenfassend Bünemann, 2008). Auch wenn die Gründe für Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen insgesamt vielschichtig sind und Bewegungsmangel nur eine mögliche Ursache darstellt, so ergibt sich andererseits in der Kombination mit dem Ernährungsverhalten über Bewegung eine wesentliche Möglichkeit der Intervention und Bekämpfung von Übergewicht. Bewegungsmangel wird damit zum „ernsthaften“ Gesundheitsproblem.

Blickt man nun einmal etwas genauer auf die Bewegungswelten von Kindern und Jugendlichen, so lassen sich im Grunde drei unterschiedliche Bewegungsfelder identifizieren: der Alltagsbereich, der organisierte Sport und die Schule. Auch wenn sich mit Blick auf den organisierten Sport deutliche Zuwächse der Partizipation nachweisen lassen, die sogar zur Rede von einer „sportiven Kindheit“ geführt haben und auch wenn Schule durch die regelmäßigen Schulsportangebote Bewegungsmöglichkeiten bietet, so zeigen die vorliegenden empirischen Ergebnisse doch, dass dies zur Kompensation der veränderten Bedingungen der Lebenswelten nicht ausreichend zu sein scheint.

Spätestens an diesem Punkt ist aber eine wichtige Differenzierung vorzunehmen: Die bislang eher pauschal für „die Kinder“ dargestellten Entwicklungen und Veränderungen variieren erheblich in Bezug auf soziostrukturelle Rahmenbedingungen, wie z. B. Schicht – Milieu – Lebenslage, Geschlecht, Ethnie. Mit anderen Worten fallen die konstatierten Entwicklungen sehr unterschiedlich aus, je nachdem, ob eine Kindheit behütet und unterstützt in einem sozial stabilen Umfeld oder ob sie in einem sogenannten „sozialen Brennpunkt“ gelebt wird (vgl. z. B. Alt, 2005). Auch im Hinblick auf das Thema Bewegungsmangel kommt es, soziostrukturell betrachtet, so zu einer Akkumulation von Nachteilen oder Vorteilen in den entsprechenden Gruppen.

Fragt man nun nach Möglichkeiten, wie man mit dem Bewegungsmangel umgehen, d. h., wie man ihn kompensieren kann, so bieten sich im Prinzip die oben genannten Felder an, in denen Bewegung stattfindet. Eine systematische, gesellschaftlich gesteuerte und durchgängige Veränderung der Strukturen der Lebenswelt erscheint dabei als pure Illusion. D. h. nicht, dass auch dort punktuell interveniert werden könnte, z. B. durch die politische Entscheidung, mehr Spielstraßen in innerstädtischen Bezirken auszuweisen.3

Allerdings ist die Auswirkung solcher Interventionen völlig unkalkulierbar, wie etwa Beobachtungen der Nutzung von öffentlichen Bolz- oder Spielplätzen zeigen. Lebensweltliche Verhaltensweisen sind nur begrenzt intentional beeinflussbar. Eine Steigerung der Partizipationsraten des organisierten Sports ist natürlich bei entsprechenden Maßnahmen denkbar, doch bleibt auch hier zu bedenken, dass die Raten insbesondere in der späteren Kindheitsphase bereits sehr hoch sind, weitere Steigerungen also sehr aufwendig sein dürften, zudem – und sehr viel wichtiger – der organisierte Sport auch soziostrukturell selektiv ist, d. h., bestimmte Gruppen mehr anspricht als andere. Die „Risikogruppen“ werden durch den organisierten Sport offenbar auch nur unvollständig erreicht.

Bleibt die Schule als Ort möglicher Interventionen. Auch wenn man die Schule ganz sicher nicht zur Reparaturstätte für gesellschaftliche Fehlentwicklungen machen sollte, so bleibt dennoch nüchtern festzustellen, dass die Schule in unserer Gesellschaft der einzige Ort ist, an dem alle Kinder erreicht werden können, insbesondere auch jene Kinder, die von anderen freiwilligen Institutionen kaum erreicht werden. Es ist zudem der politisch verankerte Auftrag von Schule, auch die Gesamtentwicklung der Kinder zu fördern und in die Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur einzuführen. Diesem Auftrag versucht Schule durch verschiedene Bewegungsangebote, verpflichtend dabei der Sportunterricht, nachzukommen. Mit Blick auf das bisher betrachtete Phänomen des Bewegungsmangels stellt sich die Frage, ob bzw. wie Schule auf diese neue Herausforderung reagieren könnte.

1.2 Schule als Ort der Bewegungssozialisation

Der sogenannte Doppelauftrag, der mittlerweile in viele Lehrpläne und Richtlinien in Deutschland Einzug gehalten hat, verpflichtet Schulen auf ein Bewegungsangebot, das sowohl in die Bewegungskulturen einführt als auch die individuellen Entwicklungspotenziale entfalten hilft. Wenn – wie gesehen – die individuellen Entwicklungspotenziale im Kontext von Bewegung durch die Veränderung der lebensweltlichen Kontexte bedroht erscheinen, dann spricht dies auch für ein intensiviertes Engagement von Schule im Bewegungsbereich. Das ist das kompensatorische Argument. Schule und auch Schulsport sind jedoch gut beraten, nicht allein kompensatorisch zu argumentieren, denn es gibt auch konstruktive Argumente, die für eine Intensivierung von Bewegung, Spiel und Sport in Schulen sprechen.

Eine wichtige Argumentationslinie kommt dabei aus der Richtung der Schulentwicklung. Etwa seit Beginn der 90er Jahre hat auch im deutschen Bildungsraum ein Prozess begonnen, der mit dem Begriff der „Einzelschulentwicklung“ beschrieben werden kann (vgl. z. B. Dalin, 1999; Rolff, 2007). Eng verknüpft mit diesem Ansinnen, der jeweils einzelnen Schule vor Ort mehr Gestaltungsspielräume für die Entwicklung eigener schulpädagogischer Konzepte zu gewähren, ist die Idee der Profilbildung von Schulen. Im Zuge einer zunehmenden Autonomisierung sollte die einzelne Schule in die Lage versetzt werden, innerhalb von vorgegebenen allgemeingültigen Rahmenbedingungen und orientiert an den je individuellen Schwerpunkten und Zielvorgaben, sich selbst ein besonderes Gesicht zu geben.

Eine Profilierungsrichtung, die sich im Verlauf der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts zumindest im Bereich der Grundschule herauskristallisierte, war die Idee der bewegungsfreudigenSchule (z. B. Illi, 1993; Klupsch-Sahlmann, 1995; Müller, 1999). Sicher auch vor dem Hintergrund der eingangs skizzierten Veränderungen in den kindlichen Lebensbedingungen, aber ganz sicher auch gestärkt durch die Chancen, die in einer Intensivierung von Bewegungsangeboten innerhalb der Schule liegen können, haben sich unterschiedliche Varianten der Bewegungsorientierung an Schulen zunehmend etabliert.

Ein besonderes Augenmerk wurde dabei zum einen auf die Etablierung außerunterrichtlicher, freiwilliger Schulsport- und Bewegungsangebote gerichtet, zum anderen gewann auch der generelle Zusammenhang von „Lernen und Bewegung“ quer durch alle Fächer, u. a. auch durch Argumente aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen, zunehmend an Bedeutung, sodass weit über den normalen Sportunterricht hinaus Bewegung als ein Prinzip gesamtschulischer Entwicklung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte.

Als prekär erwies sich im Kontext dieser Entwicklungen indes der Status des Sportunterrichts selbst, wurden doch auch Stimmen laut, die durch die Verankerung eines „Prinzips Bewegung“ an den betroffenen Schulen eine potenzielle Selbstabschaffung des Faches Sport befürchteten. Diese Befürchtung scheint jedoch insofern unbegründet, als mit dem Fach Sport zum Ersten ein spezifischer und deutlich artikulierter Erziehungsauftrag verbunden ist und zum Zweiten allein der Sportunterricht in seinem verpflichtenden Charakter alle Schülerinnen und Schüler erreichen kann. Im Gegenteil scheint es vor dem Hintergrund der oben skizzierten Zusammenhänge überlegenswert, der Schule eine noch intensivere Zuwendung zum Thema Bewegung anzuraten, da damit – wie durch die unterschiedlichen Argumente ersichtlich – die Schule auf verschiedene Herausforderungen in Form einer konstruktiven Weiterentwicklung von Schulprofilen reagieren könnte.

Anknüpfungsmöglichkeiten dazu bieten sich sowohl in einen Positionspapier der KMK zur Entwicklung des Schulsports wie auch in den Überlegungen zur Qualitätsentwicklung im Schulsport NRW. Eine Realisierungsoption aus diesen eher allgemeinen Strategieüberlegungen stellt die Idee eines Pilotprojekts zur „Täglichen Sportstunde“ in NRW dar. Der Grundgedanke, jeden Tag eine systematisch angeleitete und verpflichtende Bewegungszeit an den betreffenden Schulen einzuführen, ist dabei so neu nicht (vgl. genauer Kap. 1.3).

Die Forderung nach der „Täglichen Sportstunde“ taucht seit Jahrzehnten immer wieder einmal auf, wurde allerdings bisher eher selten und allenfalls sporadisch umgesetzt. Abgesehen von einem aus finanziellen Gründen abgebrochenen Projekt in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Hamburg und einem kaum bekannten Versuch etwas später in Nordhessen, hat bislang allein der Modellversuch an einer Grundschule in Bad Homburg in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts eine größere Öffentlichkeitswirksamkeit erreicht.

Dieses zunächst auch über vier Jahre wissenschaftlich begleitete Projekt (vgl. Obst-Kitzmüller & Bös, 2002) wurde auch nach Projektende fortgesetzt, was vor allem auf das Engagement der beteiligten Schule und der Eltern zurückzuführen ist. Die positive Evaluation dieses Versuchs hebt stark auf die Entwicklung der motorischen Fähigkeiten der beteiligten Schülerinnen und Schüler ab, was einer Stützung des eher kompensatorischen Arguments dienen könnte. Die innerschulische Wahrnehmung einer durchweg positiven Veränderung von Schulkultur und Lernklima durch die beteiligten Akteure, die schließlich auch zu einer freiwilligen und finanziell nicht weiter unterstützten Fortsetzung des Projekts und Festschreibung im Schulprogramm führten, sprechen zudem für eine Bedeutsamkeit der schulpädagogischen Argumentationslinie.4

Unter Bezugnahme auf diese Vorerfahrungen und die zuvor entwickelten, theoretisch geleiteten Überlegungen drängte sich auch für eine Weiterentwicklung eines Konzepts der „Täglichen Sportstunde“ ein mehrdimensionaler Ansatz auf. Angesichts der vorliegenden Erkenntnisse aus den anderen Feldern der Bewegungssozialisation von Kindern und Jugendlichen scheint eine alleinige Orientierung an einem kompensatorischen Konzept der Bewegungsintensivierung an Schulen nur unter idealtypischen Bedingungen einlösbar.

Die Ergänzung des schulischen Angebots um zwei Bewegungsstunden pro Woche kann in dieser Perspektive nicht das primäre Ziel eines Ausgleichs des Bewegungsmangels in dem Sinne verfolgen, dass die innerhalb lebensweltlicher Kontexte verloren gegangenen Bewegungsoptionen nun durch Schulunterricht im Sinne eines Nullsummenspiels wieder aufaddiert werden.

Eine direkte Verbesserung motorischer Leistungsfähigkeit ist zwar erstrebenswert und sollte auch Teil der Gesamtstrategie bleiben, wichtiger erscheint durch die Intensivierung des Bewegungsangebots aber noch etwas anderes. Durch die regelmäßige Integration von systematischen Bewegungszeiten in das (all-)tägliche schulische Leben sollen Ansatzpunkte für eine Habitualisierung von Bewegung bei den Kindern und Jugendlichen entwickelt werden, mit dem langfristigen Ziel, Bewegung (wieder) zu einem Teil des Lebensstils insgesamt werden zu lassen. Nur wenn dieser Transfer insbesondere auch bei den Kindern und Jugendlichen, die darüber hinaus keinerlei regelmäßigen außerschulischen Bewegungs- oder Sportangebote wahrnehmen, gelingt, besteht eine berechtigte Hoffnung, dass Bewegung auch im lebensweltlichen Kontext (wieder) einen angemessenen Stellenwert erhält.

Bewegung soll aber auch auf der Ebene des Individuums nicht allein der motorischen Entwicklung oder der Bewegungsentwicklung dienlich sein, sondern soll einen Beitrag zur Entwicklung der Persönlichkeit auch im Kontext der emotionalen oder sozialen Entwicklung leisten. Da Schule als Institution immer auch diese Gesamtentwicklung der Persönlichkeit im Auge behalten muss, können über die Dimension der Bewegung auch diese Felder der Persönlichkeitsentwicklung angesteuert werden, die ansonsten im Rahmen der schulischen Lern- und Erziehungsprozesse eher auf Kosten der Vermittlung von Wissen zurückgestellt werden.

Im Hinblick auf aktuelle schulpolitische Entwicklungen, die im Wesentlichen versuchen, angesichts der wenig erfreulichen Ergebnisse der großen Leistungsvergleichsstudien die kognitiven Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen in den Vordergrund zu rücken, kann Bewegung auch hier versuchen, Brücken zu schlagen, da eine Intensivierung und Ausdehnung des Bewegungsangebots nicht notwendig zulasten kognitiver Lernprozesse gehen muss. Durch die Rhythmisierung des Gesamtunterrichts und die Möglichkeit der Aktivierung durch Bewegung auch innerhalb des Fachunterrichts können zumindest die Rahmenbedingungen für intensivere und konzentriertere Lernphasen systematisch verbessert werden.

Ähnliches, darauf deuten einzelne schulpädagogische Untersuchungen hin, lässt sich auch für Bereiche wie das Lern- oder Schulklima vermuten. Neben der individuellen Ebene könnte eine Schulprofilierung über das Thema Bewegung also auch Auswirkungen auf der institutionellen Ebene nach sich ziehen und so auch auf die Akteure positive Auswirkungen haben, die direkt gar nicht in die Bewegungsaktivitäten einbezogen sind. Aus Schulqualitätsuntersuchungen oder Untersuchungen zu „guten“ Schulen ist die Bedeutsamkeit von weichen Faktoren, wie etwa „Schulzufriedenheit“ oder „Wohlbefinden“, auch für die Lehrenden durchaus bekannt, wenngleich man noch wenig über die Details der Zusammensetzung oder auch des Zustandekommens solcher Faktoren weiß (vgl. z. B. Fend, 2008, S. 160ff.).

1.3 Forschungs- und Diskussionsstand

Das Thema einer „Täglichen Sportstunde“5 ist durchaus nicht neu. Der Grundgedanke scheint dabei in die Gründerzeiten der deutschen Turnbewegung zurückzureichen und ist dann immer wieder einmal in sehr unregelmäßigen Abständen von zumeist einigen Jahrzehnten von unterschiedlichen Seiten (z. B. Sportverbänden, Kultusministerkonferenz) als bildungspolitische Forderung an die Adresse der entsprechenden Entscheidungsträger gesendet worden. Grundsatzentscheidungen wurden aber nicht gefällt, zumindest wird darüber nichts berichtet (vgl. dazu auch Paschen, 1969, S. 39ff.). Dieses Grundmuster setzt sich im Prinzip bis in die Gegenwart fort und endet vorerst in den gemeinsamen Handlungsempfehlungen von KMK und DOSB aus dem Jahr 2007, wo im Kontext der grundsätzlichen Bedeutsamkeit von Bewegung für die kindliche Gesamtentwicklung erneut ein Appell zur Einführung einer täglichen Sportstunde in der Primarstufe formuliert wird. Auch die Identifizierung eines solchen diskursiven Grundmusters ist nicht neu, wie ein – etwas ausführlicheres Zitat – von Paschen bereits in den 1960er Jahren eindrucksvoll bestätigt:

„Von Zeit zu Zeit wird die deutsche Öffentlichkeit alarmiert durch bedrohliche Nachrichten über Haltungsschwächen und Wohlstandsgebrechen unserer Kinder und Jugendlichen. Kinderärzte und Orthopäden, Sportärzte und Schulärzte veröffentlichen erschreckende Zahlen über den Gesundheitszustand und die Leistungsfähigkeit unserer Jugend und fordern mehr Sport in der Schule. Zugenommen haben insbesondere die Fehler der Nervensysteme (vegetatives, zentrales und peripheres) zusammen mit den Defekten von Psyche und Intelligenz, außerdem das übermäßige Körpergewicht und die Veränderung der Wirbelsäule, die Fehler der Verdauungsorgane sowie die des Herzens und des Kreislaufs; also jene Fehler, die allgemein als ‚Zivilisationsschäden’ bezeichnet werden. Die Presse, der Funk, das Fernsehen, alle greifen diese Zahlen auf und verbinden sie mit dem Erfolgsrückgang unserer Sportler, vergleichen sie mit denen der DDR-Sportler und machen die deutsche Schule zum Hauptprügelknaben dieser Misere. Die Öffentlichkeit ist erregt und erwartet einschneidende Maßnahmen, und erwartet sie sofort! Die Kultusminister geben daraufhin Zusagen und Versprechungen. Nach einiger Zeit gerät das Thema wieder mehr in Vergessenheit, und nichts wird sichtbar geändert“ (ebd., S. 7f.).

Es wäre nun eine durchaus interessante Aufgabe, diese Diskurse im Detail zu analysieren und hinsichtlich ihrer eigenen Voraussetzungen und Vorurteile zu befragen (vgl. Thiele, 1999; Körner, 2009). Jedenfalls sollte uns die unmittelbare Vertrautheit dieses vier Jahrzehnte alten Statements zu denken geben. An dieser Stelle soll dies zunächst aber nur zu der vordergründigen Konsequenz führen, die gesellschaftspolitische von der im engeren Sinne wissenschaftlichen Diskussion zu trennen und einen Blick auf den aktuell erkennbaren Forschungsstand bezüglich der Frage einer Ausweitung von Sportunterricht zu werfen.

Die Anzahl evaluativ ausgerichteter Studien zum Thema ist auf nationaler wie internationaler Ebene durchaus überschaubar und begrenzt. Nachvollziehbare Dokumentationen der entsprechenden Untersuchungsdesigns und -ergebnisse sind demnach nur in sehr begrenztem Umfang vorhanden. Blickt man zunächst auf die bundesdeutsche Entwicklung etwa seit Beginn der 1960er Jahre6, so lässt sich etwa eine Handvoll Studien zum Thema identifizieren (Paschen, 1971; Wasmundt-Bodenstedt, 1984; Obst-Kitzmüller & Bös, 2002; Ziroli, 2006; Henze, 2007).7

Eine zentrale Schwierigkeit dieser Studien liegt in der Unterschiedlichkeit der Fragestellungen und der benutzten Instrumente, die eine zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse nicht leicht machen. Die hier genannten Untersuchungen fanden zu unterschiedlichen Zeiten (zwischen 1969 und 2003) über unterschiedlich lange Zeiträume (2-4 Jahre), an unterschiedlichen Orten (Hamburg, Gießen, Bad Homburg, Berlin8, Göttingen9) zumeist an Grundschulen statt, versuchten aber alle – wenn auch auf unterschiedlichen Wegen, die Frage nach den möglichen Auswirkungen einer Ausweitung der unterrichtlichen Bewegungszeiten auf empirische Weise einer Beantwortung zuzuführen.

Große Unterschiede bestehen demgegenüber in der Anzahl der untersuchten Schulen bzw. Klassen, dem leitenden Untersuchungsfokus (eher sportmedizinisch, eher pädagogisch-didaktisch), dem Untersuchungsdesign (querschnittlich oder längsschnittlich) oder der Art der durchgeführten „Interventionen“ (von systematisch angeleiteten Programmen bis zu offenen Angeboten).

Behält man alle diese Relativierungen im Hinterkopf und versucht gleichwohl eine zusammenfassende Einschätzung der dort vorgestellten Ergebnisse, so wird der Einführung von täglichen Sportstunden oder systematisch verankerten Bewegungszeiten insgesamt ein (moderat) positiver Gesamteffekt für die Entwicklung der Grundschulkinder zugesprochen. Die Auswirkungen auf die unterschiedlichen Dimensionen der kindlichen Entwicklung (z. B. motorisch, kognitiv, sozial, emotional) fallen dabei unterschiedlich aus, deutliche positive motorische Effekte finden sich bei Bös und Ziroli (mit Einschränkungen auch bei Paschen), weniger klar sind die Ergebnisse bei Wasmundt-Bodenstedt und Henze.10

Die positive Entwicklung sozialer und emotionaler Fähigkeiten wird zumeist unterstellt, aber nur in Ansätzen systematisch erhoben, sodass die Auskünfte nicht immer leicht nachvollziehbar sind. Die kognitive Ebene wird am differenziertesten bei Paschen in Angriff genommen, der seine Studie aber nach zwei Jahren abbrechen musste und daher sehr vorsichtig – wenngleich prinzipiell positiv – in seinen Schlussfolgerungen bleibt.11 Andere Untersuchungen können, ohne dass der kognitive Bereich eigens differenziert erfasst worden wäre, zumindest keine negativen Auswirkungen in den schulischen Leistungen (z. B. bezogen auf Übergangsquoten zu weiterführenden Schulen) feststellen (vgl. Brandl-Bredenbeck, 2008, S. 451). Insgesamt kann man unterschiedliche Ausprägungen der Effekte in den jeweils betrachteten Dimensionen feststellen, wobei die Tendenz trotz der gemachten Relativierungen und Einschränkungen vorsichtig optimistisch in eine positive, förderliche Richtung zu weisen scheint. Anders formuliert sind „Kontraindikationen“ bislang nicht bekannt.

Der Blick auf internationale Studien zum Thema lehrt ebenfalls, dass das Feld nicht besonders intensiv erforscht ist. Die hier betrachteten, zumeist im anglo-amerikanischen und australischen Raum durchgeführten Studien weisen, insgesamt gesehen, eine noch größere Heterogenität aus, da sie sich auf unterschiedliche Schul- und Altersstufen beziehen (zwischen 5-14 Jahre, Schwerpunkt im Sekundarbereich) und in ihrer Dauer erheblich variieren (von zwei Wochen bis zu mehreren Jahren).12

Eine Besonderheit dieser Studien liegt zudem in der Tatsache begründet, dass es sich oft um explizite Interventionsstudien handelt, die fertige Trainingsprogramme vor dem Hintergrund der Betrachtung der Entwicklung zumeist physiologischer Indikatoren und Parameter auf ihre Wirksamkeit überprüfen wollen. In ihren Ergebnissen sind diese Studien ebenfalls uneinheitlich, wobei insgesamt auch eher von positiven Einflüssen durch vermehrte Bewegung ausgegangen wird. Insbesondere der Aspekt der Nachhaltigkeit solcher Interventionseffekte bleibt aber dabei zumeist unberücksichtigt.

Innerhalb der letzten 10-15 Jahre ist zudem eine Verschiebung der sportmedizinischen, allein auf die Physis der beteiligten Schülerinnen und Schüler ausgerichteten Perspektive hin zu eher umfassenderen, d. h. vor allem auch organisationstheoretische Aspekte einbeziehenden Projektdesigns erkennbar. Eine zusammenführende Bilanzierung aller Betrachtungsaspekte ist für die internationale Ebene natürlich auch deshalb noch viel schwieriger, weil dort immer auch die unterschiedlichen Schul- und Bildungssysteme mit ihren sehr unterschiedlichen Wertigkeiten für den Bereich von Bewegung und Sport eine Rolle in der Gesamtbewertung spielen.

Wagt man eine solche Einschätzung dennoch, dann ergibt sich wohl eher eine Grundtendenz für die Erhöhung von Sport- und Bewegungszeiten in der Schule. Ähnlich wie im nationalen Bereich ist vom anderen Ende her gedacht auch hier nicht erkennbar, dass durch eine Erhöhung der schulischen „Physical Activity“ Nachteile in irgendeiner Form zu erwarten wären.13

Zusammenfassend lassen sich aus diesen Einschätzungen einige Grundthesen ableiten, die den Stand der aktuellen Diskussion um die Varianten einer systematischen Erhöhung von unterrichtlichen Bewegungszeiten – Stichwort: „Tägliche Sportstunde“ – verdichtet wiedergeben:

These 1: Die „Tägliche Sportstunde“ ist ein (inter-)nationales Langzeitthema – allerdings auch mit vielen offenen Fragen!

These 2: Aufs Ganze gesehen, sprechen mehr Argumente für als gegen eine „Tägliche Sportstunde“ – allerdings überrascht auch die immer wieder konstatierte, zumeist undifferenziert unterstellte „Breitbandwirkung“!

These 3: Sicher scheint, dass eine „Tägliche Sportstunde“ der Entwicklung der schulischen Leistungsfähigkeit in anderen Lernbereichen nicht schadet – allerdings wird dies außerhalb sportinteressierter Kreise kaum registriert!

Die vorliegenden Studien zeigen aber auch, dass die Thematik häufig aus sehr begrenzten Blickwinkeln betrachtet wurde, und insbesondere die Eigenheiten der schulischen Organisation und Durchführung von Bewegung, Spiel und Sport kaum zum Thema gemacht haben. Diese Einsicht führt zu einer weiterführenden These:

These 4: Differenzierende Untersuchungen könnten einen vertieften Einblick in die unterschiedlichen Wirkungsebenen einer „Täglichen Sportstunde“ ermöglichen – allerdings um den Preis der Akzeptanz komplexerer und partiell ambivalenter Einsichten!

Das Pilotprojekt „Tägliche Sportstunde an Grundschulen in NRW“ stellt nun den Versuch dar, vor den genannten Hintergründen eine differenzierende Sicht zu entwickeln und die Verläufe der Entwicklungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen zu evaluieren. Die Rahmenbedingungen dazu werden im nachfolgenden Kapitel vorgestellt.

1 Quasi reflexhaft finden sich dann – offenbar kompensatorisch – häufig hysterische, übersteigerte Reaktionen, die – sicher oft in bester Absicht – „das Kind mit dem Bade ausschütten“, indem sie gegenwärtige Kindergenerationen pauschal und in alle möglichen Richtungen pathologisieren (vgl. dazu relativierend Thiele, 1999; Klein et.al., 2005). Möglicherweise ist auch dies nur der Aufmerksamkeitslenkung in medialen Gesellschaften geschuldet. Daraus folgt indes auch eine besondere Verantwortung des wissenschaftlichen Diskurses. Allerdings zeigt sich auch innerhalb der Wissenschaft eine fatale Tendenz, solche Hysterien öffentlichkeitswirksam „auszuschlachten“, um damit eigene Zielstellungen (z. B. Einwerbung von Drittmitteln, Popularität) zu verfolgen. Solche Entwicklungen dürften langfristig eher schaden, weil inidividuelle Vorteile durch systemische Zuverlässigkeitsverluste erkauft werden (vgl. Reichertz, 2007, S. 232ff.).

2 Wobei bei genauerem Hinsehen auch deutlich wird, dass die These eines zunehmenden Bewegungsmangels bei Kindern und Jugendlichen bereits sehr viel älter ist und mindestens bis an den Anfang des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann (vgl. Thiele, 1999; Cachay & Thiel, 2000, S. 63ff.).

3 Unter dem Stichwort der Verhältnisprävention wird vor allem im Bereich der Gesundheitsvorsorge verstärkt der Versuch unternommen, nicht primär am Individuum, sondern an den relevanten lebensweltlichen Kontexten anzusetzen. So nachvollziehbar und unterstützungswürdig diese Ansätze auch sind, so zeigen sich doch auch immer wieder die Schwierigkeiten der Umsetzung (vgl. Bauer, 2005).

4 Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle indes auch auf die hervorragenden räumlichen Ressourcen der betroffenen Schule hingewiesen. Über die prinzipielle Bedeutsamkeit von unterschiedlichen Ressourcen für die Umsetzung solcher Konzepte wird im weiteren Verlauf noch detaillierter zu sprechen sein (vgl. Kap. 6.1).

5 Früher fand sich folgerichtig der Begriff der „Täglichen Turnstunde“.

6 Für die Zeit bis etwa Mitte der 1960er Jahre vgl. die Übersicht, die Paschen in seiner Untersuchung angeführt hat (1971, S. 11ff.). Er bezieht dabei auch die zugänglichen Studien aus der DDR mit ein. Zusammenfassend kommt Paschen zu der Einschätzung, dass die betrachteten Untersuchungen aus verschiedenen Gründen nur begrenzte Aussagekraft besitzen. Systematische Überlegungen zu einer „Täglichen Turnstunde“ finden sich aber auch schon deutlich früher. So zeigen frühe Studien aus den frühen 1930er Jahren, dass auch in dieser Zeit offenbar das Thema auf der Agenda stand (vgl. Rosenbaum & Schulze, 1930; Wendler, 1933). Ein Einblick in diese Studien offenbart zudem sehr vergleichbare Denkmuster, die Vorteile für die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler sowohl im motorisch-physiologischen Bereich vermuten wie auch in der kognitiven Entwicklung. Die Ergebnisse dieser begrenzten Studien stützen die formulierten Hypothesen und werden zur Legitimation einer „Täglichen Sportstunde“ angeführt. Auf der „Praxisebene“ bestätigt der Ex-Kanzler der Bundesrepublik, H. Schmidt, in einem „Zeit“-Interview, dass an der Lichtwark-Schule in Hamburg in den 1920er Jahren eine „Tägliche Turnstunde“ zur Schulpraxis gehörte.

7 Es geht also bei der Sichtung auch nicht um die aktuell intensiv diskutierten Studien zur Entwicklung der motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen (wie z. B. MoMo, KIGGS; MoleH; WIAD), Studien zur direkten Gesundheitsförderung durch Bewegung (wie z. B. HEPA, CHILT) oder auch zur bewegungsfreudigenSchule. Die Bedeutsamkeit dieser Themen und Untersuchungen soll damit keinesfalls bestritten werden, trifft aber nicht die vorliegende Fokussierung.

8 Die Berliner Studie (Ziroli, 2006) unterscheidet sich in einigen zentralen Aspekten recht wesentlich von den anderen. So umfasst die Grundschule in Berlin die ersten sechs Schuljahre und es gibt dort die Sonderform der „sportbetonten Grundschulen“, was bereits eine mögliche Selektion der Schülerpopulation nahelegen könnte. Außerdem ist diese Studie keine Längsschnittstudie. Gleichwohl liefert auch sie in bestimmten Grenzen Einsichten zur fokussierten Thematik.

9 Zur Göttinger Studie lagen bis zum Zeitpunkt der Abfassung des vorliegenden Buches noch keine endgültigen Ergebnisse vor. Die Studie von Henze (2007) umfasst im Sinne eines Zwischenergebnisses nur einen Zeitraum von zwei Projektjahren.

10 Auch hier wären differenziertere Analysen sinnvoll, z. B. hinsichtlich der Konsequenzen des Einsatzes bestimmter Methoden. So haben Obst-Kitzmüller und Bös (2002) im Verlauf ihrer Studie den motorischen Test 10 × bei den Kindern durchführen lassen, während andere Studien deutlich seltener die motorischen Kompetenzen abtesten. Mögliche Konsequenzen solch häufiger Testwiederholungen werden anderweitig mittlerweile unter dem Stichwort „teaching to the test“ diskutiert.

11 Mit dem Einfluss einer täglichen Sportstunde auf die kognitiven Leistungen hat sich auch eine jüngere Publikation aus der Arbeitsgruppe um K. Bös befasst (vgl. Haas et al., 2009). Da es sich um eine vorläufige Darstellung von Ergebnissen handelt, sollen diese hier nicht weiter kommentiert werden. Einige optimistische und auch angesichts der Datenbasis weitreichende Schlussfolgerungen sind ohne weitere Zusatzinformationen jedenfalls nur schwer nachvollziehbar. Interessant scheint aber allein die Tatsache, dass diesem spezifischen Zusammenhang von Kognition und motorischer Leistungsfähigkeit eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier auch auf einer bildungspolitischen Welle mitgesurft werden soll, auf der der Schulsport einmal mehr zur Allzweckwaffe gegen alle denkbaren Fehlentwicklungen mutiert.

12 Folgende Studien wurden dabei einer genaueren Betrachtung unterzogen, wobei einige dieser Studien selbst bereits den Charakter von Metaanalysen im Sinne von Reviews haben: Cale & Harris, 2006; Chad, Humbert & Jackson, 1999; Cloes & Theunissen, 2008; Dwyer et. al., 1983; Kahn et al., 2002; McKenzie, 2001; Pieron et al., 1996; Sallis et al., 2003; Shepard, 1997; Van Beurden et al., 2003.

13 Zu dieser Einsicht kommt eine neuere Überblicksstudie, die den us-amerikanischen Schulsektor im Hinblick auf die Bedeutung des Schulsports einer genaueren Analyse unterzieht (vgl. Siedentop, 2009, S. 169). Im Kontext eines „National Plans for Physical Activity“, der versucht, eine Art Generalstabsplan für die Entwicklung von Bewegungsaktivitäten auf allen Feldern und bezogen auf alle Adressatengruppen für die Vereinigten Staaten zu erstellen, wird dem Schulsport eine wichtige Bedeutung für die Herstellung und Aufrechterhaltung eines aktiven und gesundheitsorientierten Lebensstils beigemessen. Gefordert wird in diesem Review über die aktuellen Entwicklungstendenzen des Schulsports nachdrücklich, die Bewegungszeiten und -möglichkeiten an den Schulen systematisch auszuweiten. Hintergrund der gesamten Initiative ist in erster Linie der als alarmierend bewertete Gesundheitszustand wachsender Teile der us-amerikanischen Bevölkerung.

2 Theoretische Grundlagen

Von Miriam Seyda & Michael Bräutigam

Innerhalb dieses Kapitels werden die theoretischen Grundlagen skizziert, die im Zusammenhang mit der Evaluation des Projekts „Tägliche Sportstunde“ von Bedeutung sind und zudem der Ableitung von Forschungsfragen und -hypothesen dienen. In einem ersten Schritt wird dazu die Anlage des Projekts beschrieben (Kap. 2.1). Anschließend werden theoretische Hintergründe der betrachteten Ebenen (Akteure Grundschulkinder und Lehrkräfte, Handlungspraxis) erläutert und konkrete Forschungsfragen dazu beschrieben (Kap. 2.2).

2.1 Grundanlage der empirischen Untersuchung

Die zentrale Idee des Pilotprojekts ist es, den Sportunterricht an Grundschulen zeitlich auszuweiten. Dieses Vorhaben schließt damit zwar auch an Unternehmungen an, die häufig bemängelten Bewegungsdefizite der Grundschulkinder ernst zu nehmen und, so weit im schulischen Kontext möglich, auch auszugleichen. Aber mehr noch geht es darum, herauszufinden, ob die Einführung einer „Täglichen Sportstunde“ Entwicklungsprozesse auf verschiedenen Ebenen anstoßen kann (vgl. dazu auch Kap. 1.2). So interessieren nicht nur die Entwicklungen auf individueller, sondern auch die auf institutioneller (d. h. schulischer) Ebene, da angenommen wird, dass die Einführung einer „Täglichen Sportstunde“ Schulsportentwicklung und damit auch Schulentwicklung vorantreiben kann (vgl. dazu auch Kamper & Seyda, 2008; Seyda, 2007; Serwe, 2008; Serwe & Thiele, 2008; Seyda & Serwe, 2009; Thiele & Seyda, 2010).

Die Idee der Einzelschulentwicklung bildet einen Grundgedanken des Projekts. Daher lag die Konzeptionierung der Umsetzung der „Täglichen Sportstunde“ in der Verantwortung der einzelnen Schulen. Die einzige Vorgabe war es, spätestens mit Beginn des letzen Projektjahres (Schuljahr 2007/2008) allen Schulklassen eine „Tägliche Sportstunde“ zu ermöglichen. In der Konsequenz existieren dadurch unterschiedliche organisatorische Umsetzungen (vgl. dazu Kap. 4.3).

Mit Bezug auf das Modell zur Schulsportforschung von Bräutigam (2008) lässt sich das Projektdesign auch theoretisch genauer fassen. Dazu seien vorab die Grundzüge des Rahmenmodells skizziert: Das Verhältnis der Personen zu ihrer Umwelt wird als Person-Umwelt-Transaktion beschrieben, d. h., dass sich zum einen Schüler und Lehrer – die Akteure des Schulsports – mit ihren je unterschiedlichen Voraussetzungen im Handeln auf die strukturellen Rahmungen der Institution Schule beziehen und von diesen beeinflusst werden. Zum anderen gestalten die Akteure die Strukturen selbst mit und tragen daher zu deren Entwicklung, Veränderung oder Aufrechterhaltung bei. Diese Wechselwirkungen werden in der konkreten Praxis des Schulsports hervorgebracht, wobei die Akteure (wie die Strukturen) sich in diesem Wechselspiel in einer permanenten Entwicklung befinden (vgl. im Grundsatz Baur, 1989).

Übertragen auf das Pilotprojekt, lassen sich die Projektanlage (1) und -ziele (2) wie folgt beschreiben (siehe auch Abb. 2.1.1):

Abb. 2.1.1: Verbindung der Zieldimensionen des Pilotprojekts mit der theoretischenRahmenkonzeption zur Schulsportforschung

Mit der Einzelschulorientierung des Projekts wird die Unterschiedlichkeit der beteiligten Schulen betont. Jede Schule entwirft ihr eigenes Konzept zur Umsetzung einer „Täglichen Sportstunde“, da sie sowohl auf der Ebene der Akteure als auch auf der Ebene der Strukturen je unterschiedliche Voraussetzungen in die Handlungspraxis einbringt. Besonders auf diesem Wege scheint es möglich, Entwicklungsprozesse zu initiieren und längerfristig an den Schulen zu etablieren.

Für die Einführung einer „Täglichen Sportstunde“ sind von den Schulen zunächst strukturelle Veränderungen vorzunehmen. In der Evaluation interessiert vor allem, wie die Schulen mit dieser Aufgabe umgehen. Hier wird in besonderer Weise zu untersuchen sein, wie an den Schulen in Wechselwirkung zwischen personalen und strukturellen Bedingungen unterschiedliche Handlungspraxen hervorgebracht werden und wie sich die Praxis des Schulsports entwickelt.

In der Handlungspraxis werden nicht nur verschiedene Voraussetzungen generiert, sondern auch vielfältige Entwicklungsprozesse der Akteure (a) und Strukturen (b) angestoßen. Innerhalb dieses Projekts wird die Evaluation allerdings auf ausgewählte Entwicklungsdimensionen eingegrenzt (siehe Abb. 2.1.1).

(a) Auf der Ebene der Akteure werden folgende Entwicklungen fokussiert: Hinsichtlich der Professionalitätsentwicklung der Lehrkräfte interessiert, inwiefern sich Veränderungen der Kompetenzen, definiert als die Aktivierung von Wissens- und Könnensbeständen, feststellen lassen. Außerdem werden die Berufsbelastung und Einstellung gegenüber dem Bereich Bewegung, Spiel und Sport untersucht. Diese sind im Rahmenmodell als handlungsleitende evaluative Vorstellungen verankert.

Die Persönlichkeitsentwicklung der SuS (Schülerinnen und Schüler) wird vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen um die Wirk- und Bedeutsamkeit von Bewegung, Spiel und Sport, bezogen auf die motorische und psychosoziale Entwicklung, näher betrachtet. Motorische Aspekte können als eine Art Schnittmenge von Kapazitäten und Kompetenzen bezeichnet werden. Zum einen sind sie durch das Organsystem und dessen Entwicklung (Muskel-, Skelettsystem etc.) repräsentiert (Kapazität), zum anderen auch durch Wissens- und Könnensbestände (Kompetenzen) im Sinne von motorischen Fähig- und Fertigkeiten.

Im Projekt liegt der Forschungsschwerpunkt dabei auf der Entwicklung der koordinativen Fähigkeiten. Diese basieren zwar – wie kognitive Vorgänge vermutlich auch – auf biologischen Prozessen. Aber sie lassen sich eher als Wissens- und Könnensbestände, also Kompetenzen, definieren, die selbsttätig eingesetzt werden, um bestimmte Anforderungen in der jeweiligen Situation bewältigen zu können. Psychosoziale Faktoren der SuS werden anhand folgender Aspekte untersucht: Es werden Entwicklungen des Selbstkonzepts, des Wohlbefindens und des Klimas berücksichtigt. Sowohl das Selbstkonzept wie auch das Wohlbefinden, deren Kern subjektive Einschätzungen zu unterschiedlichen Bereichen der eigenen Person sind, die handlungsleitend sein können und auch evaluative Anteile haben, können dabei im Modell den Orientierungen zugeordnet werden. Da das Klima als die „Verlebendigung institutioneller Verhältnisse durch Individualität der Lehrer und Schüler und die dabei entstehenden Lebensformen“ (Fend, 1977, S. 64) definiert werden kann, ist es der Handlungspraxis zuzuordnen, in der die Wechselwirkungen zwischen den Akteuren und Strukturen hervorgebracht werden.

(b) Auf der Ebene der Strukturen interessiert, inwiefern Schul- und Schulsportentwicklung vorangetrieben werden können. Schulentwicklung wird als Veränderung der gesamten Schule auf organisatorischer, unterrichtlicher und personaler Ebene definiert (vgl. Rolff, Buhren, Lindau-Bank & Müller, 1999, S. 15ff.).

Auf der Ebene der Strukturen geht es an dieser Stelle darum, wie sich Prozesse einer Schul- und Schulsportentwicklung strukturell manifestieren. Der Fokus wird in der Projektevaluation u. a. auf folgende Aspekte gerichtet: die jeweilige Konzeption einer „Täglichen Sportstunde“ und ihre Veränderung im Projektverlauf sowie auf mögliche Zusammenhänge mit anderen Entwicklungsdimensionen und der „tatsächlichen“ Handlungspraxis.

Zur Evaluation des Potenzials einer Schulentwicklung durch Schulsportentwicklung werden z. B. Veränderungen des Schulprofils und Schulprogramms, sowie neue Organisationsformen innerhalb des Kollegiums betrachtet. Die angezielte Schulsportentwicklung könnte sich etwa in veränderten Lehr-Lern-Formen des Sportunterrichts niederschlagen.

Welche konkretisierenden theoretischen Annahmen hinsichtlich der zu untersuchenden Entwicklungen auf verschiedenen Ebenen der Akteure (SuS und Lehrkräfte) sowie der Handlungspraxis und Struktur im Kontext der „Täglichen Sportstunde“ von Bedeutung sind und welche Forschungsfragen sich daran anschließen, wird im Folgenden beschrieben.

2.2 Untersuchungsebenen

2.2.1 Schülerebene: koordinative und psychosoziale Entwicklung

Innerhalb der Evaluation des Projekts „Tägliche Sportstunde“ wird aufseiten der Grundschulkinder neben der Entwicklung der koordinativen Fähigkeiten auch die Entwicklung psychosozialer Aspekte in Zusammenhang mit Schulsport fokussiert. Psychosoziale Aspekte werden von uns am Beispiel der Bereiche Selbstkonzept, Wohlbefinden,Schuldevianz und Klassenklima betrachtet. Im Folgenden werden theoretische Grundlagen zu den insgesamt fünf untersuchten Bereichen skizziert und beschrieben, inwieweit eine Ausweitung von Schulsport hier wirksam werden kann.

Koordinative Fähigkeiten14

Grundsätzlich ist eine Entwicklung der Motorik durch Veränderungen von Steuerungs- und Funktionsprozessen gekennzeichnet, die der Haltung und Bewegung zugrunde liegen und auf das Lebensalter bezogen werden können (Singer & Bös, 1994, S. 19).15 Neben der Entwicklung von körperlichen Voraussetzungen geht es im Bereich der Motorik auch um die Entwicklung von konditionellen und koordinativen Fähigkeiten, motorischen Fertigkeiten oder sportlichen Leistungen (z. B. Loosch, 1999).

Beeinflusst wird die motorische Entwicklung durch Personen-, Umwelt- und Aufgabenmerkmale. Diese Einflussgrößen haben dabei generell eine unterschiedliche Bedeutsamkeit und kommen je nach Altersstufen verschiedenartig zum Tragen. Zu den Personenmerkmalen zählen u. a. das Alter, das Geschlecht und die biologischen Voraussetzungen. Die Quantität und Qualität der Bewegungsaktivität ist als umweltgebundener Faktor von zentraler Bedeutung.

Während quantitativen Aspekten, wie zeitlicher Umfang, Häufigkeit, Intensität und Kontinuität körperlich-motorischer Anforderungen, eine unmittelbare Unterstützungsfunktion für die Entwicklung der Motorik zuzusprechen ist, besteht noch große Unsicherheit bezüglich der Relevanz qualitativer Aspekte. Aufgabenmerkmale beziehen sich auf die zur Diagnose der Bewegungskoordination verwendeten Testverfahren. Je nachdem, ob groß- oder feinmotorische Aufgaben gestellt werden, Anforderungen, bei denen ein Gerät (z. B. Zielwerfen) oder der eigene Körper (z. B. Hindernislauf) bewegt werden, ändert sich der Einfluss körperbaulicher Differenzen oder konditioneller Voraussetzungen auf die Koordinationsleistung und damit die resultierenden Beurteilungen beobachtbarer Entwicklungen.

Auch das Grundschulalter ist durch jährliche Zunahmen von Körperhöhe und Körpermasse gekennzeichnet (Eiben, 1981).16 Diese Wachstums- und Reifungsprozesse führen zu Verschiebungen in den Körperproportionen und Steigerungen quantitativer Leistungsaspekte. Geschlechtsspezifische Unterschiede körperlicher Entwicklungsprozesse sind im frühen Schulkindalter insgesamt noch gering und tragen nur sehr eingeschränkt zu differenziellen Veränderungen im motorischen Bereich bei. Ein Kennzeichen der motorischen Entwicklung im Grundschulalter ist die Übertragung zahlreicher (Alltags-)Bewegungsformen in mehr sportartgerichtete Fertigkeiten (Gallahue & Ozmun, 1997).

Das kindliche Bewegungsverhalten wird insgesamt stärker mit sportlichen Handlungsstrukturen verbunden und zwar dadurch, dass beherrschte Fertigkeiten weiter ausdifferenziert und neue, zunehmend komplexere Bewegungsverbindungen erworben werden. Dabei spielt eine regelmäßige Bewegungsaktivität, sowohl im Rahmen von Vereinssport als auch in Form von unterrichtlichen Bewegungs-, Spiel- und Sportangeboten in der Schule eine wesentliche Rolle.

Betrachtet man die verschiedenen Bereiche der Motorik in ihrer Entwicklung hinsichtlich der Zuwächse im Grundschulalter, so zeigt sich, dass neben dem Fertigkeitsaspekt besonders die koordinativen Fähigkeiten eine starke Verbesserung aufweisen (Roth & Winter, 1994; Hirtz, 2002).17 Werden Koordinationsleistungen in einen Geschwindigkeits- und einen Präzisionsanteil weiter ausdifferenziert (Roth, 1982), so zeigt sich, dass männliche Personen deutliche Leistungsvorteile bei großmotorischen Aufgaben haben, die den Schnelligkeitsaspekt betonen. Im Bereich der Präzisionsaufgaben zeigen sich diese Leistungsvorteile gegenüber weiblichen Personen nur unwesentlich.

Der Einfluss des Geschlechts auf die Koordinationsleistung konnte erst ab der Pubeszenz festgestellt werden (Roth & Winter, 1994). Der Befund, dass anfänglich leistungsschwächere Kinder durch gezielte Trainingsmaßnahmen und Übungsangebote ihre Koordinationsleistungen in höherem Maße verbessern als die zu Beginn einer Intervention Leistungsfähigeren, ist insbesondere für pädagogische Handlungskontexte bedeutsam (Roth & Winter, 1994).

Für die Evaluation des Pilotprojekts „Tägliche Sportstunde an Grundschulen in NRW“ ergeben sich aus dem eben Beschriebenen drei Hypothesen:

Erstens ist grundsätzlich eine Zunahme koordinativer Fähigkeiten im Verlauf des Grundschulalters zu erwarten. Zweitens sollte das Geschlecht im Grundschulalter keinen Einfluss auf den generellen Entwicklungsverlauf der Koordination haben.

Drittens sollten Grundschulkinder mit „Täglicher Sportstunde“ in beiden Dimensionen (schnelle und präzise motorische Steuerung) ein höheres Koordinationsniveau erzielen als diejenigen Kinder, deren schulisches Sportangebot auf den im Lehrplan vorgesehenen Sportunterricht begrenzt ist.

Selbstkonzept

Der erste psychosoziale Aspekt ist das Selbstkonzept. Dieses wird auch als eine kognitive Repräsentation des Selbst betrachtet und in Anlehnung an Filipp (1980) als „die Gesamtheit der (mehr oder minder stabilen) Sichtweisen, die eine Person von sich geformt hat“ (Hier), verstanden.

Dabei ist mit Shavelson, Hubner und Stanton (1976) anzunehmen, dass das Selbstkonzept eine bestimmte Struktur aufweist, multidimensional ist und sich hierarchisch gliedern lässt. Auf höchster Ebene befindet sich das allgemeine Selbstkonzept, eine Ebene darunter befinden sich weitere Dimensionen: das akademische, das emotionale, das körperliche und das soziale Selbstkonzept, wobei die drei Letztgenannten sich auch als nicht-akademisches Selbstkonzept bezeichnen lassen. Diese vier Dimensionen können weiter in verschiedene Teilbereiche aufgegliedert werden.

Bezogen auf das akademische Selbstkonzept, ergeben sich die Teilbereiche in Anlehnung an die Schulfächer (Mathematik, Deutsch etc.) und werden auch als Fähigkeitsselbstkonzepte bezeichnet (Weinert & Helmke, 1997). Das emotionale Selbstkonzept beinhaltet bestimmte Gefühle, während sich das physische Selbstkonzept weiter in die Bereiche körperliche Fähigkeiten und körperliche Erscheinung ausdifferenziert. Das soziale Selbstkonzept lässt sich weiter in die Unterfacetten „Kameraden“ und „Bezugsgruppen“ einteilen.

Shavelson et al. (1976) nehmen darüber hinaus an, dass ein Selbstkonzept, das in der Hierarchie höher liegt, auch stabiler ist als ein Selbstkonzept, das niedriger verortet ist. Es kann angenommen werden, dass Grundschulkinder durchaus in der Lage sind, zwischen den vier Facetten des Selbstkonzepts zu unterscheiden (Byrne, 1996; Harter, 1982; Harter & Pike, 1984; Marsh, Craven & Debus, 1991).

Darüber hinaus sind auch reliable Einschätzungen eines globalen Selbstkonzepts im Sinne eines Selbstwertgefühls möglich. Zu Beginn der Grundschulzeit haben Kinder ein äußerst hoch ausgeprägtes Selbstkonzept (u. a. Harter, 1983; 1999). Der Grund dafür liegt auch in möglichen kognitiven Defiziten in dieser Entwicklungsphase (u. a. Fend & Stöckli, 1997; Geppert, 1997; Harter, 1983; 1999; Krapp 1997; Stipek & Mac Iver, 1989).

Helmke (1997) geht davon aus, dass die Einschätzungen der eigenen Fähig- und Fertigkeiten in den allermeisten Fällen noch unabhängig vom tatsächlichen Leistungsstand sind (siehe auch Helmke, 1998). Er kann einen Abwärtstrend der eigenen Einschätzung mit zunehmender Schulerfahrung feststellen, den er u. a. auch auf die Notengebung zurückführt, die den Kindern eine wichtige Rückmeldung über ihren tatsächlichen Könnensstand liefert. Eine weitere Informationsquelle für die subjektive Einschätzung der eigenen Fähigkeiten im Grundschulalter ist nach Damon und Hart (1982; 1988; siehe auch Harter, 1983; 1999; Dickhäuser & Galfe, 2006) der soziale Vergleich mit anderen Kindern.

Dass Bewegung im weitesten Sinne ebenso eine wichtige Bedeutung für die Entwicklung des Selbstkonzepts im Kindesalter haben kann, wird meist auch mit Rückgriff auf Piagets Entwicklungstheorie (Piaget & Inhelder, 1972) – und hier besonders innerhalb der sensomotorischen Phase – erklärt. Aus Untersuchungen von Klein- und Vorschulkindern (Zimmer, 1996) scheint ableitbar, dass sich über die Erfahrung mit dem Körper gerade in bewegungsbezogenen Kontexten zuerst das physische Selbstkonzept entwickelt, über welches dann andere Teilbereiche ausdifferenziert werden.

Darüber hinaus könnten Bewegungssituationen in besonderem Maße als eine weitere, wichtige Informationsquelle für die Einschätzung eigener Fähigkeiten verstanden werden: Sowohl das Lösen oder Nichtlösen einer konkreten Bewegungsaufgabe als auch der selbst erfahrbare, direkte Vergleich mit anderen in der sport(unterricht)lichen Situation können Informationen zum eigenen Könnensstand bereithalten. Das kann bedeuten, dass Bewegung, Spiel und Sport in der Schule Anforderungssituationen schaffen, deren Bewältigung bzw. Nicht-Bewältigung sich auf die verschiedenen Teilbereiche des Selbstkonzepts auswirken.

Der empirische Forschungsstand zu Bewegung, Spiel und Sport in der Schule als mögliche Entwicklungsfaktoren des Selbstkonzepts ist jedoch zumindest für das Grundschulalter als defizitär zu bezeichnen, da sich bisher keine Längsschnittuntersuchung explizit mit dem Schulsport beschäftigt hat (vgl. dazu auch Seyda, 2010). Den Ergebnissen von Brettschneider und Gerlach (2004; Gerlach, 2008) zufolge, welche die Selbstkonzeptentwicklung im späten Grundschulalter in Abhängigkeit vom sportlichen Talent (Kontext Vereinssport) untersuchten, haben Kinder höchster Begabung auch die höchsten Einschätzungen im Selbstkonzept (akademisch, sozial, sportlich/physisch).

Dabei zeigten sich auch geschlechtsspezifische Unterschiede. Weitet man den Blick und betrachtet Untersuchungen, die sich im Jugendalter grundsätzlich mit der Frage des Zusammenhangs sportlicher Betätigung und Selbstkonzeptentwicklung beschäftigt haben, so zeigt sich, dass insbesondere Einschätzungen des generellen, sozialen und physischen Selbstkonzepts durch Sport (im Kontext Verein bzw. Leistungssport) beeinflussbar scheinen (Burrmann, 2004; Brettschneider, 2003; Gerlach & Brettschneider, 2008; Heim, 2002).

Vor diesem Hintergrund ergeben sich für die Evaluation, bezogen auf die untersuchten Bereiche des Selbstkonzepts, drei Hypothesen:

Erstens wird angenommen, dass grundsätzlich hohe Einschätzungen des Selbstkonzepts bei Grundschulkindern festzustellen sind.