Tal der Tausendnebel - Noemi Jordan - E-Book

Tal der Tausendnebel E-Book

Noemi Jordan

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Beschreibung

Erster Band aus der Trilogie: 'Die Saga der Haifischfrau' Durch die geheimnisvolle Begegnung mit einem Hawaiianer verwebt sich das Leben der Lehrerin Maja mit dem Schicksal einer Frau, die 1893 nach Kauai auswanderte und dort als Haifischfrau die Insellegende prägte. Hawaii 1893: Die junge Malerin Elisa Vogel erlebt mit ihrer Mutter die strapaziöse Schiffspassage in den Pazifik als sinnliches Abenteuer. Auf der Insel Kauai soll sie einen Kolonialherrn heiraten, um die Zuckerrohrplantage ihrer Familie zu retten. Beim Übersetzen von der Bremen III mit einem Wa a nach Hanalei Bay passiert das Unvorstellbare: Elisa fällt über Bord und wird von einem Hai angegriffen. Der Hawaiianer Kelii rettet sie aus der Tiefe. Fortan körperlich gezeichnet, verzweifelt die Künstlerin am Leben, bis Kelii sie in die geheimnisvolle Welt der Kahuna einführt. Verbotener Weise taucht Elisa mit Kelii immer tiefer in die Magie der Tausendnebel ein, bis sich der Kolonialherr, den sie heiraten sollte, grausam an ihr rächt. »Erzähl mir von der Haifischfrau.« »Komm mit mir zu den Ahnen...«

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1. Auflage 2015

Erweiterte Originalausgabe©CINDIGO, der Buchverlag derCINDIGOfilm GmbH, München & Berlin

Umschlagfoto von Hanalei Bay: © Nicole Joens

Autorenportrait: © Oreet Rees

Satz & Gestaltung: Philip Joens

eBook: CINDIGO, München

Made in Germany978-3-944251-39-4

Mehr über unsere

Filme, Musik, Bücher:http://www.cindigo.de

facebook: CINDIGOverlag

Tal der Tausendnebel

Noemi Jordan

CINDIGO

Vorwort

TEIL I

Côte d’Azur, Septembervollmond 2010

Hanalei Bay, Wintersonnenwende 1893

Tal der Tausendnebel, Sommer 1894

Die Plantage, Sommer 1894

Die Steine-Esser, Sommer 1894

TEIL II

Côte d’Azur, September 2010

Blaue Grotte, Kauai 1894

Cap d’Antibes, September 2010

Haifischmann, September 2010

In der Grotte, 1894

Die Flucht, 1894

Südfrankreich, Septemberdämmerung 2010

Waimea Valley, Herbst 1894

TEIL III

Oahu, 1894

München, Oktoberfest 2010

Oahu Mountains, Herbst 1894

München, Herbst 2010

Hawaiian Islands, Jahreswende 2011

Iolani-Palast, Honolulu, Frühjahr 1895

Kauai, Neujahrsmond 2011

Abschied aus Oahu, Sommer 1895

Das rote Haus von Lihue, Jahreswende 2011

Hibiskus-Ball, Jahreswende 1900

Der alte Garten, Jahreswende 2011

Dank

Hawaiisch–Deutsch Trilogie-Glossar

Mahalo – für meine Söhne

Vorwort

Fast zwanzig Jahre sind vergangen, seit mir meine damalige Schwiegermutter während meiner Schwangerschaft zwei Bücher über die Inseln ihrer Vorfahren schenkte. Kurz darauf träumte ich von einer dieser hawaiischen Inseln, einem Ort, der sich anfühlte wie mein Zuhause. Dieses Heimatgefühl ist mir, auch nach der gescheiterten Ehe, durch meine Kinder noch geblieben. Hawaiis Inseln füllten sich über die Jahre mit eigenen Erlebnissen, jedoch blieb die Kultur der Hawaiianer immer auch geheimnisvoll und ein in meinen Augen besonderes Gut, das beschützt werden wollte. Das Volk der Hawaiianer kämpft für das Überleben dieser Kultur und dieser Kampf ist nie einfach gewesen. In den mehr als hundert Inseljahren, die meine deutsch-hawaiische Familiensaga umspannen, spielt dieser Kampf um Landbesitz und Kultur eine wesentliche Rolle.

Der Autorin Kiana Davenport danke ich für ihren heiligen hawaiischen Frauenzorn und die Wucht ihrer Bilder, die mich zu ersten Recherchen inspiriert haben. Auf der Suche nach eingewanderten Deutschen stand ich eines Tages in Lihue, der Hauptstadt von Kauai, auf dem Friedhof der kleinen deutschen Kirche. Dort fand ich Grabsteine mit deutschen Namen und Städten und dort begann meine Geschichte von Maja und Elisa, zwei starken Frauen auf der Suche nach einer Heimat…

N. J.

TEIL I

DIE BEGEGNUNG

Und glaube nicht, du kannst den Lauf der Liebe lenken, denn die Liebe, wenn sie dich für würdig hält, lenkt deinen Lauf.

Der Prophet Khalil Gibran (1883–1930)

Côte d’Azur, Septembervollmond 2010

In der Stille, verborgen unter der Meeresoberfläche, berührte Maja zum ersten Mal Keanus Haut. Sie fühlte sich anders an als ihre eigene. Maja war nur zu einem Teil Polynesierin. Der Rest von ihr war deutsch. In Keanus Augen war sie eine Haole, wie die Hawaiianer die Weißen nannten. Aber ihre mandelförmigen Augen und ihr dunkles schweres Haar erinnerten an die Ahnen aus der Südsee.

Mahalo und Aloha waren die einzigen Worte, die Maja in der Inselsprache beherrschte. Mahalo hieß danke. Aloha stand für eine ganze Philosophie, einfacher Gruß, aber ebenso tiefes Wissen um die Ausgewogenheit aller Lebensenergien im Geben und Nehmen.

Jetzt gerade fror Maja erbärmlich im nächtlich kalten Wasser der Côte d’Azur. Keanu hingegen schien die Kälte des Meeres nichts auszumachen. Er schmiegte sich unter Wasser an sie. Seine goldbraune Haut glühte vor Leidenschaft und seine Hand ermutigte die ihre. Forschend ertastete sie im Wasser seine muskulösen Schultern und konnte fühlen, wie ihre Berührungen ihn erregten. Aber Sex war es nicht, was sie von ihm wollte, noch nicht. Bibbernd vor Kälte legte sie ihre Hand auf den Haifischzahn, den er an einem geknoteten Lederband um den Hals trug.

»Erzähl mir von der Haifischfrau.«

Seine Augen strahlten wie eine fremde Sonne, als er ihr von dem Riff erzählte, an dem seine Vorfahren lebten. Ein riesiger Hai war das Oberhaupt seiner Sippe. Den Haifischzahn gaben die Männer seiner Familie seit Generationen weiter. Kraft und Mut verlieh er dem Mann, der einst Anführer werden sollte.

Mit einem Lächeln löste Keanu jetzt den Knoten an dem Band um seinen Hals und legte Maja seinen Haifischzahn um. Er fühlte sich warm auf ihrer Haut an. Sie fror weniger und drehte sich auf den Rücken. Keanu folgte ihrem Beispiel.

Mit klopfenden Herzen trieben sie nebeneinander im nächtlichen Meer. Sie wand ihr Gesicht dem Mondlicht zu, während er ihr die Sage von einem Riff in seiner Heimat erzählte, an dem die Mütter seit Jahrhunderten ihre Neugeborenen von den Haien segnen ließen.

Das Plätschern der Wellen wurde zur Melodie, während Maja verzaubert seinen Worten über die Insel Kauai lauschte. Konnte sich ihr Leben perfekter anfühlen als in dieser Nacht?

Die Küste mit Nizzas glitzernden Lichtern lag wie eine Kette Edelsteine in angenehm entfernter Distanz. Maja trieb in den sanften Wellen und dachte über die letzten Tage nach. Ihr Leben hatte begonnen sich zu verändern, seit sie hier in Nizza das Lehrerseminar besuchte, im dem sie Keanu kennengelernt hatte. München schien weit weg zu sein, ebenso wie ihr Freund Stefan. Dabei wollten sie eigentlich in wenigen Monaten heiraten. Nur hatte es in ihrer Beziehung im letzten Jahr viel Stress und Kampf gegeben. Auch deshalb wollte sie das Lehrerseminar besuchen, musste unbedingt für eine Weile für sich sein, um sich Klarheit zu verschaffen, vor allem auch eine finale Klarheit über ihre Gefühle für Stefan. Heiraten war eine ernste Sache. Und dann war es einfach so passiert. Maja war Keanu begegnet, und mit ihm einem verborgenen Teil in ihr selbst, der jetzt entdeckt werden wollte. Noch nie war sie auf den hawaiischen Inseln gewesen. Die Südsee hatte in ihrem bisherigen Leben keine Rolle gespielt und Hawaii war lediglich einer von vielen Plätzen gewesen, den sie irgendwann einmal besuchen wollte.

Doch wenn sie in diesem Moment unter dem Sternenhimmel ehrlich mit sich war, so bewegte sie inzwischen nur noch ein einziger Wunsch: Sie wollte mit dem Schönen aus Kauai verschmelzen.

Als würde Keanu ihre hungrigen Gedanken ahnen, griff er im Meer nach ihrer Hand. Fordernd begann er, an ihren salzigen Fingern zu saugen.

»Komm mit mir zu unseren Ahnen!«, flüsterte er und zog Maja mit sich in die Tiefe.

Hanalei Bay, Wintersonnenwende 1893

Elisa Vogels Schicksal war anfangs ein kleiner brauner Punkt auf tanzenden Wellen. Die beiden Kanus mit den vier Eingeborenen näherten sich dem stolzen Dreimaster, auf dem die große junge Frau aus Hamburg stand. Die Haut der Männer glänzte goldbraun in der untergehenden Sonne. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Elisa die fremden Ruderer, die in Kürze herangekommen sein würden, um die Waren aus Deutschland, die für die Zuckerrohrplantage ihres Onkels auf Kauai bestimmt waren, vom Schiff zu holen.

Am nächsten Morgen würden die Männer dann ihre Mutter und sie ans Festland bringen.

»Ob die Männer am ganzen Körper nackt sind? Vater hatte in seinen Zeichnungen der Eingeborenen immer ein Lendentuch angedeutet, aber ich kann keinen Stoff sehen.«

»Aber Elisa, so etwas fragt eine junge Dame nicht!« Ihre Mutter warf ihr einen tadelnden Blick zu. Gleichgültig zuckte Elisa mit den Schultern.

Zumindest aus der Ferne sah es so aus, als wären die Männer nackt. Auf den Südseeinseln, auf denen sie bisher Station gemacht hatten, trugen manche der Eingeborenen so gut wie gar nichts am Leib. Ihre Mutter tat aber selbst nach einem Jahr auf See immer noch, als müssten sie nach Hamburger Anstandsregeln leben. Dabei hatte ihr Vater erzählt, dass auch die europäischen Einwanderer auf den hawaiischen Inseln weitgehend nach eigenen Gesetzen lebten, sodass die Kleiderordnung den Frauen zumindest keine Korsetts aufzwang.

Der stolze Dreimaster Bremen III hatte Elisa und ihre Mutter auf vielerlei Umwegen vom Hamburger Hafen bis nach Kauai gebracht. Sie waren auf der Überfahrt in so vielen Häfen von Bord gegangen, dass Elisa das Gefühl hatte, den halben Globus zu kennen. Aber hier, an ihrem Zielort Kauai, würden sie den Hafen nicht anlaufen können. Es herrschte Ausnahmezustand. Ihr Schiff würde aus Sicherheitsgründen über Nacht an der Westküste der Insel in einer geschützten Bucht ankern müssen.

Seit gut einem halben Jahr befanden sich die hawaiischen Inseln in Aufruhr. Die von ihrem Volk über alles geliebte Königin Lili’uokalani sollte abgesetzt werden, um Platz für eine neue Regierung zu schaffen, die den weißen Plantagenbesitzern mehr Mitspracherechte ermöglichte. Als Lili’uokalani sich widersetzt hatte, war sie von den Amerikanern unter Hausarrest gestellt worden. Amerikanische und europäische Söldner hatten ihren Palast umstellt. Man wollte die Königin durch verschiedene Repressalien dazu bringen, freiwillig abzudanken, aber dieser Plan war fehlgeschlagen. Derzeit lebte die Herrscherin Hawaiis immer noch als Gefangene in ihrem Palast, und das gefiel ihren Untertanen nicht. Überall auf den Inseln hatten die Königstreuen zu den Waffen gegriffen. Hanalei Bay war auf Kauai eine der wenigen sicheren Buchten für Handelsschiffe. Aber selbst hier war es angeblich schon zu Übergriffen gegen weiße Einwanderer gekommen.

Elisa interessierte sich mit ihren neunzehn Jahren bereits brennend für Politik. Ihr Vater und seine Freunde in Hamburg hatten ihr viel beigebracht. Da sie ein Einzelkind war, hatte der Vater sie immer mehr wie einen Jungen als wie ein Mädchen behandelt. Alle ihre Fragen über die Geschichte Europas hatte er geduldig beantwortet. Er wusste, dass Elisas Mädchenlyzeum in Hamburg den jungen Frauen in diesen Fächern nur unzureichend Wissen vermittelte, und füllte ihre Wissenslücken mit Vergnügen.

Elisa war eine gelehrige Schülerin, sodass ihr Vater ihr sogar zusätzlich einen Privatlehrer zur Seite stellte, wenn er auf seinen ausgiebigen beruflichen Reisen unterwegs war. Deswegen hatte Elisa, vor allem was die Kolonien betraf, umfangreiche Kenntnisse und eine bisweilen auch durchaus kritische eigene Meinung. Unter gleichaltrigen jungen Männern war sie deshalb als Blaustrumpf verschrien, aber das machte ihr nur wenig aus. Elisas Traum war es, eines Tages die Firma ihres Vaters übernehmen zu können und deshalb versuchte sie, die Zusammenhänge von Geschichte und Politik zu verstehen, um bei Tisch mitreden zu können, wenn die Geschäftsfreunde ihres Vaters kamen.

Elisa wusste, dass es den Amerikanern und Europäern auf den hawaiischen Inseln vor allem um die ertragreichen Ernten und die billigen Arbeitskräfte ging. Durch die Kaffeeernten waren viele Europäer reich geworden, und seit Kurzem war Zuckerrohr die neueste Mode. Wie Pilze schossen die Plantagen aus dem fruchtbaren Inselboden. Eine Art Goldgräberstimmung lockte mehr und mehr Einwanderer aus Europa und Amerika auf diese paradiesischen Inseln in der Südsee.

Doch schnell waren die Reichtümer zum Zankapfel zwischen den Ländern geworden. Die Europäer stritten sich um die ertragreichsten Ländereien, und Deutschland schlug sich wacker auf diesem Spielfeld. Elisas Familie gehörte mittlerweile eine der ertragreichsten Zuckerrohrplantagen auf Kauai. An die zweihundert Hawaiianer arbeiteten für ihren Onkel auf den Feldern, für einen Lohn, der nach europäischem Standard schlicht lächerlich gering war. Aber angeblich brauchten die Eingeborenen nicht viel zum Leben. So zumindest hatte der Vater es Elisa erklärt, als er noch am Leben war und viele Jahre lang war auf Kauai alles gut gegangen. Die kleine grüne Insel, wie sie genannt wurde, war im Gegensatz zu Hawaii, Oahu und Maui kein Zentrum des politischen Geschehens. Keiner der Arbeiter hatte je offen rebelliert – bis die Amerikaner ihre Königin eingesperrt hatten. Seitdem herrschte kein Frieden mehr zwischen den europäischen Zuwanderern und der Urbevölkerung. Noch war es nur zu gewalttätigen Vorfällen auf Hawaii und Oahu gekommen, aber die Zahl der Toten war mehr als beunruhigend. Zunehmend machten sich kritische Stimmen auf den anderen Inseln breit. Man sprach von Ausbeutung durch die Haole, wie die ankommenden Einwanderer aus Europa verächtlich genannt wurden. Die Weißen sollten das Land zurückgeben und die Inseln verlassen, so lautete die Forderung der Königstreuen. Aufruhr und Widerstand lagen in der Luft.

Das alles wusste Elisa. Mehr als einmal hatte sie versucht, sich während der Überfahrt in die Gespräche zwischen dem Kapitän und seinen Leuten einzumischen, wurde aber aufgrund ihrer Jugend nicht ernst genommen. Oder hatte man sie ignoriert, weil sie nur eine Frau war? Dabei hatte Elisa einen politischen Weitblick, der ihrer Mutter gänzlich fehlte. Nur wollte niemand bei Tisch ihre Meinung hören, sodass sie es schließlich vorzog, alleine in ihrer Kabine zu essen, um dabei lesen zu können.

Elisa sollte mit ihren politischen Befürchtungen recht behalten. In den kommenden Jahren würde ein Großteil der Hawaiianer zu den Waffen greifen, um ihre Königin und vor allem ihre hawaiische Kultur gegen die Übergriffe der Weißen zu verteidigen. Aber wovon sie bei ihrer Ankunft auf Kauai noch nichts ahnte, war ihre eigene Rolle in den politischen Wirren der Zeit.

Alles, was Elisa fühlte, als sie zum ersten Mal die atemberaubende Schönheit der Insel in sich aufnahm, war eine ungewisse Sehnsucht, die tief in ihrem Inneren aufstieg. Schon vor Jahren, als ihr Vater ihr in Hamburg seine Zeichnungen und Aquarelle von den Ureinwohnern Kauais zum ersten Mal gezeigt hatte, klopfte ihr Herz laut und fordernd. Wie schön diese Menschen waren, hatte sie sich gedacht, als sie noch ein kleines Mädchen war, das gerne mit Puppen spielte. Und sie hatte prompt eine ihrer Puppen braun angemalt, ihr einen hawaiischen Namen gegeben und sie zu ihrer Lieblingspuppe auserkoren.

Die wohlgestalteten Männer, die mit gleichförmigen Bewegungen in ihren Kanus heran paddelten, gehörten sicher zu den Plantagenarbeitern, dachte sie jetzt. Neugierig musterte sie die Näherkommenden. Im Vergleich zu ihrer eigenen langweiligen Blässe schien die Haut dieser Männer im Abendlicht sie wie feuriges Gold zu locken, so wie auch die Hautfarbe anderer Inselbewohner, die sie auf der Überfahrt gesehen hatte, einen Reiz auf sie ausübte. Es war nicht leicht diesen Hautton mit Aquarellfarben zu reproduzieren, wie sie bei ihren Malversuchen erfahren hatte.

»Geht es dir gut, Kind?«

Ihre Mutter versuchte ein tapferes Lächeln, um zu überspielen, wie viel Angst es ihr machte, von nun an auf einer Insel zu leben, die sich noch dazu im Ausnahmezustand befand.

»Ist die Landschaft nicht unglaublich schön hier? Dein Vater hat uns nicht zu viel versprochen. Der Anblick ist zauberhaft, nicht wahr?«

Elisa nickte. Gehorsam spielte sie das Spiel mit, vor allem um ihre Mutter zu beruhigen.

»Ja, das stimmt. Hanalei Bay sieht genau so aus, wie Vater es auf dem Aquarell gemalt hatte, das in eurem Schlafzimmer über dem Frisiertisch hing. Er hat kein bisschen übertrieben. Sieh mal die Felsen dort!«

Elisas Augen leuchteten glücklich. Oh ja, hier würde sie endlich ganz in Ruhe malen können! Im Licht der untergehenden Sonne bot sich ihnen ein unvergleichliches Farbenspiel. Die Mutter nickte zufrieden.

»Diese Felsen im Tal der Tausendnebel solltest du schon bald skizzieren. Versuche es doch gleich einmal mit unserem Schiff im Vordergrund. Deinem Onkel würde ein Bild unserer Ankunft sicherlich Freude machen. Bis morgen Früh hättest du noch Zeit für erste Impressionen. Die nächsten Wochen könntest du es als Aquarell ausgestalten, wenn du wieder eine gute Staffelei hast. Die Farben in deinem Kasten müssten noch für ein Bild reichen.«

Elisa war sofort einverstanden. Das Tal der Tausendnebel, benannt nach einer Pflanze mit berauschender Wirkung, die dort wuchs, war als Motiv genauso spannend, wie ihr Vater es ihr beschrieben hatte. Es schien etwas Magisches von diesen bewaldeten Schluchten auszugehen. Im beginnenden Abendlicht wechselten die Grünschattierungen unter den schnell ziehenden Wolken, die sich vor die Sonne schoben. Nebel stieg aus den tiefsten Tälern steil gen Himmel und bildete über dem großen Felsen einen Kreis, der wie eine Art Heiligenschein unbeweglich in der Luft zu stehen schien. Unwirklich und gleichzeitig atemberaubend schön war dieses Tal, das von nun an ihr Zuhause werden würde.

Elisa zog bereits das Skizzenbuch aus der Tasche ihres Baumwollkleides. Da sie gerne bei jeder Gelegenheit zeichnete, hatte ihre Mutter in ihre Kleider eine extratiefe Tasche für Papier und Stifte genäht.

In sorgfältigen Strichen brachte sie die ersten Eindrücke ihrer neuen Heimat zu Papier. Das türkise Meerwasser vor dem weißen Sand in der Bucht. Das strahlende Grün der satten Vegetation. Hier strotzte das Land von Fruchtbarkeit. Vom Schiff aus sah sie wilden Dschungel, aber auch kultivierte Flächen. Im Osten der gezackten Hügelkette standen Bäume in regelmäßigen Reihen. Dort musste bereits die erste Pflanzung ihres Onkels liegen.

Elisas Vater und ihr Onkel hatten vor zehn Jahren für sehr wenig Geld den Eingeborenen ein großes Stück fruchtbares Land abgekauft. Zusätzlich zum Zuckerrohr wollte ihr Vater dort ursprünglich noch eine Obstplantage für den Handel mit Äpfeln aufziehen. Äpfel seien schonender anzubauen als Zuckerrohr, hatte er gesagt, weil die Arbeiter dabei nicht so geschunden werden müssten.

Elisa konnte nicht anders, sie musste erneut zu den schönen braunen Männern hinsehen, die auf das Schiff zupaddelten. Waren das die geschundenen Arbeiter, von denen ihr Vater gesprochen hatte? Sie wagte es jedoch nicht, ihrer Mutter diese Frage zu stellen, zumindest noch nicht. Die Belange von Arbeitern, oder auch die Lebensumstände der Matrosen auf dem Schiff, solche Dinge gingen eine feine junge Dame wie Elisa nichts an, wie ihre Mutter immer betonte. Jetzt besah Clementia bewundernd Elisas erste Striche auf dem Papier. »Vergiss den großen Felsen dort drüben nicht. Vater hatte davon erzählt. Erinnerst du dich? Dort halten die Eingeborenen ihre wilden Feste ab.«

Elisa nickte. »Das Tal der Tausendnebel, so heißt das Gebiet unterhalb des Felsens. Weiße sind dort nicht erlaubt, weil dort diese geheimen Rituale der Kahuna stattfinden…«

Sie war jetzt konzentriert mit ihrer Skizze beschäftigt. Ihre geübte Hand glitt flink mit dem Grafit über das raue Büttenpapier. Die ungewöhnliche Felsformation am Ufer vor ihnen hatte es ihr angetan. Eine tiefe Spalte in der Mitte war dicht mit Vegetation überzogen. Sie wirkte von Ferne einladend, fast wie ein weiches, smaragdgrünes Kissen.

Elisa erinnerte sich an die Worte ihres Vaters, als er ihnen nach seiner letzten Reise von diesem Ort erzählt hatte. An dem großen Felsen fanden die Hochzeiten der Arbeiter statt. Es waren heidnische Vermählungsrituale. Unter freiem Himmel, begleitet von Trommeln und Tänzen, paarten sich nackte Eingeborene bei Vollmond im Rausch der benebelnden Pflanzen. Wie die Tiere seien sie, gänzlich ohne Moral und Anstand, so seine damaligen Worte, begleitet von einem Augenzwinkern, da seine Frau ihn schnell zum Schweigen brachte. Das waren keine Themen für ein unschuldiges kleines Mädchen.

Die beiden Kanus waren kurz darauf so nah, dass Elisa viele Details ausmachen konnte. Vor allem einer der jungen Männer war atemberaubend schön gewachsen. Sein Oberkörper erinnerte Elisa an die antiken griechischen Statuen im Museum. Im Rahmen des Kunstunterrichts hatte sie in Hamburg Aktzeichnen geübt. Der junge Hawaiianer musste groß sein. Seine Muskeln spannten sich beim Paddeln, seine Schultern waren gerade, wie mit dem Lineal gezogen. Den Kopf hielt er auf seinem langen Nacken stolz erhoben. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von fast heiligem Ernst. Kein junger Arbeiter in Hamburg hatte eine derart würdevolle Ausstrahlung. Königlich würde Elisa seine Erscheinung nennen, wenn das angebracht wäre. Aber gab es denn Adlige auf Hawaii?

Sie wusste von ihrem Vater, dass die Deutschen das Königshaus der Hawaiianer nicht anerkannten. Lili’uokalani, die jetzige Königin Hawaiis, galt zur Hälfte als Europäerin, weil sie einen Europäer geehelicht hatte. Zudem musste sie sehr gebildet sein und hatte auf dem amerikanischen Festland studiert, was äußerst ungewöhnlich für eine hawaiische Frau war. Dennoch hatten die weißen Plantagenbesitzer beschlossen, sie zu ignorieren und ihre Wünsche als Albernheiten zu verspotten. Was diese Königin verlangte, nämlich Schulbildung für ihr ganzes Volk, vor allem aber eine gleichberechtigte Behandlung der Frauen, erschien den Weißen einfach zu absurd. Die Hawaiianer sollten auf den Plantagen arbeiten, auch die Frauen und Kinder, um die stetig wachsende Nachfrage nach Kaffee und Zucker zu stillen. Bei zwölf Arbeitsstunden täglich war keine Zeit für Schulbildung übrig.

Den Anblick des schönen jungen Wilden musste Elisa auf alle Fälle in ihrem Büchlein festhalten. Fieberhaft skizzierte sie seine Schultern, die Neigung seines Kopfes, den langen Hals. Plötzlich sah die Mutter ihr über die Schulter und deutete dann auf das Tal.

»Nicht den Wilden, sondern nur die Landschaft!« Obwohl die Stimme der Mutter leise war, hörte Elisa den scharfen, tadelnden Unterton und seufzte. Auch wenn sie sich täglich bemühte, so gerieten sie in letzter Zeit dennoch immer häufiger aneinander. Nach diesen ganzen Monaten an Bord war es an der Zeit, dass sie wieder mehr ihre eigenen Wege gehen konnte, denn mit neunzehn Jahren war sie nicht mehr das kleine Mädchen, das sich so einfach den Wünschen ihrer strengen Mutter unterordnen konnte.

Clementia sah sie kritisch an. »Du verbrennst in der Sonne. Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst deine Haut immer bedecken, wenn du an Deck gehst? Wo ist deine Haube?«

Elisa hatte ihre Kopfbedeckung zusammen mit ihrem Umhang beiseite gelegt, weil es ein lauer Abend war und sie ohnehin keine Vorliebe für Hauben hatte. Sie störten beim Zeichnen. Aber das ließ ihre Mutter nicht gelten. Energisch versuchte sie, ihr die Haube jetzt aufzusetzen, doch Elisa tauchte mit einem Lachen unter ihr weg.

»Lass das, Mutter! Jetzt am Abend kann die Sonne meiner Haut nichts mehr tun, und außerdem stört die Haube mich.«

Aber ihre Mutter schüttelte den Kopf und stemmte ihre Hände in die Hüften, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

»Du ruinierst dir nicht nur deine zarte Haut, sondern auch deinen guten Ruf. Wenn dein Onkel Wort gehalten hat, wirst du im kommenden Jahr heiraten. Und auch wenn europäische Frauen auf Kauai Mangelware sind, wird dein Zukünftiger bestimmt Wert auf einen untadeligen Ruf legen. Eine wohlerzogene junge Dame mit Anstand kann sich weder braune Haut noch Sommersprossen leisten!«

Elisa zuckte zusammen. Die Liebe hatte bis jetzt in ihrem Leben noch keine Rolle gespielt. Aber das Thema Ehemann war in letzter Zeit öfter auf den Tisch gekommen. Sie wusste, dass ihr Onkel auf den Inseln bereits nach einem passenden Kandidaten für sie Ausschau hielt. Deutscher sollte er sein, wenn möglich ebenfalls kultiviert und aus einer großen deutschen Stadt stammend. Aber vor allem spielte der Wohlstand eine entscheidende Rolle, wenn unter den europäischen Plantagenbesitzern geheiratet wurde. Elisa war die einzige Erbin für den Plantagenanteil, der ihrem Vater gehörte und somit auf Kauai eine gute Partie.

Um nicht weiter auf ihre Mutter eingehen zu müssen, beugte sie sich wortlos tiefer über ihre Zeichnung. Sie verspürte nicht den geringsten Wunsch, in nächster Zeit zu heiraten. Auch konnte sie sich gar nicht vorstellen, ein Leben als Ehefrau und Mutter zu führen. Immer hatte sie ihren Vater bewundert, weil er frei und unabhängig in der Welt unterwegs sein durfte, wohingegen sie die häusliche Rolle ihrer Mutter eher als bemitleidenswert empfand. Aber Clementias Wortschwall war noch keineswegs zu Ende. Gerade weil Elisa sie ignorierte, geriet ihre Mutter in Fahrt.

»Deine Haare sind zu wild, um sie nur mit einem Band im Nacken zusammenzuhalten. Wie oft habe ich dir das schon gesagt, junge Dame? Ab jetzt nur noch mit Zopf oder Hochsteckfrisur in der Öffentlichkeit. Du bist seit ein paar Tagen neunzehn Jahre alt und als ungezähmte Wilde findest du auch in der Südsee keinen passenden Ehemann. Willst du deinem Vater und mir das antun? Willst du, dass man über uns tuschelt? Dein Vater würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er dich hier so sehen könnte, so… wild, ungebändigt und ungeschützt!«

Energisch hatte die Mutter begonnen, die Haube aus weißer Baumwolle trotz des Windes auf der Mähne ihrer Tochter festzuzurren. In Elisa kam mit einem Mal all das hoch, was sie in der Enge des Schiffes mühsam unterdrückt hatte. Wütend funkelte sie ihre Mutter an.

»Was weißt du schon, was Vater für mich gewollt hätte! Immer hat er mir beigebracht, dass ich alles erreichen kann, was ich will, wenn ich nur meinen Verstand benutze. Und was willst du aus mir machen? Nur ein … ein erbärmliches, dummes Hausmütterchen!«

Elisa richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, sodass sie ihre Mutter überragte. Sie war mit einem Mal so wütend, dass sie Clementia am liebsten an der Reling hätte stehen lassen. In letzter Zeit spürte sie immer öfter diesen aufwallenden Zorn, wusste jedoch, dass sich derartige Anwandlungen nicht für eine junge Dame geziemten. Um jetzt nicht aufzubrausen, schloss sie ihre Augen und zwang sich tief zu atmen. Sie wusste, wie fragil ihre Mutter im Grunde genommen war, auch wenn sie es oft nicht zeigen konnte. Deshalb zügelte Elisa ihren harschen Ton.

»Tut mir leid, Mutter, aber es ist unser letzter Tag auf dem Schiff! Ich will jetzt keine Haube tragen. Und vielleicht will ich auch in Zukunft meine Haare tragen, so wie ich es möchte. Wenn Onkel und du denken, dass ich alt genug für die Ehe bin, dann darf ich wohl auch selber über meine Frisur entscheiden!«

Die Stirn der Mutter hatte sich in ungehaltene Falten gelegt.

»Aber noch bist du nicht mit einem Ehemann verheiratet, der deine moderne Vorstellung vom Leben einer Ehefrau und Mutter teilt. Zudem soll die Frau deines Onkels viel Wert auf Anstand legen, also lass jetzt das Zappeln. Bitte, Kind, lass dich noch eine kleine Weile von mir beraten. Ich will doch nur dein Bestes … bitte!«

Zu gerne hätte Elisa ihre Mutter jetzt einfach an der Reling stehenlassen und in einiger Entfernung auf dem Deck in Ruhe ihre Skizze von dem jungen Wilden beendet, aber gegen diesen flehenden mütterlichen Blick hatte sie sich noch nie gut wehren können. Zudem zerrte der auffrischende Abendwind jetzt wirklich an Elisas wilder Lockenpracht, die ihr bis an die Hüfte reichte. Nur von einem losen Band gehalten, wehten die Haare wie ein Schleier um ihr Gesicht. Die Mutter nickte zufrieden.

»Siehst du Kind, bei dem Wind ist dein Haar doch gleich wieder verfilzt und wir müssen vor dem Zubettgehen dann ewig kämmen. Du hältst jetzt bitte still!«

Mit flinken Händen flocht die Mutter der Tochter einen einfachen Zopf. Dann zog sie Elisa energisch die Haube über den Kopf. Zuletzt machte sie ihr eine große Schleife unterm Kinn und betrachtete zufrieden ihr Werk.

»Viel besser. So gehört es sich für eine junge Dame. Denk immer dran, du bist nicht irgendwer, sondern die Erbin deines Vaters. Wir müssen ihn hier würdevoll vertreten. Denk an deinen Onkel und deine Tante. Sie erwarten von dir, dass du deinem Vater Ehre machst.«

Elisa steckte ergeben ihr Skizzenbuch weg und blickte gen Abendhimmel. Ein Anflug von Traurigkeit überfiel sie. Wie immer, wenn sie an ihren Vater dachte, bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. Sein Tod hatte eine große Wunde in ihr Herz gerissen. Aber sie wusste, dass diese Wunde irgendwann heilen würde, weil sie noch jung war. So hatte es der Pfarrer ausgedrückt, als er Elisa nahegelegt hatte, gut auf ihre Mutter zu achten. Seit dem Tod ihres Mannes war Clementia Vogel stark abgemagert und hatte sich auch sonst verändert. Es wäre gut gewesen, wenn sie mit ihrer Tochter über ihren Schmerz hätte reden können, aber das war nicht Clementias Art. Der bittere Zug um ihre Mundwinkel zeugte jedoch von den heftigen Kämpfen in ihrem Inneren, denn die Trauer nagte an ihr.

Sehnsüchtig folgte Elisas Blick im Abendlicht einem Vogelschwarm, der vor dem Hintergrund der grünen Felsen seine weiten Kreise zog. Elisa konnte rötliches Gefieder erkennen. Als die Vögel über dem Schiffsmast kreisten, hörte sie ihr Lied zum ersten Mal. Sie sangen hoch und pfeifend, diese polynesischen Vögel. Es war etwas Klagendes in ihrem Ruf, und wieder musste sie an ihren Vater denken. In den letzten Tagen seiner Krankheit hatte er fast nur noch von dieser Insel gesprochen, und jede einzelne Vogelart hatte er Elisa beschrieben. Ihr Vater war gut im Nachahmen von Vogelstimmen gewesen. Elisa griff unwillkürlich nach der Hand ihrer Mutter.

»Hörst du ihr Lied, Mama? Die Vögel heißen uns auf Kauai willkommen. Ist es nicht schön?«

Clementia antwortete nicht. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, wie so oft in letzter Zeit, und ihre klamme Hand erwiderte den Druck der Berührung ihrer Tochter nicht.

Elisa lächelte schmerzlich, während sie ihren Kopf in den Nacken legte, um die Exoten besser beobachten zu können. Der Schwarm bestand aus etwa zwanzig Vögeln, die aussahen wie kleine Papageien.

»Sie singen von einem glücklichen Leben, das auf der Insel auf uns wartet – auf uns beide, Mutter.«

Aber die Mutter schüttelte langsam ihren Kopf.

»Für mich gibt es kein echtes Glück ohne deinen Vater… aber vielleicht finde ich hier meinen Frieden.«

Leise waren ihre Worte, die der Abendwind gen Himmel trug. In ihnen hörte Elisa erneut den Wunsch ihrer Mutter nach Erlösung. Seit dem Tod des Vaters hatten sich nicht nur Trauerfurchen in das einst schöne Gesicht ihrer Mutter eingegraben, auch auf ihrem Herzen lag ein dunkler Schatten.

Eine plötzliche Angst ließ Elisa im Licht der Abendsonne frösteln, während sie stumm aufs Wasser starrte. Ihre Mutter war der einzige Mensch auf der Welt, der ihr noch nahestand. Ihren Onkel Paul, bei dem sie von nun an leben würden, hatte Elisa nur ein einziges Mal gesehen. Seine Frau kannte sie lediglich aus Erzählungen. Elisa konnte den Gedanken, ihre Mutter auch noch zu verlieren, nicht ertragen. Energisch schüttelte sie ihre düsteren Gedanken ab.

»Wir fangen auf Kauai ein neues Leben an. Du wirst wieder lachen. Wir werden glücklich sein, das verspreche ich dir.«

Obwohl sie an Deck in Sichtweite der Matrosen waren, umfing Elisa die hagere zarte Frau jetzt behutsam. Ihre Mutter, fast einen Kopf kleiner als sie, fühlte sich in ihren Armen an wie ein zerbrechliches Vögelchen. Mit einem Anflug von spontaner Zärtlichkeit drückte Elisa ihr einen Kuss auf die Wange.

»Du wirst sehen, Mama, von nun an wird alles gut. Mit Onkel Pauls Hilfe werden wir uns ein eigenes Haus auf Vaters Land bauen. Ich werde zeichnen und Bilder malen. Du wirst wieder Klavier spielen. Wenn wir wollen, werden wir beide auf dieser Insel ein wunderbares, neues Leben führen und das graue Hamburg nicht ein kleines bisschen vermissen. Es gibt bei Onkel Paul sogar schon ein Klavier für dich. Er hat es uns doch geschrieben, nicht wahr?«

Clementia schwieg. Elisa spürte das leichte Zittern im Körper ihrer Mutter, das in letzter Zeit immer stärker geworden war. Manchmal konnte Clementia nicht einmal mehr einen Faden in eine Nadel einfädeln. Elisa schmiegte ihr Gesicht an das ihrer angespannten Mutter und flüsterte ihr ins Ohr: »Hier wirst du auch wieder ganz gesund werden können, das fühle ich.«

Um ihre Worte zu bekräftigen, strich Elisa ihrer Mutter über die Wange und wischte eine Träne ab.

»Vater würde nicht wollen, dass du dich wegen ihm zu Tode grämst. Er will, dass wir beide hier auf Kauai glücklich werden, wenn er schon nicht mehr bei uns sein kann.«

Die Mutter nickte. Einen Moment lang wirkte sie fast weich und kindlich neben ihrer starken Tochter. Fest umschlungen sahen sie jetzt beide mit klopfenden Herzen hinüber zu den Ufern der geheimnisvollen Insel in der Abendsonne. Ab morgen würde Kauai ihre neue Heimat sein.

Die Schiffsglocke läutete. Die Bremen III ließ scheppernd ihren Anker zu Wasser. Ein wenig beunruhigt sah Elisa zu den beiden Kanus, die inzwischen fast beim Schiffsrumpf angekommen waren. Wie klein und wenig verlässlich sie in den Wellen wirkten. Die braunen Männer ließen ihre Paddel ruhen und warteten darauf, dass der Anker seinen Platz im Riff fand, während die Ankerkette sich spannte. Kleine Schaumkronen bildeten sich auf dem Meer, so weit Elisa sehen konnte. Die Wellen waren durch den Abendwind aufgewühlt. Einige von ihnen waren schon so hoch, dass die beiden Kanus kurz aus Elisas Blickfeld verschwanden. Wie Nussschalen wurden sie hin und her geworfen. Aufschäumende Gischt zeichnete nasse Spuren auf das goldene Braun der Muskeln.

Der junge Wilde, der ungefähr in Elisas Alter sein musste, hatte Freude an dem Wellengang. Lebhaft unterhielt er sich mit dem Älteren in seinem Kanu. Elisa konnte sehen, wie beim Lachen seine Zähne blitzten. Dann stellte er sich kurz auf, um einem dritten Kanu zuzuwinken, das sich dem Schiff näherte. So konnte Elisa seinen Körper ganz sehen und war hingerissen von seiner Schönheit. Er war nicht ganz nackt. Um seine Lenden trug er ein gewickeltes Tuch, das bis zur Mitte der Oberschenkel reichte. Lange, kräftige Beine endeten in einem muskulösen Hinterteil, das eine ungewöhnlich ausgeprägte Wölbung hatte. Elisa lächelte. Es war wirklich der Körper eines griechischen Kouros, nur höher gewachsen. Der junge Mann war sehr groß, wie sie jetzt sehen konnte. Sie schätzte ihn auf fast zwei Meter. Immer noch gestikulierte er lebhaft in Richtung des dritten Kanus. Lächelnd zeigte er auf eine große Welle und machte den beiden Ruderern Zeichen. Sie sollten die Welle lieber seitwärts als frontal nehmen. Seine Bewegungen waren von einer Anmut, wie Elisa sie nie zuvor bei einem Mann gesehen hatte. Wie wohl sein Name war?

Ein schriller Pfiff. Das dritte, deutlich größere Kanu, holte schnell auf, nachdem es die große Welle seitlich genommen hatte. In dem großen Lastenkanu saß zwischen den rudernden Eingeborenen ein fetter Weißer, der eine Trillerpfeife im Mund hatte. Der Mann war stark übergewichtig, trug einen zu engen Tropenanzug, und sein Gesicht glänzte rotspeckig in der Abendsonne. Ungehalten machte er dem jungen Wilden in dem kleinen Kanu ein Zeichen und schrie etwas zu ihm hinüber. Elisa meinte das Wort Kanaka zu hören, eine abfällige Bezeichnung für Hawaiianer. Der junge Mann sollte sich hinsetzen und weiter in Richtung Schiff paddeln. Der schöne Wilde gehorchte wortlos, aber Elisa meinte Verachtung in seinen edlen Zügen zu erkennen. Soweit sie das auf die Entfernung beurteilen konnte, hatten der Weiße und der junge Hawaiianer nicht gerade eine freundschaftliche Beziehung. Sie sah genauer hin. Nein, dieser Weiße mit dem Schweinegesicht war auch nicht ihr Onkel Paul, sondern wahrscheinlich der Verwalter der Plantage, ein Holländer mittleren Alters, von dem Elisas Vater ihr einiges erzählt hatte.

Die Mutter seufzte. Clementias Schwager war also nicht persönlich gekommen, um sie abzuholen. Elisa spürte die Enttäuschung ihrer Mutter, noch bevor sie die verbitterten Worte vernahm.

»Paul hätte wirklich selber kommen können. Es ist Zumutung genug für uns Frauen, mittels Kanus an Land gehen zu müssen, anstatt wie üblich den Hafen anzulaufen. Was denkt sich dein Onkel eigentlich, wie stabil meine Nerven sind?«

Elisa wusste, warum ihre Mutter so ungehalten war. Seit Tagen hatte sie sich bereits Sorgen darüber gemacht, dass sie an keinem vernünftigen Kai von Bord gehen würden. Wegen der befürchteten Unruhen am Hafen der kleinen Hauptstadt Lihue mussten sie die übliche Route nach Kauai verlassen. Die Bremen III würde so lange in Hanalei Bay vor Anker liegen müssen, bis alle Frachtgüter ausgeladen waren und die beiden Frauen das Ufer erreicht hatten. Aber der imposante Dreimaster konnte nicht sehr nah ans Ufer, denn gefährliche Riffe säumten die Bucht zu beiden Seiten. Es war zu riskant.

Der Kapitän hatte mit der Mannschaft beraten, ob sie die Frauen mit dem Beiboot ans Ufer bringen sollten, aber auch das könnte als Provokation gesehen werden. Dieser Tage war es am besten, wenn gar kein europäisches Schiff der Insel zu nahe kam. Die Frauen würden deshalb in aller Früh von Kanus ans Ufer gebracht werden.

Das Schiff schwankte stark, sodass Elisa und ihre Mutter sich an der Reling festhalten mussten. Der Anker hatte jetzt Halt am felsigen Riff gefunden und die Kette spannte sich mit lautem Klirren. Es folgte ein weiterer Ruck.

Unsicher klammerte sich Clementia an ihre Tochter, fast wäre sie gefallen. Dann stand das Schiff still. Der Kapitän trat zu ihnen. Seine hohe Stirn zeigte Sorgenfalten. Er sah ernst aus.

»Leider habe ich schlechte Nachrichten für Sie, meine Damen. Ursprünglich wollten wir hier in der Bucht für drei Nächte ankern, aber jetzt müssen wir den Plan ändern. Die Unruhen auf den Inseln zwingen uns dazu. Eigentlich sollten wir gleich nach dem Ausladen der Waren die Segel setzen und umkehren.« Er zögerte einen Moment, bevor er die Hand von Elisas Mutter in seine nahm und weitersprach.

»Ursprünglich wären Sie mit Ihrer Tochter erst morgen früh in die Kanus gestiegen…«

Elisas Mutter nickte. Noch verstand sie nicht, was er ihr sagen wollte. Aber Elisa verstand sehr wohl, um was es hier ging. Sie bekam mit einem Mal ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Der Aufstand der Insulaner machte den Weißen Angst. Ihnen könnte in der Tat schon bald Gefahr drohen.

Die Stimme des älteren Mannes in der stattlichen Kapitänsuniform war voller Bedauern, aber gleichzeitig von männlicher Entschiedenheit, als er Elisas Mutter vor die Wahl stellte, ihre Reise auf seinem Schiff hier zu beenden oder aber zum nächsten sicheren Hafen zu fahren, bis Kauai wieder sicher sei.

»Es tut mir leid, aber wenn Sie auf Kauai bleiben wollen, dann müssten Sie mit Ihrer Tochter in einer Stunde von Bord. Wegen der zunehmenden Unruhen unter den Eingeborenen können wir nicht einmal über Nacht vor dieser Küste ankern. Heute ist Vollmond. Sehen Sie, die Kanakas versammeln sich bereits am Felsen. Einige von ihnen sind bewaffnet.«

Der Kapitän ließ die beiden Frauen abwechselnd durch sein Fernglas sehen. Elisa konnte drei Eingeborene ausmachen, die den Berg hinauf zum großen Felsen liefen, aber sie sah keine Waffen. Fragend sah sie den Kapitän an.

»Sind Sie sicher, dass diese Männer bewaffnet sind? Mein Vater hatte mir erzählt, dass die Hawaiianer ausgesprochen friedliebend sind.« Einen kurzen Moment schien der Kapitän verlegen zu werden.

»Es wird immer wieder von Waffen berichtet. Mein Steuermann wurde bei unserem Landgang auf Oahu explizit gewarnt. Zudem hat es in den Häfen der anderen Inseln bereits mehrfach Übergriffe gegen europäische Schiffe gegeben. Dort drüben, sehen Sie das Leuchtzeichen, meine Damen? Das ist die Warnung eines Plantagenbesitzers an alle Schiffe. Wir sollen fort von hier. Die Bremen ist eine ganz und gar unnötige Provokation. Ich bin mir sicher, dass es nicht im Sinne Ihres Schwagers wäre, wenn ich zwei Frauen unnötig in Gefahr bringe.«

Elisa sah das Leuchtfeuer flackern. Es war auf der Spitze der Landzunge entzündet worden. Wie ein kleiner unwirklicher Punkt im Grün des Dschungels leuchtete es zu ihnen hinüber. Mit einer Decke wurden Zeichen gegeben, Morsezeichen, wie Elisa annahm. Ihre Mutter war vor Schreck blass geworden und hielt sich krampfhaft an der Reling fest.

»Aber was sollen meine Tochter und ich denn jetzt tun? Wir können doch unmöglich bei einem derartig unruhigem Seegang an Land gehen. Aber jetzt wieder umzukehren, so kurz vor dem Ziel, um an einem anderen Hafen zu warten, bis sich diese Unruhen wieder legen… das kann ich mir noch viel weniger vorstellen. Was raten Sie uns?«

Der Kapitän bemühte sich um ein Lächeln.

»Die Wellen beruhigen sich innerhalb der nächsten Stunde. Ich kenne die Bucht. Die einsetzende Abendflut wühlt das Wasser nur kurzzeitig auf. Wenn es dunkel wird, sind auch die Wellen wieder zahm.«

Er sah erneut durch sein Fernglas hinauf zu dem Berg. Elisas scharfe Augen konnten die Gestalten jetzt auch ohne Hilfe erkennen. Mehr und mehr Männer strömten zu dem Versammlungsfelsen im Tal der Tausendnebel, doch sie sah immer noch keine Waffen.

Der Kapitän seufzte. »Vor der Versammlung sind sie angeblich ungefährlich. Aber bei Vollmond halten sie ihre heidnischen Rituale ab und nehmen einen berauschenden Trank zu sich, der, wie man hört, auch den zahmsten Arbeiter in ein wildes Tier verwandeln kann…« Er zögerte einen Moment, bevor er seine weiteren Worte sorgfältig wählte. Sie waren vor allem an Elisa gerichtet. »Sie sind eben nicht wie wir, diese … Wilden. Sie lernen zwar durch unsere Missionare zunehmend die christliche Werte, aber ich habe sogar gehört, dass einige von ihnen bis vor Kurzem noch Menschenfleisch aßen. Wenn alle Kanaka auf den hawaiischen Inseln sich zusammentun und sich gegen die Weißen auflehnen, bleibt von uns noch nicht einmal ein Häufchen Asche übrig…«

Elisa wagte ein Widerwort. »Jedes Volk würde aufbegehren, wenn man es derartig demütigt. Die Lage Hawaiis ist durch den bewaffneten Arrest ihrer Königin mehr als angespannt. Aber das müssten doch auch Sie verstehen können. Die Amerikaner haben ihre Königin gefangen genommen! Die Königin von Hawaii! Was würden Sie denn sagen, wenn so etwas bei uns in Deutschland geschehen würde? Meinen Sie nicht, dass wir uns zur Wehr setzen würden?«

Der Kapitän musterte Elisa mit mildem Lächeln. Auch wenn diese junge Frau wunderschöne Augen hatte, war sie ihm von Anfang an zu vorlaut gewesen. Frauen sollten sich ihre hübschen Köpfe grundsätzlich nicht über Politik zerbrechen, so seine Meinung, die er jedoch in diesem Moment lieber für sich behielt, da er Elisas scharfe Zunge inzwischen kannte.

Der Kapitän verbeugte sich wohlerzogen, aber mit ironischem Lächeln. »Ich weiß, dass Sie viel Mitgefühl mit den hiesigen Kanaka haben, Fräulein Vogel. Ihr weiches Frauenherz ehrt Sie. Aber hüten Sie sich vor Naivität und zu viel jugendlichem Idealismus. Wenn sich diese Wilden erst berauscht in Rage getanzt haben, sind sie zu allem fähig. Haben Sie schon einmal gesehen, was die mit ihresgleichen anstellen, wenn sie sich in die Haare kriegen? Sie gehen mit Zähnen aufeinander los, bis weder eine Nase noch ein Auge im Gesicht ihres Gegners übrig ist. Stellen Sie sich nur einmal vor, was die Arbeiter auf ihrer Plantage mit der Familie Ihres Onkels anstellen würden…«

Der Kapitän überließ den Rest der unerfreulichen Vorstellungen Elisas Phantasie. Als von der Brücke aus nach ihm gerufen wurde, nickte er Mutter und Tochter mit abschließender Verbeugung zu.

»Man verlangt nach mir. Sie entscheiden natürlich letztendlich, was Ihre eigene Sicherheit betrifft. Aber falls Sie auf Kauai an Land gehen wollen, dann müssten Sie in knapp einer Stunde mit Ihrem Gepäck von Bord sein. Wäre das möglich, meine Damen?«

Das zittrige Ja, das Elisas Mutter hauchte, war kaum zu hören. Allein der Gedanke, im Dunkeln das Schiff zu verlassen, versetzte ihre angegriffenen Nerven in gefährliche Schwingung. Aber Clementia ließ trotz ihrer Ängste noch mit Hamburger Höflichkeit verlauten, dass sie und ihre Tochter überaus dankbar für die Warnung wären. Ihre Entscheidung, trotz der Gefahr an diesem Abend an Land zu gehen, läge einzig und allein bei Clementia Vogel.

Der Kapitän drückte ihr ermutigend die Hand.

»Gut. Wenn Sie es so entscheiden, dann werde ich alles Nötige an Bord veranlassen. Bitte haben Sie Vertrauen, verehrte Frau Vogel. Ihr Schwager hat sicherlich seine fähigsten Männer geschickt, um sicheres Geleit zu gewähren. Wir sehen uns dann in einer knappen Stunde. Bitte entschuldigen Sie mich!«

Elisa sah zu, wie der Kapitän nach seiner Verbeugung beschwingt zurück zu seinem Steuermann auf die Kommandobrücke ging. Irgendwie konnte sie sich der Vorstellung nicht erwehren, dass der Mann soeben eine unliebsame Last losgeworden war. Natürlich war es ihm lieber, dass die beiden Frauen noch heute von Bord gingen. Die Bremen III war als Frachtschiff nur ungenügend für den Transport von Passagieren vorbereitet. Quartiere für den Transport von Sklaven gab es unter Deck zur Genüge, aber für Elisa und ihre Mutter hatte der Kapitän seine eigene komfortable Kajüte räumen müssen. Diese Gefälligkeit war den guten Beziehungen geschuldet, die ihr Vater in Hamburg aufgebaut hatte, bevor er seine eigene Reederei, die Reederei Vogel, durch einen schändlichen Bankrott verlor.

Elisa seufzte. Alles was ihnen von dem einst beachtlichen Hamburger Vermögen nach dem Tod ihres Vaters geblieben war, steckte in dieser Zuckerrohrplantage auf Kauai. Auch deswegen mussten sie möglichst schnell von Bord. Elisa und ihre Mutter hatten kaum noch Barmittel zur Verfügung. Sie konnten gar nicht umkehren. Wovon hätten sie auch in der Zwischenzeit leben sollen? Von nun an würden sie dem Willen von Onkel Paul ausgeliefert sein, so sah es Elisa, obwohl ihre Mutter diese Tatsache lieber verdrängte.

Kurz darauf packten sie in der Kapitänskajüte ihre letzten Sachen zusammen. Das Meiste war schon seit Tagen in ihren beiden Reisetruhen vorbereitet. Weiteres Hab und Gut aus der Hamburger Heimat war im Schiffsrumpf verstaut. Sie mussten sich jetzt nur noch frisch machen und umziehen. Die Kleidung, die sie tragen würden, um bei der Begrüßung der Verwandtschaft angemessen auszusehen, hatte ihre Mutter schon vor Tagen ausgewählt. Elisas dunkelblaues Seidenkleid, das sie bei offiziellen Anlässen trug, begutachtete ihre Mutter jetzt ein letztes Mal mit zitternden Händen. Mit einem Monokel, das der Vergrößerung diente, suchte sie nach Schäden und Flecken und murmelte unverständliche Worte vor sich hin.

Elisa sah beunruhigt zu, wie ihre Mutter nach der letzten Inspektion der Kleidung ihre kleine Phiole öffnete und mehr als zehn Tropfen Medizin auf ihre Zunge gleiten ließ. Sie nahm diese Tropfen regelmäßig seit dem Tod des Vaters. Nervlich bedingtes Zittern sowie gelegentliche Asthmaanfälle quälten sie. Beides versuchte Clementia mit einem Opiat unter Kontrolle zu bringen, da ihre Konstitution schwach war, wie sie zu sagen pflegte.

Während Elisa zusah, wie ihre Mutter versuchte, ihren Atem zu beruhigen, dachte sie nach. Ihr gefiel der Gedanke, noch heute einen Fuß auf die Insel zu setzen, die von nun an ihre Heimat sein würde. In einer Stunde würde es so weit sein. Sobald die Waren für die Plantage und ihr Gepäck in die Kanus umgeladen waren, würden sie von Bord gehen. Mit dem Entschwinden der Bremen III würde auch das letzte Stück Deutschland ein Teil ihrer Vergangenheit werden. Dann konnte endlich ihr neues Leben beginnen, ein besseres Leben, wie Elisa hoffte.

Sanft legte sie ihrer Mutter die Hand zwischen die Schulterblätter.

»Schaffst du es, Mama?«

Clementia hatte ihre Atemnot durch die Tropfen halbwegs unter Kontrolle gebracht und versuchte, ihrer Tochter ein zuversichtliches Lächeln zu schenken.

»Es bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig. Noch sind mir keine Engelsflügel gewachsen.«

Elisa litt darunter, wenn ihre Mutter von Engeln sprach. Immer wieder ließ sie anklingen, wie wenig ihr das Leben auf der Erde nach dem Tod ihres Mannes bedeutete. Das tat weh. Sie legte vorsichtig ihre Hände auf die ihrer Mutter.

»Du wirst sehen. Alles wird gut, wenn wir erst auf der Plantage sind. Bei Onkel Paul kannst du dich ausruhen. Er hatte bestimmt zu viel zu tun, um persönlich zu kommen. Nur deswegen hat er Herrn van Ween geschickt und nicht, weil Onkel Paul dich nicht achtet.«

Elisas Mutter sah nicht auf. Ihre Hände zitterten und sie nickte mit gesenktem Haupt.

»Dein Onkel wird es schon richtig machen. Zudem mag Herr van Ween zwar unsympathisch auf uns wirken, muss aber ein tüchtiger Verwalter sein. Seit fast sechs Jahren arbeitet er jetzt auf der Plantage. Sein ältester Sohn Johannes ist der kluge junge Mann, von dem dein Vater uns öfter erzählt hat. Weißt du noch? Ihr seid fast im gleichen Alter. Johannes van Ween wird die gesamte Buchhaltung auf der Plantage übernehmen und ist angeblich sehr gut mit Zahlen. Aber dieser nette Johannes, der Sohn des Verwalters, der wäre leider keine gute Partie für dich. Das hatte ich mit Vater bereits geklärt. Er hat zu wenig Vermögen und zudem brauchst du einen Mann, der älter ist, damit er dir deine Flausen austreiben kann. Ach, was rede ich denn … das müssen die Tropfen sein. Die machen mich ganz wirr im Kopf…«

Elisa lächelte flüchtig. Sie kannte die Wirkung des Opiats bereits. Und tatsächlich hatte ihr Vater ihr einige Male von dem Wunderknaben Johannes van Ween erzählt. Wenn sie Nachlässigkeit bei ihren Rechenaufgaben zeigte, war dieser Johannes immer als leuchtendes Vorbild angeführt worden. Akribie und Zahlenliebe wären herausragende Eigenschaften dieses wundervollen Patensohns ihres Vaters.

Elisa wusste, dass Johannes als zukünftiger Ehemann für sie im Moment höchstens eine Notlösung sein durfte. Man hoffte auf den Wohlstand von Elisas Zukünftigem. Auch wäre ein Deutscher besser als ein Holländer. Aber die van Weens waren tüchtig. Bereits jetzt gehörte ihnen eigenes Land auf Kauai, wie Elisa von ihrem Vater gelernt hatte. Statt sich auszahlen zu lassen, hatte dieser Verwalter um sein eigenes Land gebeten. Dafür musste seine Frau auch auf der Plantage mitarbeiten, weil der Lohn sonst nicht für den Unterhalt der Familie gereicht hätte. Marie van Ween war angeblich eine ausgezeichnete Köchin und stammte ursprünglich aus Deutschland. Bestimmt würde es den van Weens gelingen, für ihren talentierten Ältesten eine gute Partie zu verhandeln, da Johannes neben seinen anderen Qualitäten für einen jungen Mann in seinem Alter ausgesprochen männlich und zudem sehr gut aussah.

Elisa sah ein letztes Mal auf die drei Fotos, die ihre Mutter auf ihre Sachen gelegt hatte. Auf der Reise hatte sie sich diese Fotografien, die ihr Vater bei seinem letzten Aufenthalt auf Kauai selbst mit seinem Fotoapparat gemacht hatte, immer wieder gerne angesehen. Die Familie von Onkel Paul stand stolz vor dem prächtigen Herrenhaus der Plantage. Die zweite Aufnahme zeigte einige Arbeiter als fröhliche Gruppe auf einem Feld. Auf der dritten Aufnahme lächelte der junge Johannes. Als Elisa das erste Mal seine Gesichtszüge sah, hatte ihr Herz spontan einen kleinen Freudensprung gemacht.

Still legte Clementia jetzt als letzte Vorbereitung eine blaue Schleife für Elisas Haar auf das Kleid. Für sich hatte sie ebenfalls ihr vornehmstes Gewand gewählt. Plissiert und hochgeschlossen und aus feinster schwarzer Baumwolle, ihrem Witwenstand angemessen. Elisa beobachtete, wie stark die Hände der Mutter immer noch zitterten, als sie trotz der warmen Temperaturen ihr wollenes Umschlagtuch zu ihrem Kleid legte.

»Ist dir kalt, Mama?«

»Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich bin nur ein wenig aufgeregt. Der Morgen wäre mir lieber gewesen. Wenn wir ankommen, ist es bereits dunkel. Dazu noch die bevorstehende Geburt … deine arme Tante. So kurz hintereinander vier Kinder, da ist es kein Wunder, dass sie ihren Mann bei sich im Haus haben will…«

Elisa wusste, dass ihre Mutter sie nicht unnötig belasten wollte, jedoch ahnte sie, dass sie bei Pauls Frau nicht willkommen sein würden. Pauls junge Frau konnte kaum Interesse daran haben, ihre Hoheit über Haus und Plantage mit der verwitweten Schwägerin aus Hamburg und ihrer erbberechtigten Tochter zu teilen. Aber mit diesen Gedanken sollte Elisa nicht beunruhigt werden, zumindest noch nicht. Deswegen sprach Clementia lieber über die Geburt, die angeblich dieser Tage die Plantage in Atem hielt. Deswegen, nur deswegen, sei Onkel Paul nicht gekommen, um sie hier am Ende der Welt in Empfang zu nehmen.

»Unser Schiff hätte ja auch bereits vor Tagen einlaufen sollen. Sicherlich muss Paul seiner Frau in dieser schweren Stunde beistehen. Das können wir beide doch sehr gut verstehen, nicht wahr? Es ist keineswegs mangelndes Interesse, oder gar mangelnde Achtung…«

Die Worte der vor sich hin murmelnden Mutter wurden leiser und Elisa litt unter dem furchtsamen Unterton in ihrer Stimme. Das ganze Wesen ihrer Mutter strahlte seit Vaters Tod Furcht und Hoffnungslosigkeit aus. Clementias Körper schien verloren in dem bodenlangen Unterrock vor der Waschschüssel. Mit einem feuchten Lappen reinigte die Mutter mit mechanischen Bewegungen ihr Gesicht, so als würde sie einen Topf schrubben.

Wortlos ging sie zu ihrer Mutter und vollendete die Waschung. Danach trug sie Rosenwasser und zuletzt eine feine Salbe auf, die die durchscheinende Haut ihrer Mutter auf dem Weg an Land schützen würde.

Clementia Vogel war einst mit ihrem weißblonden Haar und den strahlend tiefblauen Augen in Hamburg eine Schönheit gewesen. Ihre Verehrer hatten sich regelrecht darum geprügelt, wer seinen Namen in ihr Tanzkärtchen eintragen durfte. Aber diese Zeit der Unbeschwertheit war lange her. Mit Ende dreißig sah Clementia alt und verbraucht aus. Im letzten Jahr war Elisa ihr einziger Trost gewesen, denn durch ihr Kind fühlte sie sich über den Tod hinaus täglich mit ihrem Mann verbunden.

Elisa ähnelte ihrem Vater. Kluge, lebhafte Augen dominierten das schmale Gesicht. Auch die gerade lange Nase hatte sie vom Vater. Gerhard Vogel war mit dem Aussehen eines Aristokraten gesegnet. Elisas Großmutter, eine geborene Gräfin von Dettenburg, hatte aus Liebe einen bürgerlichen Professor geheiratet, blieb aber in ihrem Inneren ihrem Stand treu.

Adel verpflichtet, pflegte Elisas Großmutter zu mahnen, wenn sie dem kleinen Mädchen bei ihren Besuchen die Welt einer Dame erklärte und allzu krause Gedanken zähmte. Seit die Großmutter vor sechs Jahren gestorben war, achtete Clementia umso strenger auf Elisas Erziehung und hoffte inzwischen mit ganzem Herzen, dass ihrer Tochter unter den Plantagenbesitzern der Südseeinseln eine wirklich gute Partie begegnen würde.

Clementia hatte allen Grund, ehrgeizige Heiratspläne mit ihrer einzigen Tochter zu verfolgen, denn aus Europa strömten wegen des Zuckerrohrs einige Söhne guter Familien auf die Kolonien. Jedoch wünschte sie sich einen vermögenden Mann aus Deutschland und ihr Traum war ein Schwiegersohn, der für seinen standesgemäßen Nachwuchs und ein zivilisiertes Leben auf den Inseln mit ihrer Elisa auch die Hamburger Schwiegermutter bei sich aufnehmen würde. Spätestens mit Elisas Hochzeit würden dann auch ihre finanziellen Sorgen endlich ein Ende haben, so hoffte die Mutter.

Elisa hatte begonnen, sich ebenfalls ein wenig frisch zu machen und stand jetzt im Unterrock und mit bloßen Armen in der Kajüte. Durch das Bullauge warf die Abendsonne ihr helles Licht auf die schöne junge Frau. Clementia sah, dass Elisas Nase durch die heutige Sonne mit noch mehr Sommersprossen als gewöhnlich übersät war. Auch ihre Unterarme waren golden getönt und Elisas Wangen leuchteten rosig und gesund. All das ließ ihre Tochter vital, jedoch auch ein wenig gewöhnlich wirken. Dabei wäre ihre Tochter eine klassische Schönheit, wenn ihr Mund nicht ein wenig zu groß und ihre Augenbrauen nicht allzu gerade und streng geraten wären. So verriet das junge Gesicht Intelligenz und Widerspruchsgeist. Und genau diese Eigenschaften waren es nicht, die von der zukünftigen Herrin einer großen Plantage erwartet wurden.

Clementia seufzte. Sie würde auf Kauai anfangen müssen, sich sehr viel ernsthafter mit Elisas Aussehen zu beschäftigen. Aus ihrer eigenen Jugend kannte sie einige Tricks, so auch die Technik, aus allzu energischen Augenbrauen sanfte, erstaunte Bögen mittel einer Pinzette zu formen. Die sinnlichen Lippen konnte sie zu einem bescheidenen Mündchen pudern. Auch ein zu großes Mädchen, das darüber hinaus mit zu viel Intelligenz und einem zu forschen Mundwerk geschlagen war, ließ sich mit Raffinesse in brauchbares Heiratsmaterial verwandeln, zumindest hier in der Südsee.

In Hamburg hingegen hätte Elisa kaum eine Chance auf einen geeigneten Ehemann gehabt. Schon immer fehlte ihr der mädchenhafte Liebreiz der Zurückhaltung, auf den man in besseren Kreisen besonderen Wert legte. Aber ihre Tochter war nicht zurückhaltend, sondern neugierig und konnte ihre Zunge nur schwer im Zaum halten. Zudem war sie klüger als die meisten jungen Männer in ihrem Alter. Auch war das Leben in der Hansestadt viel zu teuer, wenn sie gesellschaftlich mithalten wollten. Allein die Ausstattung für den Debütantinnenball hätte ihre restlichen Reserven so gut wie aufgezehrt. Um ihrem Kind das Leben zu ermöglichen, das ihr Vater geplant hatte, musste Clementia aus der Not eine Tugend machen. Ihre Elisa war mutig und stark. Deswegen war der Plan, nach Hawaii auszuwandern, die einzig richtige Entscheidung gewesen.

Clementia kniff sich vor dem kleinen Spiegel neben der Tür in beide Wangen, um ihre transparente Blässe zum Erröten zu bringen. Sie würde zumindest versuchen, bei der Begrüßung von Pauls Frau einen zuversichtlichen und gesunden Eindruck zu machen. Alles, was nötig war, würde sie tun, um für ihre Tochter den bestmöglichen Mann zu finden. Aber zusätzlich zu Wohlstand, Geist und Humor würde ihr Schwiegersohn eine gewisse Körpergröße mitbringen müssen. Das Kind war auf dem Meer noch einmal wie Unkraut in die Höhe geschossen. Auch wenn sich erste verführerische Rundungen unter dem Unterrock abzeichneten, war ihre Tochter für die meisten Männer bereits jetzt ganz einfach zu groß.

Elisa beendete ihre Waschungen in der Abendsonne. Als sie unter ihrem Unterrock den Waschlappen hervorzog, erschrak sie. Ein roter Streifen Blut leuchtete auf der weißen Baumwolle. Clementia sah es ebenfalls. Sie lächelte und spontan umarmte sie ihr großes Kind mit feuchten Augen. Na, endlich! Elisas Mondzeit hatte wieder begonnen, der Frauen Gnade und Fluch zugleich und die notwendige biologische Voraussetzung für jede Art von Eheanbahnung. Und vielleicht war ihr Kind jetzt auch endlich genug gewachsen!

Versorgt mit einem gefalteten Leinenstreifen und den üblichen mütterlichen Ermahnungen für die Dauer ihrer Mondzeit, setzte sich Elisa kurz darauf ein letztes Mal auf die Pritsche in der kleinen Nische, die über viele Monate ihre einzige Rückzugsmöglichkeit gewesen war. Sie nahm den kleinen Bilderrahmen auf ihrem Nachttisch in die Hand, den sie jede Nacht vor dem Schlafengehen angesehen hatte. Die Fotografie in dem schwarzen Rahmen aus hawaiischem Koaholz zeigte ihr stattliches ehemaliges Zuhause in Hamburg. Onkel Paul hatte diese Aufnahme gemacht, damals, als er in ihrer Nähe wohnte und noch nicht verheiratet war. Vor dem Haus saß Elisa auf ihrer Schaukel, flankiert von ihren jugendlich strahlenden Eltern. Es war ihr fünfter Geburtstag. An diesem Tag im Dezember hatten ihr Vater und Onkel Paul ihre neue Schaukel am kahlen Apfelbaum aufgehängt. Es war ein kalter Tag gewesen, ein wenig neblig und trüb, wie das Wetter im Hamburger Winter oft sein konnte. Elisa liebte dieses Foto ganz besonders, weil ihr Vater darin so jung und fröhlich lachte. Zärtlich strich sie über den dunklen Bilderrahmen, als sich ihre Mutter mit der Haarbürste zu ihr setzte.

»Lass dich noch einmal kämmen, Kind.«

»Nur wenn du mir noch einmal von deinem schönsten Tag erzählst, Mama. Damals, als unter deinem Herzen mit uns beiden alles angefangen hat…«

Clementia wusste, was gemeint war, denn fast jeden Abend hatten sie sich zu Anfang ihrer Reise gegenseitig Geschichten erzählt, um ihr Heimweh zu verdrängen. Eine dieser Geschichten mochte ihre Tochter am liebsten. Während sie jetzt Elisas Zopf löste, um das Haar zu kämmen und aufzustecken, begann Clementia zu erzählen.

»Ein Rotkehlchen hat auf dem Baum vor meinem Schlafzimmer gesungen, während ich viele Stunden auf deine Ankunft wartete. Ich war so ungeduldig. Der Klapperstorch hat an diesem Sonntag lange auf sich warten lassen. Deswegen hat der kleine Vogel mit der roten Kehle über Stunden sein Bestes gegeben. Er wollte uns beide bei Laune halten, denn auf das Kind unter dem Herzen zu warten, ja, das kann für eine werdende Mutter sehr, sehr anstrengend sein…«

Die Frauen warfen sich einen Blick zu, der auf weiblichem Einvernehmen beruhte. Über bestimmte Dinge würden sie als Mutter und Tochter erst kurz vor der Hochzeitsnacht sprechen. Auch wenn Elisa bereits wusste, dass das Kinderkriegen eine schmerzhafte und vor allem anstrengende Angelegenheit war, kannte sie keine Details. Sie mochte die Geschichte vom Klapperstorch und dem Kind unter dem mütterlichen Herzen. Ansonsten reichte ihr schon ihre Mondzeit, wie ihre Mutter das weibliche Übel nannte, das ihr einmal pro Monat die Nerven raubte, seit sie fünfzehn war. Zum Glück hatte der lästige Fluch aufgehört, seit sie Hamburg per Schiff verlassen hatten. Ein Arzt, den die beunruhigte Mutter bei ihrem Aufenthalt in New York aufsuchte, verschrieb Elisa pro Tag ein Hühnerei, um einer leichten Anämie entgegenzuwirken, denn rein anatomisch sei zum Glück alles normal. Vor einer Vermählung würde sich der Zyklus von alleine wieder einrenken, spätestens dann, wenn Elisa ausgewachsen sein würde und nicht mehr auf Schiffen wohnen müsste.

Clementia erzählte weiter, während sie Elisas Haar mit der Bürste glattzog.

»In den Abendstunden, als am Tag deiner Ankunft der Mond bereits hinter dem Apfelbaum aufstieg, war es so weit. Ich hielt mein Sternenkind endlich in den Armen. Dein Vater kam, um dich zu bewundern. Wir wussten sofort, dass du unser schönstes Geschenk auf Gottes Erdboden warst…«

Elisa schluckte und Clementia ließ die Haarbürste sinken. Dann hielten sich Mutter und Tochter ein letztes Mal in der Schiffskoje umschlungen, so als würden sie einander gegen das Unbekannte festhalten müssen. Eine neue Welt lag vor ihnen. Jetzt begann auch Elisa vor Aufregung zu zittern. »Alles wird gut werden, nicht wahr?« »Ja, mein Kind, alles wird gut werden. Dein Onkel sorgt dafür.«

Danach schwiegen Mutter und Tochter. In der letzten Stunde auf der Bremen III hingen beide Frauen ihren Erinnerungen an die Hamburger Heimat nach, so als wüssten sie um die Kraft aus ihren Wurzeln, die sie schon bald brauchen würden.

Elisa dachte an den tapferen Vogel vor ihrem Fenster. In den Jahren ihrer Kindheit kam das Rotkehlchen jedes Frühjahr, wenn der Apfelbaum blühte und sang vor dem Fenster. Ihr großer Garten am Ufer der Elbe war ein blühendes Paradies gewesen, dicht bewachsen mit Rosen in allen Farben.

Clementia dachte auch an den Garten, jedoch an ihre Laube, in der sie Elisa endlos Märchen vorgelesen hatte, anfangs beseelt von der Hoffnung, dass sie schon bald erneut schwanger werden würde. Aber das Brüderchen, von ihrem Mann und ihrem Kind genauso sehnsüchtig erwartet, wollte nicht in ihrem Schoß landen. Ihr Ehemann war häufig unterwegs auf seinen ausgedehnten Reisen, und wenn er in Hamburg bei seiner Familie sein konnte, verlangte die Reederei ihm oft lange Stunden im Kontor ab. Um schließlich überhaupt einen Erben für das verzweigte Unternehmen einsetzen zu können, wurde Elisa in allen Dokumenten zur Alleinerbin bestimmt. Und dann erwarben die Brüder Vogel eines Tages wertvolles Land auf Kauai.

Clementia erinnerte sich noch gut an das ernste Gesicht ihres Mannes, als er mit der kleinen Elisa über Verantwortung und Familienehre gesprochen hatte, bevor er das erste Mal in die Südsee fuhr, um die neuen Ländereien auf Kauai zu besichtigen. Damals war die Reederei Vogel noch ein blühendes Unternehmen gewesen. Erst drei Jahre später verursachte ein schweres Schiffsunglück die ersten wirklich katastrophalen Verluste.