Takla Makan - Petra Nouns - E-Book

Takla Makan E-Book

Petra Nouns

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Beschreibung

Ella, 14, besucht eine Gesamtschule in Berlin-Kreuzberg. Die große Mehrheit der Schüler sind solche mit sogenanntem 'Migrationshintergrund'. Ellas Vater, selbst Lehrer, will es so. Und eigentlich ist es ja auch in Ordnung, auch wenn das Klima mitunter rau ist. Mit den meisten in ihrer Klasse kommt Ella gut zurecht, und es gibt Sofia, ihre beste Freundin. Probleme macht eigentlich nur Orkan, der eine viel zu große Klappe hat und sich für unwiderstehlich hält. Alles wird anders, als Ella wieder und wieder, wenn sie allein ist, aus heiterem Himmel ein blaues Licht erscheint. Das Licht hüllt sie ein und scheint sie für kurze Momente in eine andere Zeit zu entführen. Sie erlebt Situationen mit einem anderen, erwachseneren, einem hilfsbereiten Orkan, in den sie unsterblich verliebt ist ... Was Ella nicht weiß, ist, dass ein Orakel in der chinesischen Wüste Takla Makan der Großmeisterin der weißen Magie, Leila, offenbart hat, dass ihr Neffe Orkan aus Berlin-Kreuzberg zu ihrem Nachfolger bestimmt ist: er und ein deutsches Mädchen, das seine Braut werden soll. Leila belegt Ella mit dem Zauber der verschobenen Zeiten, um ihr einen Weg in die Zukunft zu weisen und um Arda, den Schwarzmagier und Gebieter über die Dreibeinige Einsilbige Katze, daran zu hindern, Ella und Orkan ins Verderben zu stürzen.

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Takla Makan

Petra Nouns
Takla Makan
Das blaue Licht

Der Orkan fegte durch mein Leben. Und mein Kinderherz starb.

Inhalt

Taube und Krähe

Das Orakel

Geheime Mischung

Das blaue Licht

Bismillah

Gangsta

Chicken Wings

Verblauung

Katzenwäsche

Die Jungfrau

Das Gedicht

Die Schmiede Sein

Schwarze Magie

Futur II

Letzte Chance

RiR

Berührungen

Börek

Sweatshirt

Ustad Arda

Hundertdreiundsechzig Tage

Sieben Wände

Das Amulett

Ich liebe, Präsens

Kotti

Von Ardas Hand

Tot

Die falsche Braut

Mama

Einspruch

Kanarienvogelgelb

Der 16. Shaban

Im Auge des Orkans

Verzaubert

Weiße Magie

Zusammen

Taube und Krähe

Ich glaube, alles fing am 27. August dieses verdrehten Jahres an. Die Geschichte ist natürlich viel älter. Wie alt, weiß niemand genau. Für mich jedenfalls begann sie an diesem Tag. Ich kam in die 8 a der Marie-Curie-Gesamtschule in Kreuzberg, was nicht weiter schlimm gewesen wäre, aber auch Orkan war in dieser Klasse.

Vor Beginn der ersten Stunde stolperte ich über seine Tasche, die quer im Gang zwischen den Tischen lag. Ich hatte gehofft, Orkan wäre kleben geblieben, doch nun sah es aus, als müsste ich ihn in ein weiteres Jahr ertragen.

Das achte Jahr Orkan. Seit der Grundschule.

Mein Vater liebt Kreuzberg, liebt Multikulti. Er hat mich auf eine Grundschule mit einem Ausländeranteil von drei Vierteln geschickt. Und dann auf die Marie Curie, mit immerhin noch zwei Dritteln. Zwei Drittel Ausländer – ich meine natürlich Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund. Mein Vater hat keinen Schimmer, was das heißt. Er selbst ist Lehrer an einem Schickimicki-Gymnasium in Wilmersdorf. Heuchler. Aber ein lieber Heuchler. Ist eben Papa, pardon, ich meine Lars, denn er möchte nicht Papa genannt werden.

Ach ja, ich habe auch eine Mutter. Das vergesse ich manchmal, weil ich sie so selten sehe. Sie ist Ethnologin. Ethnologie war eines der ersten Worte, die ich schreiben konnte. Mama war damals sehr stolz auf mich. Was Ethnologie genau ist, habe ich bis heute nicht verstanden. Nur so viel: Immer die Nase in fremden Angelegenheiten und immer auf Achse. Lars hätte sie lieber zu Hause, logo, aber was soll er machen? Sie anbinden? Sie würde sich scheiden lassen. Fertig.

Um es kurz zu machen: Ich habe eine komische Familie, wenn man das überhaupt so nennen will, und wünschte, ich hätte einen Vater, der Bundesliga guckt, und eine Mutter, die … na sagen wir, die einfach da ist, angebunden oder nicht.

Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass ich immer ein und dasselbe Sweatshirt trage. Es ist schwarz, lang, weit, im Winter wärmend, im Sommer kühlend, wie ich finde, und es hat vorn und hinten die Aufschrift Sweatshirt. Um ehrlich zu sein, ich habe natürlich nicht nur dieses eine. Ich habe zugegebenermaßen zwei davon, absolut identisch. Sie wandern immer abwechselnd in die Waschmaschine und sind deshalb auch absolut identisch verwaschen.

Und noch was: Ein paar Tage vor diesem ersten Schultag in der 8 a hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Brieftaube gesehen. Mit einem Ring am Fuß und einem zusammengerollten Briefchen darin. Es war Abend. Die Taube saß auf der Linde vor meinem Zimmer und wurde von einer Krähe angegriffen. Ich wollte ihr helfen, aber die Krähe hackte auf sie ein, bis sie wegflog. Ich weiß, das klingt jetzt nicht besonders aufregend, aber seltsam daran war, dass sich das Ganze nachts um halb zwölf abspielte, wenn Krähen und Tauben eigentlich schlafen – soviel ich weiß.

Womöglich war das der Beginn meiner Geschichte.

Das Orakel

Auf einer Düne am südlichen Rand der Wüste Takla Makan hockt Leila, die letzte Großmeisterin der weißen Magie im Orden der Itnanin. Die Mittagsonne steht hoch über der endlosen Weite goldener Wellen. Mit ihrem knochigen Zeigefinger schreibt Leila Buchstaben in den Sand, Zeile für Zeile, langsam und bedächtig.

O heiliges Orakel der Sandkörner, Verehrt von Ahnen und Urahnen, Gib preis, wen du bestimmst Zu meinem Lehrling und würdigen Nachfolger. Offenbare! Wer wird der Prüfling sein?

Von ferne, vom Zentrum der Wüste her, kommt ein Brausen auf. Es schwillt an, wird zum Sturm, heult und wirbelt eine Million Sandkörner durch die Luft. Leila hält ihre Gewänder zusammen und duckt sich. Dann hebt sie den Kopf, kneift ihre achthundertsiebenundzwanzig Jahre alten Äuglein zusammen und blinzelt gegen die Sonne.

Auf einer Düne am nördlichen Rand der Wüste Takla Makan hockt Arda, Großmeister der schwarzen Magie im Orden der Shaitanin. Er frisst einen Echsenkopf. Langsam zermalmt er den Schädel, schluckt, rülpst und schreit gen Süden:

„Los! Orakel! Spiegle!"

In der Ferne der Wüste zeigt sich das Orakel der Spiegelungen. Ein glänzender Streifen, der sich langsam ausdehnt zu einer flimmernden Fläche. Eine Fata Morgana. In ihrem Spiegelbild zeigt sie ihm, was Leila, seine ärgste Feindin, auf der anderen Seite der Wüste treibt.

Arda hat Mühe, die Spiegelschrift zu entziffern.

„Kann sich ums Verrecken nicht kurz fassen, diese Leila. Verehrt von Ahnen und Urahnen … ", schnaubt er und reißt seine schwefelgelben Augen weit auf. „Einen Nachfolger braucht die Alte also. Interessant ."

Da erscheint die Antwort des Orakels. Erst undeutlich, dann immer klarer bildet sich aus der Sandwolke ein Schriftzug:

Orkan

Leila stößt einen Schrei des Entsetzens aus und wirft sich zu Boden.

Orkan?! Ihr Neffe Orkan? Der Orkan, der in Berlin-Kreuzberg lebt und sich vor allem für Handys interessiert und für Turnschuhe, die den Namen der griechischen Siegesgöttin Nike tragen, und diese verehrt, als hätte die Göttin sie eigenhändig geschustert?

Der Orkan, den sie dennoch liebt wie einen leiblichen Sohn, dieser Orkan etwa?

Arda wischt sich mit seinem Ärmel das Echsenblut von den Lippen, liest, was da in die Luft geschrieben steht, und ein Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit.

„Orkan!? Leila, das ist dein Untergang! Dein Ende! Das Bürschlein Orkan, dein Zauberlehrling? Ha! Haha!" Sein Lachen lässt die Fata Morgana erzittern. Sein Mund ist weit aufgerissen und sein einziger Zahn steht in seinem Mund wie ein Stalagmit in einer Tropfsteinhöhle.

„Warum Orkan? Warum?", fragt Leila kopfschüttelnd, dabei weiß sie, dass das Orakel auf diese Frage nicht antwortet. Es sagt, was sein wird, aber niemals, warum.

Wie um aller sieben Himmel willen soll Orkan die harten Prüfungen der Zauberlehre bestehen? Er wird reifen müssen, schneller, als es seinem Alter entspricht, viel schneller. Geistig wachsen, sein Herz weiten, seinen Mut stärken.

Leila weiß natürlich, was nun zu tun ist. Aber was wird Orkan davon halten? Eine Braut muss gefunden werden, dann muss das Paar dem Zauber der verschobenen Zeiten ausgesetzt werden. Das ist die erste der Prüfungen, bevor Orkan seine Lehre überhaupt antreten kann. So sind die Regeln, wenn der Lehrling männlich ist. Jeder der Magie Kundige – egal ob der weißen oder der schwarzen – kennt sie.

Auch Arda. Der frohlockt. Ein Kinderspiel, beinahe schon zu einfach, um Spaß zu machen. Er wird dafür sorgen, dass dieser Kasper von Orkan und seine Braut den Zauber der verschobenen Zeiten nicht überleben. Und dann: das Ende der Itnanin! Und zwar ein Ende mit Rache! Rache für das, was Leila vor achthundertzehn Jahren verbrochen hat. An Ardas Vater Erim, einem redlichen, ehrenhaften, zutiefst unanständigen Schwarzmagier.

Erim begehrte Leila, tat alles, um von diesen verfluchten Itnanin akzeptiert zu werden, war bereit, sich mit Haut und Haar der weißen Magie zu verschreiben, aber sie haben ihn abgelehnt. Und Leila verschmähte ihn. Verhöhnte ihn!

Schön war Leila damals. Blutjung, siebzehn und bildschön.

Doch selbst eine Itnanin altert, ist sterblich.

„Sterblich! Jawohl!" Ardas Ruf erschüttert die Wüste Takla Makan.

Leila wird sterben. Bald. Sehr bald. Er muss nicht einmal nachhelfen, denn im Grunde ist sie schon so gut wie tot. Wenn sie ihr wahres Gesicht trägt, dann ähnelt sie bereits der Mumie, die sie bald sein wird.

Doch bevor es so weit ist, wird sie noch erleben müssen, wie ihr nichtsnutziger Erbe Orkan versagt und verreckt. Nichts wird übrig bleiben von ihrer lächerlichen, blässlich weißen Magie. Sie wird sterben, ohne einen Nachfolger zu haben, und ohne einen neuen Großmeister der weißen Magie wird der Orden der Itnanin untergehen. In der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Die Shaitanin werden die Welt regieren! Dank ihm, Arda, dem größten Schwarzmagier aller Zeiten – der er dann sein wird.

Der Sturm ist vorbei, die Sandkörner haben sich gesetzt. In ruhigen Wellen liegt die Wüste wieder da. Leila steht auf, verbeugt sich vor dem Orakel, dankt ihm und verspricht, seiner Weisung Folge zu leisten. Dann springt sie behände wie ein junges Mädchen auf ihr geflügeltes Pferd und fliegt los.

Hoch steigen sie auf in den wolkenlosen Himmel.

Es gibt viel zu tun. Einkäufe in Kashgar, und bevor sie der Dreibeinigen Einsilbigen Katze in Istanbul ihren Pflichtbesuch abstattet, muss sie zum alljährlichen Familientreffen in Sarp. Wenn Orkan dort ist – sie weiß, er kommt nicht gern in dieses Kuhkaff, wie er es nennt, sei's drum –, wenn er kommt, dann wird sie ihm sagen müssen, was das Orakel verkündet hat. Ohne Umschweife.

Ardas Mund klappt zu, seine knittrigen Lippen schließen sich, doch sein Zahn ragt steil aus der Unterlippe hervor, gräbt eine Kerbe in die Oberlippe und stakt in seinen Schnauzbart. Ohne sich bei seinem Orakel zu bedanken und ebenso leichtfüßig wie Leila, springt er auf seinen Teppich. Es ist ein sehr alter Teppich, ein Erbstück von unermesslichem Wert, wenn auch ziemlich durchlöchert.

„Los! Trag mich!" Auf seinen Teppich einpeitschend, nimmt Arda die Verfolgung von Leila auf.

Über der Stadt Kashgar, am westlichen Rand der Wüste Takla Makan, stoßen die nördliche und die südliche Route der Alten Seidenstraße zusammen. Und genau da stoßen auch Leila und Arda zusammen. Leilas Pferd wiehert erschrocken und bäumt sich auf. Leila hat Mühe, sich auf seinem Rücken zu halten, und Arda purzelt beinahe von seinem Teppich.

Leila empört sich: „Kannst du nicht aufpassen!? Bei dem bisschen Verkehr! Anfänger! Sonntagsflieger! Hättest mal sehen sollen, was hier vor achthundert Jahren los war!"

Arda rückt seinen Turban zurecht und schnauzt: „Rechts hat Vorfahrt, Alte!"

„Ach was. Links in Pakistan, rechts in Kirgistan, bis 1949 links in China, jetzt rechts, in Usbekistan seit ich weiß nicht wann rechts, wen kümmert's?"

Nichts ist Leila anzumerken von der Angst, die ihr in die Knochen gefahren ist, als sie Arda erblickte, als sie Arda roch, als sich jede Faser ihres Körpers gegen Ardas Gegenwart sträubte. Sie rückt sich im Sattel zurecht und rümpft verächtlich die Nase. „Was machst du überhaupt hier, du erbärmliche Ausgeburt des Bösen! Mir nachstellen?!"

Leila gibt dem Pferd mit den Fersen einen zarten Druck, zieht die Zügel an und macht sich bereit zum Landeflug auf Kashgar.

„Nimm dich blof nicht fo wichtig! Ich!? Dir nachftellen!? Ich bin rein fufällig hier!"

Ardas Zahn hämmert gegen seine Oberlippe. Wenn er unsicher wird, entgleiten ihm manchmal die Zischlaute.

„Wie kommt es bloß, dass du so wenig respektgebietend wirkst, sobald du deinen Mund aufmachst? Übrigens hast du schrecklichen Mundgeruch."

„Das ist der Hauch der Hölle!" Er reißt sein Maul auf und stößt seinen Höllenatem aus.

Totenbleich sackt Leila in sich zusammen und kippt nach vorn. Kraftlos hängt sie über dem Pferdehals. Als sie wieder zu sich kommt, sieht sie bereits die Dächer von Kashgar. Auf ihr kluges, treues Pferd ist Verlass. Aber die Übelkeit wirkt noch nach. Ardas Vater, der ihr einst nachstellte, stank genauso. Als er damals vor langer Zeit endlich seine widerliche Buhlerei aufgeben musste, hat er Rache geschworen. Während das Pferd die alte Stadtmauer von Kashgar ansteuert, geht Leila die ganze Geschichte wieder durch den Sinn.

Es gab schon einmal eine Kandidatin für ihre Nachfolge. Latifa, benannt vom Heiligen Orakel der Sandkörner, so wie Orkan heute. Sie wurde das Opfer von Ardas Vater Erim. Von höchster Stelle seines Ordens erhielt Erim den Befehl, Latifa unschädlich zu machen. Er war der Richtige für diesen Auftrag, gedemütigt, hasserfüllt und rachsüchtig, nachdem Leila ihn hatte abblitzen lassen.

Erim raubte Latifa den Geruchssinn, und das war nicht alles. Durch sein Werben um Leila hatte er genug über die Itnanin gelernt, um Latifa vorzutäuschen, er sei einer von ihnen. In Gestalt eines schönen Jünglings verführte er das Mädchen, stahl ihre Unschuld, schwängerte sie – und verliebte sich in sie. Latifa gebar Arda und starb am Kindbettfieber. Bis heute machen die Shaitanin die Itnanin für ihren Tod verantwortlich und die Itnanin die Shaitanin.

Erim aber war derart in wahrer Liebe zu Latifa entbrannt, diesem ersten weißen Wesen, das er in seinem Leben berührt hatte, dass er sich vor Kummer eigenhändig erdolchte. Auch hierbei sollen den Legenden nach die Itnanin ihre Finger im Spiel gehabt haben.

„Diese Shaitanin stürzen sich ganz allein ins Unglück. Dazu brauchen sie uns nicht", murmelt Leila vor sich hin. „Aber Schluss jetzt mit den alten Geschichten. Konzentration!", ermahnt sie sich.

Für den Zauber der verschobenen Zeiten braucht sie Gewürze vom Sonntagsmarkt in Kashgar. Und getrocknete Wildschweinnasen. Außerdem fünfzehn Milliliter Flusswasser vom Ufer des Tuman, von der Stelle, wo die Kamele getränkt werden, gemischt mit 0,968 Milliliter Kamelspucke. Leila denkt angestrengt nach. Sie besitzt kein Rezeptbuch, kein Notizbuch und auch keinen PC – obwohl Orkan ihr ständig in den Ohren liegt, sich einen dieser federleichten Laptops zu kaufen.

„Für Vielflieger wie dich echt cool", meint er.

Nichts von ihrem großen Wissen hat sie je aufgeschrieben, nicht sie und nicht ihre Vorfahren. Das Wissen der Itnanin ist so alt wie die Menschheit. Es niederzuschreiben würde es zunichte machen, denn was geschrieben steht, kann nicht geheim bleiben, und was nicht geheim bleibt, ist ungeschützt. Urheberrecht, Produktschutz, Patentrecht und so weiter – alles stümperhafte Versuche unwissender Krämerseelen.

„Schon wieder schweife ich ab. Ich werde alt, jaja, alt."

Sie sammelt sich.

Die Kamelspucke muss von einer trächtigen, weniger als fünf Jahre alten Kamelstute stammen. Leila darf nichts vergessen, nichts durcheinanderbringen. Der Zauber der verschobenen Zeiten ist gefährlich. Lebensgefährlich.

Auf einem einsamen Gelände vor den Toren von Kashgar lässt Leila ihr Pferd landen. Sie steigt ab, strafft ihren Rücken, und ordnet ihre Gewänder.

Arda landet hinter einer nahen Mauer. Mit Mühe hat er es geschafft, auf seinem Teppich mit Leilas Pferd mitzuhalten. Als Zauberteppich funktioniert er einwandfrei. Bäuchlings auf ihm liegend, im Schneidersitz auf ihm sitzend oder mittig auf ihm stehend, führt Arda seine Zauberkunst aus. Und als Teppich der bösen Schritte leistet er Großartiges. In jedem, der einen Fuß auf ihn setzt, weckt er zerstörerische Kräfte: Hass, Wut, Niedergeschlagenheit, Verachtung, Gier, Neid, Verwirrung, Mordlust – was auch immer Arda wecken will. Ein Magierwerkzeug der Spitzenklasse! Aber als Flugobjekt ist er bestenfalls Mittelklasse.

Arda macht sich daran, sich in den mächtigen Vogel Greif zu verwandeln. Flügel wie eine Boeing, aber noch schneller, Schnabel und Krallen stärker als Baggerschaufeln. Arda stellt sich auf seinen Teppich, schließt die Augen und murmelt ein Kauderwelsch aus chinesischen, uigurischen, türkischen, arabischen und salarischen Worten. Dann hält er zehn Minuten lang die Luft an. Nichts passiert.

Zwar schon Großmeister der schwarzen Magie, Angehöriger des Ordens der Shaitanin, jedoch gerade mal einhundertzweiunddreißig Jahre alt, fehlt ihm die langjährige Praxis der Verwandlungen. Im Grunde seines schwarzen Herzens mag er Verwandlungen auch nicht. Schon sein Vater hatte kein Glück damit. Wozu sich wandeln? Man ist, wie man ist, basta. Aber wenn's denn sein muss, denkt er und hält weiter die Luft an. Er wird puterrot, dunkellila, blau. Endlich hört sein Herz auf zu schlagen. Nase und Mund einschließlich des Stalagmiten-Zahns wachsen zusammen und ziehen sich zu einem spitzen Schnabel in die Länge. Der Bauch schwillt an, die Gewänder platzen, die Beine schrumpfen, die Füße krümmen sich zu Krallen. Kein Körperteil passt zum anderen. Der Kopf hat Spatzengröße, der Bauch ist dick wie der eines Elefanten, die Füße sind unterschiedlich groß. Das Wesen, das eben noch Arda war, schüttelt sich, zupft sich mit dem Schnabel die Fetzen seiner Gewänder vom Leib, reckt und streckt sich, wedelt mit den Armen, bis sie sich zu Flügeln entfalten, stampft und springt, und langsam schrumpft das verbeulte Tier zu einer vogelähnlichen Gestalt, zu einer zierlichen Taube im hübschen Federkleid, in deren Brust Ardas schwarzes Herz schlägt.

„Scheiße", sagt er, als er an sich herabsieht.

„Ärgere dich nicht."

Arda fährt vor Schreck zusammen. „Wie lange stehst du schon da?"

„Lange genug." Und schon hat Leila ihn gepackt. Rücklings liegt er in ihrer linken Hand, seine Taubenbeine ragen in die Höhe. An einem hängt ein Ring mit einer Schlaufe.

„Du machst dich gut als Brieftaube."

Er strampelt, will den Ring abschütteln, doch der ist festgeschmiedet. Leila tippt mit einer Fußspitze an Ardas Teppich der bösen Schritte. Der schrumpft, rollt sich zusammen, springt wie eine Heuschrecke hoch und fädelt sich geschickt in die winzige Schlaufe am Fußring der Taube ein.

Leila hält Arda dicht vor ihr Gesicht. „So. Ich könnte dir jetzt deinen dürren Hals umdrehen. Aber obwohl ich das kann, tue ich es nicht. Kein Itnanin hat sich je die Finger an Shaitanin- Blut schmutzig gemacht. Du wirst dir selbst genug schaden, bis es irgendwann für deinen Tod reicht. Dein Drecksteppich wird dir dabei helfen. Vergiss nie: Weiße Magie besiegt die schwarze. Immer. Bis in alle Ewigkeit."

Arda schaut sie hasserfüllt an.

„Bitte, gern geschehen", sagt Leila, zieht die Schlaufe fest und lässt ihn fallen.

Alle Itnanins verfluchend, hackt Arda auf den Fußring ein.

Flugs verwandelt Leila ihr Pferd in ein Überlandtaxi, dem sie wenig später mitten auf dem Sonntagsmarkt von Kashgar entsteigt.

Alles, was Leila braucht, gibt es bei Herrn Hui Min – seit fünftausend Jahren hat das Traditionsgeschäft seiner Familie alle Zauberzutaten der Welt auf Lager, behauptet er. Aber Leila weiß, dass Hui Min zu Übertreibungen neigt. Eine geschlagene Stunde dauert der Einkauf der paar Kleinigkeiten, die er angeblich seit fünftausend Jahren stets vorrätig hat.

Auf ihrem Pferd steuert Leila weiter gen Westen. Höher und höher wird ihr Flug, sie überquert die weißen Gipfel der Siebentausender des Tien-Shan-Gebirges, den Blick in die Ferne gerichtet.

Deutlich über der zulässigen Brieftaubengeschwindigkeit, aber im gebotenen Sicherheitsabstand hat Arda die Verfolgung aufgenommen. Der Blick hinab auf die Berge weckt bittere Erinnerungen in ihm. Aufgewachsen in einer Höhle in diesem Gebirge bei einem dümmlichen, alten Shaitanin-Knecht, hat Arda sich schon in frühester Kindheit geschworen, seinen Vater zu rächen, und schwört es sich heute erneut.

„Bei allem, was mir unheilig ist!", schreit er mit Höllenatem hinaus in die Welt.

Der Teppich der bösen Schritte schlackert im Flugwind. Der Fußring schneidet in sein Bein.

„Dieses verdammte weiße Blut in mir!", flucht Arda. „Von meiner verdammten weißen Mutter. Es macht mich zum verdammten Weichling. Nicht auszuhalten, der verdammte Ring am verdammten Fuß!"

Doch Arda trotzt dem Schmerz. Er trotzt den minus achtzig Grad, die in dieser Höhe herrschen. Flugmeile für Flugmeile verfestigt sich sein Racheschwur.

Nach zweitausend Meilen sieht Leila unter sich das Kaspische Meer und in weiter Ferne am Horizont die Küste des Schwarzen Meeres. Sie fliegt mit der Sonne, die Stunden verstreichen wie in Zeitlupe, ein endlos langer Tag.

Unter ihr taucht Sarp auf, ihr Heimatdorf an der türkischgeorgischen Grenze. Sarp ist aus dieser Höhe kaum zu erkennen, aber Leila weiß genau, an welcher Bucht der Schwarzmeerküste sie geboren ist. Mit dreizehn hat sie hier den Umgang mit ihrem geflügelten Pferd gelernt. In über achthundert Jahren Flugpraxis hat sie sich die Weltkarte eingeprägt, tief eingeprägt. Als Orkan ihr einmal begeistert Google Earth vorführte, musste sie in sich hineinlächeln, voller Mitleid für dieses unvollkommene Werkzeug. Aber natürlich hat sie Orkan und seinen PC gelobt.

Leila landet in einem stillen Olivenhain bei Sarp. Im Schatten der Bäume verwandelt sie sich in eine elegante Frau, von der niemand wissen kann, ob sie dreißig, vierzig oder fünfzig Jahre alt ist. So kennt ihre Verwandtschaft sie seit Jahrzehnten.

Sie tut, als statte sie nur ein paar Höflichkeitsbesuche ab, aber hinter verschlossenen Türen berät sie sich eingehend mit der Dorfältesten und lässt die Dorfmädchen zwischen dreizehn und vierzehn kommen. Die Mädchen servieren Lammspießchen, Salat und Jogurt und beantworten brav Leilas Fragen.

Später am Nachmittag ist es dann so weit: Orkan macht ihr tatsächlich seine Aufwartung. Hinter seiner Mutter trottet er über den Hof, zieht seine göttlichen Turnschuhe aus, bevor er durch die niedrige Tür tritt, und begrüßt die Tante und die Dorfälteste. Beiden küsst er ehrerbietig die Hand, Tante Leilas Handrücken führt er nach dem Kuss mit gesenktem Kopf an seine Stirn. Er weiß, was sich gehört. Er ist ein guter Junge.

Er erkundigt sich nach ihrem Wohlbefinden, berichtet von seinen Fortschritten in der Schule und im Lautenspiel. Leila weiß, dass er dabei ein wenig flunkert, aber das verzeiht sie ihm. Doch als sie von ihrer Befragung des Heiligen Orakels der Sandkörner berichtet und feierlich verkündet, dass Orkan ihr Nachfolger im Orden der Itnanin sein wird, fängt er an zu kichern.

„Ich? Zauberer? Mit Zauberstab und so? Geil!" Er klopft sich mit den Fäusten auf die Brust und grinst in die Runde. Die Frauen schweigen betreten.

Leila muss feststellen, dass Orkan nicht die geringste Ahnung hat von der Bedeutung dessen, was der Spruch des Orakels bedeutet.

Seine Mutter räuspert sich verlegen, nimmt seine Hand und schaut ihn ernst an. Orkan lacht und ruft: „Ey Mann, ich werd Zauberer!"

Grinsend steht er auf und geht hinaus auf den Hof, wo die Mädchen, die an der Tür gelauscht haben, aufkreischen und weglaufen.

Wenigstens hat er die Aufgabe ohne zu zögern angenommen, denkt Leila. Ein feines Lächeln erhellt ihr Gesicht.

Bei etlichen Tassen Tee und zwei Keksen – Leila achtet streng auf ihre Linie – reden die Frauen weiter über das, was nun zu tun ist.

Noch am selben Abend setzt Leila ihre Reise fort. In der Dämmerung steuert sie auf Istanbul zu. Dort hat sie seit ihrem siebenhundertfünfundsechzigsten Lebensjahr gelebt, mal im asiatischen, mal im europäischen Teil, bis sie in die Nähe von Kashgar zog, wo sie heute ihren Alterssitz hat.

Leila lässt das Pferd hoch über dem Bosporus kreisen. Himmel, Wasser, Hagia Sophia, die Blaue Moschee, der Topkapi Palast, die ganze Bucht glüht noch vom Sonnenuntergang am Goldenen Horn. Die schönste Stunde Istanbuls.

In ihrem langen Leben hat Leila die Dreibeinige Einsilbige Katze nur drei, vielleicht vier Mal gesehen, und beim ersten Mal hatte sie noch vier Beine. Beim zweiten Mal musste Leila miterleben, wie sie ein Bein verlor. Unfassbar! Die Einsilbige Katze, Hüterin aller Zauber der Itnanin, verlor ein Bein! Heute lebt sie zurückgezogen im Yali der Familie am Ufer des Bosporus. Nur die Büyük Nine, Orkans Urgroßmutter, wohnt bei ihr, und auch sie sieht man nie bei Familientreffen.

Als es vollständig Nacht geworden ist, steuert Leila ihr Pferd abwärts. Langsam nähert sie sich dem Yali. Das prächtige Holzhaus am Wasser aus Zeiten des vorvorletzten Sultans des Osmanischen Reiches scheint zu schlafen. Ein morscher Kahn schaukelt im Bootshaus auf dem Wasser. Einer der Balkone im ersten Stock ist leicht abgesackt; die filigran geschnitzten Klappläden hängen schief und bewegen sich leise quietschend im nächtlichen Wind. Die Fenster dahinter sind mit Brettern vernagelt. Aber hinter den Balkonfenstern im dritten Stock ist ein schwaches Licht zu erkennen.

Leise landet Leila hinter den Gartenmauern des Yali. Ein Bediensteter kommt auf alten, krummen Beinen herbeigeeilt und versorgt das Pferd. Leila ordnet ihre Frisur und betritt das Haus.

Im unteren Stock riecht es ein wenig modrig vom feuchten Fundament. Aber in den drei großen miteinander verbundenen Salons im dritten Stock ist davon nichts zu merken. Im mittleren sitzt auf weichen Polstern im Duft des Räucherwerks aus Amber, Musk und Weihrauch die Büyük Nine, und, wie ein Kragen um ihre Schultern geschlungen, döst die Dreibeinige Einsilbige Katze im Schein der Öllampen. Und außerdem ist da zu Leilas Erstaunen ein samtäugiges Mädchen.

Die Büyük Nine nickt Leila zu und heißt sie mit knapper Geste, Platz zu nehmen.

Leila setzt sich. Das Mädchen serviert Suppe, Datteln und Tee. Leila fragt sie nach ihrem Alter.

„Dreizehn." Das Mädchen lächelt schüchtern, während sie in hohen Bögen die Gläser füllt.

„Soso, dreizehn. Und wie ist dein Name?"

„Selda."

„Soso, Selda."

„Sie ist meine Urgroßnichte, Orkans Cousine fünften Grades", sagt die Büyük Nine.

„Soso, Cousine fünften Grades."

Selda zieht sich wieder zurück, und Leilas Blick folgt ihr wohlwollend. Nach dem Essen gehen Leila und die Büyük Nine mit der Dreibeinigen Einsilbigen Katze auf der Schulter ins Mondzimmer, ein kleines Balkonzimmer, das ausschließlich für die Betrachtung des Mondes gebaut wurde. Schweigend verweilen sie im schwarzblauen Licht der Nacht und blicken weit über den Bosporus hinaus bis zur silbernen Mondsichel und weiter noch – sie schauen in die Zukunft und in die Vergangenheit.

Dann endlich schenkt die Dreibeinige Einsilbige Katze Leila einen Blick und Leila bringt ihr Anliegen vor.

Sie bittet um Hilfe bei der Suche nach Orkans Braut und um Genehmigung zur Anwendung des Zaubers der verschobenen Zeiten. Die Dreibeinige Einsilbige Katze nickt bedächtig, dann spricht sie neun Silben:

„Kreuzberg – Manteuffelstraße – Schmiede."

Das ist mehr, als sie je auf einmal von sich gegeben hat.

Weiter geht der Flug. Nun bei Nacht.

Als die Lichter von Berlin auftauchen, verwandelt Leila sich rasch in eine Krähe und ihr geflügeltes Pferd in eine Milbe zwischen ihren Krähenfedern.

Sie umkreist den Fernsehturm dreimal, dann biegt sie ab in Richtung Kreuzberg, Manteuffelstraße, und findet schließlich ein Haus mit einem verblassten Schriftzug über dem Tor. Schmiede Hermann Sein. Sie überfliegt kurz die Namen an den Klingelschildern. Seltsam, kein türkischer dabei. Wo soll hier die Braut wohnen?

Sie entschließt sich, auf der Linde im Innenhof des Hauses zu landen und erst einmal zu verschnaufen. Morgen wird sie weitersehen.