Tales from Haven: Die Weltenwanderer Chroniken 3 - John Welante - E-Book

Tales from Haven: Die Weltenwanderer Chroniken 3 E-Book

John Welante

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Beschreibung

Der Schock sitzt noch immer tief! Jonathan King lebt! Während Luna und die anderen Überlebenden versuchen, das Sterben aller Welten, um jeden Preis zu verhindern, kommen nach und nach die letzten Geheimnisse der Familie King ans Licht! Doch ist Jonathan wirklich, in seinem Durst nach Wissen, dem Wahnsinn verfallen, oder steckt mehr dahinter, als wir ahnen können? Ein Showdown zwischen Vater und Tochter, der das Schicksal aller Welten beeinflussen wird, scheint unmittelbar bevorzustehen!

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sascha Waltemathe

 

 

 

 

 

 

 

Dieser Titel ist auch als Taschenbuch und Hardcover erschienen.

Vollständige eBook-Ausgabe.

 

Impressum

Inhaltswarnungen zu diesem Werk findet ihr am Ende des Buches.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

1. Auflage: Tolino-Edition

Text Copyright © 2022 Sascha Waltemathe

Lektorat: Jenny Brand Korrektorat: Jenny Brand, Marianne Molzer Cover: Sascha Waltemathe Layout: Sascha Waltemathe Geschrieben mit Papyrus Autor 11

Verantwortlich für den Inhalt:

Sascha Waltemathe Paterswolderweg 1 26203 Wardenburg [email protected]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vergesst niemals:

Stolpersteine sind die Treppen zum Erfolg.

Gebt also niemals auf, wenn ihr ein Ziel vor Augen habt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Wert eines Lebens wird an so vielen Dingen bemessen, die alle keinerlei Wert haben, dass wir vollkommen vergessen, warum ein jedes Leben gleichermaßen wertvoll ist.

 

 

 

 

 

 

Der Beginn einer Legende1

Bis zur Dämmerung12

Die Arche19

Ein seltsamer Vogel32

Zerfall einer Ära43

Ein Sturm zieht auf54

Frequenzen60

Der Feuergott73

Seelenlichter87

Überlebenskünstler100

Wie ein Elefant115

Eine letzte Chance?126

Eden133

Verhängnisvolle Vorsehung145

Wunderbare Lügen151

Messias170

Wiedergänger184

Teezeit194

Verdorrte Liebe206

Ein Kreis schließt sich217

Schuld und Sühne228

Gefühllos243

Quälende Gewissheiten254

Das Schicksal ruft262

Die, die hoffen267

Quid pro quo283

Das Vermächtnis der Familie King290

Der Traumwandler306

Nur ein weiterer Scherbenhaufen310

Das letzte Licht322

Das Ende aller Welten331

Der erste Funke335

Varianten342

Von Heldentum und dunklen Rittern352

Nebulöse Freuden359

Lapis Variabilis371

Die Last eines Versprechens382

Der Schmerz eines Verlustes394

Weltenfresser408

Überlebenskämpfe416

Machtspiele423

Destiny434

Nur ein einziger Augenblick442

Blütezeit450

Das Leben danach454

Verbunden462

Danksagungen468

Content-Warnungen470

 

 

Der Beginn einer Legende

B-73.09.A.49-005: Vor dreißig Jahren.

Die Sonne stand tief und tauchte den Dschungel in warme Goldtöne. Irgendwo in der Ferne spielten affenähnliche Geschöpfe mit einem senkrechten und über den ganzen Kopf verlaufenden Mund in den Baumkronen euphorisch ihre Lieder. Luna ließ ihre Ohren aufzucken. Fast war sie sicher, dass die Affen wussten, dass die letzte der beiden Schwestern tot war und sie nun keinen Basiliskenangriff mehr befürchten mussten. Das alles wegen ihres Dads. Er war es, der Penélopes Dolch in das Auge der Kreatur rammte und damit ihr grauenerregendes Schicksal besiegelte. So großartig dieses ganze Abenteuer durch Zeit und Raum auch war, jetzt war es für Luna an der Zeit Abschied zu nehmen und in ihre Gegenwart zurückzukehren. Ihre Finger umklammerten Jonathans Rücken eine Spur fester.

Luna kostete jeden noch verbleibenden Moment aus, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Worte waren nicht nötig. Sie wussten, was sie füreinander empfanden. Und sie waren beide froh darüber, diesen Moment noch miteinander zu haben. Luna vergrub ihren Kopf ganz tief an Jonathans Brust, atmete ein letztes Mal den Sandelholzduft ihres Dads ein. Dann gab er ihr einen behütenden Kuss auf die Stirn.

»Es wird Zeit«, sprach er mit sanfter Stimme.

Sie schluckte schwer, nickte und löste sich nur widerwillig aus der Wärme seiner Umarmung.

Jonathan sah einer mutigen jungen Frau dabei zu, wie sie zögerlich und voller Angst zu dem schicksalhaften Übergang trat.

Ihre Hand glitt zitternd zu dem Stein an ihrer Kette und umklammerte diesen hoffnungsvoll. Der Spalt vor ihrer Nase flackerte bereits instabil. Ein letztes Mal drehte Luna sich um. Sah noch einmal in das warmherzige Gesicht ihres Vaters, dann war sie verschwunden.

Jonathan stellte sich vor, wie Luna plötzlich aus dem Übergang zurücksprang und wieder vor ihnen stand. Leicht außer Atem und mit irgendeinem bissigen Kommentar im Gepäck. Einem, mit dem sie den beiden erklärte, dass die Idee dumm sei, sie in eine sterbende Welt springen zu lassen, um sie durch die Zeit zu schicken. Diego und er würden erst fassungslos dreinschauen und dann darüber lachen. Doch im Anschluss würde Jonathan alles daran setzen, einen anderen, besseren Weg für seine Tochter zu finden. Doch je länger er so da stand, desto klarer wurde Jonathan, dass das nicht passieren würde.

»Sie ist tatsächlich fort«, entfuhr es Jonathan nach kurzem Zögern mit trauriger Stimme.

Der Arm des Drachen ging kumpelhaft auf Jonathans Schulter nieder und ließen diesen erschrocken prusten. »Du wirst sie wiedersehen, ganz sicher sogar.«

Jonathan blickte zu ihm auf und seufzte. »Ich weiß, aber wird es dasselbe sein?«

Diego lachte laut auf. »Warum sollte es das nicht? Sie hat dir nie verraten, wer ihre Mutter ist, oder unter welchen Umständen du diese treffen wirst. Das war sehr schlau von dem kleinen Troublemaker.«

Jonathan ließ die kräftigen Schultern hängen. »Wie beruhigend. Aber das meinte ich gar nicht.« Er zögerte einen Moment. »Diego, sie hat so viel erlitten – ich möchte sie das nicht noch einmal durchmachen lassen. Nein!«, entfuhr es ihm entschlossen. »Ich will, dass alles anders wird und sie nicht all das Leid erfahren muss, das ihr bereits begegnet ist.«

Die regenbogenfarbenen Augen des Drachen musterten den jungen Mann an seiner Seite. »Nichts anderes hätte Diego von dir erwartet. Aber hältst du das wirklich für das Richtige? All ihre Erfahrungen machen Luna schließlich zu eben jener wunderbaren Seele, die du in den letzten Monaten kennenlernen durftest.«

Er nickte. »Und dennoch ist es nicht fair. Ich war – werde nicht fair sein.« Jonathans Finger glitten unauffällig über die oberste Lasche seiner linken Beintasche und dem darin verborgenen blauen Notizbuch. Schuldbewusst biss er die Zähne zusammen. Welch andere Wahl hatte er, als es aus der Umhängetasche seiner Tochter bei ihrer herzzerreißenden Umarmung vor wenigen Momenten heimlich zu entwenden? Luna hätte das Buch schließlich niemals aufgegeben, ohne unangenehme Fragen zu stellen. Fragen, auf die selbst Jonathan jetzt noch keine Antworten hatte. Er schloss für einen Moment die Augen und schwieg. »Alles für eine kryptische Botschaft in einem Notizbuch«, murmelte er.

Diego hob seinen kräftigen Arm von Jonathans Schulter und blickte erwartungsvoll auf ihn hinunter. »Du hast ihr das Buch also abnehmen können?«

Jonathan stockte erst erschrocken, dann huschte ein verschmitztes Lächeln über seine kantigen Gesichtszüge. Als sei er dabei ertappt worden, wie er ein mieses Blatt beim Pokern verheimlichen wollte. Er fischte das blaue Notizbuch aus seiner Beintasche und hielt es in die Luft. »Erwischt. Wie angepisst wird sie wohl sein, wenn sie es merkt?«

Diego nahm das Buch zur Hand und blätterte lose darin umher. »Mächtig angepisst sogar.« Beiläufig schnipste Diego einen Handteller großen Moskito von seinen Schuppen, der seit mittlerweile fünf Minuten vergeblich nach einer Lücke darin suchte. »Aber falls es dich tröstet: Dieses Notizbuch war nie für ihre Augen bestimmt. Sie war lediglich die unwissende Überbringerin. Darin sind wir uns doch einig, oder?«

Jonathan folgte noch einen Moment der Flugbahn des Insekts, blickte anschließend zu Diego auf und nickte verlegen. »Ich habe es mir selbst geschickt. Aus der Zukunft. Die Frage lautet nur: warum?«

Diego glitt im Buch von Zeile zu Zeile und kräuselte die schuppige Nase. »Du hast dir diese Frage vorhin schon selbst beantwortet.«

Nachdenklich glitten Daumen und Zeigefinger über Jonathans Kinn. »Hoffen wir, dass du recht hast. Es gibt durch den auf den Wandschriftzeichen basierenden Präfixschlüssel immerhin 493 Arten, es zu lesen. Und jede davon gibt ganz andere Informationen wieder. Gute Chancen, dass ich irgendwo auch einen Weg beschrieben habe, Lunas Zukunft zum Besseren zu wenden.«

Dampf rieselte in ruhigen Zügen aus den Nüstern des Drachen, während er bei dem Versuch diese Angabe zu überprüfen, das Buch drehte und wendete. »493 Arten, es zu lesen, sagst du? War das eine Schätzung, oder weißt du das genau? Und wenn ja, woher?« Erwartungsvoll hob er den Kopf aus dem Buch und wandte sich Jonathan zu, bevor Diego unerwartet stockte.

Immer wieder flackerten Jonathans Augen in einem leichten Blauschimmer auf. Wie ein stotternder Motor, der noch nicht entschieden hatte, ob er laufen wollte. Ihm entging derweil nicht, wie der Drache ihn seit einigen Sekunden ansah. Fast als sei er ein exotisches Tier in einem Zoo. Jonathan runzelte die Stirn. »Was ist? Krabbelt irgendwo dieser Moskito auf mir herum? Ich weiß es eben. Keine Ahnung, woher, okay?« Er griff verärgert nach dem Buch und steckte es zurück in seine Beintasche.

Unzufriedenheit vermengte sich mit einer Spur Sorge in der Miene des Drachen. »Grmpf! Du bist sicher, dass da nicht mehr ist, dass du Diego zu sagen hast?«

Jonathan bemerkte den fordernden Unterton des Drachen und zögerte. Etwas in ihm wollte unbedingt mit der Wahrheit herausplatzen. Diego gestehen, dass die geschlossene Blutsbrüderschaft nur eine List war, in der Hoffnung etwas von der großartigen Drachenmagie abzubekommen. Er hatte damit schließlich keine bösen Absichten verfolgt. Jonathan wollte lediglich seine Chancen erhöhen, diese verrückten Weltenhüpfereien zu überleben. Was war daran verwerflich? Er konnte ja nicht ahnen, wie gut das funktionieren würde. Doch etwas hielt ihn zurück. Jonathan konnte nur noch nicht greifen, was es war. Es fühlte sich an wie ein warnendes Déjà vu. Er schüttelte in Gedanken die Zweifel fort, betrachtete den Drachen reumütig und holte Luft. »O-kay, ich denke, es ist an der Zeit, dir etwas zu gestehen«, begann er, doch dann zögerte Jonathan erneut. Unbehagen pochte in seiner Brust und breitete sich über seinen ganzen Körper aus, bis er das leichte Zittern seiner Fingerspitzen bemerkte und schnell die Hand schloss. Er blickte in das geschuppte Gesicht des Drachen, holte noch einmal Luft und die Welt vor seinen Augen zersplitterte.

Erschrocken wich Jonathan zurück. »Hallo?«, rief er in den zersprungenen Dschungel hinein und wurde vom Hall seiner eigenen Stimme begrüßt. »Toll, was ist das jetzt wieder?«, murrte er und tastete sich mit seinen Stiefeln über den knirschenden Glasboden entlang bis zu einem der umherschwebenden Splitter. In der Hoffnung auf Antworten warf er einen zögerlichen Blick hinein und wich sofort wieder zurück. Er prustete gegen eine innere Panikattacke an und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Was zum Teufel?«

Der Splitter zeigte Jonathan und Diego, wie sie sich stritten, nachdem Jonathan ihm die Wahrheit erzählt hatte. Sowie Diego, der Jonathan am Ende dieser Unterhaltung allein im Dschungel zurückließ. Jonathan ging in die Knie, hielt sich die Hände vor Mund und Nase, bis er den Mut fand, den Blick in einen weiteren Splitter zu riskieren. In dieser Version verlief das Gespräch anders. Jonathan erfuhr den Grund für Diegos Reaktion in der vorherigen Version. Diego war davon überzeugt, dass jene, die nach fremder Stärke suchten, um ihre eigenen Schwächen zu kompensieren, dieser Stärke nur selten auch würdig waren. Denn er wusste, dass Macht dazu neigte, den Geist der Schwachen zu korrumpieren.

Vorsichtig entfernte sich Jonathan auch von diesem Splitter und ließ seine Aufmerksamkeit langsam über die unzähligen anderen gleiten. »Sind das etwa alles Varianten dieser einen Situation?«

Nach und nach erkundete Jonathan jeden einzelnen Splitter und verfolgte gebannt deren Ausgang bis zum Ende aller dazugehörigen Reaktionsketten. Manche waren nach wenigen Augenblicken vorüber, andere überdauerten und schlugen noch über Jahre ihre Wellen. Noch verstand Jonathan nicht, was ihm hier passierte, doch es war ohne Zweifel an Faszination nicht zu übertreffen. Dann bemerkte er einen besonders hell leuchtenden Splitter unter all den anderen. Es wirkte beinahe so, als suchte der Splitter förmlich nach Jonathans Aufmerksamkeit und er folgte dessen pochendem Ruf.

»Hey! Ignorierst du Diego?«, wummerte die Stimme des Drachen in seinen Ohren. »Woher willst du schon jetzt wissen, dass es 493 Möglichkeiten gibt, das Buch zu lesen?«

Jonathan fokussierte das verschwommene Bild des Drachen, bis es nach nur zweimaligem Zwinkern gewohnt scharf wurde. »I-ich habe die Anzahl der Lesemöglichkeiten vielleicht doch nur geschätzt«, log Jonathan.

Verständnislosigkeit zog in das Gesicht des Drachen. »Ach so? Aber warum sagst du dann nicht einfach, dass du schätzen würdest, dass es 493 Möglichkeiten gibt, das Buch zu lesen?« Diego verharrte einen Moment, bis er es leid war, das ratlose Gesicht Jonathans zu mustern. Er drehte sich langsam um und stapfte mit schweren Schritten in der feuchten Erde Richtung Sky-Cruiser. »Deine Welt hat wirklich unglaublich seltsame Angewohnheiten.«

Jonathan räusperte sich und folgte ihm. »Ach, findest du? Nenn mir nur ein Beispiel, in dem meine Welt seltsamer ist, als die, in der Drachen existieren.«

»Blutsbrüderschaft bei neuen Freundschaften«, warf Diego provokant ein und stieg in das Libellen-förmige Gefährt. »Wie läuft das? Ihr geht auf eine Party, trefft neue Leute und tauscht bei Sympathie einfach so die Blutgruppen durch? Habt ihr denn keine Angst vor Krankheiten?«

Jonathan schnaubte gelassen, während er mit in der Hosentasche vergrabenen Händen die kleinen rot lackierten Metallstufen des Luftschiffes erklomm. »So willkürlich machen wir das auch wieder nicht.«

Diego rümpfte die schuppige Nase. »Also eher wie eine Eheschließung? Sei Diego nicht böse. Du bist ja ganz nett und so, aber ...«

»Nein! Gott verdammt! Nein!«, unterbrach Jonathan das Gedankenspiel des Drachen und warf sich hinten rechts in den Sitz. »Eine Blutsbrüderschaft schließt man bei uns mit Freunden, die einem so wichtig geworden sind, dass man sie ein Leben lang bewahren will.«

Überrascht streckte Diego den Hals. Er hatte mit jedem kläglichen Versuch einer Erklärung gerechnet, aber mit so etwas nicht. »Oh, Diego wusste nicht, dass dir sein Umgang so viel bedeutet. Er dachte, du hättest ...«

»Natürlich tut es das«, unterbrach Jonathan seinen Rechtfertigungsversuch. »Du hast mir und meiner Tochter schließlich mehrfach das Leben gerettet. Außerdem bist du mindestens genauso neugierig und wissbegierig, wie ich es bin. Das mag ich sehr an dir. Neugierde ist die Pforte zu neuen, unentdeckten Möglichkeiten, weißt du? Wer keine Neugier besitzt, wird niemals neue Horizonte erblicken.«

Diego lächelte verschmitzt, legte sein Na-Vi an die dafür vorgesehene Stelle des Cockpits und die Lichter der Sky-Cruiser sowie dessen Triebwerke erwachten zum Leben. »Wow. In dem Fall fühlt Diego sich außerordentlich geehrt, dein Freund zu sein.«

Auch Jonathan setzte auf ein freundliches Lächeln. Er deutete eine Verbeugung an und sagte: »Ebenso.« Doch für den Bruchteil einer Sekunde schwankte sein vor Sympathie nur so strotzendes Lächeln. Er hatte gelogen. Jonathan hatte gerade zweifelsfrei gelogen. Ein Schwall Betrübtheit klammerte sich an seine kantigen Gesichtszüge fest, bis Jonathan wieder einfiel, was er gesehen hatte, als er beschloss, dem hellsten der Splitter zu folgen. Und nur bei diesem einen Mal nahm der Drache Jonathans darauf folgendes Geständnis so auf, dass ihre bis dahin tiefe Freundschaft keine Kerbe kommen würde.

Diego wandte den Blick für einen Moment von der Navigationseingabe der Sky-Cruiser ab und betrachtete die schwindende Sonne zwischen dem Blättergeflecht der Bäume und Sträucher. Die kleineren Geschöpfe des Dschungels wurden zunehmend leiser, während die größeren damit begannen, sich durchs Unterholz zu schlagen. »Auf nach Haven?«

Jonathan lehnte sich lässig in die lederne Sitzbank und betrachtete am Rand der Lichtung einige der seltsamen Affen, die freudig kleinere Schlangen in ihren Pfoten hielten und siegreich in der Luft umherwirbelten. »Aye, aye, Kapitän.«

Die Pranke des Drachen betätigte sachte den Steuerhebel und die Sky-Cruiser erhob sich, bis sie über den Baumkronen schwebte. Dann drückte er den Schubhebel nach vorn und das Schiff beschleunigte.

Jonathan presste die Lippen zusammen und betrachtete den im Wind tanzenden roten Seidenkimono des Drachen, der das Luftschiff bediente.

Licht flackerte immer wieder unscheinbar in seinen Augen auf und ließ sie abermals blau schimmern. Jonathan überkreuzte seine Arme auf der Kante der Sitzschale und legte seinen Kopf darauf ab, während er das Blätterdach des Dschungels unter ihnen vorbeirauschen sah. Was er auch tat, Jonathan wollte nicht aufhören, daran zu denken, wie er so grausam sein konnte, seine eigene Tochter in eine sterbende Welt springen zu lassen. Sie musste schreckliche Bilder zu Gesicht bekommen. Verzweifelte Seelen, die in den letzten Momenten ihres Daseins alles taten, um doch noch irgendwie zu überleben, ohne zu wissen, dass es zwecklos war. So viele Leben, so viele Geschichten, einfach fort. Verschluckt von einem ewigen Nichts.

Er fragte sich, wie viel bisher unentdecktes Wissen wohl jedes Mal verloren ging, wenn eine Welt starb. Unmengen, dessen war Jonathan sicher. Er dachte auch an die Warnung seiner Tochter zu der Überlieferung der ersten Wanderer. Ein Wesen, das alles verschlang und dabei das Wissen all derer in sich aufnahm, die es absorbierte. Jonathan zog eine betrübte Grimasse. Auch dieses Wissen war für immer verloren. Doch dann stutzte er bei diesem Gedanken und hob blinzelnd das Kinn von seinen Armen. Das stimmte so nicht. Dieses Wissen war nicht verloren. Es wurde in gewisser Weise sogar bewahrt, ging es ihm durch den Kopf.

Ohne es zu realisieren, glitt Jonathans linke Hand in seine Beintasche. Verloren in einem Karussell aus Gedankenspielen ließ er seine Finger über den blauen Einband des darin verborgenen Notizbuches streichen und die Welt vor seinen Augen – zersplitterte erneut.

Bis zur Dämmerung

Wortlos folgten sie dem vorgegebenen Pfad aus Licht. Durchstreiften weite Wiesen, überquerten vor Leben nur so strotzende Flüsse auf steinernen Brücken und zogen an einem prächtigen Schloss vorbei, das inmitten einer Klatschmohnwiese stand und dessen drei strahlend weiße Türme, auf wundersame Weise in der Luft schwebten.

Luna legte grübelnd ihren Kopf schief und hätte schwören können, es schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Sie konnte nicht mehr sagen, wo. Dabei kannte Luna gar nicht so viele Schlösser. Sie schüttelte sich, fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und versuchte das schwammige Gefühl aus ihrem Kopf zu verdrängen, das sie daran hinderte klar zu denken. Woher kannte sie dieses Schloss? Gerade als Luna einen Namen dazu vor Augen hatte, umhüllte Nebel ihre Gedanken und riss Lunas Verstand erneut davon. Sie fühlte sich wie siebzehn. Jung, unbekümmert und fröhlich, wie sie zu der Zeit nun einmal war. Ein Lächeln huschte über ihre dunklen Lippen, nur um gleich darauf wieder zu versiegen. Unbekümmert? Fröhlich? Das stimmte nicht. Das war ich nie. Ich tat lediglich immer nur so, weil es leichter war, als zuzugeben, dass ich ein gebrochenes Kind war, das seinen Vater vermisste und nicht verstand, warum er gegangen war.

Stirnrunzelnd betrachtete Luna ihre Freundin, holte Luft und stoppte, bevor Worte ihren Mund verlassen konnten. Luna hätte Tetra wirklich gerne von all ihren neuen Abenteuern erzählt, doch jedes Mal, wenn sie gerade ihre Lippen öffnen wollte, um Worte hervorzubringen, stoppte sie innerlich etwas. Luna konnte es am besten mit einem nicht greifbaren Gefühl des Unbehagens vergleichen. Etwas stimmte nicht mit diesem Ort. Etwas stimmte nicht mit Tetra. Sie konnte es nur noch nicht ganz greifen, da jedes Mal, wenn Luna es auch nur versuchte, eine betäubende Welle Glücksgefühle auf sie niederprasselte.

Lunas Aufmerksamkeit blieb auf dem blonden Mädchen haften. »Weißt du, es ist wirklich lange her, dass wir uns gesehen haben.« Durchbrach sie gegen jeden Anflug von Vernunft die Stille. »Zwischenzeitlich ist eine Menge passiert. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe tatsächlich meinen Dad gefunden.« Luna wartete auf eine x-beliebige Reaktion Tetras, doch da kam nichts. Nicht das kleinste Bisschen. Tetra marschierte einfach vor ihr weiter, als sei sie plötzlich auch noch taub.

Luna pausierte daher das Gespräch und ließ ihre Aufmerksamkeit ein weiteres Mal über die Landschaft gleiten. Wasserfälle zierten stumm und meist starr eine hohe Mauer, an der eine Vielzahl von unterschiedlichsten Behausungen über viele Ebenen verteilt lagen. Durch manche flossen die Wasserfälle hindurch und sorgten für eine üppige Bepflanzung, andere blieben von dem Naturphänomen unberührt, kahl und ausgezehrt.

Luna nahm einen tiefen Atemzug und setzte zu einem weiteren Versuch an. »Vermutlich weißt du es nicht, aber Kira ...«

Tetra unterbrach sie mit erhobenem Finger und drehte sich zu ihr um. Anschließend ließ sie ihre Armreifen durch die Luft klirren, um mit ihren Händen Worte zu formen.

»Oh, dann – weißt du es also doch«, brachte Luna zögerlich hervor. »Woher?« Luna musste zugeben, dass sie zwar einerseits überrascht war, sie andererseits jedoch eine tiefe Traurigkeit überkam, als Tetra ihr erklärte, dass sie dabei war, als es passierte. Denn nur zu gerne hätte Luna ihre Jugendfreundin ebenfalls auf diesem schweren Weg begleitet und ihr die letzte Ehre erwiesen. Eine einzelne Träne verließ gegen jedes noch so betäubende Glücksgefühl ihr rechtes Auge.

Tetra sah sie tief berührt an und strich ihr über die Wange, um die verlorene Träne einzufangen. Nacheinander tippte sie auf ihrer beider Herzen und zwang sich zu einem von Schluchzen begleiteten Lächeln.

Luna wischte sich über die glasigen Augen, bevor es zu spät war. »Du hast recht. In unseren Herzen wird sie immer bei uns sein.« Besorgt blickte sie zu Tetra. Sie hatte zwischenzeitlich noch zwei weitere Hustenanfälle und Luna wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Am liebsten hätte sie die Antwort aus ihr herausgeprügelt, doch wenn sie eines über Tetra wusste, dann, dass sie noch sturer sein konnte, als sie selbst es war.

Stattdessen fiel Lunas Aufmerksamkeit erneut zum Himmel hinauf. Sie sah nun schon zum fünften Mal die Sonne am Horizont unter- und das volle Sternenmeer aufgehen. Die Klatschmohnwiese verdorrte allmählich zu einer trockenen Einöde. Die Türme des Schlosses sanken zu Boden. Der Glanz des prächtigen Gebäudes ermattete und schon bald waren nur noch rankenüberwucherte Ruinen übrig. Das alles in nur wenigen Atemzügen.

Luna hatte wahrlich schon viele skurrile Orte besucht, doch dieser lag fern aller Dinge, die sie kannte.

Zeit und Raum scheinen hier wirklich eigene Regeln zu haben. Mal hocken wir gefühlte Ewigkeiten an einer Stelle, nur um im nächsten Augenblick mit nur einem Schritt die komplette Lokation zu wechseln. Verrückt. Sie verharrte. Ist Tez deshalb noch so jung? Es war an Merkwürdigkeit kaum zu übertrumpfen, wie Luna dachte.

Sie dachte auch an ihren Dad und die Unwirklichkeit des Ortes, an dem er war. Erging es ihr etwa ganz ähnlich? Existierte dieser Ort vielleicht doch nur in ihrem Verstand? Zögerlich hob sie ihre linke Hand, senkte sie wieder, nur um sie eine Sekunde später doch auf Tetras Schulter abzulegen.

»Tez, bin ich auch eine Gefangene des Weltenfressers?«

Das blonde Mädchen mit der Zahnlücke formte mit ihren Händen nacheinander das Zeichen für ›Ja‹ und ›Nein‹.

Luna kräuselte ihre dunklen Lippen und legte ihre Stirn in Falten. »Das bedeutet?«

Tetra schmunzelte. Sie erklärte in wenigen Zügen etwas, das Luna nicht hundertprozentig zu deuten vermochte. Seufzend musste sie wohl oder übel einsehen, dass ihre Kenntnisse in der Gebärdensprache etwas eingerostet waren.

Tetra spielte grübelnd mit ihren Lippen, während sie in das ratlose Gesicht ihrer Freundin blickte. Dann wiederholte sie die letzten Zeichen, etwas langsamer und mit Unterstützung ihrer Lippen, die lautlose Worte formten.

Luna blinzelte einige Male hektisch, als hätte sie abermals kaum ein Wort verstanden, woraufhin Tetra entrüstet die Schultern hängen ließ, schnaubte und gerade zu einem dritten Versuch ansetzen wollte. »Nein, ist schon okay, ich habe es schon verstanden. Nur – bin ich nicht sicher, ob ich deren Bedeutung verstehe. Was meinst du mit: Wir sind gegenseitig die Gefangenen des jeweils anderen?«

Tetra schaute erst böse und wiederholte zur Verdeutlichung ein einzelnes Zeichen, gleich dreimal, bevor sie empört aufstampfte, um ihren Ärger hinsichtlich Lunas Lernfaulheit Luft zu machen.

Diese fasste sich verlegen an die Stirn. »Ach, Geißel und nicht Gefangene, sorry.« Erleichterung und Verunsicherung schwappten gleichermaßen in ihren Gesichtszügen hin und her und konnten sich nicht einigen, wer die Oberhand behalten sollte. »Tez, ich muss das einfach noch einmal fragen, wo genau sind wir hier? Was ist das für ein Ort?« Innerlich verfluchte Luna sich dafür, diese Frage erneut gestellt zuhaben. Was, wenn ihr die Antwort nicht gefallen würde? Sie hatte nach ewiger Finsternis endlich wieder das Gefühl zu leben und schreckliche Angst davor, dass plötzlich jemand erneut das Licht ausknipste.

Tetra ergriff Lunas zitternde Hand und alle Sorgen wurden auf einen Schlag aus ihrem Herzen gespült, als seien sie fehl am Platz. Es fühlte sich gut an. So verdammt gut. Luna erwiderte den Händedruck in der Hoffnung, dass dieses Hochgefühl niemals endete.

Tetra lächelte schief und bohrte sich ihren Zeigefinger in eines ihrer Wangengrübchen.

Irritiert kratzte Luna sich an der Schläfe. »Bei dir Zuhause? Äh, ich dachte immer, du hast kein Zuhause.«

Der braungebrannte Blondschopf blickte mürrisch zu ihr und gestikulierte erneut mit ihren Fingern und der dazugehörigen Hand vor sich hin.

»Verstehe, das hast du nur gesagt, weil es schwer zu erreichen ist.« Luna zog skeptisch dreinblickend das Kinn auf ihre Brust. »Wo genau liegt denn deine Heimat, dass sie so schwer zu erreichen ist?« Tetra ließ ihre Hand los und Luna beobachtete erneut ihre hingebungsvollen Ausführungen. »Alpha-Sektor?« Die Arme verschränkend, kräuselte Luna ihre Lippen. »Sei nicht albern, es gibt keinen Alpha-Sektor.«

Tetra protestierte harsch gestikulierend und machte ihr klar, dass wenn es ihn nicht geben würde, sie ja wohl kaum hier wären.

»Ist ja schon gut, ich glaube dir ja.« Luna betrachtete das aufflammende Zittern ihrer linken Handfläche und spürte wieder das wachsende Unbehagen in ihrer Brust, das ihr jeden Raum zum Atmen nahm. »Dein Freund, ist es noch weit bis zu ihm?«

Das blonde Mädchen zog erst eine nachdenkliche Grimasse und ließ anschließend ihre ausgestreckte Handfläche hin und her schwanken.

Resigniert ließ Luna ihre schmalen Schultern hängen. »Toll, ich liebe solche Angaben.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, streckte ihre Hand nach Tetras aus und seufzte erleichtert auf, als sie die Geste erwiderte. Jetzt war wieder alles ruhig und geordnet in ihrem Kopf. So schön ruhig. So friedlich. Auch wenn es falsch war, Luna wünschte, dass dieses Gefühl niemals enden würde.

Die Arche

Die Sky-Cruiser surrte leise gleitend durch den Nachthimmel von Srilea. Eine Welt, die schon vor Jahrhunderten durch eine Vielzahl an Katastrophen begünstigt, zu neunzig Prozent vom Wasser verschluckt wurde. Es gab nur noch vier Landketten, die einmal prächtige Gebirge waren, sowie einen kleineren Kontinent, der direkt nach der großen Flut vorhanden war. Beides bot nichts als kahlen Fels und verschiedene Moosarten.

Menschen lebten auf schwimmenden Inseln, erbaut aus Stahl und purer Willenskraft. Sie hatten gelernt, die Pflanzen des Meeres mit dem anzubauen, was sie hatten. Nutzten komplexe Filteranlagen, um nicht zu verdursten und wurden dennoch immer weniger. Schuld daran waren die Quipieläh, eine aggressive, amphibische Lebensform. Sie kamen mit dem neuen Kontinent und waren der ausschlaggebende Grund, dass die restlichen Menschen kaum noch wagten ins Wasser zu gehen. Unter denen, die eine solche Begegnung überlebt hatten, glaubten einige, es seien mutierte Menschen, mit Kiemen und Schuppen, statt Haut und Ohren. Sie irrten sich. Quipieläh, entwickelten sich über Jahrtausende in den Tiefen des Meeres aus kleinen Raubfischen und ihr Durst nach Frieden mit einer anderen Spezies, hätte nicht kleiner sein können.

»Seht mal, da unten!« Stephanie verwies auf das sprudelnde Gewässer im Mondlicht.

Stacy sah argwöhnisch mit erhobener Augenbrauenpartie über den Rand ihres Gefährts. »Quipieläh. Ich schätze, sie fressen gerade.«

Lazlo strich sich über seine Schnurrhaare, während er ebenfalls das Spektakel beäugte. »Ach, was soll's!«, murrte er und fuhr mit einem Tastendruck auf dem Cockpit die rechte Harpune der Ski-Cruiser aus. Der Kater setzte sich hinter den schwenkbaren Kopf, zielte in die Menge und betätigte den Abzug. Der Ankerpfeil sauste in die See und unter krächzendem Gesurre kämpfte der Motor der Winde gegen den Widerstand am Haken. Kontinuierlich wickelte sich das Seil auf, als interessiere es sich nicht für den Willen seiner Beute.

»Lazlo!«, knurrte Stacy.

Seine pelzigen Ohren zuckten auf. »Rau? Was? Wem willst du etwas verkaufen, wenn keiner mehr übrig ist? Und Dankbarkeit – brachte schon immer hohen Profit.«

Zappelnd und fauchend wandte sich das gerettete Etwas am Haken und versuchte, in der Luft taumelnd, direkt mit ihren Krallen nach Stephanie zu greifen.

Diese wich erschrocken zurück und stürzte zu Boden. »I-ist das eine Meerjungfrau?«, fragte sie mit zittriger Stimme. Stephanie musste zugeben etwas verunsichert zu sein, hatte sie diese bisher doch eher als leichtherzige und freundliche Wesen kennengelernt.

Lazlo spielte grübelnd mit seinen Schnurrhaaren. »Nein, rau. Das hier ist eine Sirene. Verwechselt man schnell mal.«

Sie bäumte sich fortwährend gegen ihre Gefangenschaft auf, blickte zu ihrer durchlöcherten Schwanzflosse und heulte unsagbar grässlich auf. »Ihr Monster!«, blubberte sie. »Seht euch meinen wunderschönen Schweif an! Dafür werdet ihr bezahlen!«

Ruckartig ließ Lazlo das Seil der Winde einen guten Meter in die Tiefe sausen.

»Nein! Nein! Alles, nur nicht wieder hinunter«, wimmerte sie plötzlich kleinlaut.

»Seht ihr, Dankbarkeit ist was Tolles.« Der Kater grinste und holte sie wieder nach oben. »Und du wirst sehr dankbar sein. Oder wir lassen dich wieder mit deinen kleinen Freunden spielen. Du hast die Wahl.«

Die Sirene machte einen unzufriedenen Eindruck, ihr missfiel das Funkeln in den Augen der Katze. Doch sie beschloss, ihren Ärger vorläufig hinunterzuschlucken und willigte schließlich mit einem stummen Nicken ein.

»So ist fein. Und jetzt gibst du dem guten Onkel Lazlo deine Perle. Quasi als Preis für das Ticket zu diesem Schiff, du verstehst?«

»Niemals, du Halsabschneider!«, fauchte sie.

»Okay.« Und wieder sauste die Winde in die Tiefe.

»Einverstanden!«, korrigierte sie ihre Meinung blitzschnell, als sie tief unter ihr in die gierigen Fratzen ihrer Peiniger blickte.

»Na, geht doch«, sagte er trocken und holte das Fischweib abermals hoch. Fordernd streckte Lazlo seine pelzigen Pfoten nach ihr aus. Sie erwiderte die Geste, um sich an Bord ziehen zulassen, worauf hin Lazlo eilig seine Pfote zurückzog. »Ahahah! Hast du nicht etwas vergessen, rau?«

Missmutig verschränkte sie ihre Arme und verfinsterte ihre Miene zu einem trotzigen Blick. »Ist ja schon gut!« Ihr Körper bäumte sich auf und ihre Bauchmuskeln verkrampften. Dann röchelte die Fischfrau und würgte, bis das glänzend schimmernde Objekt der Begierde aus ihrem Rachen hervortrat und in ihre Hand glitt. »Da hast du sie ja.«

Lazlo traute seinen Augen nicht, als er die tiefrote Perle mit beiden Pfoten ergriff und die Sirene zeitgleich an Bord zog. »Wohoh! Stacy, sieh dir mal die Größe und Farbe an. Da scheinen wir ja eine richtige Killerin vor uns zu haben, Yaahoh!« Eilig verstaute der Kater sie, damit das Fischweib gar nicht erst auf dumme Gedanken kam.

»Muss das sein?«, protestierte Stephanie und warf dem zitternden Fischweib eine wärmende Decke über die Schultern. »Ist schon gut, du bist nun sicher.«

»Danke, sehr lieb von dir.« Ihr freundliches Lächeln ließ Stephanies anfängliche Furcht dahinschmelzen und sie in trügerischer Sicherheit wiegen.

Die Hände der Sirene glitten sanft liebkosend zu Stephanies Gesicht hinauf, während sie sich tief in die Augen sahen. Stephanie verlor sich in dem wunderschönen Grün ihrer Augen und dem leisen Summen ihrer wunderschönen Stimme. Sie wollte nur noch bei ihr sein und wagte es nicht, dieser seltsamen Vertrautheit widerstehen zu wollen. Im Gegenteil, was auch immer gleich passierte, sie würde es mit voller Wonne geschehen lassen. Stephanie wollte ganz ihr gehören. Für jetzt und für immer.

Ruckartig und ohne jede Vorwarnung wurde Stephanie aus ihrer lieblichen Trance gerissen, als Stacy sie packte und am Arm davonzog. Nur langsam kam sie wieder zu Sinnen. Stephanie schüttelte ihren Kopf, um die irrsinnigen Gedanken wieder loszuwerden, die eben noch in ihr wuchsen. »Wow! Was war das?«

»Versuchst du das noch einmal, trete ich dich gnadenlos von Bord! Hast du mich verstanden?«, drohte Stacy der Fischfrau.

»A-aber sie wollte doch nur nett sein«, verteidigte Stephanie sie.

»Nett? Kleines, eine Sekunde später und sie hätte angefangen, dir das Gesicht von den Knochen zu lutschen!«

»Sie wollte was?«, entwich es Stephanie fassungslos.

Das Fischweib grinste dreckig und schwieg.

Lazlo schloss die Frachtkiste und wandte sich Stephanie zu. »Yaahoh! Traue keinem noch so freundlichen Lächeln einer Sirene! Sie sind Killer! Und ich meine Killer! Sie können nichts dafür, liegt in ihrer Natur.« Der Kater begutachtete die rothaarige Fischfrau argwöhnisch. »Es sei denn, man hat etwas ganz Bestimmtes, das ihnen gehört, nicht wahr?«

Begleitet von rasselnden Ohren fauchte sie den Kater an und fletschte ihre nadeldünnen Zähne.

Der Kater rieb sich selbstgefällig die Pfoten und beugte sich provokant grinsend vor. »Fauch, so viel du willst, aber solange du auf diesem Schiff bist, benimmst du dich gefälligst. Sonst gehst du wieder mit deinen Freunden da unten spielen. Deine Entscheidung.«

Widerwillig und eine schwer gekränkte Schippe ziehend, blickte sie sich um. Es wäre ihr sicherlich ein Leichtes gewesen, die Katze und das Menschending zu beseitigen, nur bei der Echsendame war sie nicht sicher und dann gab es da noch das Problem mit diesem Flugapparat. Sie wusste nicht, wie man so etwas steuerte. Noch bevor die Sirene auch nur einen weiteren Gedanken an der Lösung ihres Problems verschwenden konnte, verkrampfte sie, stöhnte und tobte vor Schmerz. Hektisch und mit zusammengebissenen Zähnen rupfte die Fischfrau an den Schuppen ihres Schweifes, als würde sie krampfhaft versuchen, ihrer eigenen Flosse zu entkommen. Wie jemand, der sich aus einer zu engen Jeans pellen musste, drückte sie die abgestorbene Flosse von ihrem Unterleib fort und nur wenige Augenblicke später lag sie mit zwei wunderschönen, menschlichen Beinen da und prustete erschöpft vor sich hin.

Stephanie mochte sich nicht einmal ausmalen, welche Schmerzen dieser Prozess einem wohl bereitete.

Die Weiß-geschuppte-Echsendame blickte in die tiefe See und wusste mit einem Mal ganz genau, warum sie sich für die Ski-Cruiser entschieden hatte, wenn sie schon diese Route nahmen. Die Quipieläh folgten ihnen unentwegt, als würden sie nur darauf warten, dass einer von ihnen etwas Leckeres von Bord warf.

»Was macht eine Sirene in Srilea?«, fragte Stacy neugierig. »Ihr Weiber der See wisst doch um die Gefahren dieser Gewässer.«

»Fliehen«, lautete ihre erschöpfte Antwort.

Lazlo und Stacy horchten gleichermaßen auf. »Vor dem Weltenfresser?«, fragte Stacy dann.

Die Sirene zögerte und schluckte schwer. »Eine summende Finsternis. Heimtückisch und hungrig. Sie bahnte sich ihren Weg aus dem Schoß unserer Welt, hinauf zur Oberfläche und verschluckte alles und jeden. Es sind nur wenige entkommen. Moira und ihre Schwestern schnappten Gerüchte von einem Schiff auf, gebaut für den Tag, an dem die Quelle ihren letzten Atemzug macht, dort wollten wir hin.« Sie senkte ihren Blick, ihre Augen wirkten leer und ohne einen Schimmer Hoffnung. »Drei Gewässer später, trafen wir erneut auf dieses Ding! Es schnitt uns den Weg zu den sicheren Routen ab und zwang uns in dieses Wasser, wo uns schon am Eingang diese niederen Bestien aufgelauert hatten.« Sie begann zu zittern und vergrub ihr Gesicht, grauenvoll jammernd, tief in den Schoß ihrer Knie. »Sie haben Moiras Schwestern erbarmungslos in Stücke gerissen, als wären wir nur Vieh. Kein schönes Gefühl, an diesem Ende der Nahrungskette zu schwimmen.« Ihre Aufmerksamkeit glitt zu der sich kräuselnden Wasseroberfläche und huschte schnell wieder in Sicherheit.

»Verstehe.« Gedankenversunken versuchte Stacy diese neuen Informationen zu einem einheitlichen Bild zu formen. Ihr Kopfkamm bebte dabei in tiefen Zügen auf und ab. »Welche Welten waren es? Durch welche seid ihr geflohen?«

»Floura, Bliestien, Dago und dann Truhgah.«

Lazlo und Stacy sahen sich fragend an und die Echsendame erhob erneut das Wort für sie beide. »Bitte? Ich kenne keine davon.«

Die Fischfrau fauchte erneut und ihre Ohren rasselten wieder bedrohlich auf. »Moira ist keine Wanderin der blauen Sonne! Sie kennt eure Namen für andere Gewässer nicht!«

»Yaahoh! Sieh mal, Stacy.« Lazlo hielt ihr einen Eintrag aus Stephanies Na-Vi unter die Nase.

Stacy nickte. »Verstehe, Bliestien ist sogar mal von einem unserer Leute aufgeschnappt worden. Es handelt sich um B-39. Eine trostlose Einöde. Kaum Population, nur noch wenig Fortschritt. Moira, waren die anderen Welten auch so?«

Sie blickte mit großen unschuldigen Augen zur schneeweißen Echsendame auf und nickte.

Stacy beugte sich zu ihr hinunter. »Und die Welt, in der man euch den Weg abgeschnitten hat, wie war die?«

»Viel Krach! Schmutzig! Und ...« Sie fauchte erneut mit wutverzerrtem Gesicht. »Menschen! Widerlich stinkende Menschen!«

Die Nickhaut der Echsendame schloss sich kurz wie bei einem Atemzug. »Interessant.«

Moira verkroch sich, so gut es ging, unter die Decke und stierte immer wieder verstohlen zu der verschlossenen Kiste mit ihrer geliebten Perle darin.

Um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, ließ Lazlo den Weizenhalm seines Spitzhutes spielerisch auf der Nase der Fischfrau niedersausen. »Denk nicht einmal daran. Die Kiste ist versiegelt, Aufbruch sicher und mit einem Passwort geschützt, das nur ich kenne.«

Stacy nahm ihm den Halm weg und steckte ihn wieder an seinen Hut. »Keine Sorge. Sie will überleben. Daher wird unser Gast sicherlich keine Dummheiten machen, oder?«

Missmutig knurrte Moira erst in sich hinein und hob den Kopf wieder ein Stück aus der Decke. »Moira wird brav sein, Moira wird hilfreich sein.«

»Kluge Entscheidung.« Stacy erhob sich wieder aus der Hocke und wandte sich ihrem Geschäftspartner zu. »Lazlo, änder den aktuellen Kurs und passe ihn auf Welten mit wenig Zivilisationen an.«

»Verstanden. Das dauert dann aber etwas länger als über den direkten Weg.«

»Ist mir egal!«, brummte sie schroff.

Der Kater seufzte, setzte sich hinters Steuer der Sky-Cruiser und tippte die neue Route ein.

 

Milaskula, neun Tage später:

Die Halme der tiefgrünen Wiese wurden von sanften Brisen erfasst und durch die hügelige Landschaft getrieben. Vögel kreisten über das organisch wirkende Schiff. Es lag da – imposant und anmutig – als wäre es schon immer ein Teil der Landschaft gewesen und doch wirkte es so fremd und deplatziert wie ein unheimliches Gebilde aus einer fernen Galaxie.

Leise surrte die Ski-Cruiser über die grünen Dünen, vorbei an unzähligen Wesen aus allen möglichen Welten, die bis hierher vorgedrungen waren. Sie alle hofften auf Rettung oder zumindest auf Antworten.

»Da sollen alle reinpassen?« Stephanie runzelte die Stirn. »Das wird dann aber ziemlich eng.«

»Der äußere Schein trügt, glaub mir.« Stacy überließ Lazlo das Steuer und nutzte die Gelegenheit, um in der Masse all dieser Wesen nach dem grün-geschuppten Himmelsdrachen Ausschau zu halten. Ihr Fernrohr blitzte immer wieder hoch, wenn sie der Meinung war, in der Weite etwas erkannt zu haben, das ihm ähnlich sah, nur damit sie es wenige Augenblicke später wieder enttäuscht niedersinken ließ.

Auch die Sirene sah sich hoffnungsvoll um. »Da!«, rief Moira plötzlich und zeigte in die Menge. »Seid so gut und setzt Moira dort bitte ab, ja?«

Stacy schnaubte mit ihren Nüstern, sah zu Lazlo und nickte. Augenblicklich schwenkte ihr Kurs nach rechts und sie hielten wenige Momente später vor einer schwarzhaarigen und atemberaubenden Schönheit von einer Frau.

Moira sprang freudestrahlend von Bord und warf sich überglücklich in die Arme der dunkelhaarigen Frau. »Schwester Aurelia, ihr lebt! Wie wunderschön.«

»Wenigstens für sie ein Happy End«, seufzte Stacy.

»Hey, hast du nicht etwas vergessen?«, rief das listenreiche Schattenfell und ließ ihren Schatz im Licht der Sonne funkeln. Argwöhnisch begutachtete Lazlo die Perle in seinen pelzigen Pfoten, als würde er abschätzen, ob es sich lohnt, sie zu behalten. »Nargh! Hier!«, murrte er dann und warf ihr die rote Kugel zu.

Moira fing sie perplex auf. Sie konnte die Güte des Katers nicht in Worte fassen und lächelte stattdessen verlegen.

Die Sky-Cruiser setzte anschließend Kurs in Richtung des Hangers, zu dem alle strömten und Stephanie winkte der Fischfrau zum Abschied, bis sie in der Menge nicht mehr zu sehen war.

Stacys Fernrohr blitzte erneut auf, während sie es suchend auf die Masse der Reisenden hielt. »So kenne ich dich ja gar nicht«, richtete sie das Wort an den Kater.

Lazlos linkes Ohr zuckte auf. »Was meinst du?«

»Die Perle hätte uns ein Vermögen einbringen können. Seit wann lässt du dir solch eine Möglichkeit entgehen?«, zog Stacy ihn auf.

»Pfft! Ich bin Händler, kein Monster, rau! Wir wissen beide, dass sie sich ohne ihre Perle nicht ausreichend nähren kann. Sie hätte fressen können, so viel sie wollte, und wäre dennoch elendig verhungert. Widerliche Vorstellung.«

»Das ist total lieb von Ihnen, Herr Schneepfote.«

»Danke, Stephanie.«

Stacy senkte mit kalten Fingerspitzen das Fernrohr, nachdem sie den Hanger damit abgesucht hatte. »Ist das Gilligan vor dem Podium? Was macht der hier? Ist das Schiff etwa in seinem Auftrag erbaut worden?«

Lazlo schnalzte abschätzig. »Ohne den Rest des Netzwerks zu informieren? Welchen Sinn hätte das?«

Stacys Kopfkamm pulsierte hin und her. »Weiß ich nicht, aber da steht er und wartet auf irgendwas.«

 

Erhaben die Hände hinter seinem Rücken gefaltet, blickte Gilligan auf all die Seelen, die um Einlass flehten. Die silberne Brosche – eine geordnete Version von dem in allen Welten bekannten Symbol des Netzwerks – funkelte in der Sonne und hielt den sternenbesetzten Umhang an Ort und Stelle. Er räusperte sich, atmete tief ein und hüllte sich in vielsagendes Schweigen. Die Rampe lag nun schon eine Weile weit geöffnet da und der kleine Mann verharrte erwartungsvoll an deren oberem Ende. Melodei Solarin trat aus dem Schiffsinneren an ihn heran, flüsterte der grauen Eminenz etwas zu und verließ ihn sogleich wieder.

Gilligan lächelte erleichtert. Es war eines, das man aufsetzte, wenn einem eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen wurde.

Dann machte sich stechender Schmerz in den Köpfen aller Anwesenden breit, bis auch das letzte Wesen begriff, wohin es seine Aufmerksamkeit zu richten hatte.

Es erfüllt mich mit allergrößter Freude, zu sehen, wie viele von euch diese beschwerliche Reise überstanden haben, ertönte seine Stimme zeitgleich in den Köpfen aller Anwesenden und in den unterschiedlichen Sprachen ihrer jeweiligen Herkunft. Ich weiß, welch Qualen ihr erleiden musstet. Welche Verluste euch begleiten, welche Ängste. Ängste, die in Anbetracht der Umstände nicht unbegründet sind. Ich werde euch nicht anlügen. Die Lage ist desaströs. Der Weltenfresser ist zurückgekehrt und dieses Mal, ist es schlimmer als jemals zuvor. Wir wissen derzeit nicht, warum es so viele Welten auf einmal trifft. Er holte tief Luft und seufzte schweren Gemüts. Doch es gibt noch Hoffnung. Solange wir noch da sind, gibt es noch Hoffnung. Was ihr hier seht, ist die Arche! Ein antikes Weltenschiff der ersten Wanderer. Es war für Zeiten erdacht an denen alles hoffnungslos schien. Glücklicherweise ist es uns gelungen, sie rechtzeitig fertig zu stellen.

Die Menge sah gebannt auf die kleine, graue Eminenz. Ein jedes Wesen hing an seinen bewegungslosen Lippen, als wäre seine Stimme alles, was jetzt noch zählte.

Wir werden gemeinsam auf Reisen gehen, in Bewegung bleiben und retten, wen wir retten können, um am Ende neu anzufangen, nachdem die Quelle ihren letzten Atemzug gemacht hat. Gilligan sah die aufkeimende Unsicherheit und Angst in den Herzen der Anwesenden. Fürchtet euch nicht. Seid versichert, dies ist nicht das Ende. Wir werden überleben. Und die Masse jubelte.

Stacy spürte, wie sich sein gedanklicher Griff langsam löste. Während sich die Ersten geordnet ins Schiffsinnere begaben, galt ihre Aufmerksamkeit weiterhin der breiten Masse. Immer wieder stellte die Echsendame sich auf die Zehenspitzen und streckte den Kopf in die Höhe. Sie war sicher, dass er hier irgendwo sein musste, ganz sicher sogar. Diego war schließlich kein Idiot und wusste stets, was er tat. Vielleicht war er daher auch längst an Bord. Stacy wollte in jedem Fall nicht ohne ihn gehen.

Lazlo starrte, sich am Kopf kratzend, auf den Bildschirm seines Na-Vi und zupfte plötzlich ganz aufgeregt an der tiefschwarzen Lederleggins der schneeweißen Echsendame.

»Was ist?«, fauchte sie.

»Dozer hat gerade ein Rundschreiben veröffentlicht. Ein detaillierter Bericht über die Vorkommnisse im R-Sektor.«

Sie nahm das Na-Vi des Katers entgegen, las und ließ es nur Sekunden später mit zittrigen Händen fallen, bevor sie wimmernd und in der Gewissheit ihren Lieblingsdrachen nie wieder zusehen auf ihre Knie sank.

Ein seltsamer Vogel

Luna hatte beschlossen, nicht mehr zu zählen, wie oft die Sonne auf- und unterging. Ihrem Zeitempfinden konnte sie an diesem Ort ohnehin nicht trauen, hatte sie das Gefühl. Sie sah auf ihrem Weg, drei Zivilisationen erblühen und wieder vergehen, Seen zu trockenen Tälern werden sowie Wüsten, die zu blühenden Wäldern erwuchsen. Nur der Blondschopf und sie selbst, blieben von derlei Schauspiel auf wundersame Weise verschont.

Tetra erklärte, es läge an dem Pfad, den sie bestritten. Auch wenn Luna das für eine schwache Erklärung hielt, musste sie zugeben, dass diese verrückten Veränderungen stets jenseits ihres Weges stattgefunden hatten. Dennoch empfand sie es als bedenklich, dass Tetra ihr offenbar etwas verschwieg. Sie kannten sich zu gut, als dass sie es wirklich hätte verbergen können. Luna konnte nur nicht erfassen, was es genau war. Hatte es mit Tetras Gesundheit zu tun? Oder doch mit diesem Ort? Grübelnd hoffte Luna, dass Tetras ominöser Freund etwas Licht ins Dunkel bringen würde.

Sie erreichten vor einiger Zeit eine rotsandige Prärie, welche sich hier und da mit einigen Sträuchern und kleinen, trockenen Bäumen geschmückt, wie ein skurriles Kunstwerk vor ihnen erstreckte. Da die Landschaft seither keine nennenswerten Veränderungen durchlebt hatte, vermutete Luna, dass sie bald am Ziel waren. Zumindest hoffte sie es. Ihre Beine brannten schlimmer als je zuvor. Ihre Füße schmerzten und ihr Magen knurrte ebenfalls schon wieder seit Stunden. Sie hasste solche langen Märsche, sie hasste sie wirklich.

Tetra tippte Luna mit dem Handrücken auf die Schulter, deutete auf die Rauchschwaden eines Lagerfeuers hoch oben auf einem nahen Hügel und flitzte plötzlich kichernd los.

»Echt jetzt? Ein Wettrennen?« Sie schnaubte erschöpft, hielt sich mit hängenden Schultern den knurrenden Magen und kam zu dem Entschluss, dass es sinnlos wäre, mit ihr darüber zu debattieren. Also rannte Luna ebenfalls los.

Nur noch wenige Meter trennten Tetra von der Kuppe des Hügels, da vernahm sie ein Kribbeln auf der Haut. Sie drehte sich im Lauf um und Luna krachte geradewegs in sie hinein. Beide purzelten über den Rand der Kuppe hinweg und gackerten im nächsten Moment belustigt wie kleine Hühner, die den Spaß ihres Lebens hatten, während sie wie ein untrennbares Knäuel im roten Staub lagen.

»Eure Majestät«, sprach eine erhaben klingende Stimme von oben herab.

Luna versuchte, normal zu atmen und somit dem wilden Gegacker eine Leine umzulegen, während sie ihren Kopf nach hinten streckte, um einen Blick auf die Gestalt zu erhaschen, die in einer tiefen Verbeugung mit ausgestreckter Handfläche verharrte.

Ihr Blick glitt von den kräftigen Vogelbeinen hinauf bis zu seinem kantigen und mit einigen Kerben versehenem Schnabel. Offenbar handelte es sich um einen Falkenmann. Er stand da, in tiefschwarzer, luftiger Leinenhose, gehalten von einem roten Hüfttuch, während sein Kopf ein schmutzig braunes Bandana schmückte, an welchem einige kleine Knochen und Perlen hinunter hingen. Luna versuchte anhand der Musterung seines Gefieders und des glänzenden Silberreifs um seinen linken Fuß, zu erraten, welcher Gattung er wohl genau angehörte. Ihre Nase vernahm den Geruch von nassem Schilf und kalter Asche. Eine seltsame Kombination, wie Luna für sich feststellte, bevor sie naserümpfend ihren Kopf schüttelte. Wo könntest du wohl herkommen? Knollenküste im D-Sektor? Nein, das Gefieder und der Schnabel stimmen nicht. Wie sieht es mit dem alten Tal im F-Sektor aus? Na, vermutlich nicht mit dem Kopfschmuck. Sie drehte ihren Kopf leicht ein, um den zirka zwei Finger breiten Ring um seinen Fuß genauer zu betrachten. Er bestand aus fein poliertem Silber und wies eine hervorstechende Gravur auf. Diese beschrieb entfernt die Form des Symbols, das den Rücken ihres Mantels zierte. Ähnlich Gilligans Brosche, zeigte es einen nautischen Stern, der das Zentrum vieler, ineinanderfassender Kreise war, die sich wohlgeordnet um den Stern schlängelten. In dessen Mitte befand sich wiederum ein in den Ring eingefasster fliederfarbener Stein. Sie kräuselte missmutig ihre dunklen Lippen. Auch, wenn damit geklärt gewesen wäre, dass er ein Mitglied der ersten Wanderer war, das war nichts, das Luna direkt mit den ihr bekannten Vogelvölkern hätte in Verbindung bringen können. Zu ihrem Ärger musste Luna sich wohl damit abfinden, dass sie ihn wohl doch fragen musste, wenn sie wissen wollte, woher er kam.

Tetra erhob sich ächzend aus dem Knäuel, klopfte sich ihre Hose ab und duckte sich so tief, wie es nötig war zu dem Schnabel des Falken hinunter. Erst als sich ihre Nasenspitzen berührten und sie ihm mit ihren Fingern über seine geöffnete Handfläche strich, erhob er sich leicht aus seiner Verbeugung, sodass Tetra ihm keck lächelnd in seine goldenen Augen sehen konnte.

»Was – verschafft mir diese Ehre, Eure Hoheit?«

Luna richtete sich auf und betrachtete das Stillleben des Lagerfeuers. Einzig die Rauchschwaden schwangen elegant in der Luft umher. Hat der Vogel gerade gesagt, was ich glaube gehört zu haben? Hoheit? Luna betrachtete Lippen-kräuselnd die Unterhaltung der beiden, vermochte es jedoch nicht, ihnen so richtig zu folgen.

Der Falke richtete sich weiter auf und streckte den Rücken. »Verstehe, dann ist sie also ...«

Tetra nickte und der Falke legte verschmitzt seinen Kopf nach hinten, bevor er Luna die befiederte Hand reichte.

»Annunaki, sehr erfreut. Tetra hat schon viel von dir erzählt.«

Zögerlich erwiderte sie die Geste mit faltiger Stirn. »Aha, ist das so, ja?«

Annunaki trat dicht an sie heran und sein linkes Auge nahm sie misstrauisch ins Visier. »Ja, das ist so, warum fragst du?«, erwiderte er langsam und mit einem Hauch Paranoia versetzt.

Lunas ganzer Oberkörper wich mit geweiteten Augen zurück. »O-kay.« Verunsichert schaute sie hinüber zu Tetra. »Wo hast du den denn aufgegabelt?«

Sie zeigte auf den Vogelmann, dann formten ihre Hände das Zeichen für Zuhause.

Luna kniff misstrauisch die Augen zu. »Cool, wo genau ist das, wenn wir schon mal dabei sind?«

»Hier und da«, antwortete der schräge Vogel wild mit seinen Flügeln gestikulierend.

Luna klopfte ihren nachtschwarzen Mantel ab, um ihn ebenfalls vom roten Sand zu befreien. »Oh, wirklich? Den Ort kenne ich. Aber gehts vielleicht etwas präziser? Wo genau, zwischen hier und da zum Beispiel?«

Der Falke schüttelte sein Gefieder. »Bist du immer so frech zu anderen?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Je nach Lust und Laune.« Blinzelnd betrachtete sie ihre vom Sand rot gefärbten Füße und ihre Miene verhärtete sich. Erneut spürte Luna das schwere Pochen in ihrer Brust. Wie Schuld und Trauer in ihr emporkletterten und die Gewalt über ihre Gefühlswelt übernahmen. Nicht jetzt!, befahl sie sich selbst in Gedanken und ergriff schnell mit ihrer rechten Hand die von Tetra. Sogleich überwältigte sie das mittlerweile liebgewonnene Gefühl der Unbeschwertheit. Erleichtert seufzte Luna auf, während ihre linke Hand durch ihre wilde Lockenmähne fuhr und sie sich erwartungsvoll dem Falken zuwandte. »Also?«

Annunaki schnaubte geringschätzig über ihre Bemerkung. »Nicht alle Geheimnisse sind dazu da, offengelegt zu werden, nicht alles muss zwangsläufig einen tieferen Sinn ergeben, nicht ...«

»Alles klar, du bist einer der ersten Wanderer«, fuhr Luna trocken dazwischen.

Er stoppte seine Ausführung und starrte sie irritiert an, während er seinen Schnabel einige Male und ohne einen Ton aus seiner Kehle hervorzubringen, aufeinanderklappern ließ. Seine Aufmerksamkeit schwang hinüber zu Tetra. »Sie ist gut.«

Tetra antwortete mit einem Tippen auf ihre Nase, bevor ihr Finger wieder zu ihm hinüberschwang.

»Ja, ja, ja, ist ja schon gut. Ihr hattet recht, zufrieden?« Annunaki legte seinen rechten Flügel um Lunas Schulter und diese zuckte augenblicklich und von dieser Geste überrascht zusammen. »Komm, wir setzen uns ans Feuer, genießen die Sterne und plaudern ein wenig, was hältst du davon?«

»Äh, klingt okay, denke ich.«

»Prima!«

Sie traten näher ans warme Lagerfeuer und Luna bemerkte erstmals, die unangenehm gleichmäßige Hitze der starren Flammen. Wie eine warme, nur durch leichte Luftzirkulation pulsierende Wand aus Licht und Funken. Sie saßen noch nicht ganz auf einem der Stämme, die um das Feuer herumlagen und Luna hatte bereits das spontane Bedürfnis sich weiter wegzusetzen, so unangenehm empfand sie es.

»Da wird man ja bekloppt im Kopf«, flüsterte sie vor sich hin, während sie sich die Hände schützend vor ihr Gesicht hielt und sich instinktiv dichter zu Tetra setzte, die von vornherein eine etwas großzügige Distanz zum Lagerfeuer bevorzugte.

»Man gewöhnt sich daran«, antwortete Annunaki entspannt die Beine ausstreckend. »Also, woher wusstest du, dass ich zu den ersten Wanderern gehöre?«, begann er die Unterhaltung. Seinen Kopf hin und her schwenkend visierte er einzelne Funken an, die zeitlupenartig durch die Luft wirbelten.

Luna zögerte und legte eine Hand auf ihren knurrenden Bauch und deutete mir der anderen auf den Fußreif des Falken. »Zum einen hat euer Chronist der Zeit ...«

»Sitzt neben dir«, unterbrach Annunaki sie rasch und schnappte nach etwas in der Luft.

»Einmal etwas ganz Ähnliches zu mir ge... Moment – was?«

Ohne sie anzusehen, schnappte er ein zweites und drittes Mal mitten in die Luft, bevor er antwortete: »Der Chronist der Zeit. Das bin ich. Schon immer gewesen. Oder zumindest war ich das mal, bevor, na –, du weißt schon, alles den Bach runterging«, erklärte der Falke und ließ den Schnabel ein weiteres Mal mit schnalzender Zunge durch die Luft sirren.

Luna runzelte die Stirn. »Das kommt nicht hin. Laut meinem Dad müsste es Gilligan sein. Es hieß, er sei der Letzte, der von euch übrig blieb, nachdem die Angelegenheit mit dem Weltenfresser erstmalig eskalierte.«

Der Falke brach in schallendes Gelächter aus. Er stoppte kurz, sah in Lunas verdutztes Gesicht und lachte weiter, bis Bauchschmerzen und Tränen ihn dazu zwangen etwas durchzuatmen.

Ärger bäumte sich in ihrem Gesicht auf. »Hast du es dann? Was ist daran so witzig?«

»Gilligan? Dein Ernst? Der graue Winzling ist alles, aber sicher nicht der Chronist der Zeit.«

»Ich wusste es!«, rief Luna zornig und drosch reflexartig mit ihrer Faust auf den Stamm unter ihr ein. »Dieser elendige Blender!« Sie holte tief Luft und konzentrierte sich auf ihre Mitte, um die Ruhe zu bewahren. »Annunaki, ich sag es nicht gern, aber Gilligan hat uns alle getäuscht und verraten!«

»Hmm? Inwiefern das?«

Luna stockte und schluckte schwer. »I-ich hatte lange Zeit gedacht, sehr genau zu wissen, wer vor Jahren für den Ausbruch des Weltenfressers verantwortlich war und auch warum. So absurd es klingt, es hätte auf bizarre Art und Weise sogar Sinn ergeben. Aber ich muss mir wohl oder übel eingestehen, dass ich mich eventuell doch getäuscht haben könnte.«

Annunaki streckte entspannt seine gefiederten Augenbrauen in die Höhe. »Ich kann dir nicht folgen. Worauf willst du hinaus?«

Sie prustete genervt. »Ist das nicht offensichtlich? Gilligans Handeln ist erst kürzlich für die erneute Befreiung des Weltenfressers verantwortlich gewesen. Gut möglich, dass er das nicht zum ersten Mal getan hat.«

Der Falke schreckte hoch. »Was?«

Luna beugte sich vor, um ihrer Aussage mehr Gewicht zu verleihen. »Es ist wahr. Als der Weltenfresser vor einigen Jahren das erste Mal befreit wurde, hatte mein Dad erwähnt, dass womöglich jemand nachgeholfen hat. Jemand, der über das Wissen verfügte, wie man so etwas macht.« Luna holte tief Luft, sammelte ihren Mut und wollte gerade etwas Ergänzendes dazu loswerden, da stockte sie plötzlich und entschied sich anders.

Annunaki verharrte kurz ungläubig und brach abermals in Gelächter aus. »Kleines, du bist echt der Brüller! Gilligan, der große Drahtzieher hinter allem? Nein, nein, nein. Gilligan hat einen großen Verstand, ja, das stimmt. Aber sein Mut ist winzig, wie er selbst. Glaube mir, ich weiß das aus erster Hand.« Annunaki pausierte verheißungsvoll. »Als die Krise mit dem Weltenfresser zum ersten Mal ihren Lauf nahm, ist Gilligan aufgrund seiner immensen telepathischen Kräfte die schwere Bürde übertragen worden, an dessen Ursprung zurückzukehren. Er sollte verhindern, dass diese Bedrohung überhaupt erst entstehen konnte und dafür sorgen, dass das Netzwerk von Neuem entsteht. Ohne die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Doch statt seiner Aufgabe nachzukommen, hat er sich aus dem Staub gemacht, als es ernst wurde.« Wieder schnappte er mit seinem Schnabel nach etwas in der Luft.

Luna kräuselte ihre dunklen Lippen und rümpfte die Nase. Sie versuchte, die neuerworbenen Puzzleteile irgendwie zusammenzufügen, doch konnte sie bei Annunakis ständiges Schnabel-geklapper einfach keinen klaren Gedanken formen. Nach dem dritten Ansatz gab sie zähneknirschend und die Augen zusammenpressend auf. »WAS! Tust du da eigentlich?!«

»Essen.«

»Bitte?!«

»Glühwürmchen.«

Luna verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte den Falken ungläubig an. »Das ist Glut. Vom Lagerfeuer.«

»Ah, darum schmecken die so komisch.« Erst wunderte der Falke verwirrt schauend umher und ergänzte dann: »Satt machen die übrigens auch nicht.«

Luna verzog die linke Augenbraue. Zumindest wäre damit der seltsame Aschegeruch an ihm geklärt, dachte sie sich und erwischte ihn dabei, wie er erneut nach der Glut schnappte. »Sag mal, kann es sein, dass du einen an der Waffel hast?«

Lässig verschränkte er die gefiederten Arme hinter seinem Kopf. »Pfft! Sei du mal so lange an einem Ort wie diesem. Dann reden wir mal über deinen Geisteszustand.«

Tetra sah finster zu dem Falken hinüber, fletschte die Zähne und gab ein vielsagendes »Grrr« von sich.

Annunaki schreckte hoch und blickte Tetra entgeistert an und hob die Arme in ihre Richtung. »So war das wirklich nicht gemeint, Hoheit.«

Lunas Zeigefinger schnellte hoch und deutete zwischen den beiden hin und her. »Da, schon wieder! Ich hab mich also nicht verhört!« Luna drehte sich zu Tetra und erwartete, dass sie sogleich wieder ihre Hände und Finger in Bewegung versetzte, um ihr zu erklären, was es damit auf sich hatte. Doch statt einer Antwort bekam sie nur ein langes Gähnen, gefolgt von den Zeichen für Müde und Zubettgehen. Dann winkte sie, stand auf und legte sich einige Meter entfernt, in das kuschelige Nest des Vogels.

Verunsichert senkte Luna Finger samt Arm und wandte sich Annunaki zu. »Will die mich verarschen?« Sie holte tief Luft, fuhr energisch zu Tetra herum und stockte. »Trägst du da ein Vogelkostüm?« Luna blinzelte einige Male ungläubig und fragte sich, wo sie das so schnell herhatte.

Annunaki fuhr sich verlegen mit dem linken Flügel übers Gesicht. »Ja, tut sie. Hat sie aus Federn gefertigt, die ich so fallen lasse. Findet sie irre witzig.«

»Kann ich verstehen«, murmelte Luna. »Wieso bin ich nie auf so etwas gekommen? Eine Drachenschuppenrüstung hätte sicher cool ausgesehen«, säuselte sie in der Vorstellung schwelgend und sah Tetra noch einige Momente hinterher, in der Hoffnung, dass da doch noch etwas kommen würde. Es dauerte jedoch nicht lang, bis Luna begriffen hatte, dass dies wohl vorerst nicht der Fall sein würde. Fassungslos prustend wandte sie sich wieder dem Glut snackenden Spinner zu ihrer linken zu.

Annunaki lächelte schief. »Nur noch wir beide, was?«

»Offensichtlich«, bestätigte Luna mit einem genervten Unterton.

»Also, Gilligan lebt noch?« Ein belustigtes Schnalzen entwich seinem Schnabel. »Wer hätte gedacht, dass Kredorianer wirklich so alt werden? Was tut der alte Feigling denn heute so?«

Ihre Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. »Du lenkst das Thema also direkt um, ja?«

Annunaki schmunzelte verschmitzt. »Offensichtlich.«

Zerfall einer Ära

Luna betrachtete missmutig das Stillleben des Lagerfeuers und hätte schwören können, dass es in der vergangenen Stunde des gegenseitigen Anschweigens irgendwie kleiner geworden war, zudem blieb es an diesem wundersamen Ort auch das erste Mal für längere Zeit dunkel. Luna wandte sich der schlafenden Tetra zu. Ihr gefiel diese Heimlichtuerei zwischen dem Falken und ihrer Kindheitsfreundin nicht. Sie dachte noch einen Moment darüber nach, ob sie auf eine Erklärung beharren sollte. Schon allein da sie das nervöse Zittern ihrer Finger bemerkte und hoffte Tetra wach zubekommen, damit sie ihre Hand ergreifen und sich schnell wieder besser fühlen durfte. Seufzend traf Luna eine Entscheidung. »Na, gut. Wenn du nicht über Tetra reden willst, lass uns über Häuptling Riesenmurmel reden.«

Annunaki lag gemütlich vor dem Feuer und öffnete träge sein rechtes Auge. »Wer?«

»Gilligan!«, antwortete Luna ungewöhnlich gereizt. »Nach dem Zerfall des ersten, ursprünglichen Netzwerks hat er es tatsächlich neu gegründet. Folglich leitet er jetzt alles. Perfekte Voraussetzungen, um alle an der Nase herumzuführen. Er hat uns nach Strich und Faden manipuliert und uns nur wissen lassen, was er für richtig hielt. Dass es euch gegeben hat, wusste zum Beispiel niemand, bis die Neugier meines Dads auf eure Ära stieß.«

»Aha. Ist vermutlich auch besser so«, murrte der Falke wenig beeindruckt.

Luna horchte auf und verzog das Gesicht. »Bitte? Warum?«

Annunaki hob den gefiederten Kopf etwas an. »Wie viel weißt du, über die Zeit der ersten Wanderer?«

»Nicht viel«, antwortete sie mit Mühe dem Falken. Ihre linke Hand zitterte leicht. Luna registrierte auch eine in ihr wachsende Unruhe. Beides gefiel ihr nicht. Der Daumen ihrer rechten Hand massierte die Innenfläche der Zitternden, während sie in tiefen, ruhigen Zügen gegen das unangenehme Wummern in ihrer Brust atmete. Sie konnte es nicht leugnen. Die Erlebnisse der letzten Schlacht und die fehlende Nähe zu Tetra nagten zunehmend an ihr.

»Alles okay bei dir?«, erkundigte Annunaki sich.

»Ich komm schon klar«, entwich es Luna beiläufig. Atemzug um Atemzug durchströmte ihre Lungen, bei dem Versuch das aufkeimende Herzrasen in den Griff zu bekommen. »Das tue ich immer«, ergänzte sie.

Annunaki verharrte in seiner Beobachtung. »O-kay, Einzelkämpferin, wie? Ganz, wie du magst.« Dann wandte er sich wieder dem Stillleben des Feuers zu. »Wie viel ist, nicht viel?«

Knopf um Knopf schloss Luna ihren Mantel und verschränkte die Arme vor der Brust. »Manche von euch haben wohl Gott gespielt und es hier und da vielleicht etwas übertrieben. Dann kam der Weltenfresser und alles ging den Bach runter.«