Tagträumer. Spannender Fantasyroman mit handgezeichneten Illustrationen der Autorin - Josi Saefkow - E-Book

Tagträumer. Spannender Fantasyroman mit handgezeichneten Illustrationen der Autorin E-Book

Josi Saefkow

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Beschreibung

Alasha hat schon lange aufgehört, ihr Leben zu lieben. Vor fünf Jahren verlor sie nicht nur ihren Vater, sondern auch ihre Lebensfreude. Was ihr nun am meisten zu schaffen macht, ist ihr Stiefvater. Zuhause wird gestritten, jedes Mal, wenn sie beisammen sind. Es kommt ihr nicht mehr vor, als hätte sie eine richtige Familie. Nach einem Streit schläft sie plötzlich ein und träumt von einer anderen Welt. Es passiert immer öfter und wirkt so real. Sie führt fortan ein zweites Leben an diesem Ort namens Zameria, in den sie eintauchen kann, wann sie will und wo sie kein Mensch ist, sondern eine von jenen, die sich Tagträumer nennen. Sie erfährt dort, wie es ist, von anderen akzeptiert zu werden, da alle ein ähnliches Schicksal durchleben wie sie. Eines Tages gelangt sie hinter das Geheimnis über die Existenz der Tagträumer. Gleichzeitig findet sie heraus, dass in dieser fremden Wirklichkeit eine Gefahr lauert, die nicht aufzuhalten scheint. Umso öfter sie träumt, desto klarer wird ihr, dass es für alles einen Grund gibt, dass man nichts so hinnehmen muss, wie es ist, und dass man an allem Schlechten noch etwas ändern kann, solange man niemals aufgibt... Geschrieben und illustriert von mir, der Autorin selbst. 2020 veröffentlicht, 2018 (mit 20 Jahren) geschrieben, die ersten Ideen sind aber schon von 2013. Das erste Mal fügte ich einige Zeichnungen ins Innere des Buches ein, die wichtigsten Charaktere finden sich weiterhin auf den letzten Seiten, um sich jederzeit ins Gedächtnis rufen zu können, wie sie aussehen. In diesem Buch verarbeitete ich einige Momente aus meinem damaligen Leben, Schulstress und Familiendrama, Depressionen, Einsamkeit sowie der Wunsch, in eine andere, eine schönere Welt zu flüchten und diesem furchtbaren Stress zu entkommen...

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Seitenzahl: 280

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Josi Saefkow

Tagträumer

© 2020 Josi Saefkow

Umschlag, Illustrationen: Josi Saefkow

Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback

978-3-347-11331-2

Hardcover

978-3-347-11332-9

e-Book

978-3-347-11333-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Eine Depression ist wie ein Dämon, den du nur mit großer Kraft und Anstrengung loswirst. Er frisst dich von innen heraus auf, bis eine leere Hülle übrig ist, in welcher er als Parasit glücklich weiterlebt. Dieses Monster ernährt sich von deiner Trauer, deiner Wut und deinen Ängsten, deren Schöpfer er ist. Es besiedelt deinen Leib, bevor du seine Nähe überhaupt wahrgenommen hast. Seine kalten Berührungen sind wie eiserne Peitschenhiebe. Zunächst nimmt dieser Dämon dir die Stimme, danach lähmt er deine Muskeln. Erst lässt er dich heulen wie ein neugeborenes Kind, dann lässt er dich toben wie ein tollwütiger Löwe. Menschen werden beginnen, dich zu bemitleiden oder einfach nur zu belächeln. Sie werden deine Anwesenheit meiden und deine Probleme nicht ernst nehmen. Die Gedanken in deinem Kopf werden auch dich dazu bringen, die Nähe zu Artgenossen zu scheuen- sogar zur eigenen Familie.

Du spürst all seine Bewegungen. Er spricht zu dir. Er rät dir ab von all dem, was dich glücklich machen könnte, gibt dir schlechte Ratschläge, lässt dich denken, du seist lediglich ein Schandfleck für unsere Welt. Er liebt es, wie du weinst, wie du ihn anflehst, dass er endlich aufhören solle. Doch er erhört keine dieser Bitten. Er gleicht einem bösartigen Tumor, welcher stetig in dir wächst. Bist du zu schwach, um gegen ihn zu kämpfen, kann er dich bis in den Tod treiben. Er kennt keine Gnade. Ärzte verabreichen Tabletten zur Beruhigung, doch diese können solch ein Raubtier nicht besiegen, nicht einmal schwächen, höchstens betäuben. Es gibt nur ein Heilmittel, vor dem sich der seelenfressende Dämon fürchtet. Auch wenn dieses nicht sichtbar und in unendlicher Ferne scheint, ist es immer in Reichweite. Man muss danach greifen und es nie mehr loslassen. Es ist die Lebensfreude.

Erster Schritt ins Glück

Seine Hand umfasste meinen Arm, denn er wollte nicht, dass ich den Streit beende, indem ich einfach wegging.

„Warum hörst du mir nie zu?“

Ich antwortete nicht darauf, sondern brüllte zurück: „Lass mich los!“, befreite mich mit einem schnellen Ruck von seinem Griff und stampfte die Treppe hinauf.

Wie erwartet, konnte ich Torpus nicht abschütteln.

„Du wirst dich jetzt nicht in deinem Zimmer verkriechen! Ich will, dass wir das ein für alle Mal klären“, schrie er mir zu.

„Es gibt nichts zu klären.“

Ich drehte mich nicht zu ihm um, wusste aber, dass er mir dicht auf den Fersen war.

Die Stimme meiner Mutter drang von unten: „Hört auf zu streiten!“

„Ich will bloß meine Ruhe“, sagte ich zum wahrscheinlich tausendsten Mal.

Torpus fasste von hinten an meine Schulter, ich rüttelte mich, ging in Eile in mein Zimmer und schaute ärgerlich zu ihm, während ich sprach: „Du hast mir gar nichts zu sagen!“

Die Tür knallte ich ihm vor seiner Nase zu, schloss ab, was seinen Zorn anheizte. Er klopfte mehrmals an. „Alasha! Komm da raus!“

„Hau ab!“, brüllte ich.

Ich ging rückwärts, drehte mich dann nach links. Mein Blick fiel wie von selbst auf das kleine, eingerahmte Foto meines Vaters, welches auf dem Nachttisch stand. Ich nahm es, setzte mich aufs Bett und lehnte mich an der Wand an. Meine Sicht wurde stetig verschwommener, je länger ich auf das Bild starrte.

Er sah auf dem Foto so glücklich aus. Ein einziger Gedanke flog in meinem Kopf hin und her: „Ich werde ihn nie wieder so sehen können.“ Die Trauer ließ ich über mich ergehen.

Die Rufe von Torpus wurden allmählich leiser. Es wurde still. Das Foto lag nicht mehr in meinen Armen. Die Luft um mich herum veränderte sich. Es wurde angenehm warm. Fremdartige, wässrige Materie klebte auf meiner nackten Haut. Vorsichtig öffnete ich meine Augen. Es war finster. Ich dehnte mich und spürte deutlicher einen seltsamen Schleim um mich herum. Die Bewegungen waren mühsam, ich kam keinen Schritt voran. Ich befand mich in einem unangenehm engen Raum. Die rechte Hand streckte ich nach vorne aus und merkte etwas Hartes, Hölzernes, welches durch Berührungen an den jeweiligen Stellen in gelblichem Licht erstrahlte. Mein Handabdruck war noch fünf Sekunden danach zu erkennen. Ich strich über die Wand. Als ich kurz mit den Fingerspitzen festhing, wurde mir klar, dass ich Krallen besaß. Es war alles so irreal, wie in einem Traum. Jedoch wachte ich nicht auf.

Langsam wurde ich unruhig. Mit den Beinen drückte ich fest gegen die Wand. Leises Knacken der Rinde konnte ich hören. Es dauerte eine Weile, bis ich eher zufällig die Kette bemerkte, die an meinem Hals hing. Ein Schlüssel war daran gebunden. Das dazugehörige Schlüsselloch konnte ich ertasten. Er passte perfekt. Voller Hoffnung drehte ich ihn, bis Geräusche von knackendem Holz erklangen.

Ganz plötzlich brach die Wand entzwei und öffnete sich wie eine Tür. Ich fiel wie ein Stein herunter und landete auf weichem Moos zwischen Pilzen und Blumen. Der geleeartige Schleim floss auf mich herab und bildete eine dickflüssige Pfütze. Ich hustete und spuckte den durchsichtigen, grünlichen Glibber aus, blieb dabei auf dem Bauch liegen. Das Licht blendete sehr. Bäume raschelten und ich hörte unbekannte Vogelgesänge. Ich wischte mir über mein schleimiges Gesicht und drehte meinen Kopf mühsam nach hinten. Ein gigantischer Baum wurzelte dort. An ihm befanden sich weitere dieser Türen. Das Loch, aus dem ich kam, leuchtete.

Meine Glieder waren wie eingerostet und es fiel mir schwer, aufzustehen. Selbst bei dem dritten Versuch scheiterte ich. In der Pfütze unter mir spiegelte ich mich selbst. Mein Körper war wie immer dunkelbraun, doch meine Arme waren verziert mit violetten Mustern, meine Unterarme waren gepanzert. Auf meinem Kopf trug ich zwei schwarze Hörner, meine Haare waren lila. Das dunkle Fell an meinen Schultern und an meinem Bauch war verklebt. Ich legte mich auf den Rücken und schaute empor. Zwischen den breiten Baumkronen schimmerte das Sonnenlicht hindurch. Hoch oben flogen anscheinend riesige, kreischende Fledermäuse. Das Laub war nicht überall grün, die Rinde nicht immer braun. Hier wuchsen Pflanzen, wie es sie niemals in der Menschenwelt gab.

Ich unternahm einen weiteren Versuch, mich auf beide Beine zu stellen. Diesmal hatte ich Erfolg. Mir wurde schwindelig, als ich hochkam. Der Boden war glatt. Vorsichtig tat ich einen Fuß auf den anderen.

Immer derselbe Satz kam in mir auf: „So einen schönen Traum hatte ich noch nie.“

Ich wollte ihn ausnutzen, alles aus ihm rausholen, bevor er vorbeigehen würde. Während ich mich betastete, fiel mir etwas Entscheidendes auf: ich besaß Flügel. Sie waren dicht angewinkelt an meinen Armen. In meinem Umkreis bemerkte ich einen etwas größeren Felsen. Voller Vorfreude kletterte ich darauf, spreizte oben angekommen meine ledernen Schwingen, nahm

einen Meter Anlauf, sprang auf und glitt wie erhofft über den Boden hinweg. Es war ein wundervoller Moment. Vor Freude jubelte ich laut. Allerdings war es schwierig, die Flugrichtung zu ändern, weshalb ich direkt auf einen blauen, riesigen Pilz zusteuerte. Den Zusammensturz konnte ich nicht verhindern, doch ich schaffte es, mich an ihm festzukrallen, um danach herunterzuklettern. Mein Körper war wie aufgetaut. Ich war so fröhlich, wie schon lange nicht mehr.

Ich lauschte, als Geräusche mich aufmerksam machten. Ohne Bedenken ging ich in die Richtung, aus der sie kamen. Unter dichtem Gebüsch lag ein sich bewegendes wurmähnliches Etwas. So achtlos, wie ich war, fasste ich es an. Ein Knurren wurde hörbar, als das Ding sich zurückzog. Ich blickte reflexartig hinauf. Hinter dem Busch regte sich ein großes, teilweise lila gefärbtes Tier. Sein vogelähnlicher Kopf drehte sich zu mir und sein Nackenschild, welches wie eine einzige Blume wirkte, stellte sich auf. Ein Name sprang mir blitzartig in den Sinn: „Sucárza“ [Sukárssa].

Der Drache schrie mich an. Mein Gehirn, mein Bauch und mein Herz sagten mir allesamt: „Lauf!“

Doch meine Kraft ließ kurzerhand nach. Mein Körper konnte dem nicht standhalten. Ich rannte um einen großen, umgefallenen Baumstamm herum und versteckte mich dort an einer Stelle, um die Echse abzuschütteln und kurz zu verschnaufen. Jeden ihrer Schritte nahm ich wahr. Sie blieb stehen, schaute sich um. Eilig krabbelte ich hinein in den hohlen Stamm und konnte sie durch ein kleines Loch beobachten. Plötzlich verlor ich sie aus den Augen. Mein Herz raste. Keine zwei Atemzüge später brach der Baumstamm in der Hälfte auseinander. Er wurde durch das Gewicht der Echse einfach zerdrückt. So schnell ich konnte lief ich heraus. In der Ferne schimmerte das Sonnenlicht durch die Bäume. Die Pflanzen wurden weniger. In der Hoffnung, an einen sicheren Ort zu gelangen, rannte ich weiter. Vor mir war eine Klippe. Ich sprang, weitete meine Flügel aus und schwebte über einen breiten Fluss. Der Drache hinter mir brüllte und schlug kaum mit seinen vier Flügeln, während er mir folgte. Ein menschengroßes Loch in der braunen Gesteinswand war nun mein Ziel. Mit großer Mühe konnte ich die Richtung einschlagen und erreichte die kleine Höhle. Ich flog hinein und stürzte beim Landeversuch auf den Boden. Endlich konnte ich durchatmen. Die paar Schrammen, die ich mir zugezogen hatte, ließ ich außer Acht. Zunächst war alles ruhig, doch auf einmal erschien das Gesicht der Sucarza am Höhlenausgang. Vor Schreck krabbelte ich rückwärts. Sekunden später wurde das Gebrüll des Drachen leiser. Stattdessen vernahm ich ein Klopfen, welches nicht von hier stammen konnte. Meine Umwelt verblasste. Das Gestein, auf dem ich saß, wurde so weich wie eine Matratze.

Die Umrisse von Möbelstücken wurden erkennbar. Das Foto lag in meinen Armen. Meine Tränen waren längst getrocknet.

Ich hörte die besorgte Stimme meiner Mutter: „Alasha, komm raus! Komm bitte, es gibt Abendessen!“

Eine halbe Stunde war vergangen. Ich wunderte mich, wie schnell ich eingeschlafen war. Mein Appetit war groß. Trotz der Überzeugung, dass es erneut Streit gäbe, stellte ich Papas Bild weg und ging hinunter. Gegenüber der Treppe befand sich unsere Küche, links davon das Esszimmer mit großen Fenstern und Ausblick auf den Garten. Beide Räume waren ausgestattet mit schicken Holzmöbeln. Außer fürs Bad gab es in diesem Stockwerk keine Türen, sondern Torbögen. Die Wände waren teils braun und beige und die Decke meist weiß, der Fußboden in den Fluren aus hellem, orangebraunem Holz. Alles war groß und schön eingerichtet.

Das Abendessen verlief friedlich, aber nur weil meine Mutter die aufkommende Diskussion sofort durch ihr Eingreifen beendete.

Der Griff nach der Träne

„Noch dreimal schlafen, dann ist endlich Wochenende“, sagte ich mir, nachdem mein Wecker klingelte.

Derselbe Tagesrhythmus wie immer: erst Frühstück, dann Schule, danach Mittag, Hausaufgaben, Abendbrot, zum Schluss noch lernen und letztendlich schlafen. Für Spaß und Freizeit ist da kein Platz, vor allem nicht in der Oberstufe.

Mein jüngerer Bruder Beywin und ich hatten denselben Schulweg und fuhren gleichzeitig mit dem Fahrrad los. Wie gewohnt war er schneller als ich und ließ mich im Stich.

In der dritten Stunde schrieben wir dann den angekündigten Test im Deutschunterricht. Im Vergleich zu anderen Fächern hatte ich für diesen Test viel gelernt, um ihn nicht zu verhauen, denn meine Note musste unbedingt verbessert werden, Während ich mich in meine Aufgaben vertiefte, ging meine Lehrerin, welche ich aus gewissen Gründen insgeheim Frau Super nannte, herum und beobachtete uns Schüler ganz genau. Für mich schien sie, äußerlich wie innerlich, wie eine bösartige, grässliche Hexe. Kurz bevor es klingelte, kam sie plötzlich auf mich zu. Ich achtete nicht sehr auf sie, weil ich mich konzentrieren musste. Doch ich merkte aus dem Augenwinkel, dass sie etwas vom Boden aufhob. Dann passierte der nächste Alptraum. Meine Lehrerin entriss mir den Test. Mein Gehirn setzte aus, ich gelangte in Schockstarre. Frau Super hielt einen winzigen Zettel zwischen zwei Fingern.

Ihr lautes Gekreische ließ alle meine Mitschüler zusammenzucken: „Das lass ich dir nicht nochmal durchgehen, junges Fräulein!“

Sie stampfte zurück zu ihrem Tisch. Die Kinder gafften mich alle an. Ich ließ meinen Füller fallen, die Tinte bekleckerte den Tisch. Ich geriet in Panik und war so verwirrt, dass ich nicht denken konnte. Das Mädchen, welches vor mir saß, meine ehemals beste Freundin, drehte sich zu mir um.

Mit schiefem Blick, gestelltem Schuldgefühl und einer hochgezogenen Augenbraue flüsterte sie: „Sorry.“ Der Spicker hatte ihr gehört. Diese unfassbare Wut, die ich auf sie hatte, kann ich nicht in Worte fassen.

Ängstlich saß ich an meinem Fleck, bis es kurz darauf zur Pause läutete. Alle packten ihre Sachen und standen auf.

Bevor ich mit gesenktem Kopf den Raum verlassen hätte, rief Frau Super: „Wir reden miteinander, Alasha! Damit das klar ist!“

Mein starkes Zittern konnte man wahrscheinlich von Weitem sehen. Ich hoffte, dass alles schnell vorbei ginge und ich vor allem nicht anfangen müsste zu weinen. Dies unterdrückte ich bereits. In meinem Hals saß ein riesiger Kloß.

„Alasha, komm mal her!“, sagte sie zunächst, als alle weg waren. Sie saß auf ihrem Stuhl, schaute herab auf den Spicker.

Ich gehorchte ihr.

„Du weißt, was das heißt? Sicher weißt du das. Es ist ja nicht so, dass das nicht schon einmal passiert ist, stimmt’s?“, sprach sie mit bissiger Stimme.

Aus meinem Mund kamen die Worte: „Das war nicht meiner.“ Da ich zu leise sprach, bat sie mich darum, es zu wiederholen.

Sie lachte. „Komm mir nicht mit Ausreden! Du hast einfach nichts dazugelernt! Alles vergessen, was ich dir vor ein paar Jahren sagen musste.“

Die Tür stand weit auf. Schüler gingen an dem Raum vorbei und schauten im Vorbeigehen herein. Kichern war zu hören. Ich versuchte, den Kloß im Hals herunterzuschlucken.

„Ich trage gleich die null Punkte in das Heft ein und bitte nochmals um ein Gespräch mit deiner Mutter, Alasha. Ich kann dir das nicht durchgehen lassen, das kannst du doch wohl verstehen. Es ist meine Pflicht als Lehrerin.“

Mein Bauch schmerzte. Die Angst machte sich überall in meinem Körper breit.

Frau Super gab mir den eben geschriebenen Zettel, den ich meiner Mutter reichen sollte. „Du darfst jetzt gehen.“

Das tat ich auch. Ich wollte weg, so schnell ich konnte. Also ließ ich mich im Sekretariat für den restlichen Tag abmelden und bat darum, von meiner Mutter abgeholt zu werden. Mein Fahrrad blieb in der Schule. Ich wartete darauf, dass sie endlich kam, stieg in ihr Auto ein, doch sie fuhr nicht los, sondern wollte zuerst wissen, was passiert sei. Ich sagte nichts, fing stattdessen an zu weinen. Sie wirkte ein wenig verwirrt deswegen, aber nahm mich in den Arm. Ein paar Minuten dauerte es, bis ich reden konnte. Sie konnte diese Ungerechtigkeit kaum glauben.

Bis zum Abendbrot verschanzte ich mich in meinem Zimmer, hörte Musik und schaute Videos um mich zu beruhigen.

Während Mama und ich um Sechs das Essen vorbereiteten, kehrten Beywin und Torpus zurück. Es wurde immer nur Waldspaziergang gesagt, damit es schöner klang und ich mich nicht aufregte. In Wirklichkeit machte es mich noch wütender, dass sie nicht aussprachen, weswegen sie wirklich in den Wald gingen.

Als ich meinen Bruder gegriffen bekam, fragte ich ihn leise: „Willst du dich zu einem wie ihn erziehen lassen? Willst du etwa wie er sein?“

„Bleib ma´ locker, Kumpel!“, entgegnete er und verdrehte die Augen. „Er is voll ok. Du hast ja keine Ahnung!“ Er schnaufte tief durch und kam dichter. „Und falls dich das tröstet: Wir waren nicht erfolgreich. Und außerdem sagst du doch auch, ich soll öfter rausgehen.“

Ich trug alles Nötige ins Esszimmer, machte den Fernseher an, der an der Wand hing, und wartete auf die Anderen. Während wir aßen, erzählte Mama von dem Erlebnis.

Es war mir jetzt schon unangenehm, aber Torpus musste ja unbedingt noch seinen Senf dazugeben. Und egal, was er sagte- es war wohl seine geheime Superkraft, dass er aus jedem normalen Gespräch einen Streit zaubern konnte.

„Hättest du dich damals schon zusammengerissen und ordentlich gelernt, dann würde dich deine Lehrerin nicht immer so ins Visier nehmen.“

„Das ist ganze zwei Jahre her. Andere spicken dauernd, aber bloß auf mich achtet sie.“

„Genau das meine ich“, sagte er genervt.

Um das Gespräch zu wechseln, sprach ich rasch ein anderes Thema an, als alle kurz still waren. „Ich könnte auch bald die Fahrschule machen. Andere machen das jetzt auch.“

Torpus sagte genau das, was ich erwartet hatte: „Du bist alt genug dafür, um das selbst zu regeln.“

Dieser Satz versaute mir endgültig den Appetit. Ich räumte mein Geschirr weg und machte mich früher fertig fürs Bett. Ich wühlte mit meinem Handy im Internet herum, als sich unerwartet ein anderes Bild vor meinen Augen aufbaute.

Mein Gesicht war auf die graue Felswand gerichtet. Moos hing von der Decke. Kleine Wassertropfen fielen auf mich hinab. Ich setzte mich auf, blickte zum Höhlenausgang. Draußen wurde es dunkel. Ich achtete auf das Plätschern von Wasser, das Kreischen der Drachen, und bizarres Gemurmel. Letzteres verwirrte mich. Das Geräusch kam von hinten. Ich drehte mich dorthin und realisierte es erst zwei Sekunden später. An der Wand hing ein dicker, brauner Käfer, etwa einen halben Meter groß. Sein rot gefärbter Kopf wandte sich zu mir. Lautes Summen entstand, während er direkt auf mich zuflog. Mit voller Wucht schlug ich ihm meinen Fuß entgegen, sodass er fiel. Ohne Weiteres stand ich auf. Er verfolgte mich, als ich zum Ausgang rannte und wegflog. Zahlreiche, schlafende Sucarza hatten sich zusammen kuschelnd an das braune Gestein gekrallt. Am Horizont ging die Sonne auf und färbte den Himmel. Ich gab mir größte Mühe, festen Boden zu erreichen und nicht von dem Insekt geschnappt zu werden. Ich versteckte mich hinter einem Baum. Als nach einer Weile alles ruhig blieb, ging ich weiter. An vielen Stellen wuchsen Pilze in bläulichen oder violetten Farben, welche den dunklen Wald auf ihre eigene Weise verschönerten. Es war ein wundervoller Anblick. Manche Pflanzen leuchteten auf, wenn man sie berührte. Einige Spitzen der Zweige und Äste der Bäume strahlten ebenfalls.

Ich wanderte umher, dachte an nichts, als das Brummen plötzlich wiederkehrte. Zu allen Seiten schaute ich und entdeckte nicht viel später das grässliche Insekt, welches mich im Visier hatte. Es folgte mir überall hin. Ich rannte, stolperte über eine Wurzel und fiel hinab auf eine Ansammlung dieser zahlreichen leuchtenden Pilze. Der glitzernde Schleim bedeckte mich. Meine Haut war schleimig und klebrig, sodass bei der weiteren Flucht Blätter und Schmutz an mir hängen blieben. Es war eigentlich finster, doch ich hatte keine Probleme, zu sehen. Schnellstens griff ich den nächsten handlichen Stein und schleuderte ihn direkt zu dem Insekt. Es stürzte und gab danach auf.

Das Geraschel der Pflanzen ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Versteckt hinter einem Gebüsch neben einem Baum stand eine Kreatur, groß wie ich. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde stärker. Das Ding rührte sich. Ich wollte Abstand gewinnen, schaute mich nochmal um und merkte, wie es mir folgte. Meine Bewegungen wurden schneller. Das Ding war dicht hinter mir. Ich wich dem nächsten Baum aus, doch es holte mich ein, packte mich an den Schultern und drückte mich gegen den Stamm. Eine Klinge hielt es an meine Kehle und sah mir tief in die Augen. Es war menschlich, sah fast aus wie ich. Seine weiße Haut trug blaues Fell.

„Was bist du?“, zischte es. Die Stimme war die eines jungen, männlichen Erwachsenen.

Ich blieb stumm und regungslos, er dagegen betrachtete mich genauer. Plötzlich sah ich in seinem Gesicht leichte Panik. Er ging automatisch rückwärts und lief in Eile weg von mir. So verwirrt wie ich war, ließ er mich alleine. Das Gestrüpp entfernte ich von meinem mit Schleim überzogenen Körper. Mir hing sogar ein Ast an meinem rechten Horn. Hinterher wanderte ich ein paar Minuten durch den langsam heller werdenden, hügeligen Urwald, machte es mir an einem Ort gemütlich und beobachtete die schimmernden Nachtfalter, welche um mich herumschwirrten. Kurz darauf wurde es um mich herum komplett düster und der Traum ging leider vorbei.

Am Morgen weigerte ich mich, zur Schule zu gehen. Es war mir peinlich, was am gestrigen Tag passiert war. Ich bat meine Mutter darum, dort anzurufen und zu behaupten, ich sei krank.

Sie ließ nicht mit sich reden. „Du solltest da hingehen. Schließlich hast du keinen, der dir die Mitschriften gibt.“

Da mein Fahrrad nicht zu Hause war, fuhr sie meine kleine Schwester Chári [Tschári] und mich zur Schule.

Beywin regte sich natürlich darüber auf: „Das ist voll diskriminierend.“

Über den Schultag an sich gab es nicht viel zu erzählen. Ich erinnerte mich an das schreckliche Erlebnis von gestern. Absichtlich schweifte ich mit meinen Gedanken ab und dachte an die Welt, von der ich zweimal geträumt hatte. Meine Umgebung verblasste.

Auf der Erde, mitten im finsteren Wald lag ich und genoss es, dort zu sein. Ich wollte mich kaum rühren, war tiefenentspannt. Allerdings machten mich eine rasche Bewegung und Zucken der Pflanzen neugierig. Eine menschliche Figur stand dort. Es kam mir vor, als würde derjenige gegen etwas ankämpfen, dass mir nahe kommen wollte. Ein Geräusch erschallte. Es wiederholte sich und mir wurde klar: es war die Stimme meines Lehrers, der meinen Namen aussprach.

Zurück in der Realität nahm ich den Klassenraum klar und deutlich wahr. Der Mann stellte eine Frage, auf die ich in der Aufregung nicht antworten konnte. Ich war erleichtert, aber zugleich beschämt, als er einen anderen Schüler dran nahm.

Nachdem ich zu Hause mein Mittag verspeist hatte, kehrte meine Mutter von dem Gespräch mit Frau Super wieder und meinte, sie hätte diese Frau schon lange durchschaut und es sei ziemlich erstaunlich, dass die Frau eigentlich so beliebt ist.

Später am Abendbrotstisch sprach ich unter anderem an: „Mein Fahrrad fährt sich so schlecht. Ich bin ständig langsamer als alle.“

Es sollte ein ganz normales Gespräch werden, das dachte ich zumindest.

„Nein. Das Fahrrad funktioniert einwandfrei. Du bist einfach nur zu schlapp“, wollte Torpus mir weismachen. Ein Satz, den ich verabscheute, kam aus seinem Mund: „Es ist logisch, warum du so schwächelst und dich nicht konzentrieren kannst, weil du kein Fleisch isst.“

„Ist das wirklich seine Meinung oder will er mich damit immer nur provozieren?“, fragte ich mich.

„Du brauchst Energie, dann würdest du mit den Leuten in deiner Schule auch besser klarkommen.“

Gereizt entgegnete ich: „Das hat überhaupt gar nichts damit zu tun. Ich hab es dir schon so oft erklärt.“

„Hört auf zu streiten!“, befahl Mama. „Alasha hatte eine anstrengende Woche.“

„Das hat sie immer. Wann ist sie denn mal gut gelaunt?“, fragte er.

Ich schaute ihn bissig an. „Weißt du was? Der Gedanke daran, dass du vor nicht allzu langer Zeit Großwild gejagt hast, macht mich jeden Tag aufs Neue wütend.“

Torpus zog die Augenbrauen herunter. „Das ist lange her. Da war ich jung.“

„Und? Bereust du es immer noch nicht?“

Mama beendete unser Wortgefecht und drehte die Lautsprecher vom Fernseher lauter.

Nachdem Torpus und meine Geschwister gegangen waren, sprach ich Mama beim Tischabräumen mutig auf ihre Beziehung an. „Ich hab nicht damit abgeschlossen, was passiert ist. Aber du… Du hast ja jetzt das perfekte Leben. Du hast alles: Freunde, Geld, Torpus…“

Sie ließ alles stehen, schaute hinab. „Ist es wieder dieses Thema?“ Sie atmete tief durch und sah mich an. „Denkst du etwa, es ist einfach, als 44 jährige Witwe mit drei Kindern einen Mann zu finden, der uns alle durchfüttern kann? Du hast alles, was du brauchst, bekommst alles, was du willst. Ich werde wohl nie verstehen, wieso du Torpus so abgrundtief hasst.“

Ich konnte mich kaum zusammenreißen, stand fast unter Tränen. „An materiellen Dingen fehlt mir vielleicht nichts. Aber weißt du, was ich mir in diesen fünf Jahren immer gewünscht hab?“ Ich stockte, um die Trauer herunterzuschlucken. „Einen guten Vater…“

Rasch trat ich hinaus, schnappte mir mein Fahrrad und radelte davon.

Ich dachte mir in dem Moment: „Hört sie sich eigentlich selbst zu? Nichts davon macht Sinn! Es kann für sie nicht so schwer gewesen sein, einen neuen Mann zu finden. Ein Jahr später war sie nämlich in den ersten Kerl, den sie traf, neu verliebt. Sie tanzt einfach mit irgendeinem Typen bei uns an und erwartet, ohne zu fragen, dass wir ihn als Vater sehen. Ich habe nie um darum gebeten, dass so etwas passiert. Als hätte sie Papa einfach vergessen…“

Ich fuhr zu seinem Grab und bestückte es mit ein paar Blümchen, welche ich auf einer Wiese gepflückt hatte. Ich schniefte, wischte mir die Tränen von den Wangen. Sein Name war in dem Stein eingraviert. Er lautete Ejéru [Eh´dschéru]. Ich werde nie vergessen, wie er mich oftmals „Bärchen“ nannte. Damals konnte ich das nicht ausstehen, heute ist es eine wertvolle Erinnerung für mich.

Zuhause erwartete mich meine Mutter. Sie sprach etwas an, was mich zum Kochen brachte. „Du brauchst Hilfe. Vielleicht solltest du eine Therapie machen.“

„Als ob! Da kriegen mich keine zehn Pferde hin.“

„Du kannst es wenigstens versuchen.“

„Niemand kann mir helfen“, befürchtete ich.

Bevor sie sich wegdrehte, sagte sie: „Du kommst alleine nicht damit klar und das weißt du auch.“

Als ich eine Stunde später im Bett lag und für die Schule lernte, hörte ich einen typischen Streit zwischen meiner Mutter und Beywin über seine Videospielsucht. Ein wenig Mitleid hatte ich mit ihm, das Lernen aber war mir gerade wichtiger. Ich blendete die Hintergrundgeräusche aus. Meine Konzentration ließ trotzdem nach, weil meine Gedankenwelt mich ablenkte.

Ich lag versteckt zwischen den Wurzeln eines Baumes. Nachdem ich heraus krabbelte, sah ich Kleidung neben mir. Ich wunderte mich, woher diese kam. Und außerdem fragte ich mich, wieso ich mir in einem Traum etwas anziehen sollte. Ich war in einem Wald, niemand war hier, der mich sehen konnte. Da dachte ich allerdings nochmal an den Fremden, der mich in der Nähe letztens angefallen hat. Und dieser war genau genommen auch bekleidet. Also bevor ich jemand weiteres begegnen würde, nahm ich die Kleidung lieber an mich und tat, was der Traum von mir verlangte.

Es waren kurze Klamotten, für diese warmen Temperaturen geeignet. Das Oberteil, welches im Grunde ein BH war, konnte ich zwar enger machen, doch die Hose wäre mir gerne weggelaufen. Glücklicherweise fand ich in dem Gestrüpp noch einen passenden Gürtel.

In diesem Traum war es Tag. Ich spazierte durch den Wald, bis mir auf einmal etwas zu Kopf stieg. Es war irgendeine verblasste Erinnerung. Ich strengte mich an, herauszufinden, was es war. Eine Weile später fiel es mir ein. Es war ein Name: „Milánis“. Sofort war ich verwirrt. Ich wusste nichts damit anzufangen. Aber er kam mir so vertraut vor, als hätte ich ihn schon oft gehört. Ich war mir bewusst, dass dieser Name etwas Besonderes sei.

Der Boden unter mir wurde steiniger. Hier standen keine Bäume. In der Nähe war ein Abgrund, dahinter der weite Dschungel. Am Horizont erkannte ich das Meer, an einer anderen Seite stachen Berge in den Himmel. Ich konnte mich weiterhin kaum daran gewöhnen, keine Ohren und keine richtige Nase zu haben, stattdessen aber einen Schwanz sowie Hörner zu besitzen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, in einem fremden Körper zu stecken.

Meine Ruhe wurde gestört durch ein mir bekanntes Summen. Einer der Käfer raste von links auf mich zu. Sogleich begann ich zu fliehen und hatte pures Glück, denn ein Loch im Boden rettete mir das Leben. Ich sprang hinab, rutschte an dem Gestein hinunter und realisierte, dass ich mich in einer riesigen Höhle befand. Vorsichtig ging ich hindurch, hoffte, dass ich hier in Sicherheit wäre. Vor einem hohen Felsen blieb ich stehen. Es war still. Man konnte sich hier gut abkühlen. Ich war an der Wand angelehnt und horchte, ob einer dieser Käfer sich näherte. Das, was wirklich passierte, hatte ich nicht kommen sehen. Es roch ähnlich wie Fisch. Eine starke Präsenz war zu spüren. Ein Schreck fuhr durch meine Adern, als ich hinaufblickte. Eine gewaltige, graue Echse mit leeren Augenhöhlen und rotem Haarschopf schaute zu mir. Ihre Flügel waren so lang, als würde sie auf Stelzen gehen. Ihr Kopf war größer wie ein Mensch. Sie brüllte, als ich mich von ihr weg bewegte. Verzweifelt lief ich tiefer in die Höhle hinein. Das Monster schien aufgeregt. Meine Angst wurde stärker, als ich sein Kreischen und Getrampel hörte. Er hätte mich leicht zu fassen bekommen.

Ein Pfeifen ertönte. Der Drache stoppte. Wir beide drehten uns nach hinten. Am Höhlenausgang stand jemand. Es war offenbar derselbe Junge, welcher mir einst sein Messer vor die Kehle hielt. Er gab mir ein Zeichen, dass ich kommen sollte. Ich hatte keine Wahl und vertraute ich ihm. Vor Angst zitternd schlich ich mich an dem Monster vorbei, welches sich nicht rührte, und stellte mich hinter den Fremden. An diesem Tag konnte ich es mir nicht erklären, warum der junge Mann auf das Monstrum zukam und seine Hand auf dessen Schnauze legte, welches daraufhin auffallend ruhig wurde.

Überraschend verlor ich langsam mein Bewusstsein. Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war, dass der Fremde auf mich zu rannte.

Es war Freitag. Dies hieß nicht, dass ich mich freute. Dieser Tag war genauso schlimm wie alle anderen. Früh morgens dachte ich lange darüber nach, wieso ich ständig von dieser so unerklärlich realistischen Welt träumte.

Den ersten Block hatte ich zwar frei, kam trotzdem in Zeitdruck, weil ich viel zu lange im Bett lag. Zum Glück fuhr mich meine Mutter, sonst hätte ich es nicht pünktlich geschafft. Das Übliche geschah. In der ersten Stunde wurde ich vom Lehrer übersehen, als er ein Arbeitsblatt herumgereicht hatte. Ich meldete mich, wurde erneut übersehen. Er war versunken in seinem eigenen, langweiligen Gelaber. Ich ließ es sein und sagte mir selbst, ich brauche das Blatt eh nicht. Den blinden Drachen und die Käfer kritzelte ich in meinen Hefter. Seit frühster Kindheit war ich so verträumt, dass ich dem Unterricht kaum folgen konnte. Die Lehrer trauten sich kaum, mich anzusprechen, da ich selten Antworten lieferte.

Meine Zeugnisse versaute ich mir oft durch schlechte, mündliche Noten. Ich war nicht die beste in der Schule. Nach dem Tod meines Vaters strengte ich mich nicht mehr an. Das war ein Grund dafür, dass ich die siebte Klasse wiederholt habe. Ich schrieb in der Zeit haufenweise Spicker. Das Wissen bekam ich überhaupt nicht in meinen Kopf. Als ich einmal von Frau Super erwischt wurde, schwor ich, keine Zettelchen mehr zu schreiben, doch es fiel mir schwer, für die vielen Tests und Klausuren intensiv zu lernen. Irgendwie hatte ich das Lernen verlernt.

Es klingelte zur Pause. Eigentlich einer der besten Augenblicke in der Schulzeit. Doch nicht heute. Überraschend trat meine „Lieblingslehrerin“ in den Raum, drängelte sich zwischen den Schülern hindurch und stampfte direkt auf mich zu.

„Kannst du mir mal sagen, wer für dich diesen Aufsatz geschrieben hat?“, fragte sie mit diesem zornigen Blick, den sie immer aufsetzte, wenn sie mir gegenüberstand.

Ihre Worte verwirrten mich vollkommen und machten mir mächtig Angst. Stockend und zitternd brachte ich eine Antwort: „Keiner… Ich hab den alleine geschrieben…“ Es war mir unangenehm, dies zu wiederholen, weil Frau Super mich akustisch nicht verstand.

Ich wollte gar nicht daran denken, dass ein paar meiner Mitschüler heimlich zuhörten.

„Er ist viel zu gut, als dass du ihn selbst geschrieben hättest“, war ihre Meinung. „Ich erwarte eine gründliche Erklärung von dir.“ Sie zeigte auf mich und verschwand so schnell wie sie kam.

Für diese Momente hatte ich sie zutiefst gehasst. Ich kann bis heute nicht verstehen, wieso sie bei den Meisten so beliebt war. Nur zu mir war sie unfreundlich. Nur mich konnte sie nicht leiden.

Als ich nach Schulschluss auf meine Mutter wartete, passierte etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Die Blicke mancher Schüler richteten sich auf eine teure Karre, die neben uns auf der Straße anhielt. Es war nicht Mama, die mich abholte, sondern Torpus. So nervös wie ich war, stieg ich schnell und stumm in das große, schwarze, makellose Auto ein. Draußen stand meine ehemalige Freundin. Ihre knallroten Haare machten sie zu einer der auffallendsten Personen auf dem Schulhof. Daher gab ich ihr die Bezeichnung: Rotschopf. Mit großen Augen starrte sie das Fahrzeug an. Ihren Neid konnte man fast riechen. Torpus und ich wechselten bei der Fahrt kein einziges Wort miteinander. Wir schauten uns nicht an. Bei der Ankunft stellte er sein Auto unter dem Carport ab und verschanzte sich dann in seinem privaten Raum im Erdgeschoss. Ich hingegen ging in den zweiten Stock, wo sich die drei Kinderzimmer und das Schlafzimmer meiner Eltern befanden.

Ich hatte erneut Probleme mit meinen Hausaufgaben, doch diese waren selbst nicht die Ursache, weshalb es mir schwer fiel. Laute Musik drang aus Beywin´s Bude, welche gegenüber von meiner war. Wütend trampelte ich zu ihm herein.

„Beywin!“, brüllte ich. „Mach die Musik leiser!“

Er saß an seinem Schreibtisch, drehte sich zu mir und sah mich genervt an.

„Ich mach grad Hausaufgaben.“ Ich musste schreien, damit er mich überhaupt hören konnte.

„Ja, ich doch auch“, sagte er.

Damit jeder in der Nachbarschaft alles mithören konnte, hatte er mal wieder das Fenster weit auf. Schnellstens machte ich es zu. Ich schämte mich für ihn, aber so ist das Leben nun mal mit einem jüngeren Bruder. Es trat erst Stille ein, nachdem wir zum Essen gerufen wurden- die einzige Tageszeit, bei der wir alle beisammen sein mussten.

Links von mir war meine manchmal zu empfindliche Mutter Dayla [Daila]. Rechts von mir saßen meine Geschwister: meine Schwester Chari, die vor circa einem Monat eingeschult worden ist, und mein pubertärer 14 jähriger Bruder Beywin.

Am anderen Ende des Tisches saß mein Möchtegern-Vater Torpus. Er stach bereits durch sein Aussehen hervor, denn er war unter uns der einzige Weiße. Blonde Haare, blaue Augen, dunkle Augenbrauen, groß, schlank, immer gut gekleidet. Zugegeben: eigentlich gutaussehend, doch seine inneren Werte ließen ihn mir hässlich erscheinen.

Ich half meiner Mama beim Tischabräumen, um sie auf eine Sache aufmerksam zu machen: „Hätte Torpus wenigstens nicht so eine unsympathische Ernährungsweise…“

„Worauf willst du hinaus?“, stöhnte sie.

„Er ist ein Allesfresser. Er würde selbst die eigenen Fische fressen, wenn ihm danach wäre“, behauptete ich. „Daher wünsch ich mir kein Haustier mehr- aus Angst, er würde es mit Essen verwechseln.“