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Jonathan King könnte nicht verwirrter sein, als ein junges Mädchen namens Luna vor seiner Wohnungstür steht und behauptet, seine zukünftige Tochter zu sein. Nur weil Jonathan sich seit längerem mit der möglichen Existenz von Parallelwelten beschäftigt und somit seine ganz eigene Theorie zum plötzlichen Erscheinen des jungen Mädchens hat, hört er sich ihre Geschichte an. Gemeinsam begeben sie sich auf ein Abenteuer, durch Raum und Zeit, das sich niemand hätte vorstellen können. Doch schon bald müssen die beiden feststellen, dass es um weit mehr geht als einen Rückweg für Luna zu finden.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Dieser Titel ist auch als Taschenbuch sowie Hardcover erschienen.
Vollständige eBook-Ausgabe.
Impressum
Inhaltswarnungen zu diesem Werk findet ihr am Ende des Buches.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
1. Auflage: Tolino-Edition
Text Copyright © 2022 Sascha Waltemathe
Lektorat: Isabelle Mager Korrektorat: aus der Verlagsedition übertragen Cover: Sascha Waltemathe Layout: Sascha Waltemathe Geschrieben mit Papyrus Autor 11
Verantwortlich für den Inhalt:
Sascha Waltemathe Paterswolderweg 1 26203 Wardenburg [email protected]
Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die daran geglaubt haben, dass ich in der Lage bin Geschichten zu schreiben.
Es besteht die vage Möglichkeit, dass mir das etwas bedeutet hat.
Wir betrachten die Welt durch ein Schlüsselloch. Es liegt an uns, die Tür aufzustoßen, um ihre wahre Größe zu erkennen.
Das ungeborene Kind1
Neuer Versuch9
Ermittlungen23
Alles ist wahr31
Happy Family46
Grenzschützer54
Ziele60
Einsicht71
Die Ranch76
Jagdfieber86
Gestrandet96
Norvinia110
Der Empfang130
Bartholomäus, der Gütige144
Spurensuche160
Beschützerinstinkte169
Erklärungsnot179
Von Drachen und Monstern187
Abra Kadaver196
Väter und Töchter206
Eine wirklich gute Zeit218
Little Monsters230
Roadtrip243
Anziehungskräfte253
Bekenntnisse269
Sirenengesang277
New York! New York!286
Das Plaza293
Haven302
Nachtschwärmer309
Der Mann hinter dem Na-Vi320
Drei Gauner unter sich330
Die graue Eminenz341
Die Quelle351
Blutsbrüder358
Flucht369
Verantwortungen378
Tenacious Erbe386
Die zwei Schwestern391
Sternentor401
Das Vermächtnis der ersten Wanderer409
Verhängnisvolle Geheimnisse416
Abschied430
Der alte Mann und die Wüste433
Nur ein weiteres Abenteuer447
Rückrunde mit Grimm455
Wo die Legenden ruhen460
Old Haven467
Eine Welt am Abgrund474
Dem Ende so nah482
Verloren494
Danksagungen502
Content-Warnungen504
Weit unter ihnen tobte das wilde Meer, während ein Sturm unerbittlich über ihren Köpfen wütete. Hin und wieder erhellte ein greller Blitz, gefolgt von ohrenbetäubendem Donner, die Finsternis der Nacht. Sie fielen tief, und noch konnte niemand sagen, ob sie den Sturz überleben würden.
Luna klammerte sich fest an ihren Vater. Auch wenn nicht alles nach Plan verlief, durchzog sie ein Anflug von Stolz. Sein erster richtiger Weltensprung. Sie lächelte. Im nächsten Moment schlugen sie mit unbändiger Wucht auf der Wasseroberfläche ein. Die schonungslose Strömung riss sie augenblicklich auseinander. Verzweifelt streckte sie ihre Hände nach ihm aus. Doch so sehr Luna es auch versuchte, sie erreichte ihn nicht. Immer wieder durchbrachen Blitze die Dunkelheit. Seichtes Licht flackerte unbemerkt im Herzen ihres Anhängers, der an einem ledernen Band um ihren Hals baumelte. Ihre feine Nase wurde vom salzigen Wasser geflutet, und sie spürte, wie sich ihr Körper dem Unausweichlichen fügte.
Bevor sie gänzlich das Bewusstsein verlor, dachte sie an die vergangenen Tage. Es klang albern, doch es waren die schönsten, die sie seit Jahren erlebt hatte.
Zwei Wochen zuvor:
Die Sonne brannte an diesem Nachmittag im Juni. Ein Umstand, um den sich die Bewohner des alten Berliner Mehrfamilienhauses in der Heinrich-Roller-Straße wenig scherten. Selbst im Obergeschoss war es angenehm kühl. Luna begrüßte diese Abwechslung nach ihrer langen und beschwerlichen Reise, besonders wenn sie bedachte, welche Herausforderung sie noch vor sich hatte. Ihre Hände zitterten vor Anspannung. Gleich würde sie an der großen, grauen, unüberwindbar scheinenden Tür klingeln. Jedes Mal, wenn sie den Finger hob und er fast den bronzenen Knopf berührte, schreckte sie zurück, als könnte die Klingel jeden Moment zuschnappen. Ein irrationaler Gedanke. Es war schließlich nur eine normale Wohnungstür. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie diese vermutlich mühelos durchbrechen können. Sie dachte in ihrer Nervosität für einen Augenblick darüber nach, hielt es dann jedoch für unangebracht und verwarf den Gedanken direkt wieder. Dennoch, je länger sie vor dieser Tür stand, desto schwieriger erschien es ihr, den letzten Schritt zu wagen und endlich diese Klingel zu betätigen. Hatte sie wirklich keine andere Wahl? Wahrscheinlich würde Jonathan ihr ohnehin nicht glauben und wer konnte es ihm verdenken? Es war zu verrückt, was sie ihm gleich mitteilen würde.
Luna atmete noch einmal tief durch und krempelte die Ärmel ihres viel zu großen, schwarzen Hoodies hoch. Nie hätte sie erwartet, dass sie so nervös sein könnte. Dann fasste sie all ihren Mut zusammen. Ding Dong. Das klassische Klingelgeräusch ertönte.
Luna biss sich leicht auf die Unterlippe. Erst passierte nichts. Kein noch so kleines Geräusch war aus der Obergeschosswohnung des Mehrfamilienhauses zu hören. In ihrer Ungeduld betätigte sie den Knopf noch ein zweites und drittes Mal, in der Hoffnung, dass sich die verdammte Tür endlich öffnete.
Er wird dir nicht öffnen, meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf. Warum sollte er auch? Was bist du schon für ihn? Er kennt dich doch überhaupt nicht! Halt die Klappe!, wehrte Luna ab und schüttelte ihren Kopf, um ihre negativen Gedanken loszuwerden.
Da brummte der Summer, während sich fast zeitgleich die Tür zur Wohnung öffnete und ein Mann in seinen späten Dreißigern zum Vorschein kam. Das Haar dunkelbraun, voll und unpassend zum Rest des Looks sehr gepflegt. Er trug eine nichtssagende dunkelblaue Jogginghose nebst einem grauen Fan-T-Shirt, welches vom Logo des Films Jurassic Park geziert wurde. Irgendwie typisch für ihn, fand Luna. Seine muskulösen Arme spannten den Stoff darüber.
»Ja, bitte?«, erhob Jonathan King gelassen die Stimme. Seine stahlblauen, alles durchdringenden Augen zeugten von einer inneren Ruhe und Besonnenheit, wie sie nur wenige besaßen, als er das Mädchen betrachtete. Auch das war typisch für ihn.
Luna holte tief Luft und ignorierte das unbehagliche Beben in ihrer Brust sowie jeden quälenden Gedanken, der sie davonrennen lassen wollte. »Hi, ich – ähm – weiß, das klingt jetzt vielleicht etwas verrückt.« Sie verschränkte ihre Arme vor sich, um das leichte Zittern ihrer Handflächen zu verbergen. »Ich heiße Luna – und – bin deine Tochter.«
Jonathans Augen weiteten sich überrascht und er spürte den aufsteigenden Kloß in seinem ausgeprägten Kehlkopf. Er dachte, er höre schlecht, habe einen Schlaganfall oder so etwas. Hatte sie gerade tatsächlich gesagt, was er glaubte gehört zu haben? Tochter? Das ist doch lächerlich. Ich und ein Kind? Das kann unmöglich sein, schoss es ihm durch den Kopf.
Er war sechsunddreißig und hatte nie auch nur einen Gedanken an eigene Kinder verschwendet. Für ihn waren Kinder nur der tief verwurzelte Wunsch, etwas von sich in dieser Welt zurückzulassen. Etwas, das sagte: Ich war hier, und das ist mein Erbe. Jonathan fand diese Vorstellung zwar ganz nett, dennoch war es ihm nie in den Sinn gekommen, selbst eines haben zu wollen.
Jonathan räusperte sich. »Du musst dich irren. Ich meine, okay, ich war nie ein Kind von Traurigkeit, was das angeht, aber ich halte nicht viel von Kindern und habe auch sicherlich keines unwissentlich in die Welt gesetzt.«
Entmutigt ließ Luna die schmalen Schultern hängen. Ich habe es dir doch gesagt, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf. Sie hatte solche Worte erwartet und dennoch trafen sie Luna mit einer Wucht, die sie am liebsten auf direktem Wege davon rennen lassen wollte. Nein! Ich bin zu weit gekommen, um jetzt das Handtuch zu werfen! Sie schüttelte erneut den Kopf, befreite sich von dem Flüstern, das ihr riet zu verschwinden und blickte mit gestrafften Schultern zu ihm auf. »Und dennoch stehe ich hier. Dumm gelaufen.«
Der plötzlich herausfordernde Tonfall verunsicherte Jonathan. Während ihre großen, bernsteinfarbenen Augen ihn ansahen, als könnten sie kein Wässerchen trüben, sprach ihr ganzes Auftreten mit einem Mal eine völlig andere Sprache. Eine, die etwas bedrohliches hatte. Aufmerksam musterte er den Rotschopf samt ihrer wild wuchernden Locken, die bereits den Eindruck erweckten, als habe das Mädchen vor ihm ein paar wilde, durchzechte Nächte mit sehr wenig schlaf oder gar einer Dusche hinter sich. Mattschwarz angestrichene Lippen und Nägel, sonst kein erkennbares Make-up. Dafür aber eine gerötete Nasenspitze. War sie erkältet?
Jonathan betrachtete den übergroßen Hoodie mit der Aufschrift Mythemia, die zerschlissene Jeans-Shorts und die schwarzen, abgetragenen Dr. Martens-Stiefel, die ihre schlanken Beine zierten. Ein Modell mit lächerlich hohen und klobigen Sohlen. Er mochte sich nicht vorstellen, wie jemand darin vernünftig laufen konnte. Und dennoch war sie deutlich kleiner als er mit seinen knapp einen Meter achtzig. Grummelnd kratzte er sich am Hinterkopf. »Ist der Grunge-Look in deinem Alter gerade angesagt?«
Luna schnaubte verächtlich. »Wow. War das ein schlechter Versuch, mein Alter einzuschätzen, oder sammelst du einfach gerne Arschloch-Punkte?«
Jonathan strich sich über die Nase, als ihm die unglückliche Wahl seiner Worte bewusst wurde. »Also, so war das ...«
»Siebzehn! Ich bin siebzehn«, antwortete Luna salopp. Dann sah sie an sich hinunter. »Und ich fühle mich wohl in solchen Sachen. Okay?« Sie nickte bestätigend. »Bewegungsfreiheit ist wichtig, wenn du viel unterwegs bist.«
»Okay.« Jonathan legte seine Stirn in Falten, knurrte nachdenklich in sich hinein und glich ihr Erscheinungsbild mit allen Frauen ab, die ihm gerade in den Sinn kamen. Wenn sie wirklich seine Tochter war, musste er die Mutter kennen. Denn er hatte ganz eindeutig so einige Fragen an diese.
Luna kräuselte ihre dunklen Lippen. »Ich weiß, die Neuigkeit ist der Hammer, oder?«, unterbrach sie die Gedankengänge ihres Dads. »Steht da plötzlich so ein Kind vor deiner Tür. Wo kommt es her? Wo will es hin?«
»Ja, verrückt trifft es wohl eher«, murmelte Jonathan vor sich hin.
»Echt?« Luna hob einen Mundwinkel. »Das nennst du schon verrückt? Jetzt stell dir mal vor, ich würde dir zusätzlich erzählen, dass ich aus der Zukunft komme. Ich meine, wie verrückt wäre so was wohl?« Sie hob ihre Augenbrauen und wartete gespannt auf seine Reaktion.
Jonathan stutzte und lehnte sich gegen seinen Türrahmen. »Zukunft?«
»Ja, etwa fünfundzwanzig Jahre, um genau zu sein. Und – ich will ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, aber ich brauch deine Hilfe, um wieder in meine Gegenwart zurückzukommen.«
»Hahaha! Sehr witzig, vielen Dank.« Mit diesen Worten schlug Jonathan ihr seine Tür vor der Nase zu. Einen winzigen Moment lang hatte er die Möglichkeit einer unbekannten Tochter in Betracht gezogen. Sich sogar, trotz des seltsamen Umstandes, ein wenig darüber gefreut, von ihr zu erfahren. Ein seltsames Gefühl. Doch das Mädchen vor seiner Tür hatte offenbar einfach Spaß daran, anderen Leuten Streiche zu spielen. Vermutlich hielt sie sich selbst gerade irrsinnig witzig. Er wusste nicht, wann ihm das letzte Mal etwas so Bescheuertes passiert war – doch! Als der Vertreter einer örtlichen Glaubensgemeinde vor seiner Tür gestanden hatte, ihm von dem einen, wahren Weg erzählen wollte und sogar die Frechheit besaß, seinen Fuß in die Tür zu stellen. Doch ein Kind und das ausgerechnet aus der Zukunft? Das toppte selbst dieses Erlebnis um Längen.
»Hallo? – Dad? – Echt jetzt?!« Ein wuchtiger Hieb ihrer Dr. Martens ließ das Türblatt erzittern. Luna war klar gewesen, dass Jonathan ihr mit Skepsis begegnen würde, aber dass er ihr gleich wieder die Tür vor der Nase zu schlug, als wäre sie irgend so eine verkackte Irre, verärgerte sie doch sehr. War das dumm von mir, so direkt zu sein? Sie wusste nicht mehr, wie oft ihr Diego gepredigt hatte, nachzudenken, bevor sie den Mund aufmachte. Doch der Gedanke, wochenlang mit ihrem Dad unter einem Dach zu leben und ihm dieses Detail zu verschweigen, drehte ihr schlicht den Magen um. Er hätte irgendwann Fragen gestellt, wie: Wer ist deine Mutter? Wo lebt sie? Oder schlimmer noch: Kann ich sie sprechen? Luna schüttelte sich. Nein, das ging gar nicht. Lügen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, war eine Sache, sich dabei aber blöd anzustellen, eine ganz andere. Luna rümpfte die Nase und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Okay –, vielleicht hätte ich mit dem Zeitreiseteil doch warten sollen, bis ich drin bin.«
Luna nahm einen tiefen Atemzug. Der Duft von Bratkartoffeln, Bohnen und Speck lag in der Luft, zwei Stockwerke unter ihr kochte offenbar jemand. Ihre Zunge fuhr wie von selbst über ihre Lippen. Wann hatte sie das letzte Mal gegessen? Nicht ablenken lassen! Denk nach! Du musst ihn überzeugen, aber wie?
Es half alles nichts. Sie stand immer noch vor der verschlossenen Tür und brauchte zuallererst einen Weg, wie sich diese wieder öffnete. Sie fasste den Entschluss, dass Höflichkeit jetzt ausverkauft war. »Was bist du nur für ein Mensch?!«, brüllte sie deutlich hörbar durch das Treppenhaus. »Erst kümmerst du dich nicht um Mum, nachdem du sie einfach so geschwängert hast, und jetzt scherst du dich sogar ’nen Dreck um deine eigene Tochter! Ich will doch einfach nur meinen Dad kennenlernen! – Gut, wie du willst! Ich hab Zeit! Und kann warten!« Es rumste erneut an der Tür, als einer ihrer Stiefel auf das Holz traf und dieses leicht erbebte. »Irgendwann musst du da ja mal rauskommen und dich der unangenehmen Wahrheit stellen!« Das sollte reichen, um die nötige Aufmerksamkeit zu erhalten. Sachte lehnte sie sich vor und lauschte nach einer Reaktion in der Wohnung.
Plötzlich wurde die Tür ruckartig aufgerissen und Luna machte einen Satz nach hinten.
»Was willst du Balg von mir? Verschwinde oder ich rufe die Polizei!« Zornig über ihre Hartnäckigkeit hatte Jonathans Blick kaum noch etwas von der vorherigen inneren Ruhe.
»Echt jetzt, Dad?« Sie kräuselte die Lippen. »So willst du dich vor deiner Verantwortung drücken? Dein eigenes Kind polizeilich abführen lassen, weil’s gerade nicht so gut in dein Leben passt?!«, rief sie den letzten Teil mit erhöhter Lautstärke. »Wow! Anwärter auf den Posten: Vater des Jahres!«
Jonathan, fest entschlossen der jungen Dame gehörig die Meinung zu geigen, konnte sich gerade noch rechtzeitig zügeln, als sich nur ein Stockwerk tiefer die Wohnungstür von Frau Dierks einen Spaltbreit öffnete.
Die kleine, aber liebenswerte Rentnerin von stolzen dreiundachtzig Jahren hatte schon immer ein neugieriges Naturell besessen. So war es nicht verwunderlich, dass sie ihre Nase vorsichtig durch den Spalt ihrer Tür schob, um etwas von dem Schauspiel über ihr zu erhaschen. Ein einziger, provokativer Stampfer von Lunas Stiefel reichte jedoch aus, da erschrak die alte Dame und war schon im nächsten Augenblick wieder hinter ihrer Tür verschwunden. Schlüssel klackerten im Schloss und das typische Rasseln eines Vorhängekettchens erklang.
Jonathan atmete einmal tief durch und bemühte sich im Anschluss wieder um eine ruhigere Stimmlage. »Ich habe kein Kind. Und schon gar keines aus der Zukunft. Also, was willst du von mir?«
»Zeit!«, entgegnete Luna, während sie sich der Pflege ihrer Fingernägel widmete. Das war schon fast ein Tick von ihr. Besonders wenn sie unter Menschen war. »Ich will, dass du dir die Zeit nimmst, mir zuzuhören. Mehr verlange ich gar nicht. Was du danach machst, ist deine Sache.«
Mit einer Hand wischte sich Jonathan über die Nase und schnaubte. »Also gut, wenn das alles ist. Deine Zeit läuft, McFly«, lautete seine mit einem ironischen Unterton belegte Antwort.
Lunas Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen und sie drückte ihre Zunge einen Moment gegen ihre Wange. »Kann es sein, dass du mir nicht glaubst?«
»Tut mir aufrichtig leid, ich würde ja gerne, aber Zeitreisen? Komm schon?« Sein engstirniger Blick verriet ihr, dass noch ein hartes Stück Arbeit vor ihr lag.
Luna verschränkte erneut die Arme. Ihr Blick schweifte zum Boden und blieb dort auf den schwarz-weißen Kachelfliesen des Treppenhauses haften. Bis hierhin habe ich es schon geschafft, jetzt muss ich ihn nur davon überzeugen, dass ich die Wahrheit sage. Sollte ich mehr erzählen? Nein, das könnte daneben gehen. Es spielt keine Rolle, was du ihm sagst. Er wird dir nicht glauben!, meldete sich die Stimme in ihrem Kopf.
Zeitreisen. Auch für sie waren sie eher ungewöhnlich. Und bis vor Kurzem hatte sie diese ebenfalls nicht für möglich gehalten. Klar, es gab Welten, in denen die Zeit anders, teilweise wesentlich schneller oder deutlich langsamer verlief. Dadurch konnte man durchaus den Eindruck einer Zeitreise gewinnen, aber eine echte Zeitreise? Und dann in die Vergangenheit der eigenen Heimatwelt? Nein, daran hatte sie nicht geglaubt.
Doch nun stand sie hier, vor einer jungen Version ihres Vaters. Einem Mann, der nicht wusste, was noch vor ihm lag und offenbar genauso gestrickt war, wie sie es in Erinnerung hatte. Luna wusste nicht genau, wie sie hierhergekommen war, nur dass sie einen Weg zurück – in ihre Welt und ihre Zeit – finden musste. Und so albern das klang, ihr zukünftiger Vater war die beste Option, die ihr dazu einfiel. Wenn es gut lief, konnte sie gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Sie durfte es nur nicht noch einmal so plump angehen, das war alles. »Also hör zu: Du willst Erklärungen und im besten Fall Beweise. Das versteh ich.« Sie musterte akribisch seinen Gemütszustand. »Alles, was ich dir im Moment sagen kann, ist, dass es auch für mich nicht so leicht zu erklären ist.«
»Versuch es«, erwiderte Jonathan. »Wie lauten zum Beispiel die Lottozahlen der nächsten Ziehung?«
Luna zog eine fragende Grimasse und hob ratlos ihre Hände in die Höhe. »Woher soll ich das denn wissen? Frag gefälligst was anderes.«
Ihr Dad war kurz davor, erneut die Tür zu schließen, und dieses Mal, da war sie sicher, würde er sie nicht wieder öffnen. Was immer also nötig war, um ihn zu überzeugen, sie musste es jetzt tun. »Warte!« Sie zog ihren Hoodie ein Stück weit hoch und kramte eifrig in ihrer darunter gut verborgenen braunen Umhängetasche. Die Taschenklappe zierte der Aufdruck einer mechanischen Eule.
Jonathan musste schmunzeln. Er hatte auch so eine, erinnerte er sich. Sie lag jedoch schon einige Jahre im Keller, zwischen jeder Menge anderem Krempel, den er seit seiner Jugend aufbewahrte, um gelegentlich in Erinnerungen zu schwelgen.
Zwischen einem alten Notizbuch mit blauem Umschlag, ihrem Na-Vi, einem gefühlten Jahresvorrat Lakritzschnecken, ihrer Nagelfeile und dem lange verlorengeglaubten Haargummi, fand Luna schließlich, wonach sie suchte.
Eine seltsam anmutende alte Schweißerbrille mit hellen statt dunklen Gläsern kam in ihrer Hand zum Vorschein. Jonathan traute seinen Augen kaum, als er die Brille sah. Er erkannte diesen ganz speziellen, kaleidoskopartigen Schliff der Gläser sofort. Das war eindeutig sein Design. Wie konnte sie davon wissen?
Luna wedelte mit provokativer Lässigkeit die Sphärenbrille vor ihm hin und her. »Reicht das fürs Erste oder wollen wir gleich hier im Treppenhaus darüber reden, wozu die ist?«
Wie hypnotisiert betrachtete Jonathan seine Reflexion in den gesprenkelten Facetten der Brillengläser. Er zögerte. »Wie ist das möglich?« Zitternd streckte er seine kräftigen Hände nach der Brille aus.
Doch bevor Jonathan die Gelegenheit hatte, die Brille zu berühren, verstaute Luna sie wieder in ihrer Tasche und ließ diese erneut unter ihrem Hoodie verschwinden. »Also, was ist jetzt?«
Jonathan schreckte aus seiner Trance auf. »Was? Klar, klar – komm herein.«
Das ließ Luna sich nicht zweimal sagen. Sie folgte ihm mit schnellen Schritten, bevor er es sich anders überlegte.
Als sie die Wohnung betrat, staunte sie nicht schlecht. Der helle, freundliche und moderne Einrichtungsstil der Drei-Zimmer-Dachgeschosswohnung wirkte so harmonisch, wie sie es in Erinnerung hatte. Alles hatte seinen Platz, jedes dekorative Element, jede Pflanze wurde geschickt in Szene gesetzt, ohne dabei zu gewollt auszuschauen. Luna verharrte kurz im Flur und nahm einen tiefen Zug des Sandelholzduftes, der in der Luft lag. Wie lange ist es her, seit ich das letzte Mal hier gewesen bin? Sind es wirklich schon zehn Jahre?
Jonathan bewegte sich vorbei an Schlaf- und Wohnzimmer direkt ins Büro und Luna folgte ihm.
Er ermahnte sie, hier bloß nichts anzufassen, als sie das geräumige Arbeitszimmer mit Zugang zur Dachterrasse betrat. Das warme Licht der späten Nachmittagssonne strahlte durch die südwestlich ausgerichtete Fensterfront auf die alten Parkettdielen. Geradeaus an der Wand stand ein mit unzähligen Büchern gefülltes Regal. Wenn man genau hinsah, konnte man förmlich spüren, wie es unter der schweren Last ächzte und keuchte. Links daneben befand sich ein gemütlich anmutender Relaxsessel aus braunem Leder, dessen Lehnen schon leicht abgenutzt waren. Jonathan setzte sich an seinen Schreibtisch gegenüber der Fensterfront und begann eifrig nach etwas zu suchen. Der Schreibtisch war der absolute Gegensatz zum Rest der Wohnung. Überall auf ihm lagen lose Zettelwirtschaften, stapelweise Bücher mit Merkzetteln sowie eine Tasse seines mittlerweile kalten Kaffees.
Luna fand es äußerst amüsant zu sehen, dass ihr Dad schon vor ihrer Geburt so unordentlich gewesen war. Vorsichtig warf sie einen Blick auf die losen Notizen, doch sie konnte nichts Genaues erkennen. Frustriert schmiss sie sich in den alten Relaxsessel, um es sich in diesem gemütlich zu machen.
Sie erinnerte sich, dass Jonathan hier regelmäßig gesessen und ihr aus Büchern vorgelesen hatte, als sie noch ganz klein war. Und immer, wenn er dachte, dass sie bereits eingeschlafen war, genoss er von hier aus den Anblick der Sterne. Luna versuchte ein Lächeln. Bis ihr Blick, für einen flüchtigen Moment, am Geländer der Terrasse haften blieb. Dort lernst du also eines Tages Mum kennen, dachte sie. Luna seufzte innerlich. Sie hatte in den letzten Jahren oft darüber nachgedacht, wie es dazu gekommen war, dass sich ihre Eltern trafen.
Ihre Mutter war aus ihrer Welt geradewegs auf seine Dachterrasse gestürzt, während Jonathan dort ein Mittagsschläfchen gehalten hatte. Verrückte Sache. Valerie hatte sich gerade auf der Jagd befunden, als es passierte. Jonathan hatte sie anschließend bei sich aufgenommen und sie gesund gepflegt. So war eines zum anderen gekommen, der Rest war Geschichte.
»Ich hab’s! Hier, sieh mal, kommt dir das bekannt vor?« Jonathan hielt dem Rotschopf euphorisch einige Skizzen in der Erwartung entgegen, dass sie diese in ihre Hand nahm.
Luna saß da, starrte auf die Papiere und fuhr sich mit dem Ärmel ihres Hoodies über ihre errötete Nasenspitze. »Was? Gerade sagtest du noch, fass hier bloß nichts an.« Kopfschüttelnd griff Luna nach den Zetteln. Sie schmiegte sich tiefer in den Sessel und begutachtete eindringlich einige der technischen Zeichnungen und deren Begleittexte.
Quarzgläser, besondere Schleifweise, Enchroma Effekt, Erweiterung der visuellen Wahrnehmung des menschlichen Sehnervs.
Die Brille, die auf den Skizzen zu sehen war, sah ihrer eigenen zum Verwechseln ähnlich. Allerdings waren die Gläser dieser Version noch mit einer Vielzahl von Linsen ausgestattet. Eine interessante und vielsagende Erkenntnis, wie sie fand. »Hmm –, that’s it? Du glaubst mir wegen ’ner Zeichnung, die meiner Brille ähnlich sieht?«
Jonathan zögerte einen Moment mit seiner Antwort. »Da ... ich diese erst letzte Nacht angefertigt habe, ja, irgendwie schon.«
»Könnte aber auch nur ein dummer Zufall sein«, entgegnete sie trocken.
»Na, in dem Fall, weißt du ja, wo die Tür ist.«
»Okay, okay – ist vielleicht doch kein Zufall.«
Tiefe Furchen bildeten sich auf Jonathans Stirn. »Ich weiß noch nicht, ob es das ist. Zu der Zeichnung existiert auch eine Vorlage. Der uninteressante Zwilling zu deiner Version, könnte man sagen. Hab sie vor einigen Tagen auf einem Flohmarkt entdeckt. Mir gefiel das Retrodesign und ich dachte: Wer weiß, vielleicht ist sie eines Tages mal für etwas gut. Tja, und nun sitz ich hier – neben dir.«
Jonathan nahm einen Schluck aus seiner blauen Glückstasse und zog eine angewiderte Grimasse. Er musste nachdenken, er hatte so viele Fragen im Kopf, da könnte es entscheidend sein, die richtigen zu stellen. Aber wo anfangen? »Damit das klar ist, das ist kein Beweis für deine Zeitreisegeschichte. Und auch nicht dafür, dass du meine Tochter bist.«
»Aber?« Luna erkannte ein Gemisch aus Ablehnung und Neugier in seinen stahlblauen Augen. Er glaubt dir kein Wort! Geh am besten einfach wieder. Du kommst auch wunderbar ohne ihn klar, flüsterte ihre innere Stimme wieder.
Jonathan kratzte sich über die Bartstoppeln, seines Kinns. »Weiß ich noch nicht. Es eröffnet Möglichkeiten, würde ich behaupten.«
»Was für welche?«
Jonathan zögerte. »Also gut. Du musst wissen«, holte er aus, »ich arbeite seit geraumer Zeit an einer Theorie. Es ist nur so ein Gedanke, eine fixe Idee, aber sie lässt mich nicht mehr los. Und jetzt – jetzt sitzt du hier, das ist – das ist ...«
»Ich weiß«, unterbrach Luna ihn, während sie eifrig damit beschäftigt war, gegen eine ihrer widerspenstigen Locken zu kämpfen, die ihr immer wieder ins Gesicht fiel. Egal, wie oft sie diese wegpustete. Es war die eine schneeweiße Strähne innerhalb ihrer wilden, roten Lockenmähne, die sie ohnehin nicht ausstehen konnte. Luna griff nach dieser, zog sie lang vors Gesicht und schielte die Strähne finster an.
»Und du sagst, du weißt, wozu die Brille gedacht ist?«, hakte Jonathan nach.
»Sure. Du benutzt sie eines Tages, um Raumanomalien zu erkennen. Von denen es ganz nebenbei bemerkt jede Menge gibt.«
Jonathan lehnte sich gegen die Rückenlehne seines Stuhls und packte sich an die Brust. Sein Herz pochte voller Unbehagen. Er konnte nicht glauben, was sie ihm da erzählte und konzentrierte sich, um gegen die aufkeimende Übelkeit anzukämpfen. »Okay – also, wie hast du es gemacht? Die Zeitreise, meine ich.«
Lunas bernsteinfarbene Augen wurden riesig. »Du glaubst mir also, dass ich aus der Zukunft komme?«
»Nein. Ich würde jedoch gerne wissen, was dich glauben lässt, dass es eine Zeitreise war, die du erlebt hast. Ich meine, dein DeLorean steht ja sicher nicht gleich an der nächsten Straßenecke, oder?«
»Doch, eigentlich schon. Und ich brauche dich, um den Blitz einzufangen, der in die Rathaus-Uhr einschlägt, damit ich wieder nach Hause komme.«
Er wurde augenblicklich still. Starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an und wartete darauf, dass sie noch etwas Ergänzendes sagte. Ihm antwortete jedoch nur eine Unschuldsmiene und Stille.
»Just kidding«, antwortete Luna nach einigen Sekunden belustigt.
»Verstehe, du bist ein kleiner Scherzkeks.«
»Erzählt man sich so.«
Schön zu wissen, dass sie Humor besitzt, doch das hilft mir nicht weiter, dachte Jonathan. Die Nase rümpfend, schwenkte er unaufhörlich den Inhalt seiner Tasse hin und her. Keep Calm and Dream Big stand in großen, weißen Lettern auf blauem Porzellan.
Luna erkannte das markante Design. Ihr Dad hatte diese Tasse von ihrer Oma geschenkt bekommen, kurz bevor sie gestorben war. Seitdem trank er nur noch daraus seinen Kaffee.
»Ich sag dir was«, meinte Luna und schlug sich auf die Oberschenkel, »lass mich das Chaos auf deinem Schreibtisch ansehen. Danach entscheide ich, was ich dir erzähle. Deal?«
Er musste kurz über ihre Frechheit auflachen. »Warum sollte ich das tun?«
»Was ist die Alternative? Dir ungefiltert alles zu erzählen? Ich bin ja keine Expertin, doch ich ahne, dass das für uns beide eher ungünstig wäre.«
»Du denkst an Kontinuität. Das ist zwar clever, aber ich kann nur wiederholen: Wie sicher bist du, dass es wirklich eine Zeitreise war, die du gemacht hast?«
»Einhundert Prozent. Wenn du mich einen Blick auf deine Arbeit werfen lässt, werde ich auch wissen, wie ich dir was erzählen kann, ohne dass du einen Herzkasper bekommst.«
Jonathans Blick verharrte auf ihrer unschuldig wirkenden Miene. »Weißt du, du könntest mich auch einfach fragen.«
»Du könntest mir auch einfach einen vom Pferd erzählen«, konterte sie trocken.
Jonathan hob einen Mundwinkel und schnaubte lässig. »Touché. Dann haben wir wohl eine Pattsituation.«
Luna beobachtete, wie ihr Dad dasaß, die Faust knapp unters Kinn geführt, der Daumen auf seinem Mund ruhend, und grübelte. Er wird dir sowieso nicht glauben. Was verschwendest du deine Zeit? Schlag ihn k.o. nimm dir die Unterlagen und verschwinde! Ihre Gliedmaßen versteiften sich. Du hältst jetzt deine Klappe!, wies sie ihre innere Stimme an.
Ein langer und tiefer Atemzug durchströmte Jonathans Lungen. Eine Tochter aus der Zukunft? Nein. Wenn überhaupt etwas von dem wahr war, was sie erzählte, kam sie ganz woanders her. Aber das wäre fast genauso verrückt. Und würde bedeuten, dass er mit seiner Theorie richtig läge.
Jonathan schaute sie noch einen Moment an. »In Ordnung.« Er stand auf und deutete ihr, hinter seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. »Ich mache mir einen frischen Kaffee. Magst du auch einen haben?« Er glaubte zwar nicht daran, dass sie seine Tochter war oder aus der Zukunft stammte, doch etwas passierte hier und seine Neugier wollte wissen, was das war. Was, wenn er mit seiner Vermutung, dass sie aus einer anderen Welt stammte, recht hatte? Das wäre bahnbrechend, wenn auch – beängstigend.
»Nein, danke. Für mich nur ein Wasser bitte«, nuschelte Luna gedankenversunken, ohne dabei auch nur eine Sekunde zu ihm aufzublicken. Sie saß nicht einmal richtig auf dem Schreibtischstuhl, da fing sie schon an, eine Art Ordnung und Chronologie in sein Chaos zu bringen. Sie hatte zwar Übung darin, sein Kauderwelsch zu deuten, musste aber zugeben, dass es selbst ihr nicht leichtfiel, etwas davon zu verstehen.
Großvaterparadoxon, »A smooth exit from eternal inflation« von S.W. Hawking und Thomas Hertog, »Missing 411« von David Paulides, »The hidden Reality« von Brain Greene, zirkuläre statt lineare Zeitlinien, alte Götter und Sternen Tore – Zusammenhänge mit paranormalen Vorgängen und Sichtungen kryptozoologischer Wesen – aha, – okay, – so weit, so gut.
Schranktüren klapperten, Glas traf auf Holz und während die Kaffeemaschine gegen die Bohnen kämpfte, füllte Jonathan ein großes Glas mit frischem Wasser. Er stellte es nur wenige Augenblicke später neben ihr auf dem Schreibtisch ab. An seinem Kaffee nippend, verharrte er hinter ihr und sondierte sein Bücherregal.
Luna ergriff das Glas, um es in beinahe einem Zug zu leeren. »Danke«, keuchte sie, als sie das Glas wieder absetzte. »Du bist übrigens ziemlich leichtsinnig, weißt du das?«, raunte sie überlegen und nahm mit verwunderten Blicken die nächste Notiz zur Hand.
Jonathan verschluckte sich fast am heißen Kaffee. »Was soll das jetzt wieder heißen?«, hüstelte er und reichte ihr drei weitere Bücher aus dem Regal, von denen er meinte, dass sie sie brauchen könnte.
Luna runzelte die Stirn. »Ich könnte sonst wer sein, dich k.o. schlagen und ausrauben.«
Er stockte für einen flüchtigen Moment. »Hast du denn vor, mich auszurauben?«
Luna prustete missmutig und nahm die Bücher entgegen. »Nein. Aber dein Maß an Naivität ist erschreckend hoch. Du solltest nicht direkt jeder fremden Seele trauen, der du über den Weg läufst, nur weil Argumente existieren, die dafür sprechen, dass schon alles seine Richtigkeit hat.«
»Na, wenn das so ist.« Die Aufmerksamkeit seiner stahlblauen Augen verharrte auf ihrem Hoodie. »Die Tasche. Gib mir die Tasche als Pfand und wir kommen klar.«
Lunas Kopf schreckte hoch. Wenn er die Tasche in seine Finger bekommt, wird er das Buch finden. Wie erklärst du ihm das?, meldete sich die gehässige Stimme in ihrem Kopf. Nur einen Moment später zierte stille Rebellion ihr feines Gesicht. Sie drehte sich allmählich samt dem Stuhl um, beugte sich vor und sicherte mit einer Handbewegung den Bereich, an dem die Tasche unter ihrem Hoodie verborgen lag. »Hallo? Ich bin doch deine Tochter. Keine Fremde.«
»Zumindest behauptest du das.«
Luna sah ihn mit aufgesetztem Entsetzen an. »Traust du mir etwa nicht?«
Jonathan schaute vorwurfsvoll und schwieg.
Luna kniff angriffslustig ihre Augen zusammen. »Ist ja schon gut. Du bekommst die Brille und kannst sie untersuchen, solange du willst. Ich gehe sogar ’nen Schritt weiter. Meinetwegen kannst du damit auch zum Optiker deines Vertrauens rennen und ’ne Kopie davon anfertigen lassen. Ist mir egal, aber die Tasche bekommst du nicht.«
Jonathan leerte seine Kaffeetasse in einem Zug und stellte diese auf den Beistelltisch des Sessels ab, ohne das Mädchen mit der geröteten Nase aus seinen Augen zu verlieren. »Ich würde ungern handgreiflich werden wollen.«
»Und ich dir ungern die Nase brechen«, erwiderte Luna kühl. Wie eine Raubkatze, die ihre Beute anvisierte, folgte ihr Blick jede seiner Bewegungen.
Ein Detail, das Jonathan keinesfalls entging. »Das würdest du also tun, ja?« Jonathan schnalzte abwägend. Ihm missfiel die plötzliche Anspannung dieses Dialogs.
Sie legte den Kopf schief, schnaubte und ließ den Stuhl sachte nach links und rechts schwenken. »Du hast keine Vorstellung davon, was ich alles bereit bin zu tun, wenn ich ein Ziel habe.«
»Verstehe. Sehr ambitioniert für dein Alter.« Jonathan zögerte. Er hatte geblufft, als er andeutete, handgreiflich werden zu wollen. Bei seiner Statur zog so ein Bluff oft genug, sodass es nur selten zu einer echten Auseinandersetzung mit jemandem kam. Ein Umstand, über den er froh war, da er Gewalt für das Mittel der Schwachen hielt. »Gut. Ich nehm die Brille – und für einen späteren Zeitpunkt das Angebot mit der Kopie.«
»Deal.«
Plymouth, England:
Der kleine, beschauliche Hafen des wenig bekannten Fischerdorfes in der Nähe von Devonport hatte nicht viel zu bieten. Die Stege waren morsch und überall stank es nach Algen und Fischinnereien. Einzig eine kleine Kneipe mit dem Namen The Sturmey Archer gab es neben einer noch kleineren Hütte, in welcher der fangfrische Fisch zum Weiterverkauf an Touristen und Einheimische angeboten wurde.
Es war Nacht und seichter Nieselregen benetzte das aufgedunsene, blasse Gesicht eines korpulenten Mannes im klassischen, schwarzen Anzug, nebst cremefarbenem Hemd, passender Krawatte und Melone. Er blickte durch seine Sonnenbrille zum Nachthimmel hinauf und nahm einen tiefen Atemzug. Er stand vor der stählernen Tür zum Steuerhaus eines kleinen Fischkutters mit dem Namen Old Faithfull und wartete. Seine Hände steckten in den Taschen seiner Hose, um die roten Pusteln auf seiner Haut zu verstecken und sich vom Kratzen abzuhalten.
Dürre Finger, einer ebenso dürren Hand schnippten vor seinem Gesicht.
»Mister Preston, konzentrieren Sie sich!«, erhob sich die Stimme der zweiten, hageren Gestalt, die neben Mister Preston stand. Der Mann war etwas mehr als zwei Köpfe größer als Mister Preston und trug einen identischen Anzug. Sein fahles Gesicht zeichnete tiefe Furchen und ausgezehrte Wangen. Auch er war beinahe schon leichenblass.
Der korpulente Mister Preston räusperte sich und hielt sich den Magen, als hätte er Sodbrennen. »Ich bitte um Verzeihung, Mister Grimm. Die Gischt und die See versetzen mich immer in Erinnerungen an die Heimat. Das lässt mich hin und wieder sentimental werden.«
Mister Grimm blickte Mister Preston regungslos an. »Verstehe. Wie lange ist es her, dass Sie dort waren?«
»Etwa zehn Jahre und bei Ihnen?«
»Etwas mehr. Wollen wir dann?« Mister Grimm drehte sich zur Tür und klopfte mit überraschend kräftigen Hieben gegen den Stahl. Bomm, bomm –, bomm, bomm.
Wenige Augenblicke später drehte sich der äußere Riegel und die Tür öffnete sich. Ein blonder, bärtiger Mann Ende vierzig stand im dunkelblauen Rollkragenpullover und gelber Gummistiefelhose in der Tür und starrte die beiden Männer im Anzug fragend an.
Mister Grimm erhob seine ruhige, aber dominante Stimme. »Mister Dunn? Mister Kelvin Dunn?«
Der Mann in der Tür zögerte. »J-ja? Wie kann ich helfen?«
Mister Grimm hob seine Mundwinkel mit künstlicher Freundlichkeit, griff in sein Jackett und holte einen Ausweis hervor. »Ich bin Mister Grimm, der korpulente Herr zu meiner Rechten ist Mister Preston. Wir sind vom Grenzschutz und haben ein paar Fragen an Sie. Hätten Sie daher kurz Zeit?«
Mister Dunn runzelte die Stirn, sah den Ausweis an und nickte. »Klar. Kommen Sie ruhig rein. Hier ist es wenigstens trocken.« Er ließ die beiden eintreten, schloss die Tür hinter sich und setzte sich wieder auf seinen Kapitänsstuhl. Kelvin ergriff sein Glas Scotch von der blinkenden Steuerarmatur vor ihm und schaltete den kleinen, braunen Reisefernseher aus. »Was hat einer meiner Männer diesmal angestellt? Wieder mal Schmuggel?«
Mister Preston und Mister Grimm sahen sich schweigend an und wandten sich synchron Mister Dunn zu.
»Weiter Weg von Puerto Rico nach Plymouth, finden sie nicht? Vor allem für so ein kleines Schiff wie Ihres«, brachte Mister Grimm herausfordernd hervor.
Dunn nippte an seinem Scotch. »Und? Ich bin hier aufgewachsen. Kommt hin und wieder vor, dass wir hier ankern.«
Mister Prestons Miene verhärtete sich unter den großen Gläsern seiner dunklen Sonnenbrille. »Sie waren das letzte Mal vor über einem Jahr hier! Das ist wohl kaum die Definition von hin und wieder?!«, knirschte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
»Was mein Kollege sagen will, ist, dass wir es äußerst seltsam finden, dass Sie ausgerechnet jetzt hier vor Anker gegangen sind«, unterbrach ihn Mister Grimm. »Und wir fragen uns, ob das einen bestimmten Grund hat.«
Mister Dunn zuckte mit den Schultern und nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas. »Wie wäre es, wenn Sie mir einfach sagen, was Sie suchen? Dann kann ich vielleicht behilflich sein.«
Mister Grimm hob künstlich eine Mundfalte. »Nett, dass Sie fragen. Wir suchen nach einer illegalen Einwanderin. Etwa ein Meter sechzig, bis ein Meter siebzig groß, zierliche Gestalt, rot-weiß gescheckte Locken. Haben Sie so jemanden zufällig in letzter Zeit gesehen, Mister Dunn?«
Mister Dunn grunzte abfällig und goss sich ein weiteres Glas ein. »So ist das also. Ja, Paddency Lederer. Sie hat in Puerto Rico auf meinem Schiff angeheuert. Wollte kein Geld, nur eine Überfahrt nach Europa. Das passte, da ich gerade eine Tour hierher geplant hatte.«
»Welch ein glücklicher Zufall«, bemerkte Mister Grimm zynisch. »Mister Dunn, hat sie Ihnen zufällig ein Dokument vorgelegt, das ihre Identität bestätigt? Einen Ausweis, vielleicht?«
Dunn stockte. »N-nein. Aber so genau überprüft man in unserem Gewerbe auch niemanden. Nicht immer zumindest. Was hat sie denn angestellt?«
Mister Preston trat einen Schritt näher an Dunn heran. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie dieses Mädchen einfach auf Ihrem Schiff arbeiten ließen, in der Annahme, dass schon alles okay ist?!«, knurrte Preston.
Mister Grimm hob wortlos eine Hand und zwang Mister Preston damit erneut zur Ruhe. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Hatten Sie keinerlei Zweifel an ihrer Identität oder ihren Beweggründen ausgerechnet, auf Ihrem Schiff anzuheuern?«
Dunn erhob erneut sein Glas. »Zugegeben, ich war etwas skeptisch, ja. So ein junges Ding unter einer Gruppe alter Seebären – pfft! Das kann auch schnell mal schiefgehen, wenn sie verstehen, was ich meine. Aber Mann! Konnte die anpacken! Die Kleine hat so manch einen Matrosen ganz schön alt aussehen lassen, sage ich Ihnen.« Dunn blickte aus dem Fenster in die verregnete Nacht. »Jederzeit würde ich die Kleine wieder auf mein Schiff lassen.«
»Sicher doch«, erwiderte Mister Grimm gleichgültig. »Hat sie zufällig gesagt, weshalb sie so dringend nach Europa wollte? Hatte sie ein Ziel genannt?«
Dunn runzelte die Stirn. »Natürlich. Sie war ein quirliger, kontaktfreudiger Sonnenschein. Hat allen von den fantastischen Abenteuern rund um ihren Vater erzählt. Ein bisschen wie Pipi Langstrumpf, nur rauer und weniger kinderfreundlich.« Dunn lächelte. »Kennen sie Pipi Langstrumpf?«
Mister Grimm verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und zwang sich zu einer freundlichen Miene. »Tut mir leid, leider nein. Was hat sie noch gesagt?«
Dunn kniff ein Auge zu und betrachtete die beiden Gestalten, wie sie einfach nur dastanden und sich kaum rührten. Er schüttelte den Kopf und stellte sein leeres Glas ab. »Allen Anschein nach ist ihr Vater eine echte Legende unter irgendwelchen Wanderern. Ich wusste nicht einmal, dass es unter denen so was gibt. Die spazieren doch nur so herum. Na ja, so richtig verstanden habe ich das eh alles nicht. Sie hat wohl auf einer ihrer Wandertouren einen Fehler gemacht und muss jetzt ihren Vater, Jonathan, besuchen, um das wieder geradezubiegen. Irgendwie so was.«
Mister Grimm horchte auf. »Und sie hat Wanderer gesagt? Interessant.« Er schenkte Mister Preston einen flüchtigen Blick, dieser schüttelte seinen aufgedunsenen Kopf kaum merklich. »Mister Dunn? Erzählen Sie ruhig weiter. Alles, was Sie uns sagen, hilft uns.«
Kelvins Miene verfinsterte sich und er goss sich erneut einen Tropfen Scotch ein. »Was wollen Sie denn noch alles wissen?«, murrte er.
»Am liebsten alles, Mister Dunn«, erwiderte Mister Grimm steif. »Hat sie erwähnt, woher sie kommt? Wo sie vor Bolivien war? Weshalb sie glaubt, dass dieser Jonathan ihr helfen kann? Wo dieser Jonathan lebt? Verstehen Sie, Mister Dunn? Alles, woran Sie sich erinnern können, hilft uns bei unserer Arbeit.«
Dunn lehnte sich in seinen Stuhl zurück und warf einen flüchtigen Blick auf das Schiffsradar. »Das sind ganz schön viele Fragen. Woher sie genau kam, kann ich wirklich nicht sagen, aber wo ihr Vater lebt schon. In Deutschland. Berlin, um genau zu sein.«
Mister Prestons Wangen liefen rot an. »Wo genau?! Berlin ist nicht gerade ein menschenleeres Kaff, wie dieses Nest hier!«
Dunn kratzte sich am Hinterkopf. »Lassen Sie mich überlegen. Sie erzählte etwas von einem Park, direkt vor dem Haus ihres Vaters. Sie ist dort als Kind wohl gerne spielen gewesen. L... irgendwas mit L. Es tut mir leid, ich würde gerne mehr für Sie tun, aber ich komme nicht mehr drauf.«
Gelbe, große und perfekt sitzende Zähne traten aus Mister Grimms Mund hervor, als er lächelte. »Macht nichts, Sie haben uns bereits sehr geholfen, Mister Dunn. Vielen Dank für Ihre Kooperation. Sagen Sie, Ihre Mannschaft befindet sich nicht zufällig ebenfalls an Bord?«
Mister Dunn schüttelte den Kopf und wies mit dem Daumen aus dem Fenster zur schummrig beleuchteten Hafenkneipe. »Die sind alle im Sturmey Archer und lassen sich ordentlich volllaufen.«
Mister Grimm nickte. »Vielen lieben Dank, Mister Dunn. Mister Preston, würden Sie bitte?«
Mister Prestons Miene verzog sich zu einem unheilvollen Grinsen. »Aber mit dem größten Vergnügen.« Seine mit Pusteln bedeckte Hand packte mit einem kräftigen Ruck die Schulter von Mister Dunn. Dieser schrie auf, wandt und krümmte sich vor Schmerzen. Er schlug und trat um sich und versuchte, mit aller Kraft, die Hand auf seiner Schulter loszuwerden. Dunn packte das Scotchglas, zerschmetterte es in einem Akt der Verzweiflung an Mister Prestons Kopf und schlug ihm die Sonnenbrille aus dem Gesicht. Blankes Entsetzen breitete sich in Kelvins Miene aus. Dort, wo Augen sein sollten, waren nur leere Hüllen – und Zähne.
Die Gegenwehr verstummte und Kelvins lebloser Kopf rollte auf die Brust. Wenige Augenblicke später ließ Mister Preston von dem mumifizierten Leichnam Dunns ab. Die Pusteln auf seiner Haut bildeten sich zurück und sein Gesicht wirkte deutlich vitaler und straffer, als es noch vor einer Minute der Fall war.
Mister Grimm versenkte seine Hände in die Hosentaschen. »Hat es geschmeckt?«
Mister Preston rülpste ungeniert und rieb sich die Handfläche mit dem winzigen Maul voller spitzer Zähne in dessen Mitte. »Hatte schon bessere. Haben Sie sein entsetztes Gesicht gesehen?« Mister Preston kicherte.
Grimm verzog indes keine Miene. »Ja! Das habe ich wohl. Warum tragen Sie keine Prothesen, wie es laut Protokoll vorgesehen ist?«
»Rmmm! Ich hatte mal welche, keine Ahnung, wo ich sie verlegt habe. Fackeln wir das Schiff ab?«
»Nein. Erst genehmigen wir uns noch ein paar Drinks in der örtlichen Kneipe und schauen, was die Mannschaft von Mister Dunn zu dem Fall sagen kann. Danach wird es eine bedauerliche Explosion am Hafen geben und selbstverständlich keine Überlebenden.«
Mister Preston grinste dreckig, setzte sich seine Sonnenbrille wieder auf und beide verließen das Schiff.
Warmes Licht drang durch die Fensterfront des Arbeitszimmers auf die Dachterrasse und vermengte sich mit den rhythmisch pulsierenden Lichtern bunter Solarleuchten, die hier und da einige Blumenkästen schmückten.
Das typische Klacken des Magnetverschlusses der Terrassentür weckte Jonathan aus seinem ungeplanten Nickerchen. Das Mädchen tapste barfüßig zu ihm auf die Dachterrasse und blieb am Geländer stehen. Eigentlich hatte er ihr nur etwas Raum geben wollen, deshalb war er hinaus auf die Terrasse gegangen. Einzuschlafen hatte dabei eindeutig nicht zu seinem Plan gehört. Zumindest war er froh darüber, dass sie ihr Wort gehalten, ihn nicht einfach ausgeraubt hatte und anschließend spurlos verschwunden war.
Luna stützte ihre Arme auf den blank polierten Streben des Geländers ab und seufzte. Ihre Augen schauten müde auf den von Laternen beleuchteten Leise Park und die dahinter liegende Silhouette der Innenstadt. Die frische Abendluft umspielte ihr Haar, während sie den Duft des Stadtlebens bei Nacht wahrnahm. Ein Sommernachtstraum aus rauchigen Kneipen, schalem Bier, frisch gebackener Pizza und zu viel Patchouli.
Es umschmeichelte den Hals einer angeheiterten jungen Frau, die in einem der Lokale Beute gemacht hatte. Um ihre Schultern lag der Arm eines Mannes, fast noch ein Junge, der bereit war, in dieser Nacht alles zu tun, was von ihm verlangt wurde. Sie waren sicher einige hundert, wenn nicht sogar tausend Meter von der Dachgeschosswohnung entfernt, aber der Wind stand günstig, sodass Luna den Duft des Parfums mit ihrer feinen Nase ohne Probleme wittern konnte. Eines der Dinge, die sie an sich zu schätzen wusste.
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte Jonathan, der auf der Sonnenliege rekelnd vor sich hin gähnte.
Luna drehte sich zu ihm um, während sie in den Taschen ihres Hoodies nach einer Lakritzschnecke angelte. Der Duft der Pizzeria war zu gemein, sie brauchte jetzt unbedingt etwas zu knabbern. »I don’t know, ein paar Stunden werden’s wohl schon gewesen sein.« Luna holte tief Luft. »Okay – einiges von dem, was du beschreibst, ist nicht dumm. Ich würde sogar behaupten, du hast den Dreh schon fast raus. Es hapert eigentlich nur noch an Kleinigkeiten, die einfach Quark sind.«
»Kleinigkeiten?« Verschlafen rieb sich Jonathan die Augen. Für einen Moment dachte er, dass Luna ihn weckte, weil sie Fragen hatte. Offenbar ein Irrtum. Sie war bereits fertig mit der Sichtung seiner Unterlagen.
Luna streckte den Nacken so lange hin und her, bis dieser einige Male knackte. »Paulides hatte mit den Missing 411-Fällen recht, diese Menschen sind verschwunden. Nur halt aus anderen Gründen, als man vermutet.«
»Was?« Jonathan tastete etwas unbeholfen nach Lunas Brille und entdeckte sie auf dem Boden neben der Liege. Er griff danach und betrachtete noch einmal das außergewöhnliche Design.
Die Gläser funkelten im Schein der bunten Solarleuchten seines kleinen Dachgartens in unzähligen Farben. Es erinnerte Jonathan entfernt an zwei große Diamanten, die man statt gewöhnlicher Gläser in die Brille gesetzt hatte. Das war selbstverständlich quatsch, änderte jedoch nichts an dem Eindruck. Er reichte sie ihr und Luna steckte sie vorläufig wieder ein.
»Sprichst du von den ganzen Vermissten in den National Parks?«, wollte er wissen.
»Das sagte ich doch gerade.«
»Was ist damit? Du willst doch nicht etwa andeuten, dass all diese Menschen durch die Zeit gesprungen sind?«
Luna rieb sich die Augen. »Nein! Es ist eher ’ne Art unfreiwilliger Wechsel zwischen dieser und einer der unzähligen anderen Welten, der da passiert.« Jonathan verzog sein Gesicht zu einer fragenden Miene. »Alles mit der Zeit. Erst einmal sei gesagt: Alles ist wahr. Jede Geschichte von merkwürdigen Kreaturen oder seltsamen Begebenheiten hat mindestens einen wahren Kern. Es gab meines Wissens aber nie ’nen Wanderer, der Gott gespielt hat. Das wär’ gegen den Kodex.«
»Kodex?« Jonathan bemühte sich, konnte ihr jedoch kaum folgen.
»So ’ne Art Leitfaden für Mitglieder des Netzwerks. Es verbietet solche Dinge, wie in ’ner weniger entwickelten Welt Gott zu spielen.«
Irritiert schüttelte er seinen Kopf. »Wovon redest du?«
»Deine Arbeit? Parallelwelten existieren.«
Jonathan schreckte hoch und starrte sie regungslos an. Er spürte das plötzliche Adrenalin in seinen Adern pulsieren und sein Herz in der Brust hämmern. Dann hatte er recht? Sein Atem wurde immer schneller und Übelkeit stieg in seine Speiseröhre auf.
»Überrascht? Ich hoffe, du verstehst jetzt, warum ich erst wissen musste, was du schon alles herausgefunden hast, bevor ich mit der Tür ins Haus falle.«
»Rücksichtsvoll geht trotzdem anders«, murrte er.
»Never mind! Ein Gerät zum Stabilisieren der Schwingungsfrequenzen zweier Welten braucht man übrigens nicht. Schon gar nicht, um die Grenze zwischen den Welten zu überschreiten. Zumal du hier ’ne Form von Übergängen beschreibst, die du ohnehin besser meiden solltest. Temporäranomalien sind kein Spaß, mein Bester. Es gibt gute Gründe, warum man die Finger von denen lassen sollte.«
»Temporäranomalien? Was soll ich darunter verstehen?« Sein Kopf pochte. Dieses Mädchen presste gerade drei Jahre seiner Nachforschungen in drei Minuten herunter, als wäre es selbstverständlich, das zu wissen. Jonathan fühlte sich mit einem Mal, als hätte er die letzten Jahre nur stümperhafte Grundlagenforschung betrieben.
Luna fuhr sich mit ihren Händen durchs Haar. »Das weißt du echt nicht? Wundert mich jetzt etwas.«
»Nein. Ich bin gerade ehrlich gesagt etwas überfordert. Und vielleicht einem Schlaganfall nahe, bin nicht ganz sicher.« Er ließ sich wieder auf die Liege zurückfallen. Sein rechter Arm ruhte auf seinem Gesicht bei dem Versuch, das plötzliche Flimmern vor seinen Augen zu unterbinden. »Parallelwelten existieren«, murmelte er tonlos.
Luna scheuchte mit ihrem Handrücken einige Insekten davon, die penetrant um ihren Kopf herum surrten. »Blöde Mücken«, maulte sie und betrachtete ihren Dad. Er lag da, als hätte er gerade einen Hitzschlag erlitten. »Tut mir leid. Ich dachte, es ist besser, damit anzufangen, worin du bei deiner wirklich gut ausgearbeiteten Theorie falsch liegst. Das macht es irgendwie leichter, auch den Rest zu verstehen.« Sie pausierte. »Soll ich ’nen Gang runterschalten?«
Jonathan hob ein Stück den Arm und öffnete ein Auge, um sie anzusehen. Eine gut versteckte Sorge machte sich in ihrem Gesicht bemerkbar. »Ich bitte darum.«
»Sure. Hast du schon mal davon gelesen, dass Leute ganz plötzlich für kurze Zeit innerhalb ihrer modernen Großstadt ein mittelalterliches Dorf vor Augen hatten? Oder etwas anderes, das nicht in die gewohnte Umgebung passte? Nur um Sekunden später wieder an Ort und Stelle zu stehen, als wenn nie etwas gewesen wäre?«
»Hmm, schon, ja. Menschen, die so eine Erfahrung gemacht haben, sprechen oft von einer Zeitreise. Natürlich glaubt man ihnen nicht«, antwortete er mit gedämpfter Stimme.
Luna angelte bereits nach ihrer dritten Lakritzschnecke. »Stimmt ja auch nicht. Diese Leute hatten ein Erlebnis mit ’nem instabilen Übergang. Eben ’ner sogenannten Temporäranomalie.«
»Instabiler Übergang?«
»Ja. Kennst du diesen echt coolen Zaubertrick, bei dem der Zauberer so tut, als würde er ’ne Münze durch ’nen Ballon in ’ne Flasche drücken?« Jonathan nickte. »So ist es in etwa mit Temporäranomalien. Es macht den Eindruck, als wäre ein Objekt auf der anderen Seite, ist es aber nicht. Und ehe man sich versieht, ist der Zauber auch schon wieder vorbei.«
»Verstehe.« Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht. Er hob seinen Arm und blinzelte. »Also hatte ich recht. Du bist nicht meine Tochter. Du bist die Tochter, einer anderen Version von mir! Eines Jonathans aus einer Parallelwelt. Einer, der beschlossen hat, ein Kind haben zu wollen, stimmts?«
»Falsch!«, zischte Luna. »Sei dir sicher, Dad, ich bin deine Tochter und nicht die irgendeines Jonathans!« Er hatte offenbar einen Nerv getroffen.
»Jetzt warte mal eben eine Sekunde. Nach allem, was du mir erklärt hast, ist die Existenz von Parallelwelten real und offensichtlich scheinst du mehr darüber zu wissen als ich. Dann sollte dir klar sein, dass es höchstwahrscheinlich keine Zeitreise ist, die du gemacht hast, sondern eine Reise in eine Parallelwelt mit anders verlaufender Zeitachse. In der ich eben noch kein Kind gezeugt habe.«
Ein lang gezogenes, von höhnischem Augenrollen begleitetes »Nein«, entwich Luna. Leicht genervt schob sie sich noch eine Lakritzschnecke in den Mund. »Das hier ist ganz sicher B-14.91.I.74-002. Nur eben aus irgendeinem Grund nicht meine Zeit.«
Jonathans Miene verhärtete sich. »B-14 ... was?«
»Die Kennzeichnung dieser Welt im System. B steht dabei für den Quadranten und 14 für dessen Position. Die anderen Daten ...«
»Verwirren mich nur noch mehr, also – lass es fürs Erste.« Das Wummern in seinem Kopf wurde langsam weniger und er wollte, dass es dabeiblieb.
Luna hob die Hände in die Luft. »Okay, dann eben nicht.« Sie sah im Augenwinkel die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos. Viel zu schnell, aber wen interessierte das so spät am Abend? Sie knabberte an ihren Daumennagel und dachte nach. »Vielleicht wird’s so einfacher.«
Luna trat dicht an ihren Dad heran, kramte in ihrer Tasche nach etwas und holte es hervor. Sie hockte sich neben ihn hin und stupste ihn an. »Siehst du das hier?« Jonathan fokussierte das Mädchen. Luna hielt ein Gerät mit schwarzem Gehäuse hoch, welches an ein gewöhnliches, wenn auch klobiges Outdoor-Smartphone erinnerte. »Das ist ein Na-Vi. Es zeigt dir unter anderem alle bekannten Weltentore in der aktuell besuchten Welt an und gibt dir Infos zu diesen. Es ist so ’ne Art Nachschlagewerk und Multifunktionstool für weltenwandernde Wesen, könnte man sagen.«
Jonathan richtete sich etwas auf und griff nach dem Gerät. Ungewöhnlich schwer lag es in seiner Handfläche. Er begutachtete es von allen Seiten, als hätte er nie zuvor etwas Vergleichbares in seinen Händen gehalten. »Weltenwandernde Wesen? Du sagst Wesen, nicht Menschen.«
»Richtig. Mein Na-Vi ist auch der Grund, warum ich Kontakt zu dir aufgenommen hab«, ergänzte sie und ignorierte vorläufig seine Frage. »Es ist defekt. Hat direkt nach meiner Ankunft in der Wüste den Geist aufgegeben. Ging kaum ungünstiger, sage ich dir. Die Zielkoordinate, also deine oder vielmehr unsere Heimatwelt, hatte es vorher aber noch angezeigt. Zumindest etwas, an das ich mich nach dieser irren Nummer orientieren konnte.«
Jonathan hob neugierig die Augenbrauen. »Verstehe, und weil ich dieses Gerät irgendwann mal bauen werde, soll ich es jetzt reparieren, damit du wieder zurück in deine Gegenwart gelangen kannst?« Er stand auf und ruderte mit seinen muskulösen Armen hin und her, um mehr Sauerstoff in seine Blutbahnen zu bekommen. Er musste nachdenken. Dann untersuchte er das Gerät erneut. Es wirkte auf den ersten Blick wirklich wie ein einfaches Smartphone, nichts Besonderes also.
Tatsächlich war er von Beruf Ingenieur, weshalb die Annahme, dass es von ihm war, gar nicht so weit hergeholt war. Nicht das einzige Handwerk, von dem er etwas verstand. Er hatte zwischendurch als Fahrzeugmechaniker gearbeitet, hatte aus Langeweile das Programmieren von Software erlernt, sich als Botaniker versucht, als freiberuflicher Fotograf gejobbt und war Reiseführer für ortsunkundige Touristen gewesen. Er war schlicht ein nie zufriedenzustellender Tausendsassa. In seinen sechsunddreißig Lebensjahren hatte er daher schon überall und nirgendwo seine Nase drin gehabt.
»Was? Nein! Bist du doof?!« Auch Luna erhob sich jetzt wieder und streckte einmal kurz die Knie durch. »Du hast das Na-Vi nicht erfunden. Außerdem kann man damit nicht durch die Zeit reisen.« Luna musste ein wenig grunzen bei dem Gedanken, dass ihr Dad glaubte, für eines der wichtigsten Utensilien des Netzwerks verantwortlich zu sein.
»Oh, okay«, antwortete er, während ihm eine leichte Enttäuschung durchaus anzusehen war. Dann reichte er ihr das klobige Gerät zurück.
»Das Na-Vi, bescheiden nach seinem Erfinder Nathaniel Villigan benannt, dient in erster Linie dazu, Routen zwischen den einzelnen Welten zu berechnen.« Sie stockte kurz und erkundigte sich blinzelnd nach der Verfassung ihres Vaters, bevor sie fortfuhr. »Übergänge sind immer in Bewegung, weißt du? Also die meisten zumindest. Manche mehr, manche weniger. Einige versiegen mit der Zeit, andere kommen neu dazu. Es ist wie ein lebendiger, kosmischer Organismus. Und nur weil du von Erde A nach Erde B springst, bedeutet das nicht immer, dass du einfach wieder durch denselben Übergang zurück kannst.« Ihre Finger fuhren in die Höhe und Luna begann Kreise und Linien in der Luft zu zeichnen. »Oft musst du von B, nach C, nach D, E oder F, um wieder einen Weg nach A zu bekommen. Das liegt an den Schwingungsfrequenzen der jeweiligen Erden. Die sind auch dafür verantwortlich, dass die Übergangspunkte und Arten variieren. Daher nutzen wir das Na-Vi. Aber ja, du kannst dir auch den Weg zum nächsten McDonalds zeigen lassen, wenn du hungrig bist.«
Jonathan lief ziellos im Kreis herum. Er verharrte, eine Hand vor den Mund haltend, die andere am Becken abstützend, mit Blick auf die fahl beleuchteten Wege des Leise Parks. Ein junges Pärchen schlenderte turtelnd und gackernd von Laternenschein zu Laternenschein. Jonathan konnte nicht fassen, was hier passierte.
Er war doch nur ein Träumer, ein Spinner, dessen Interesse für diese Thematik per Zufall geweckt worden war, als er von Langeweile getrieben im Internet surfte. Wie konnte er damit richtig liegen?
Luna trat neben ihm ans Geländer und warf einen Blick auf die belebten Straßen hinunter. Sie entdeckte ein Paar im Park, zweifellos die Patchouli-Frau mit ihrem Fang.
Jonathan betrachtete die Silhouette Lunas zarter Gesichtszüge. Wie der Wind seicht mit ihren Haarsträhnen spielte. Sah das Lächeln ihrer dunklen Lippen, als sie ihre Strähnen hinter ihr Ohr kämmte und vernahm zum ersten Mal bewusst ihren veilchenartigen Duft. Jonathan schwankte. Er hatte eine Tochter. Er hatte eine Tochter – und diese kam aus der Zukunft. Bevor er das Gleichgewicht verlor, griff er mit einer Hand nach dem Geländer. Stumm beobachteten sie das bunte Treiben partyverrückter Leute. Sowie den typischen Pechvogel, der in seinem Leben irgendwo die Kurve nicht gekriegt hatte und nun zitternd, das letzte Pfandgeld zusammenkratzte, um sich am Kiosk zwei Straßen weiter noch schnell ein Bier zu gönnen.
Luna stupste ihre Schulter an seine. »Kommst du klar?«
Jonathan zögerte abermals und nickte dann. »Ich denke schon. Wie ist es passiert? Ich meine, warum bist du durch die Zeit gereist?«
Luna atmete tief ein und stieß hörbar einen Schwall Luft aus. »Ganz ehrlich? Ich weiß nicht, wie das passiert ist. Ich weiß nur, dass es passiert ist. Ich wusste nicht einmal, dass so etwas geht.« Sie sah das leidenschaftlich knutschende Pärchen unbeholfen über die Pforte des Parks klettern. »Oh, jetzt sieh sie dir an, sind die nicht putzig?« Wenige Augenblicke später verschwanden die Turteltäubchen in einer Nebenstraße und das klirrende Geräusch einer leeren Flasche, die offenbar jemand umgestoßen haben musste, hallte durch die Gassen.
»Du lenkst ab. Wie ist es passiert?«
Luna seufzte. »Ich bin Hinweisen auf ein vermisstes Mitglied des Netzwerks nachgegangen«, fuhr sie fort, »und dazu in ’ne Welt im D-Sektor gesprungen. Blöderweise war die gerade am Abkacken. Aber so richtig.«
Jonathan hob die Augenbrauen. »Am Abkacken? Welch eloquente Wortwahl.«
»Na ja, diese Erde war im Arsch und gerade dabei Badaboom zu machen.« Luna ahmte mit ihren Händen eine Explosion nach. »Und gerade als ich dachte, das war’s jetzt, aus – Ende – vorbei, öffnete sich ein Übergang. Ein Riesending von ’nem Übergang. So was hatte ich noch nie gesehen. Also bin ich da durchgesprungen, um meinen Hintern zu retten. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich am Sonnentor in Bolivien rausgekommen bin und ’nen riesigen Durst hatte.«
Jonathans Augenbrauen kletterten in die Höhe. »Wow. Und du bist sicher, dass das ein Zeitsprung war?«
»Leider ja. Nathaniel ist zwar ein großkotziger Stinker, aber seine Technik funktioniert in der Regel einwandfrei.«
»Verstehe.« Jonathan streckte sich und holte tief Luft. »Was machen wir jetzt?«
»Ich muss Kontakt zum Netzwerk aufnehmen, meine Situation erläutern und hoffen, dass dort einem ’ne Lösung bekannt ist, wie ich wieder in meine Zeit zurückkomme. Ohne funktionierendes Na-Vi allerdings ’ne schwierige Angelegenheit.«
Da war es wieder, dieses Wort. »Netzwerk? Das hast du vorhin schon mal erwähnt«, hakte Jonathan nach.
»Yes! Das Wanderer-Netzwerk.«
»Es gibt also ein ganzes Netzwerk von Leuten, die davon wissen?«, unterbrach Jonathan sie ungläubig.
»Klar gibt’s das. Du würdest dich wundern oder sollte ich sagen, du wirst?«Sie ließ ihre Augen für einen flüchtigen Moment, die Richtigkeit ihrer Wortwahl überdenkend, nach oben schweifen. »Na ja, jedenfalls weiß ich, dass du auf deiner ersten Reise jemanden aus dem Netzwerk triffst und ihm wenig später beitrittst.«
Jonathans Augen weiteten sich. »Deshalb hast du mich aufgesucht. Weil du mich auf meiner ersten Reise begleiten willst und so hoffst, nach Hause zu kommen.«
»Ja.« Eine schuldbewusste Traurigkeit trat auf ihre Miene. »Tut mir leid, dass ich dich so überfallen habe. Aber was hätte ich machen sollen? Dir ’ne Story erzählen und mal sehen, was passieren wird?«
Jonathan schüttelte den Kopf. »Nein. Das wäre am Ende nur in die Hose gegangen. Und dann ...«
»Wäre die Vertrauensbasis völlig im Arsch gewesen«, ergänzte Luna tonlos.
Jonathan nickte. »Richtig. Also dieses Netzwerk kann helfen? Wie?«
»Nun ja, sie fungieren als Hüter, Forscher und Entdecker all der unzähligen Welten da draußen. Wenn es also eine lebende Seele gibt, die etwas über Zeitreisen weiß, werden wir dort fündig.«
Jonathan nickte zurückhaltend. »Klingt einleuchtend.«
Luna knabberte an ihrem Daumennagel, dann sah sie Jonathan erneut an. »Also – wirst du mir helfen?«
Jonathans Aufmerksamkeit verharrte einige Momente auf einem Schwarm Insekten, die um einer der Straßenlaternen tanzten. Es war nicht so, dass er nicht behilflich sein wollte, er wusste nur nicht, ob er es wirklich konnte. Zeitreisen, Parallelwelten, fremde Wesen. Hatte er das passende Nervenkostüm dazu? Jonathan straffte die Schultern, räusperte sich und blickte zu seiner mittlerweile verunsicherten Tochter hinunter. »In Ordnung. Aber wir brauchen Regeln.«
Luna horchte auf. »Keine Sorge, ich werde dich nicht bei deiner Arbeit behindern, versprochen.«
»Nett. Aber das meinte ich gar nicht. Du bist nicht freiwillig durch die Zeit gesprungen. Wir wissen also nicht, was das für Auswirkungen haben könnte, vielleicht wirst du hierdurch ja niemals geboren? Schon mal darüber nachgedacht?«
»Was du nicht sagst, Einstein. Du hast dir Zurück in die Zukunft sicher ein dutzendmal mit mir angesehen. Ich weiß, was passiert, wenn Marty sich in die Beziehung seiner Eltern einmischt. Was glaubst du wohl, weshalb ich hier bin und dich bitte mir zu helfen? Weil ich Bock hatte zu sehen, was mein Dad vor meiner Geburt so gemacht hat?« Luna drehte sich um, lehnte sich mit ihrem Hintern an das Geländer der Terrasse und verschränkte die Arme. »Aber ich denke, solange du nicht weißt, wer meine Mum ist, dürfte ich safe sein.«
»Gute Güte, Kind!«, unterbrach er seine Tochter.
»Was?«
»Es ist vollkommen egal, wer deine Mutter ist. Treffe ich im Hier und Jetzt eine andere Entscheidung oder tue etwas, das ich eigentlich nie getan hätte, kann es genauso gut passieren, dass ich deine Mutter niemals kennenlernen werde. Darum geht es. Das allein könnte deine jetzige Existenz schon gefährden, verstehst du das?«
»Meinst du, dass Zeitreisen so funktionieren?«