Tales from Haven - John Welante - E-Book

Tales from Haven E-Book

John Welante

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Beschreibung

Fünf Jahre sind vergangen, seit Luna Aurora King auf der Suche nach ihrem Vater in eine sterbende Welt sprang und darin spurlos verschwand. Auch wenn die Gefahr durch den Weltenfresser abgewendet werden konnte, gibt es noch immer unzählige unentdeckte Artefakte der ersten Wanderer, die alle Welten ins absolute Chaos stürzen könnten. Als dann auch noch Gerüchte laut werden, dass eine Gruppe Menschen in der Lage sei nach Belieben Türen in andere Welten entstehen zu lassen, beschließen Diego, Ginger und der fantastische Lennerd Lampe diesen Gerüchten auf den Grund zu gehen, um somit größeres Unheil abzuwenden. Sonderedition mit originalem Cover des Autors.

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Dieser Titel ist auch als eBook erschienen.

Vollständige Taschenbuchausgabe.

Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die mich auf meinem Autorenweg begleitet haben. Mir Halt, Kraft und neue Zuversicht geschenkt haben, wenn ich ins Wanken geraten bin.

Es besteht die vage Möglichkeit, dass mir das mehr bedeutet hat, als jeder von euch je ahnen wird.

Die Pfade, die vor uns, liegen sind mannigfaltig und an Möglichkeiten nur begrenzt durch unseren Geist. Es liegt an uns, den roten Faden zu wählen, der unser Leben skizziert.

Inhaltsverzeichnis

Ein ungleiches Duo

Fuchsjagd

Die Gang

Eine Katze namens Grumpy

Ballast

Diegoland

Der Vorhof

Vorbereitungen

Gaumenfreuden

Der Feind meines Feindes

Das Nest

Der Coup

Löwen und Lämmer

Der Koffer

Ein neuer Morgen

Flowerpower

Der ewige Garten

Weltenbummler

Zirilla

Solarin

Eine undankbare Aufgabe

Motten und das Licht

Nacht der Jäger

LaTerra

Temporäranomalien

Heimat

Mutterliebe

Impulse

Azurs Erbin

King

Alte Freunde

Schlaflos

So grau, die Nacht

Der Fährtenleser

Familienangelegenheiten

Genie

Alte Wunden

Surprices

Genie auf Abwegen

Das Reich der Spinnen

Kaltes Herz

Erst die Erkenntnisse

...

dann die Hoffnungen

Das Auge des Sturms

Der letzte Tanz der Furie

Ausgelöscht

Danksagungen

Content-Warnungen

Ein ungleiches Duo

Haven:

Die Gischt des Meeres peitschte immer wieder gegen den silbernen Leuchtturm unter der blauen Sonne der Hafenstadt. In seinem Inneren herrschte großer Tumult unter den versammelten Mitgliedern des Netzwerks. Stimmen wurden laut. Stimmen, die sich fragten, weshalb sie hier waren. Beinahe niemand erinnerte sich wann das letzte Mal eine solche Versammlung einberufen wurde.

Die großen Ohren des weißen Kaninchens wechselten immer wieder die Richtung und lauschten, was überall gesprochen wurde. Lennerd bekam daher nur am Rande mit, dass Viola versuchte alles unter ihre Kontrolle zu bringen, bis Gilligan eintreffen würde.

Ein abfälliges Schnalzen verließ Lennerds Lippen. Fünfzehn Jahre war die finale Schlacht gegen den Weltenfresser jetzt her und Viola spielte sich immer noch auf, als sei sie befugt, andere zu bevormunden. Es nervte Lennerd nur noch. Er hatte verstanden, dass Viola ihren Sieg über den Verschlinger unzähliger Welten anzweifelte, doch langsam glaubte er, dass es mehr Wunschdenken als Vorsicht war. Viola und ihr Team jagten hinter jedem geflüsterten Gerücht her, das von der Rückkehr des Weltenfressers sprach. Doch alles, was Lennerd und die anderen je gefunden hatten, waren erstarrte Überreste, die wer weiß wie alt waren.

Bald war es nicht mehr zu ignorieren. Violas Ruhm verblasste mit jedem Tag, der sie von ihrem glorreichen Sieg davon trug, ein wenig mehr. Bis man ihre verbohrte Suche nach einem Beweis für die Rückkehr des Weltenfressers nur noch belächelte.

Das Hosen tragende Kaninchen verschränkte trotzig die pelzigen Arme vor der winzigen Brust und betrachtete den großen und für sich allein stehenden Drachen in der hintersten Ecke des silbernen Konferenzsaals. Hätte man es nicht gewusst, so hätte man ihn für einen muskulösen Echsenmenschen mit Flügeln gehalten. Kein Zweifel, das war Diego höchstpersönlich. Lennerd wusste nicht viel über ihn. Niemand wusste das. Der mürrische Drache blieb gern für sich. Besonders nachdem sein Mündel vor fünf Jahren spurlos auf der Suche nach ihrem Vater verschwunden war. Daher wertete Lennerd seine Anwesenheit mit einem misstrauischen Stirnrunzeln.

Ein stechender Schmerz machte sich in den Köpfen aller Anwesenden breit, bis auch das letzte Wesen begriff, wohin es seine Aufmerksamkeit zu richten hatte.

Es erfüllt mich mit größter Freude zu sehen, wie viele von euch erschienen sind, ertönte eine Stimme zeitgleich in allen Köpfen und in den unterschiedlichen Sprachen ihrer jeweiligen Herkunft. Während Gilligan plötzlich seelenruhig auf dem großen runden Tisch in der Mitte des Raumes stand, dessen silberne Oberfläche das eingravierte Symbol des Netzwerks zierte.

Ihr fragt euch sicher, warum ich euch alle gerufen habe.

Die graue Eminenz wartete einen Moment geduldig, obwohl er wusste, dass niemand seine Stimme erheben würde.

Ich versichere euch, wenn es nicht von allerhöchster Dringlichkeit wäre, hätte ich nicht nach euch schicken lassen.

Er lächelte gewohnt freundlich.

Aktuell sorgt offenbar eine Gruppe von Springern in einigen Menschenwelten für Unruhe. Wenn die Berichte stimmen, sind sie in der Lage nach Belieben die Welten zu wechseln, egal wie weit sie von ihrem derzeitigen Standort entfernt ist. Gestern sind sie noch im B-Sektor gesehen worden, heute befinden sie sich im Q-Sektor. Dieses sonderbare Sprungverhalten erschwert enorm die Ergreifung der Springer seitens der Grenzschützer und birgt zudem das Potential, eine Gefahr für die Sicherheit aller Welten zu sein.

Ein Raunen durchzog die fassungslose Menge.

Dampf rieselte in ruhigen Zügen aus den Nüstern des Drachen, als er seine Augen öffnete und bei den Worten der grauen Eminenz aufhorchte.

Gilligan pausierte, sah sich zwischen den versammelten Mitgliedern des Netzwerks um und verharrte für einen Moment, als sein Blick den des Drachen kreuzte.

Daher liegt ab sofort die allerhöchste Priorität darin, diese Gruppe zu finden und sie mir zu bringen. Alle bekannten Informationen zu diesem außergewöhnlichen Fall stehen in euren Na-Vi. Danke.

Lennerd spürte, wie sich der gedankliche Griff langsam löste und er bemerkte im Augenwinkel, wie der mürrische Drache durch die gläserne Tür den Konferenzraum verließ.

Unruhe breitete sich unter den Anwesenden aus. Es wurde debattiert, Gesichter verzogen, voller Trotz gespottet und schließlich doch resigniert und akzeptiert.

Zähneknirschend betrachtete die platinblonde Frau mit dem Herz aus Eis das marodierende Treiben. »Ihr habt es alle gehört!«, keifte Viola Queen. »Also hört auf zu diskutieren und findet diese Springer!«

Fassungslosigkeit machte sich in Lennerds Miene breit, als er ratlos die Pfoten erhob. »Was? Warum? Ich meine, was soll das? Menschen, die wahllos Welten wechseln, fallen doch gar nicht in unser Aufgabengebiet! Das ist der Job der gruseligen Wurmpolizisten! Ist doch nicht unser Problem, wenn die überfordert sind.«

Mit wutverzerrtem Gesicht beugte sich Viola zu ihm hinunter und tippte Lennerd zur Bekräftigung ihrer eigenen Worte auf die Brust. »Dein Aufgabengebiet sieht es vor, die Scharte dicht zu machen und zu tun, was man dir sagt. Ist das so weit klar?«

Lennerd hielt ihrem Blick mit ebenbürtiger Sturheit stand. »Ist das so? Weißt du, ich glaube, es ist besser wenn wir uns eine Weile nicht sehen, Schnucki.«

Viola stutzte. »Was soll das heißen? Verlässt du etwa mein Team?« Sie erhob sich aus der Beuge, während ihr nachtschwarzer Mantel mit seinen eisblauen Verzierungen nicht wagte, auch nur eine Falte zu werfen. Dann betrachtete sie das weiße Kaninchen mit dieser ganz besonderen Spur Verachtung, wie sie es immer tat, wenn jemand nicht nach ihrer Pfeife tanzen wollte. »Tzz! Denke besser gut über deine nächsten Worte nach, Kaninchen«, presste sie mit einem drohenden Unterton hervor.

Ein dreckiges Grinsen stahl sich in Lennerds Gesicht. »Und das war's. Ich mach Schluss, Babe! Wir sehen uns dann irgendwann. Vielleicht sind bei dir bis dahin wieder einige Gehirnzellen aufgetaut.« Mit diesen Worten kehrte er der Eiskönigin den Rücken und stolzierte winkend aus dem Saal.

Flüche in sich hinein murmelnd stieß Lennerd, im Erdgeschoss angekommen, die Tür ins Freie auf, zündete sich eine beruhigende Zigarre an und stolperte geradewegs in die Wade des Drachen hinein. »Was zum ‒?! Kannst du nicht aufpassen?!« Lennerd bekam vom vielen nach oben Schauen beinahe eine Nackenstarre und verfluchte den Umstand, so klein zu sein.

Diego scrollte indes konzentriert in seinem Na-Vi umher und schien Lennerd nicht einmal bemerkt zu haben.

»Ach komm schon! Du auch?«, maulte der kleine Pelzträger genervt. »Seid ihr eigentlich alle dämlich? An der Nummer ist doch was faul. Was haben wir denn mit Springern zu tun?«

Diegos regenbogenfarbene Augen blickten zu dem Winzling an seiner Wade. »Du hast Recht, Häschen, an der Sache ist was faul. Darum will Diego die Gruppe vor allen anderen finden.« Er verstaute sein Na-Vi und setzte seinen Weg fort.

Lennerd blinzelte perplex und ignorierte die Tatsache, dass der Drache offenbar nicht den klaren Unterschied zwischen einem Kaninchen und einem Hasen erkennen konnte. »W-w-warte, du stimmst mir zu?«

Diego nickte, ohne zurückzublicken.

Lennerd verzog das Gesicht und sah dem Drachen blinzelnd hinterher. »Ist das zu fassen? Einer mit Grips!« Er holte Diego flink ein. Baute sich vor dem Drachen auf, als sei er ernsthaft in Lage ihm den Weg zu versperren und holte tief Luft. »Bin dabei! Lass die Ermittlungen beginnen!«, rief er so entschlossen wie möglich.

Diego stoppte. Dampf schoss aus seinen Nüstern, als sei er eine alte Lokomotive, während er das Pelzknäuel argwöhnisch betrachtete.

Lennerds Anspannung wuchs mit jeder Sekunde, die verstrich, ohne dass der kräftige Drache sich rührte. Was tat er hier? Er wusste doch gar nichts über diesen Drachen. Was, wenn er ihn jetzt einfach fressen würde? Panisch droschen seine Hinterläufe auf den Boden ein.

Er konnte nicht anders, es war ein Reflex der stets zum Vorschein kam, wenn er aufgeregt war. Es spielte dabei keine Rolle, welcher Natur seine Aufregung war.

Diego legte den Kopf schräg, packte das Kaninchen zwischen Zeigefinger und Daumen am Nackenfell und hob Lennerd zu sich hoch, bis ihn etwas Kaltes an der Nasenspitze berührte. Diego stoppte und schielte zu dessen Quelle.

»Versuch, mich zu fressen, und ich verpass dir ein drittes Nasenloch!«, knurrte Lennerd grimmig mit vorgehaltener Plasmakanone.

Diego betrachtete die blau leuchtenden Röhren des schwarzen Gehäuses der Waffe. »Niedlich«, brummte er schmunzelnd und setzte das weiße Kaninchen auf seiner Schulter ab, ohne seine Drohung weiter zu beachten. »Du bist Lennerd Lampe, stimmt's?«

Zögerlich atmete das Pelzknäuel wieder auf und ließ die Kanone im Holster verschwinden. »D-du kennst meinen Namen?« Das Kaninchen hatte alle Mühe, das nervöse Kribbeln in seinen Hinterläufen zu unterdrücken. Diego, der beste Freund des legendären King, kannte seinen Namen. Das war der vielleicht beste Tag in seinem Leben.

Der Drache nickte, tauchte in das Getümmel aus unterschiedlichsten Wesen ein, schob behutsam einen Minotaurus beiseite und bog links in einer der Gassen Havens ab. Hier war es deutlich ruhiger und man konnte frei reden. »Du bist dafür bekannt, die Dinge stets mit einer gesunden Portion Skepsis zu betrachten. Damit eckt man schnell an, nicht wahr?«

Lennerds Miene verfinsterte sich. »Na, und?«

»Nichts weiter. Diego mag Leute, die über den Tellerrand hinausdenken.« Seine stapfenden Schritte wurden langsamer, bis er schließlich an einer der Abzweigungen anhielt, eine Wand betrachtete und schmunzelte. Es war eine ordinäre Häuserwand mit roten Ziegeln, in dessen Mitte neuere, farblich nicht passende Steine mit rundem Schliff ein großes Loch füllten, das dort jemand vor Ewigkeiten hineingerissen haben musste. Diego erinnerte sich an diesen Abend, als wäre es gestern gewesen. Luna, Jonathan und er hatten eine Auseinandersetzung mit einigen Friedenswächtern gehabt, nachdem Lunas Unsinn dafür gesorgt hatte, dass der Tapfere Wandersmann in Brand gesteckt wurde. Es war eine schöne Erinnerung. Eine, an die er gern zurückdachte.

»Also gut. Wo fangen wir an? Was ist dein Plan, Großer? Einfach in die nächstbeste Menschenwelt gehen und Flugblätter verteilen? Ich seh es schon vor mir.« Lennerd hob die Pfoten in die Luft und tat so, als würde er einen großen Titel ankündigen. »Haben Gruppe Weltenwanderer verloren. Bei Hinweisen bitte die folgende Nummer anrufen.«

Diego bog ein weiteres Mal nach links und schlenderte an Barneby's Alchemie-Träume vorbei. »Grmpf! Flugblätter? Eher nicht. Wir brauchen jemanden, der sich in Menschenwelten zurechtfindet und im Gegensatz zu uns beiden Schönheiten nicht weiter auffällt. Zum Glück hat Diego da eine alte Freundin, die wir sicherlich fragen können.«

Lennerd kletterte zu ihm auf den Kopf und schaute dem Drachen kopfüber in die Augen. »Kenne ich diese Freundin?«

»Grmpf! Selbst wenn. Sie hat nicht mehr viel mit dem Netzwerk zu tun und will, dass es so bleibt.«

Lennerd runzelte die Stirn. »Toll! Dann wird sie uns ganz bestimmt helfen.«

Der Drache stoppte und sah zu dem Kaninchen auf. »Uns? Dir nicht. Aber sie wird Diego helfen, wenn er sie darum bittet.«

Fuchsjagd

D-541.76.I.81-098 acht Wochen später:

New York 1930. Oder vielmehr ein New York im Stil der 1930er. So eines, wie man es aus manchen Mafiafilmen kannte. Die Unbestechlichen ließen grüßen.

Eine dunkel gekleidete Frau stand barfuß in einer der modrigen Gassen Manhattans. Der nächtliche Regen perlte von der Kapuze ihres Mantels auf ihre weißen Strähnen hinunter. Der markante Duft von Moschus lag in der Luft und umspielte ihre feine Nase.

Männer in auffällig unauffälligen Trenchcoats sowie hübsche Damen in viel zu hoch geschnittenen Kleidern passierten die Gasse und erweckten den Eindruck, als sei diese Welt voller Privatdetektive, kleiner Ganoven und wunderschöner Frauen, die komplexe Pläne verborgen hielten.

Die junge Frau interessierte sich weder für die ahnungslosen Einheimischen noch für den in einer Mülltonne nach etwas Essbarem grabenden Obdachlosen. Sie fixierte schon eine Stunde lang das Firmengebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Von irgendwoher heulten Sirenen auf. Keine, die sich um das Geschehen in dieser Straße kümmern würden, dessen war Ginger sich sicher. Bis auf die fahlbeleuchtete Lobby, bewacht von einem silberhaarigen Wachmann, der seiner Körperhaltung nach mit dem Rücken zu kämpfen hatte, waren alle Fenster dunkel. Niemand, der noch spätabends arbeitete.

Ginger seufzte. Die nasskalte Luft zog langsam unangenehm in ihren Nacken. Sie legte ihre Hand auf die kühle Haut und übte sanften Druck auf ihre schmerzenden Wirbel aus, bevor wieder eine Migräneattacke einsetzte.

»Diego?«, erhob Ginger ihre Stimme ins augenscheinliche Nichts und eine kleine Atemwolke bildete sich vor ihrem Mund.

Der winzige Knopf in ihrem linken Ohr knackte und eine Stimme ertönte aus dem Headset. »Alles ruhig hier. Die oberen Stockwerke sind clean«, antwortete der grünschwarz geschuppte Drache vom Dachgiebel eines nahegelegenen Hauses aus. Er beobachtete, wie das Licht in einem der unzähligen Zimmer des Wohnhauses links neben ihm erlosch.

Das Hochhaus überragte das Gebäude, auf dem er stand, um gut zwanzig Stockwerke. Es wunderte Diego daher nicht, dass früher oder später einer der Bewohner auf ihn aufmerksam wurde. In diesem Fall ein blonder Junge von etwa zehn Jahren. Er lugte schon die ganze Zeit versteckt hinter seinem Vorhang hinunter zu dem Drachen und war offenbar fasziniert von dessen Anblick. Erst als der Kleine merkte, dass dieser seine neugierigen Blicke mit seinen in der Dunkelheit bunt schimmernden Augen erwiderte, duckte sich der Junge weg und löschte das Licht.

»Gut, halte Augen und Ohren offen. Sie kommen ganz sicher noch. Ich hab's im Gefühl«, antwortete die junge Frau in der Gasse.

Der sechste Ohrring am linken Ohr vom weißen Kaninchen juckte heute wieder fürchterlich. Es war jener Ohrring, den er sich auf einem Mogwai versifften Markt in F-37 hatte stechen lassen nachdem er, die Eiskönigin Viola Queen und die alte Schlangenfrau Lamina dort aufgeräumt hatten. »Ich wäre entspannter, wenn ich wüsste, warum klein Gilligan wegen ein paar Springern so einen Aufstand macht. Im Ernst! Es gibt im Augenblick niemanden beim Netzwerk, der nicht an der Sache dran ist. Das ist doch schräg«, maulte er.

Dampf rieselte aus den Nüstern des Drachen und seine Zehenkrallen bohrten sich in den Beton des Dachgiebels. »Das Problem ist nicht das Weltenspringen an sich, sondern wie es passiert«, brummte Diego. »Wenn nicht einmal Gilligan versteht, wie die Springer von jetzt auf gleich hunderte von Welten überqueren, ist die Lage ernster, als wir dachten. Stell dir nur vor, was diese Leute in den falschen Händen anrichten könnten.« Diego zögerte. »Sie könnten zum Beispiel dazu gebracht werden, den Weltenfresser zurückzubringen.«

Lennerd verzog ungläubig das Gesicht. »Falls der Weltenfresser tatsächlich noch existiert, meinst du. Viola hat nie einen Beweis für ihre wilden Theorien gefunden. Bei all dem Zeug, das sie sich zusammengereimt hat, glaube ich eher, dass sie über die Jahre etwas gaga geworden ist. Zeitreisen, Verschwörungen und der ganz große Betrug um ihren Sieg. Völlig plemplem, sag ich dir.«

Ginger zog ihre Kapuze tiefer ins Gesicht, um sich vor dem stärker werdenden Regen zu schützen. Fünfzehn Jahre ohne den kleinsten Hinweis, doch du, Diego, glaubst noch immer daran, dass es eine Schlüsselfigur hinter dem Weltenfresser gibt. Vermutlich verdächtigst du auch noch immer Gilligan. Und ja, er passt mit all seinen Geheimnissen wunderbar ins Bild. Eine weitere Atemwolke bildete sich vor ihrer Nase, während sie resigniert prustete. Manchmal wünschte ich, du hättest Recht.

Sie seufzte, schaute hinauf zu dem Gebäude, auf dem sich der Drache befand und formte ein schmales Lächeln. Aber eine Gruppe von Leuten, die mit einem Fingerschnippen hunderte Welten weit reisen kann? Zugegeben: Damit hattest du mich am Haken. Hoffen wir also, dass es sich lohnt, einem alten Freund einen Gefallen zu tun. Das würde vieles für mich leichter machen.

Das weiße Kaninchen reckte den Kopf von seinem Dach aus in die Höhe und überprüfte noch einmal, dass der Drache ihn nicht sehen konnte. Dann zog er grinsend an seiner Zigarre und testete die Funktion seines Blasters, bevor es losging. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass ausgerechnet Ginger rausbekommen haben will, wie man die Gruppe aufspürt. Sag bloß, die alte Sumpfhexe kann in die Zukunft sehen.«

»Nicht direkt. Mir ist nur etwas an ihrem Sprungverhalten aufgefallen«, nuschelte die junge Frau. »Wäre übrigens nett, wenn du nicht von mir reden würdest, als wenn ich nicht da wäre.«

»Oh, sorry. Du bist ja die Neue im Team dynamisches Duo. Muss mich erst mal an den Gruppenzuwachs gewöhnen, du verstehst?« Lennerd kicherte gehässig.

»Sicher doch ...« Auch wenn er es von da oben nicht sehen konnte, rollte Ginger in der Gasse mit den Augen.

Plötzlich zuckten Lennerds Ohren auf. Sofort blickte er suchend durch das Visier seiner Waffe. »Auf meiner Position rührt sich was. Zwölfter Stock. Da kommen vier Leute aus einer Tür. Sieht aus wie eine Besenkammer. Muss eng gewesen sein.«

»Was? Eine Besenkammer?«, murmelte Ginger irritiert. Sie holte ihr Na-Vi aus der rechten Manteltasche und überprüfte stirnrunzelnd die Umgebungskarte nach neuen Übergängen. »Shit! Das Kaninchen hat Recht. Da ist ein komplett neuer Übergang mitten im Gebäude. Lennerd, erzähl mir ganz genau, was sie gerade tun.«

Vor vor lauter Aufregung schlug er hastig mit der Hinterpfote auf die Teerpappe des Daches. »Ich weiß es nicht, Schnucki. Aber die Gruppe gockelt da herum, als hätten sie alle Zeit der Welt.«

»Grmpf! Fast so, als hätten sie nicht auf dem Schirm, wer alles hinter ihnen her ist. Mutig«, kommentierte Diego die Beobachtung des Kaninchens.

»Auf mich wirkt es eher, als seien sie etwas orientierungslos, wenn ich ehrlich bin«, legte das Pelzgesicht nach und zündete sich eine weitere beruhigende Zigarre an.

Die Nüstern des Drachen zuckten aufmerksam auf, als sich die Windrichtung plötzlich änderte. »Diego dachte, du wolltest mit dem Qualmen aufhören?«

Lennerd riss erschrocken die Augen auf, versteckte augenblicklich die Zigarre hinter seinem Rücken und schaute sich verunsichert um. »Was? Wer qualmt denn hier?«

»Grmpf!« Dampf schoss aus den Nüstern des Drachen. »Diego kann dich zwar nicht sehen, aber wittern.«

Lennerd seufzte. »Boa, ist ja schon gut. Moralapostel! Ich kann damit jederzeit aufhören, hörst du? Je-der-zeit!«

»Dann tue es doch jetzt?«, setzte Diego provokativ nach.

Ginger kaute grübelnd auf ihrer Unterlippe. »Könnten wir zum Thema zurückkehren und uns aufs Wesentliche konzentrieren? Danke. Orientierungslos sagst du?«

»Ja«, antwortete Lennerd auf seiner Zigarre kauend. »Ich hab den Eindruck, als wüssten sie nicht, wo es langgeht.«

Ginger blickte auf und rümpfte die Nase. Erst Welten mit extrem hoher Ähnlichkeit zueinander und jetzt orientierungslos? Ergibt das überhaupt Sinn?

Der Obdachlose erhob sich aus der großen Blechtonne neben Ginger, hielt ihr freudestrahlend die Reste eines gammeligen Thunfischsandwiches unter die Nase und brabbelte etwas davon, dass er froh sei, nicht der Einzige in dieser Gasse zu sein, der Stimmen hören konnte, die nicht da waren.

Ginger fasste sich an den Bauch. Ihr Magen knurrte schon eine ganze Weile und so schlecht sah das Sandwich gar nicht aus, also biss sie dankend ein beherztes Stück davon ab.

Ein grauer Lieferwagen mit der Aufschrift Plants & Shields bog mit quietschenden Reifen in die Straße ein und hielt abrupt vor dem Eingang der Firma an. Zehn bewaffnete Männer in schwerer Kampfmontur stiegen von der Ladefläche und betraten die Lobby. Stan, der brav wie jeden Abend Wache hielt, erlitt auf seine alten Tage beinahe einen Herzinfarkt, als die Männer an ihm vorbeistürmten.

Ginger fasste sich an den kleinen Knopf in ihrem Ohr. »Hey! Hier passiert was. Ich glaube da weiß jemand, dass er ungebetenen Besuch in seinem Haus hat.«

»Was heißt das?«, bohrte Diego nach. »Etwa Greys?«

»Nein, diesmal keine Greys. Eine bewaffnete Einheit. Was genau macht diese Firma noch gleich?«

Lennerd grinste dreckig. »Als wenn die Würmer jemals pünktlich an einem Tatort wären, ohne dass man sie vorher informiert hätte. Möchtegern Ordnungshüter! «

Ginger nahm sich noch ein kleines Stück vom Sandwich und stecke es in ihre Manteltasche. Anschließend rotierte sie erst ihre Schultern rhythmisch und beugte sich dann hinunter bis zu den Knöcheln, um sich zu dehnen und ihre Muskeln zu lockern. »Diegos Annahme ist gar nicht so unbegründet. Die Greys waren die letzten drei Male beunruhigend schnell am Ort des Geschehens. Letzte Woche haben sie die Springer nur um wenige Augenblicke verpasst.«

Lennerd fuhr mit seinem linken Ohr umher. »Wow! Ich dachte, die haben das Netzwerk um Hilfe gebeten, weil sie damit überfordert sind. Meinst du, da hilft jemand nach?«

Ginger erhob sich aus der Dehnung und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich denke, denen ist nur mittlerweile das Gleiche aufgefallen wie mir.« Ein Umstand, der Ginger ärgerte, denn sie würde die Springer gern vor den Greys in die Finger bekommen.

Der Drache scrollte inzwischen über den Bildschirm seines Na-Vi. »Die Firma ist in der Pharmaindustrie tätig. Umstritten wegen eines starken Halluzinogens, das schwere Angstzustände hervorruft. Gründer ist ein gewisser Ben Morgan. Diego schickt dir die Daten.« Nachdenklich strich Diego sich übers Kinn. »Du bleibst hoffentlich auf Empfang, wenn du da reingehst.«

Ginger prustete resigniert. »Jaja! Behalte lieber mein Signal im Auge, falls etwas schiefgeht. Ich melde mich, sobald es ungefährlich ist.«

»Als wenn die dir gefährlich werden könnten«, grunzte der Drache. »Diego wettet, die pissen sich in ihre Hosen, wenn du dem Ersten seinen eigenen Darm um den Hals gewickelt hast.«

Ginger schwieg lieber dazu. Därme um Hälse wickeln, wow! Sehr erwachsen.

Diego ließ seine kräftige Nackenmuskulatur mehrfach knacken und räusperte sich. »Grmpf! Schon gut. Du kennst deinen Text?«

Ginger schwieg nach wie vor und streckte ihre Finger aus, damit sie die Luft um sich herum besser spüren konnte.

»Diego deutet dein Schweigen mal als ein Ja. Denk daran, wir wollen keine Freundschaften knüpfen, sondern vor allen anderen erfahren, was es mit diesen seltsamen Weltensprüngen auf sich hat, damit wir möglichen Gefahren vorbeugen können.«

Lennerd beobachtete den verglimmten Zigarrenstummel noch eine Weile, bevor er diesen über den Rand des Daches schnipste. Irgendwie schmeckte es heute nicht so gut wie sonst. »Das Spezialkommando ist soeben aus dem Fahrstuhl im Zwölften gestiegen. Sie teilen sich jetzt auf und durchsuchen die Büros. Die fünf tun mir jetzt schon leid.«

Ginger horchte auf. »Fünf? Klasse«, antwortete sie mit einem verächtlichen Unterton. »Das heißt, die anderen fünf kommen entweder über die Treppen oder haben einen anderen Auftrag. Was macht unser Ziel?«

Lennerd blickte prüfend durch sein Visier. »Ist kurz vor dem Sechzehnten und mittlerweile weniger groggy unterwegs. Scheint ganz so, als wüssten sie nun, wohin es geht.«

Gingers Blick fuhr erneut das Gebäude hinauf und verharrte auf Höhe des fünfzehnten Stocks. »Verstanden. Ich gehe jetzt rein.«

Miles, Jones, Tango, Rift und Bright waren mit dem zwölften, dreizehnten und nun auch mit dem vierzehnten Stock durch. Bisher hatten sie die Ursache für den aussgelösten Alarm nicht entdecken können. Rift hoffte, dass es kein Fehlalarm war, der sie spätabends mitten durch New York jagen ließ, aber was sollte es auch anderes sein? Der Alarm wurde immerhin in der zwölften Etage ausgelöst. »Vermutlich nur eine scheiß Taube, die gegen die Scheibe gedonnert ist«, fluchte er leise.

Stan war zwar alt und labil, doch Bright traute ihm nicht zu, so etwas wie einen Einbruch im Erdgeschoss schlicht nicht zu bemerken, also war er gespannt darauf, wen oder was sie dort trafen.

»Shane und die anderen checken den Keller, richtig?«, fragte Tango so taff wie möglich, das Gewehr im Anschlag.

»Richtig«, erwiderte Bright und leuchtete mit der Taschenlampe seines Gewehres den Flur entlang.

»Und danach stoßen sie zu uns, richtig?«

Bright hob eine Augenbraue. »Ja, haste etwa Schiss?«

»N-nein, ich doch nicht. Nur, na ja, hab so ein komisches Gefühl. Als wenn man den Herd angelassen hätte, verstehst du?«

»Wenn meine Alte den Herd angelassen hätte, würde sie sich links und rechts ein paar fangen, sobald ich heimkäme«, bluffte Jones in dem Wissen, dass wenn seine Frau je mitbekommen sollte wie er über sie sprach, er es wäre, der seinen Kopf einziehen müsste.

Mit einem Unüberhörbaren - Bing - öffneten sich die Fahrstuhltüren im Fünfzehnten und die Waffen der Männer wurden augenblicklich zu dessen Tür herumgerissen.

Ein Mann trat vorsichtig mit erhobenen Händen aus dem Fahrstuhl. »N-nicht schießen. Ich bin es, Thomes.«

»Verdammt. Was tust du hier?«, knurrte Rift.

»Ich soll euch ausrichten, dass das Lager im Keller gesichert ist. Shane und die anderen bringen die Proben ins Safehouse. S-sonst ist niemand dort.«

Rift räusperte sich und spuckte eine Ladung Rotz auf den Boden. »Wie erwartet. Wenn wir also tatsächlich ungebetene Gäste haben sollten, werden sie es sicher auf den Safe von Mister Morgan abgesehen haben.«

»Das ist nicht gut. Wir dürfen niemanden entkommen lassen«, stellte Bright klar.

Die Schlinge zog sich enger. Das Büro des Geschäftsführers war ausschließlich über einen separaten Fahrstuhl vom fünfzehnten Stock zu erreichen. Bright und die anderen betraten gerade besagten Korridor.

Er signalisierte Miles mit einem Fingerzeig, den Aufzug zu bewachen bis der Rest der Gruppe mit der Etage durch war.

Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen sondierten die verlassenen Kästen des Großraumbüros. Das knarzende Geräusch ungeölter Türscharniere durchzog die friedliche Stille des Raumes, gefolgt von Jones, der blitzschnell und präzise die übergroße Besenkammer durchsuchte. Sie streiften in einer solch hoch konzentrierten Art und Weise durch die Gänge des Büros, dass kein Platz für Zweifel blieb. Wen auch immer sie in den Geschäftsräumen fanden, sie oder er würde nicht in die Gelegenheit einer fairen Verhandlung kommen.

Der anfängliche Nieselregen prasselte mittlerweile erbarmungslos gegen die prächtigen, etagenhohen Fensterfronten. Sie waren mit dem Fünfzehnten fertig und wandten sich dem Fahrstuhl zum Sechzehnten zu, als die Stille durch das explosionsartige Bersten eines Fensters durchbrochen wurde und ein Scherbenregen durch den Raum prasselte. Ohne eine Sekunde zu zögern, richtete das Einsatzkommando seine Waffen wie eine Einheit auf die dunkel gekleidete Gestalt, die mit wehendem Mantel zwischen ihnen und dem klaffenden Loch im Fenster stand.

»Was zum Teufel ...?!«, knurrte Rift ungläubig.

Ginger ließ den Männern nicht die Zeit, um zu begreifen, was eben passierte. Mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze hob sie rasch ihren rechten Arm, bildete mit ihrer Hand eine Faust und sprach mit einer Stimme, die den Hall Tausender hatte: »Aus!« Zeitgleich zischte ihr Arm nach unten. Jede Form von Licht erlosch. Absolute, perfekte Finsternis beherrschte das Stockwerk.

Tango blinzelte heftig und versuchte, seine Augen an diese seltsame Dunkelheit zu gewöhnen. Nach einigen Momenten gab er es auf. Es war zwecklos, er sah nicht mal seine eigene Hand. Dann durchbrach das gurgelnde Geräusch einer durchtrennten Kehle die Stille. Tango erkannte Bruchteile von Brights Stimme, ehe sie unter jammerndem Flehen verstummte. Panik brach aus und noch bevor auch nur ein Schuss den Lauf einer Kanone verlassen konnte, waren alle tot. Das Licht kehrte flackernd zurück und fünf zerfetzte Kadaver dekorierten den Korridor des Büros. Doch von Tango oder der schattenhaften Gestalt fehlte jede Spur.

Die Gang

»Beeil dich, Steph, wir haben nicht ewig Zeit.« Der Mann im dunkelblauen Parker wandte sich von der zierlichen Frau am Safe ab und trat an das Fenster des Großraumbüros.

»Jaja! Ich mach ja schon so schnell ich kann, aber dein Scheiß Safe öffnet sich nun mal nicht von allein. Wäre alles leichter, wenn der nicht so verdammt alt wäre.« Sie richtete noch einmal das Zopfgummi ihrer glatten, ebenholzfarbenen Haare und arbeitete sich anschließend mit ihrem Stethoskop weiter durch die unzähligen Zahlenkombinationen. Ihre schwarze Lederjacke quietschte bei jeder Bewegung ihrer schmalen Schultern. Sie wusste, dass Trevor langsam ungeduldig wurde und wie er werden konnte, wenn er seinen Willen nicht bekam. Schon seit der Ausgrabung in Guatemala wusste sie das nur zu gut.

Alles hatte mit kleinen Gaunereien zwischendurch begonnen. Hier und da ein paar verschwundene Fundstücke. Es tat niemandem weh und besserte die eigene Portokasse etwas auf. Doch dann eskalierte es erstmalig. Trevor erschoss einen ihrer Helfer, weil dieser nicht schnell genug an einer Ausgrabungsstätte war.

Nicht dass es einen besonderen Grund dafür gegeben hätte, es störte ihn lediglich, dass er sie warten ließ. Der Mann hatte noch seinen Rausch von letzter Nacht ausgeschlafen statt pünktlich am verabredeten Treffpunkt zu sein, das war alles.

Dann kam Malaysia. Ein seltsamer Typ war wenige Wochen zuvor in Trevors Stammbar aufgetaucht und hatte sich zu ihm, Stephanie und den anderen gesetzt. Er hatte das Charisma eines Rockstars. Auf den ersten Blick charmant, doch je länger man ihm zuhörte, desto überheblicher und rechthaberischer wirkte er. Stephanie fuhr es immer kälter über den Rücken. Sie traute diesem Fremden nicht über den Weg. Doch Trevor hing wie ein verliebter Junge an seinen Lippen und seinen warmen Worten darüber, dass er alle Geheimnisse der Welt kennen und sie mit Trevor teilen würde. Alles, was Trevor dafür tun musste, wäre sich der Ausgrabung von einem gewissen Dr. Moresk anzuschließen.

Stephanie wusste nicht warum, aber sie wollte unter keinen Umständen an der Sache beteiligt sein. Es war demnach einer der wenigen Aufträge, die Trevor ohne sie durchgeführt hatte. Er sprach nie darüber, was dort genau passiert war und das musste Trevor auch nicht.Stephanie brauchte sich die Geschichte von dem sensationellen Fund des Dr. Moresk und seinem kurz darauffolgenden Unfall nur zusammenreimen.

Moresk hatte ein altes Grab gefunden. Den Inschriften zufolge die Ruhestätte von Shennong. Dieser brachte den Menschen Ackerbau und Kenntnisse über die Kräutermedizin bei. Woher Shennong dieses Wissen hatte, blieb jedoch fragwürdig. Manche hielten ihn für einen reisenden Scharlatan, andere für einen Gott, der von den Sternen kam. Was immer das Geheimnis hinter Shennong war, Stephanie ging davon aus, dass es Trevor befähigte zu tun, was immer er wollte. Sie mochte sich nicht einmal ausmalen, wo seine Grenzen lagen und wagte es daher nur noch selten, ihm zu widersprechen.

»Ich hab's gleich«, hauchte Stephanie konzentriert und schielte dabei zu Billy, der links von ihr mit angewiderter Grimasse seine schmierigen Finger über das Bücherregal streichen ließ. Sie verstand nicht, was Trevor an ihm fand und wollte auch gar nicht wissen, wo er diesen Typen nun aufgegabelt hatte. Er war seit ein paar Wochen dabei und damit der Neue in der Gang. Ein schießwütiger Exzentriker mit texanischem Akzent. Er erinnerte sie entfernt an einen Outlaw aus schlechten Cowboy-Filmen mit drittklassiger Besetzung. Sie mochte weder seine Art noch das billige Rasierwasser, das seine kaum merklichen Dreitageflusen benetzte. Sie kannte außerdem niemanden, der seine Haare mit dieser Menge Pomade frisierte, wie er es tat. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man denken, er sei in einen Laster voller Drogerieprodukte gefallen und keine von der guten Sorte.

Trevor richtete den Kragen seines dunkelblauen Parkers und starrte suchend aus einem der Fenster. Der Knall von eben beunruhigte ihn und dass er dessen Ursprung nicht ausmachen konnte, machte das Ganze nicht besser. Zudem wurde er das Gefühl nicht los, von irgendwo her beobachtet zu werden. »Melvin, sicher, dass wir keinen versteckten Alarm ausgelöst haben?«

Ein schlaksiger, blonder Mann mittleren Alters trat mit nach vorn hängenden Schultern an Trevor heran. Er strich sich mit der Hand die wenigen Haare auf seinem Kopf über die aufkeimende Glatze und richtete seine braune Hornbrille. »Absolut. Die einzigen Sicherheitsvorkehrungen dieser Art findet man vom Erdgeschoss, bis hoch zum dritten Stock. Oh, und die Fenster natürlich, alles Sicherheitsglas, das war es dann auch. Ansonsten gibt es nur Bronko, den Nachtwächter. Ein Muskelprotz, aber dumm wie Bohnenstroh.«

Trevor verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Gut. Ich verlass mich darauf, weißt du.«

»Offen«, meldete Stephanie und betätigte den Drehmechanismus der Safeverriegelung. »Altes Bargeld, Wertpapiere, ein Revolver und jede Menge Akten.«

Trevor fuhr mit einem Siegerlächeln herum. »Durchsuch die ...« Bing! Trevors Lächeln gefror.

Plötzlich horchten alle auf, als das typische Geräusch eines ankommenden Fahrstuhls ertönte und sich schon im nächsten Moment dessen Tür öffnete.

Billys nervöser Abzugsfinger zögerte keine Sekunde. Eine Kugel nach der anderen durchlöcherte Tangos Brust, sodass sein Köper hin und her zuckte.

»Feuer einstellen!«, rief die Stimme der zarten Gestalt, die den Leichnam als Körperschild missbrauchte.

»Wie bitte?!«, fauchte Billy und feuerte direkt noch mal.

»Letzte Warnung, du Penner!«, knurrte Ginger aus ihrer Deckung heraus. »Danach wird es hässlich.«

»BILLY!«, brüllte Stephanie und schlug ihn auf den Rücken.

»Es reicht, Billy«, bekräftigte Trevor seinen Befehl und wandte sich der Fremden im Fahrstuhl zu. »Du gibst mir jetzt besser schnell einen guten Grund, ihn nicht weiter schießen zu lassen!«

Ginger hob vorsichtig ihren Kopf aus ihrer menschlichen Deckung. »Ähm, ich will dasselbe wie ihr?«

»Glaub ich kaum«, erwiderte Trevor.

»Wartet! Diesem Verbrecher, Ben Morgan, eins reindrücken und mich selbst etwas bereichern. Klingt fair, wenn man bedenkt wie viel Schaden sein Angstgas angerichtet hat.« Ein einzelnes Auge lugte aus der menschlichen Deckung hervor und musterte die Gruppe. Es gab unzählige Möglichkeiten, das Büro zu stürmen und die ganze Bande im Handumdrehen auszuschalten. Doch etwas machte Ginger schon die ganze Zeit stutzig. Das Sprungmuster der Gruppe. Bis auf ganz wenige Ausnahmen sprangen sie stets in Welten mit absurd hohen Ähnlichkeiten zueinander.

Jetzt wo Ginger die Gruppe sah, verhärtete sich ihr Verdacht. Das waren keine bösen Genies oder ausgebuffte Weltenwanderer, das waren ganz normale Leute, wie man sie in stinklangweiligen Menschenwelten antraf. Ginger hätte ihre Hand dafür ins Feuer gelegt, dass sie nicht einmal wussten, dass sie mit erschreckender Regelmäßigkeit in anderen Welten umherreisten. Das weckte ihre Neugier. Jetzt wollte sie erst recht wissen, was das Geheimnis hinter diesen Weltensprüngen war. Doch wenn die Gruppe selbst nicht einmal wusste, was sie da eigentlich taten, war zu allererst einmal Vorsicht die Mutter der Porzellankiste.

Billy suchte mit seinem Revolver nach einer Lücke in ihrer Deckung. »So, du denkst also, darum geht's?«

»Billy, halt dich zurück!«, mäßigte Trevor ihn erneut und legte seine Hand auf Billys Waffe. Dieser senkte sie vorläufig.

»Das sind zumindest meine Ambitionen. Was ihr davon haltet, ist eure Sache«, rief Ginger bestimmend hinter ihrem Körperschild hervor. »Ich hätte auch abhauen können, als ihr im Zwölften den Alarm ausgelöst habt. Aber ich dachte, im Team sind solche Sabotageaktionen vielleicht effizienter.«

Trevors Blick schwang mit einem verächtlichen Beigeschmack zu Melvin, dieser zog schuldbewusst den Kopf zwischen die schlaksigen Schultern. »Also hast du die Sicherheitsleute für uns ausgeschaltet?«

Die Fahrstuhltür schloss sich und trennte Ginger von der Gruppe. Vorsichtig streckte sie ihre Finger nach dem Open-Knopf aus und wartete, bis sich die Tür nach einigen Sekunden erneut öffnete. »Korrekt. Übrigens: gern geschehen. Bin ich jetzt im Team?«

Trevor zögerte und fuhr sich verheißungsvoll mit der Zunge über die Zähne. »Komm erst mal da raus, dann sehen wir weiter.«

Ein kurzes Knacken ertönte in Gingers rechtem Ohr und sie hörte eine Stimme aus dem Headset. »Hey, der blonde Schmierlappen den sie Billy nennen, trägt einen silbernen Smith and Wesson, Modell 66-2. Baujahr 1982. Pass auf, er hat erst fünfmal gefeuert. Eine Kugel dürfte demnach noch übrig sein«, erklärte Diego über Funk.

Über die Lage verärgert, presste Ginger ihre Lippen zusammen, ergriff den Arm des Toten und schleuderte ihn mit einem kräftigen Schulterwurf in Billys Richtung.

Von dem schweren Körper überrascht, ging er fluchend zu Boden und riss das halbe Bücherregal gleich mit sich. Ein weiterer Schuss löste sich, prallte nur wenige Zentimeter neben dem Kopf der dunkelhaarigen Frau gegen die Tür des Safes und endete als Querschläger in der Fensterscheibe hinter dem Schreibtisch. Ein kalter Luftzug strömte in den Raum.

»Haben wir's dann jetzt?«, fragte Trevor berechnend kühl den barfüßigen Eindringling und blickte abwechselnd in die Gesichter seiner Kameraden. Stephanie keuchte vor Schreck auf und Melvin hatte sich wenig heldenhaft hinter den Schreibtisch geworfen.

Ginger trat vorsichtig aus dem Fahrstuhl heraus und klopfte sich die Hände ab. »Kommt drauf an, ob noch jemand das Bedürfnis hat, auf mich zu schießen.«

Trevor hob ratlos die Hände. »Ich kann selbstverständlich nichts versprechen, aber ich werde mein Bestes tun, das vorläufig zu verhindern.«

Ginger musterte die zwielichtigen Gestalten argwöhnisch. »Okay, damit komme ich klar«, sagte sie dann trocken.

Trevor schaute zu Billy hinunter. Bemessen daran, dass Billy sich unter dem schweren Sack, der mal ein lebendiger Mensch gewesen war, kaum bewegen konnte, musste diese Frau trotz ihrer zierlichen Gestalt über immense Kräfte verfügen. Trevor beschloss, sie dahingehend besser nicht zu unterschätzen wenn es hart auf hart kommen sollte. Er wandte sich an Ginger. »Du willst also bei uns mitmachen, habe ich das richtig verstanden?«

»So mein Plan.«

Trevor strich sich grübelnd übers Kinn. »Kein besonders Guter fürchte ich. Ich teile nämlich nicht gern, musst du wissen.«

Stephanie sah mitleidig zu Trevor. »Sie hat uns gerade noch geholfen«, erinnerte sie ihn im Flüsterton. »Das hätte sie nicht tun müssen. Vergiss das nicht.«

Trevor erwiderte den Blick mit strenger Miene. »Halt dich raus«, zischte er.

Ginger entging nicht, wie intensiv sie von der jungen Frau gemustert wurde. »Dann behalt den Schrott eben. Ich habe ohnehin mehr Spaß an der Sache selbst«, gab sie achselzuckend zu.

Trevor hob den linken Mundwinkel und schnaubte abschätzig. »Also gut, wer bist du?«

»Für dich? Ginger«, antwortete sie, während sie zeitgleich ihre Kapuze absetzte.

»Ginger? So so«, erwiderte Trevor reserviert und betrachtete die schneeweißen, verfilzten Locken, die sich mit einem kräftigen Rot vermengten, als wüssten sie nicht, ob sie das eine oder das andere sein wollten. »Dann bin ich Mister Tom. Die liebreizende Dame am Safe ist Grumpy Cat, der Herr zu meiner linken Deepthroat.«

»Hey!«, murrte Melvin entsetzt.

Trevor runzelte die Stirn. »Was? Watergate. Nie gehört?«

Der schlaksige Mann mit der Hornbrille auf der Nase schüttelte verlegen den Kopf.

»Banause«, raunte Trevor. »Und der Haudegen unter dem Toten ist ...«

»Billy«, fuhr Ginger dazwischen, ohne ihren Blick von der Frau, die er Grumpy Cat nannte, abzuwenden. Ginger witterte ihre Anspannung. Sie war stärker als die der drei Männer und anderer, eher neugieriger Natur. Ginger kannte die Art der Neugier nur zu gut und unterdrückte ein leichtes Schmunzeln. Sie schätzte diese Frau auf nicht älter als Mitte zwanzig, somit war sie augenscheinlich die Jüngste in der Gruppe.

»Ja, Billy the Kid«, fügte Trevor hinzu.

Ginger schnalzte desinteressiert. »Mir egal. Wenn Billy noch mal seine Kanone auf mich richtet, brech ich ihm allein dafür die Nase.«

Billy stutzte betroffen und keuchte unter der Last des leblosen Körpers. »Wow! Warum so garstig? Hab ja nicht mal getroffen.«

Ginger verdrehte die Augen und schob mit ihrem linken Fuß Tangos Körper von Billys Brust.

»Hey, verdammt nett von dir. Ich werde nächstes Mal auch zögern, bevor ich wieder auf dich schieße. Versprochen.« Billy streckte ihr die Hand entgegen, in der Erwartung, dass Ginger ihm aufhelfen würde. Nach einigen Sekunden begriff er, dass sie es nicht tun würde, räusperte sich und erhob sich aus eigenen Kräften.

»Haben wir uns dann alle wieder beruhigt, ja?«, fuhr Trevor dazwischen. »Wie viele von denen sind noch im Gebäude?«, fragte er an Ginger gewandt, während er auf den Toten verwies.

Ginger hob eine Augenbraue. »Lebendig? Vier. Plus der alte Tattergreis in der Lobby.«

»Tattergreis?«, hakte der Mann, der Deepthroat genannt wurde, nach, während er beunruhigt den Gemütszustand von Trevor im Auge behielt.

Ginger hob eines der Bücher auf. Der Zauberer von Oz, stand auf dem Umschlag. Sie blätterte lose darin umher und stellte es ins Regal. »So ein alter Knacker von einem Wachmann eben. Der ist keine Gefahr. Bezweifle, dass der überhaupt was mitbekommt. Der ist eher mit seinem Rückenleiden beschäftigt.«

»Ich dachte, das sei ein Muskelpaket?«, fauchte Trevor Melvin an. Dieser zuckte nur ahnungslos mit den Schultern. »Ist ja klasse! Die Kleine weiß besser über den Schuppen Bescheid, als der Typ, der hiermal gearbeitet hat.«

»Tre‒ ... ich meine Mister Tom, ich schwöre, das ist nicht meine Schuld«, wimmerte Melvin vor sich hin.

Trevors Miene verhärtete sich. »Ach, nein? Erst weißt du nicht so recht, wo es langgeht, dann die Alarmanlage und jetzt das! Hast du überhaupt jemals für den Laden gearbeitet?«

Melvin blickte verunsichert zwischen Trevor und Billy hin und her und trat ein paar Schritte zurück. »J-ja, ich weiß auch nicht, wie die in so kurzer Zeit alles umbauen konnten. Es ist immerhin keine acht Wochen her, dass sie mich gefeuert haben.«

Ginger musste bei dem unsicheren Gestammel schmunzeln. Damit war ihr Verdacht so gut wie bestätigt. Diese Gruppe hatte offenbar nicht die leiseste Ahnung, dass sie sich in einer anderen Welt befand. Das war eine wahrhaftig interessante Erkenntnis und erklärte zumindest teilweise das Sprungmuster. Jetzt musste sie nur noch herausfinden, wie sie das machten, ohne es zu merken. Am besten, bevor Gilligans Netzwerk und die Greys ihr dazwischenfunkten.

»Was soil's«, schnaubte Trevor resigniert. »Hey, Lockenkopf, bist du immer so gut informiert, bevor du irgendwo einsteigst?«

Ginger zuckte mit den Achseln. »Wäre dumm, wenn nicht«, witzelte sie und war es leid, den faszinierten Blicken von Grumpy Cat ausgesetzt zu sein. Ganz gleich wie groß die innere Anspannung und die dahinter verborgene Neugier dieser Frau auch war.

»Was ist jetzt mit der Formel?«, holte Trevor Stephanie aus ihrer Trance.

»Hab sie längst«, antwortete sie erschrocken und hielt eine grüne Akte mit den gesuchten Papieren in die Höhe. Sie strich sich mit der anderen Hand eine imaginäre Strähne hinters Ohr, presste die Lippen aufeinander und blickte noch einmal verstohlen zu der exotischen Frau auf. Stephanies Herz schlug plötzlich wieder schneller. Als sie bemerkte, dass Ginger ihren Blick erneut auffing, wandte sie sich schnell ab und schüttelte kaum merklich ihren Kopf.

»Perfekt. Ich wusste, auf dich ist Verlass.« Trevor warf einen letzten kontrollierenden Blick aus dem Fenster. Alles schien ruhig zu sein. »Verschwinden wir, bevor noch mehr Überraschungen um die Ecke kommen«, murmelte er und schaute Melvin verächtlich in die Augen.

»Klingt nach einem Plan«, entgegnete Ginger und betätigte den Knopf der Fahrstuhltür.

»Wo willst du hin?«, brummte Trevor.

Sie stockte mit gespielter Irritation. »Runter?«

»Sicher nicht.«

Gingers Finger tanzten verunsichert in der Luft umher. »Ich verstehe nicht, wie soll ...«

»Lass das meine Sorge sein«, unterbrach Trevor sie harsch. »Beantworte mir lieber eine Frage. Wie sicher bist du, dass du das hier willst?«

Sie verschwinden also nicht über den Weg, durch den sie hineingekommen waren? Wie interessant. Ginger schluckte künstlich schwer und tat so, als würde sie ernsthaft über ihre Antwort nachdenken müssen. »Einhundert Prozent«, ließ sie schließlich verlauten.

Trevor tauschte abwägende Blicke mit seinem Team aus. Billy zuckte desinteressiert mit seinen Schultern, während Melvin ein zögerliches Grunzen hervorbrachte. Zuletzt kreuzten Stephanie und Trevor die Blicke. Ähnlich einem stillen Dialog vergingen einige Momente, bevor Stephanie schließlich fest entschlossen nickte.

Seine Fingerspitzen aneinanderreibend traf Trevor daraufhin seine Entscheidung. »Gut. Sie kommt mit.« Er wandte sich der wartenden Ginger zu. »Doch um jedes Missverständnis direkt auszumerzen, das hier ist eine Einbahnstraße. Bist du einmal drinnen, gibt es kein Zurück mehr. Und nur damit das klar ist, sollte ich auch nur den Verdacht haben, dass du mich hinters Licht führst, wirst du dir noch wünschen, dass Billy nur auf dich schießt.«

Ginger schwieg und legte nach einigen Sekunden den Kopf bejahend schief.

Trevor begab sich zum Safe und schloss dessen Tür. Kaum merklich berührte er die eigene Brust und öffnete den Safe nach wenigen Augenblicken wieder. Wo gerade noch der Inhalt des mannsgroßen Safes zu finden gewesen war, erstreckte sich nun das Innenleben einer riesigen Lagerhalle. Er vollführte eine einladende Geste mit der rechten Hand. »Wenn ich bitten darf?«

Nacheinander liefen Melvin, Billy und Stephanie hindurch. Ginger zögerte, rieb sich ihre Augen und schaute noch einmal hin. »Wie ‒ wie ist das möglich?« Aufmerksam fuhr ihr Blick umher und suchte den ganzen Bereich um die Tür herum nach einer Erklärung ab.

»Musst du nicht wissen«, antwortete Trevor kühl und stieß sie hinein.

Ginger stolperte in den Safe und befand sich mit nur einem Schritt in einer riesigen Halle. Ein großes, rundes Wellblechdach mit einigen maroden Fenstern umspannte das gesamte Gebäude und wurde von einem Skelett aus Stahlgerüsten zusammengehalten. Es roch nach rostigem Eisen und Abwasser. Überall lagerten Kunstgegenstände und Kisten von diversen Ausgrabungsstätten.

Mister Tom hatte gerade vor Gingers Augen einen komplett neuen Übergang entstehen lassen und sie hatte keine Ahnung, wie er das angestellt hatte. In ihrem Inneren brodelte es. Das war genau das, wonach Ginger gesucht hatte. Ihre Fahrkarte in ein neues Leben, fern von all dem, was hinter ihr lag und immer wieder einen drohenden Schatten über sie warf. Am liebsten hätte sie Mister Tom direkt an der Kehle gepackt und ihn zum Reden gezwungen. Ein kurzes Zucken in seine Richtung durchfuhr sie bei diesem Gedanken, bevor Ginger abrupt stoppte.

Fuck! Was ist, wenn ich mich auf ihn stürze und er mich prompt in eine andere Welt schmeißt? Keine Ahnung, ob er so etwas kann, und ich habe ehrlich kein Interesse, das auf diese Weise herauszufinden, fuhr es Ginger durch den Kopf. So hatte selbst sie noch niemals jemanden die Welt wechseln sehen. Es war ein Trick, das musste es sein, nur wie funktioniert er? Resigniert stieß sie nach einigen Sekunden einen Schwall Luft aus und entschied, dass es besser war, den Ball flach zu halten, bis sie mehr darüber wusste, wie dieser Mister Tom das machte.

Während Billy und der Rest es sich in einer gemütlichen Couchecke neben einem improvisierten Bartresen bequem gemacht hatten, kämpfte Ginger gegen ihren Drang, das Na-Vi zu zücken. Nur zu gern hätte sie gewusst, wo sie hier waren, aber das musste warten, bis der Zeitpunkt günstiger war.

Billy schmiss bereits die erste Runde Bier und reichte Ginger eine der eisgekühlten Flaschen aus dem Kühlschrank an der Bar. »Das ist guter Stoff, betrachte es als Friedensangebot, ja?«

»Klar«, antwortete sie perplex und griff nach der Flasche. Das Label darauf wirkte alt wie das milchige Glas selbst und ließ vermuten, dass es nicht von hier kam. Selbstgebranntes, tippte Ginger. Wenn Billy auch von dort stammte, wo er die Flasche her hatte, war es wohl wirklich eine Art Friedensangebot. Wer teilte schon gern Dinge aus seiner Heimat, wenn man nicht wusste, wann man diese wiedersieht?

Ihr Blick wanderte zu Mister Tom. Er zog von dieser Seite die Safetür zu. Von jetzt auf gleich war es eine ganz normale Eichenholztür in einem Rahmen mitten im Raum. Ginger legte den Kopf schräg. Überaus interessant.

Nur wenige Augenblicke später stieß Trevor zu ihnen und machte es sich auf dem einzigen Sessel in der Halle bequem. Er fuhr sich durch sein rabenschwarzes Haar und ließ den Neuzugang nicht aus seinen kühlen, alles berechnenden Augen.

Ginger ließ immer wieder ihren Blick zu den Fenstern des Lagers schweifen und horchte nach Dingen außerhalb dieser Räumlichkeiten. Leichte, summende Motorengeräusche, nicht von Autos, so viel war sicher, dann vernahm sie ein schwappendes Plätschern ‒ ein Hafen?

»Los Angeles«, riss Trevors Stimme sie aus ihren Überlegungen heraus.

Sie hob den Kopf. »Was?«

»Wir sind in Los Angeles«, wiederholte er.

Billy und Melvin fingen an zu kichern und schlossen Wetten darauf ab, wie lange sie wohl brauchen würde, um zu realisieren, was Trevor da eben gesagt hatte.

Ginger stockte mit gespielter Unsicherheit. »D-as ist ganz schön weit weg von New York.«

»Die Antwort lautet: Teleportation«, griff Billy voraus.

»Teleporta‒ was?«, fragte Ginger verwirrt.

»Du begreifst es noch früh genug«, antwortete Trevor und nahm Stephanie die Papiere aus dem Safe ab. Ein selbstgefälliges Schnauben entwich ihm. »Tzz! Waffenfähiges Angstgas, Sachen gibts. Also dann, ich melde mich wie immer bei euch sowie ich einen Käufer habe.«

Stephanie verschränkte die Arme und stieß einen kritischen Seufzer aus ihren Lungen. »Wir verkaufen jetzt also wirklich biologische Waffen, ja?«

Trevor grunzte selbstgefällig. »Was ist das Problem? Plötzliche Gewissensbisse? Ein bisschen spät dafür, findest du nicht?«

Ginger setzte die Flasche Bier ab. »Wieso müsst ihr erst einen Käufer suchen? Ist es nicht viel cleverer, bereits einen zu haben?«

»Nein«, entgegnete Trevor und blätterte durch die frisch gestohlenen Unterlagen. »Auftraggeber bedeuten Schwierigkeiten. Schlechterer Handelsspielraum, potenzielle Risiken und so weiter. Besser ist: Du hast etwas, das jemand will, ohne dass er weiß, dass er es will. Dann besteht dein Problem nur noch darin, den Meistbietenden zu finden. Easy Money.«

Eine kluge Antwort, wie Ginger fand. Vor allem aber eine, die ein interessantes Licht auf die vorhandene Gruppenkonstellation warf. Sie fragte sich, was wohl die anderen dazu sagten, wenn sie erst den wahren Grund für dieses Vorgehen herausfanden. Somit war zumindest schon einmal klar, dass Ginger sich auf den Anführer konzentrieren musste, wenn es um diese Weltenwechsel ging. Ihr Blick fiel auf die dunkelhaarige Frau in der viel zu großen Lederjacke. Sie beobachtete Ginger schon wieder. Immer dann, wenn sie meinte, dass es ihr nicht auffiel. Ginger wartete dieses Mal, bis die Frau erneut den Blick in ihre Richtung wandte und schenkte ihr ein zurückhaltendes Lächeln. Wie war noch gleich ihr Name? Grumpy Cat?

Billy leerte seine dritte Flasche in einem Zug und prüfte noch einmal mit leicht schielendem Blick die Anzahl der Patronen in seinem Revolver, bevor er diesen wieder ins Holster steckte. Ungeniert rülpsend klopfte er Trevor auf die Schulter. »Wir sehen uns die Tage, Partner. Kinder, habt noch einen schönen Abend.« Dann schlenderte er langsam aus der Halle ins Freie und verschwand.

»Los Angeles«, wiederholte Ginger ihren Kopf fassungslos hin und her schüttelnd.

Stephanie versuchte ein Lächeln. »Ganz schön weit weg von zu Hause, nicht wahr? Wenn du magst, kannst du erst mal bei mir übernachten.«

Ginger beobachtete die warmherzigen Gesichtszüge von Grumpy Cat und zögerte ihre Antwort noch einen Moment künstlich hinaus. »Ja, das wäre klasse.«

Eine Katze namens Grumpy

Ginger und Stephanie liefen durch die nächtliche Metropole von Los Angeles. Vorbei an schmutzigen Straßen, faulig riechenden Gassen und dampfenden Gullydeckeln. Eine Stadt, die ihren ganz eigenen Charme hatte.

Stephanie hüpfte aufgeregt um das neueste Gruppenmitglied herum und zeigte alle paar Sekunden auf eine neue Sache, die Ginger unbedingt sehen musste.

»Und da drüben, da ist das Kino, in das ich immer gehe. Die machen das beste Popcorn der Welt. Du kennst doch Kinos, oder? Sicher kennst du Kinos. Wer kennt denn keine? Hehe, okay, vielleicht komme ich darauf, weil Billy wundersamerweise keine Kinos kannte.« Ihr drahtiger Zeigefinger tippte nachdenklich auf dem kleinen Grübchen an ihrem Kinn herum. »Vielleicht gibt es in Texas einfach keine Kinos? Glaubst du, dass es in Texas keine gibt?«

»Kommt auf das Texas an«, antwortete Ginger schon beinahe mürrisch.

Stephanie runzelte die Stirn. »Was?«

Ginger setzte sich ihre Kapuze auf und vergrub die Hände in den Taschen ihres Mantels. »Nicht so wichtig.« Es war nicht so, dass es kalt oder regnerisch war, doch die Stadt war unerträglich laut und die Kapuze dämpfte die Geräusche, die an ihr feines Gehör drangen zumindest etwas.

Stephanie lächelte Ginger an, blieb mit ihrer Stiefelspitze am nächsten Bordstein hängen und stolperte blindlings in sie hinein. »Hoppla.«

»Schon okay, ist ja nichts passiert.«

»Vielleicht hast du ja mal Lust, dir einen Film mit mir anzusehen?«, fragte Stephanie anschließend mit einem ungewöhnlichen Schwung Verlegenheit in ihrer Stimme.

»Mal sehen.« Ginger betrachtete Grumpy Cats schmale Lippen und wie sie sich ununterbrochen weiter bewegten und Worte formten. O Gott! Die Frau brabbelt echt über alles Mögliche. Fantastische Shoppingmöglichkeiten hier, spannende Begebenheit in ihrem Leben dort. Aber nichts, was mich in Bezug auf Mister Toms Weltenspringerei weiterbringt. Hab ich mich in ihr getäuscht? Ist es doch der Cowboy, auf den ich setzen muss, wenn ich mehr wissen will?

Ginger entschied, das summende Geräusch von Grumpy Cats Stimme vorläufig auszublenden. Sie konnte ohnehin nicht fassen, wie zutraulich diese Frau war. Sie kannten sich gerade einmal eine gute Stunde und das durch einen gemeinsamen Einbruch. Was dachte sich Grumpy Cat nur dabei ihr blindlings zu vertrauen? Ginger hätte sie auch jederzeit um die Ecke bringen können. Sie schüttelte abwertend ihren Kopf und widmete sich erneut ihrer Umgebung.

Billige Neonröhrenwerbung, Leute mit seltsamen Ausdrücken in ihrer Wortwahl, Ghettoblaster und dann dieses Hi-Fi-Geschäft, das alte Röhrenfernseher als Topneuheit im Angebot hatte. Ginger war fast sicher, dass diese Welt irgendwo zwischen den späten Achtzigern oder frühen Neunzigern angesiedelt sein musste.

»Hast du auch so einen Bärenhunger wie ich?«, riss Stephanies Stimme sie aus ihrer Beobachtung heraus.

Ginger fasste sich an den Bauch und fragte sich eine Sekunde, ob Grumpy wohl darauf kam, weil ihr Magen zwischendurch lautstark geknurrt hatte, ohne dass sie es selbst bemerkte. Ein zögerliches Seufzen verließ ihre Lippen. »Ja, Essen klingt toll.«

Stephanie klatschte freudig in ihre Hände. »Klasse. Ich kenne einen prima Asiaten. Gleich hier um die Ecke. Der macht sogar dieses Sushi. Das musst du probiert haben. Ich lade dich ein, was sagst du? Quasi als kleines Dankeschön für heute Abend.«

Ginger lächelte gezwungen freundlich. »Kann's kaum ewarten.«

Ein junger Mann in etwa dem Alter von Stephanie bog aus der Berkeley Street in ihre Richtung ein. Die Frisur bis in die Spitzen gestylt. Mit künstlich mürrischem Blick und fescher Bikerkluft stolzierte er selbstbewusst auf sie zu.

»Greg?« Stephanie runzelte die Stirn. »Was machst du denn hier? Bist du nicht in Chicago?«

Er antwortete nicht. Stattdessen zwinkerte er kaugummikauend, steckte Stephanie seine Visitenkarte zu und zog postwendend weiter.

Stephanie betrachtete die Karte und verschluckte sich beim Luftholen. »Was zum ...? Seine Telefonnummer. Spinnt der jetzt völlig? Wieso steckt er mir die zu?«

»Vielleicht steht er auf dich«, nuschelte Ginger beiläufig und entfernte in einer fließenden Bewegung das Stück nasse Zeitung, das unter ihrer rechten Fußsohle klebte. Sie hielt die Seite hoch, legte den Kopf schief und ließ das Klatschblatt mit angewiderter Grimasse fallen. »Ich hasse das Stadtleben!« Sie warf einen Blick auf die nassgraue Betonlandschaft und vermisste zunehmend den weichen Moosboden ihrer Heimatwälder sowie dessen Wärme und Geborgenheit. Dort war sie zu Hause, nicht hier draußen, wo alles laut und voller Probleme war, die alle einen nach dem anderen wichtiger waren als das Vorherige. Noch ein weiterer Grund, weshalb sie nicht mehr nach Haven zurückkehren wollte. Dort war es immer laut und stets voller Hektik. Haven war schlicht ein Ort, der beinahe so wenig schlief, wie dieses Los Angeles.

Stephanie blickte Ginger entsetzt an. »Er ist mein Ex.«

Diese blinzelte unbeholfen. »Oh.«

»Das ist schon das zweite Mal, dass mir so was passiert. Letztens hat mich eine meiner besten Freundinnen nicht wiedererkannt. Als wenn ich eine Fremde wäre. Kannst du dir das vorstellen?«

Überraschenderweise konnte Ginger es tatsächlich nachempfinden. Sie erlebte dieses Phänomen neuerdings sogar öfter, als ihre dunkelhaarige Begleitung je geahnt hätte. Der Unterschied bestand lediglich darin, dass sie sich bewusst in diese Situation begab. Immer dann, wenn sie ihren Dad zu sehr vermisste, suchte Ginger alternative Versionen von ihm auf. Mal war er Wissenschaftler, mal nur ein einfacher Mechaniker, hin und wieder lebte er glücklich mit einer Familie, oft aber allein und in sich gekehrt. Als wenn ein Teil seines Bewusstseins ahnte, dass da draußen etwas war, das mehr bot als das, was er hatte. Besonders bei diesen Versionen musste Ginger stark sein, um nicht der Versuchung zu erliegen sich zu offenbaren.

Es gab da diese Theorie von einem Kollektivbewusstsein in seinen Notizen. Es ging um den Moment, wenn man sich an Dinge erinnerte, die man selbst nie erlebt hatte oder man plötzlich über Wissen verfügte, das man nicht haben dürfte. Manche würden jetzt auf ein früheres Leben tippen, ihr Dad hielt es für Echos seiner Versionen aus anderen Welten. Doch immer, wenn sie dachte, einer von seinen alternativen Versionen könnte sie erkannt haben, kniff sie. Was sollte Ginger auch sagen? Hallo, du wirst es nicht glauben, aber ich bin das Kind deines alternativen Ichs aus einer anderen Welt? Es wäre falsch und zudem kein Ersatz für den Teil ihres Lebens, der ihr so sehr fehlte.

Ginger beließ es daher stets bei Zufälligkeiten. Kurze bedeutungslose Momente, die da waren und weiter zogen, ohne eine bleibende Erinnerung in diesen Fremden zu hinterlassen. Es klang dumm, doch sie hatte ihre Gründe, warum sie es immer wieder tat. Seine Stimme, die zu ihr sprach, sein Geruch oder dieses warme Lächeln. Es beruhigte sie und gab ihr Kraft.

»Verdammt! Wo ist Wong? Und was ist Pizza Hut?!« Stephanie drehte sich noch einmal im Kreis und suchte Fixpunkte zur Orientierung. Da war die Bushaltestelle mit der kaputten Sitzbank, das rote Backsteinhaus mit dem Graffiti eines goldenen Falken und der kleine Tabakladen von Earls Best. »Shit! Wir sind am richtigen Ort, aber seit wann ist das eine Pizzeria?«

Ginger legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Pizza klingt auch okay.«

Stephanie zuckte kurz zusammen und atmete erleichtert auf, als sie Gingers Lächeln sah. »Echt? Gut, so schlimm wird's schon nicht schmecken. Welche Sorte willst du?«

»Ähm– , Hawaii?«

Stephanie verzog das Gesicht, als hätte sie auf eine Zitrone Gebissen. »Hawaii? Igitt, das isst doch niemand.«

Ginger vergrub ihre Hände so tief in den großen Taschen ihres Mantels, bis die Kapuze über ihren Kopf spannte und gähnte. »Wenn dem so wäre, gäbe es sie nicht. Ohne Nachfrage, kein Angebot.«

»Touché. Bin gleich wieder da. Lauf nicht weg.« Stephanie zwinkerte ihr zu, gab ein Klickgeräusch von sich und zeigte mit einer Fingerpistole auf Ginger. Dann machte sie augenblicklich auf dem Absatz kehrt und zog den Kopf ein.

Stephanie kniff ihre Augen zusammen und fragte sich, was sie dazu getrieben hatte so etwas Bescheuertes zu tun. Dann schlenderte sie mit eingezogenem Kopf in Richtung der Ladentür und schaute noch einmal verlegen lächelnd zu ihrer Begleitung, bevor sie darin verschwand.

Gingers freundliches Lächeln versiegte. Endlich! Eilig holte sie ihr Na-Vi hervor, prüfte ihren Standort und öffnete im Anschluss Diegos Textnachricht.

01:53: Alles okay?

02:10: Hey! Troublemaker, melde dich!

02:30: Jetzt sag doch was?!

02:44: Q! Sektor Q. Diego, das ist unfassbar. Ich war noch nie so weit von Haven entfernt.

02:46: Ja, habe ich schon an deinem Signal gesehen. Du bist demnach wohl oder übel auf dich gestellt. Wir würden selbst auf schnellstem Wege Monate brauchen, um dort hinzukommen.

02:47: Mach dir keine Sorgen. Ich komm schon klar.

02:48: Ich weiß, dass du das tust. Pass trotzdem auf dich auf. Hast du schon was herausfinden können?

02:50: Allerdings. Halt dich fest: Die wissen gar nicht, dass sie willkürlich in andere Welten springen. Sie halten das, was der Anführer macht, für eine Art Teleportation.

02:50: Hehehe, ist nicht wahr! Sie benutzen einen Weltenschlüssel, ohne zu wissen, was er tut?

02:51: Das ist es ja, ich weiß nicht, ob sie einen verwenden. Der Anführer hat einfach eine Tür geschlossen und wieder geöffnet. Er hat weder einen Gegenstand in der Hand gehabt, noch irgendwo hineingesteckt.

02:52: Also nicht so wie damals mit Gilligans Würfel am Sternentor. Sehr interessant. Vielleicht datest du den Anführer einfach mal. Du weißt schon, nur um dichter an ihm dran zu sein. Immerhin ist er schnuckelig, findest du nicht?

02:52: Schnuckelig?! Bin fast sicher, dass er ein Soziopath ist.

02:53: Das weißt du nicht. Außerdem bist du auch kein Unschuldslamm. Lern ihn doch erst mal richtig kennen. Vielleicht ist er ja im Kern ganz okay.

02:53: WTF?! 02:53: Melde mich wieder, wenn ich herausgefunden habe, wie er diese Weltenwechsel macht.

02:54: Okay. Hey! Danke, dass du uns begleitet hast. Ich hoffe, wir können solche Abenteuer künftig wieder öfter gemeinsam erleben.

Ginger betrachtete einige Augenblicke Diegos letzte Nachricht, tippte einen Text ins Feld, zögerte, mit über dem Senden Knopf schwebenden Daumen und steckte ihr Na-Vi weg, ohne die Nachricht abzusenden. Innerlich fluchte sie. Verdammt! Vier kleine Worte: Ich komme nicht wieder. Was war daran so schwer? Wenn ich ihm erkläre, was ich vorhabe, wird er es verstehen. Ganz sicher sogar. Das musste er einfach.

Gerade noch rechtzeitig bemerkte Ginger den rabenschwarzen Ford Galaxie 500, der auf der anderen Straßenseite zum Stehen kam. Sie hob den Kopf in Richtung des Fahrzeugs.

»Klasse, das hat gerade noch gefehlt«, nuschelte sie genervt und beobachtete wie zwei Männer mit fahlen Gesichtern im schwarzen Anzug und Sonnenbrille ausstiegen. Der längere verzog das Gesicht und knöpfte sein Jackett zu, während der kleine Dicke neben ihn trat.

Ginger schaute erwartungsvoll hinüber. Der kleinere verzog das Gesicht, ballte die Fäuste, machte einen Schritt auf die Straße und sprang zurück, als ein Laster hupend an ihnen vorbeizog. Der Verkehr hinderte die beiden Grenzschützer daran, die Straße sofort zu überqueren. Das kam Ginger gelegen. Sie schnaubte abfällig, kehrte den Greys lässig den Rücken zu, damit sie das abgetragene, weiße Symbol des Netzwerks auf ihrem Mantel sehen konnten und fokussierte den Eingang der Pizzeria. Einige Sekunden später hörte sie das unzufriedene Zuschlagen einer Wagentür, gefolgt von einem aufheulenden Motor, bevor sie den rabenschwarzen Ford Galaxie 500 im Augenwinkel davonrasen sah. Sie grinste. Tut mir wirklich leid Jungs, aber da müsst ihr schon früher aufstehen.