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In einer nach-apokalyptischen, von Frauen beherrschten Welt, in der Fortpflanzungsideologien zur tödlichen Gefahr werden. Auf der Flucht vor den Witwen, einem Amazonenvolk, das die verfallenden Städte bewohnt, begibt sich der Einzelgänger Talisman auf eine abenteuerliche Odyssee, die ihn zunächst in das ehemalige Hongkong führt, wo seine Füße aus ideologisch-ästhetischen Gründen durch kostbare Prothesen ersetzt werden. Die Rückkehr in seine Heimat wird zu einer skurrilen, gulliverhaften Reise, in der Talisman zu einer Schlüsselfigur im Kampf um Freiheit, Selbstbestimmung und kulturelle Tradition wird. Schließlich sesshaft geworden, beginnt er einen Krieg gegen die Witwen in seinem Land. Nach einer schweren Niederlage kehrt er wieder nach Hongkong zurück und erlebt dort erste revolutionäre Versuche zur Entwicklung eines neuen Mannes.
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Seitenzahl: 378
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Viktoras Pivonas
Roman
Matthes & Seitz Berlin
Gerne hätte ich weitergeträumt, wäre nicht das Hecheln der Flintenweiber gewesen, das ich zu hören meinte, lang' schon, ehe es wirklich mein Ohr erreichte. Kaum aus den Federn, schon auf der Flucht. War ihre Neigung befriedigt, schützten mich vor den Jägerinnen Gebete am wenigsten, obschon solche Anrufungen bevorzugte Sache der Ängstlichen, der Dichter und der Männer war. Gleichviel, ich schickte meinem Vergnügen ein Stoßgebet nach. Doch der Himmel teilte sich nicht. Kein Blitz verschmolz meine Spur mit der Erde und keine gnädige Böe fegte die tiefhängenden Lüfte davon, worin meine Witterung sich hielt, warm noch, für die Nüstern der nun mordlüsternen Witwen.
Ich war es so leid, gejagt zu werden. Keine Wahl. Selbst beim Spiel blieben die Witwen bewaffnet und scheuten kein Mittel, danach ihr Opfer ans Bett zu fesseln. Doch ehe ich das zuließ, verriete ich meine Bibliotheken. Was nicht viel hieß. Das war kein Reichtum. Ich konnte zwar schreiben; lesen nur meine eigene Schrift.
Reden konnte ich auch. Besser als die meisten. Ein Grund, weshalb ich nicht in der Kitzelmaschine steckte, wie es meinem Alter längst entsprochen hätte. Aber das hieße auch, gefüttert und gemolken zu werden, solange es den Müttern gefiel, um dann als Sopran unseren lieben Frauen zu dienen.
Der Herr schütze mich. Einen der letzten meiner Zunft. Gezwungen, von der Kunst der freien Rede zu leben, von der Betörung mächtiger Weiber. Wie häufig fragte ich mich, wenn ich in den Wäldern erwachte und die Spiele der Spinnen beobachtete, wie lange sich die Männchen als Verführer empfinden mochten, angesichts der ungeschminkten weiblichen Kiefer, und wie übermächtig die Natur in ihnen wütete, dass sie weiterhin ihren Gemahlinnen um den Bart gingen.
Noch konnte ich laufen. Überflüssig, dies zu erwähnen. Sonst wäre ich kaum frei. Es störte mich auch nicht, in der Öffentlichkeit nur fisteln zu dürfen und von den Straßenbahnen jene Wagen wählen zu müssen, die den Sängern vorbehalten waren.
Aber die Hetze. Kaum ein Honigmond, den ich nicht hätte bezahlen müssen mit durchgelaufenen Sohlen. Tagelang hatte ich mich nicht waschen können. Ich fragte mich, was an den Gerüchten wahr sein mochte von der verfeinerten Art der Jagdkatzen, dass sie es über sich brachten, einen stinkenden Flüchtling zu treiben, als ginge es um köstliche Lenden. Hier erschrak ich, denn geröstet verlöre auch ich den Geruch und duftete anders den Bestien.
Ich wollte gerne schon wissen, ob diese langbeinigen Jägerinnen, die Diane und Artemis hießen, ob sie wirklich Werwölfinnen waren, verwandelte Witwen, vierfüßig und zähnefletschend nur für die Jagd, und später den Zauber löschten und – wieder anmutig – hitzig nur beim Wein und, vielleicht, in den Laken? Ich hätte es gerne gewusst und wusste es nicht und doch zu viel, sonst spränge ich nicht wie jetzt über Büsche, einer Ahnung von Feuchtigkeit folgend, einem fernen Murmeln, das Erleichterung brächte, wäre es ein Bach, eine Rettung, ein schäumender Strom. Denn die Katzen fliehen das Wasser und ein Sturz von den Klippen in die Gischt eines Wildbaches wäre ihnen mein Leichnam nicht wert.
Die Furien rasen. Ihre Flinten liegen ruhig im Arm; so könnten sie Kinder wiegen. Aber ihr Auge folgt dem Lauf, die Schüsse peitschen nicht blindlings, stiebend trennen sie Wasser von Fleisch, und einen zumindest steckte ich ein.
Flüssig die Reise. Ich trieb rücklings, den Himmel teilend, flussab. Verschränkte ich die Hände im Nacken, ich könnte Stunden so liegen, die Ohren im Wasser, der Impuls des feindlichen Projektils mich nur als Echo begleitend, Länge um Länge des Körpers.
Wie wenige mochte es geben wie mich? Keiner Liebe verlobt, auf keine Zukunft geflochten? Doch zu lange war ich schon offen; mehr Wasser in mir, als Blut. Langsam wusch es mich aus.
Ich würde leichter kämpfen, vielleicht nicht einmal dazu mich zwingen müssen, küsste mich nicht das Gedächtnis mitten im Streit. Wirklich, ich wäre weniger verloren, wäre ich nur allein und nicht verlassen von allen, an denen ich hing.
Ich trug ja Locken, wie sie. Die Augen standen mir unter den Schläfen wie ihr. Die Toga von gleichem Schnitt; und die Stimmen mussten zur Dissonanz erst sich trennen, ehe ihre von meiner sich unterschied.
Das war in den Gärten Comenius', in den Gymnasien, den Arenen Piagets. Ja, zuweilen noch in den Skinnerschen Kammern, ehe ich sie zu fürchten lernte und zu erkennen als das, was sie waren. Bis dahin, bis in die Dämmerung der manipulierten Kemenaten, glaubte ich, ich würde geliebt. Und doch verschwand die Schwester schon früh für Stunden, und ich bemerkte es kaum und dachte mir nichts bei den Worten, die anders klangen, denn ihr Blick tauchte in meinen, als wäre er unverändert, und was sie lernte, hatte mit dem Gespräch nichts zu tun – es war wie Häkeln. Einen flüssigen Faden durch Schleifen und Knoten ziehen, zu einer langen Bordüre. Das sei Mädchensache, hatte ich nächtlich gehört – und war zufrieden. Denn es schien gerecht, weil natürlich, dass ein wenig uns trennte; und doch, weil sie die Schwester war, blieb es erst recht mir unverständlich, dass sie sich fortschlich zu den Lektionen.
Bald strich sie schneller über die Seiten. Bedeckte sie mit einem nicht enden wollenden Muster, Zeile um Zeile, dass es schien, als wollte sie ein Gitter ziehen zum Horizont des Papiers: Ich fragte mich, welche Saat wohl aus jenen Seiten aufgehen sollte, die sie bestellte. Aber bald verschwanden die Blätter und ich meinte, der Spuk sei vorüber. Damals schliefen wir in gemeinsamen Räumen. Noch immer gab es unsere kleinen Gespräche und ihre Hand, die sich nachts in meine schob.
Das erste Versteck fand ich allein. Zufällig, gewiss, und mich wundernd, dass es nicht längst schon entdeckt war. Als hätten sie keinen Instinkt für Bücher. Aber auch ich hätte mich nicht in das Ruinenfeld gewagt, suchte ich nicht nach Wasser und wäre nicht ein Dunst in der Senke gewesen.
Ein geborstener Kanal, jahrhundertealt, aus dem das Wasser drängte, durch einen Graben, und nach einigen Schritten wieder unter der Erde verschwand: Unter Mauerresten, die das Wasser, gründunkel, verschluckten. Wenn man hineinsprang, bis zu den Hüften, klare strömende Flut. Ich tat's und tauchte und ließ mich treiben und versuchte, ein bisschen den Kanal zu erforschen, der unter die Erde führte. Nach wenigen Schritten schon senkte sich der Boden und ließ über den Knien, bis zur Höhe eines erwachsenen Mannes, Raum, Luft und Platz für einen Gang, der im Dunkeln verschwand, während der Zutritt noch beleuchtet war vom Tageslicht, das vom schäumenden Wasser hereingetragen wurde. Ein diffuses Licht, das das Geräusch dem anderen Element überließ, das gurgelnd eine Reise fortsetzte, zu der ich kein Vertrauen besaß. Ich wandte mich dem Gang zu und war nicht überrascht, eine Tür zu finden. Eine Klinke, die nicht einmal gesperrt war. Hier lag der Boden schon im Trockenen, und mir kamen Zweifel, ob wirklich an jener Stelle die Kanalisation geborsten war, ob es sich nicht vielmehr um einen der zahlreichen Plätze handelte, von denen in Gerüchten noch immer die Rede war. Bald würde ich es wissen. Ich öffnete endlich die Pforte. Es war dunkel und still, und es roch nach Papier. Wenn alles so war, wie die Geschichte versprach, würde ich nach wenigen Schritten einen Schalter finden, der für Beleuchtung sorgte. Ich hob die Hand und fand ihn; milchiges Licht senkte sich von der Decke aus schimmernden Schüsseln. Sie würden nur Augenblicke leuchten, weil die drinnen hausenden Organismen einem anderen Zyklus folgten; in Ruhe gelassen und nicht wieder erschüttert von der Hydraulik des Schalters, vergnügten sie sich lieber im Dunkeln. Aber noch glimmten sie.
Ich fand die nächste Tür und den nächsten Schalter. Dann kam die kleine Wohnung, zwei Zimmer, ein Bad, eine Kammer und dahinter glänzte die Tür aus Stahl, die das Magazin verschloss.
Ich überließ mich der Geborgenheit der Gemächer. Langzeitkerzen gab es, die über Wochen brannten und zum Lesen gereicht hätten und für jede andere Verrichtung.
Wasser gab es genug und schließlich auch den Hebel, der jene Schleuse öffnete, die den Generator vom Bach noch trennte. Einen Moment brauste das Wasser auf und dann wieder Stille, und Licht glomm von den Decken. Die Speicher begannen, sich zu füllen. Wärme, breitete sich aus und plötzlich: Musik. Salieri wurde angesagt, in einer Sprache, die ich verstand, und eine andere Stimme beschrieb den Mechanismus, der das Magazin verschloss, erklärte den Gebrauch des Verstecks, ebenso wie die Speisekammer, die nicht zu benutzen ich gebeten wurde, sondern von meiner Notration zu leben, die ich zwangsläufig haben müsste, sonst hätte ich diesen Platz nie erreicht. Und schließlich ›Willkommen‹ und mehr Musik.
Außer den Büchern gab es nichts zu erforschen, solange man seinem Gedächtnis vertraute. Alles war an seinem Platz, wie an den Tausenden anderen Orten, die nach gleichem Schema, wenn auch mit wechselndem Geschmack, installiert worden waren, in jenen Jahren, von denen heute keiner mehr sprach.
Die Stimmen kamen und gingen, und immer wieder Musik; Tartini, Corelli, Monteverdi, Scarlatti, Locatelli, Torelli; von keiner noch so finsteren Zeit zu verdrängende Italiener, sowie die unsterblichen Böhmen.
Ich lag und träumte und wunderte mich, woher ich wusste, was mich hier erwartet hatte. Denn niemand hatte mich instruiert. Vielmehr schien es, als wenn in den Märchen, die allen Kindern vor ihrer Trennung erzählt wurden, die Botschaft verschlüsselt lag. Anders konnt' ich es nicht erklären. Und ein schöner Schrecken fasste mich, als ich an die Geschichten dachte, die ich bisher für Mythen hielt.
Als hätte ich vorweggeträumt, wusste ich, was hinter der letzten Türe lag. Ein in Jahren ausgehobener oder auch in Eile in die Erde gebohrter Brunnen. Zwei Mann im Durchmesser, die Wände aus steinernen Ringen zusammengesetzt und im Zentrum eine Wendeltreppe in die dämmrige Tiefe. Die runden Wände aber bedeckt mit Büchern, die von jeder Stufe der Treppe aus sich bequem erreichen ließen.
Ehe ich das Magazin betrat, drückte ich den verborgenen Knopf, der die Klappe öffnete und die Röhre mit frischer Luft durchsetzte. Es war Pflicht, beim Verlassen des Verstecks, auf die oberste Stufe eine der Kerzen zu stellen, die beim Herunterbrennen ihr tödliches Oxyd in die Tiefe rieseln ließ. Würde je eins der Magazine von Unbefugten entdeckt, es würde sein Opfer fordern. Ich hörte das Rauschen, das dem Knopfdruck folgte, wusste nicht, war die Entlüftung nur Sache sich öffnender Ventile oder von einem Gebläse betrieben. Ich hatte fast eine Stunde zu warten, ehe ein Glockenschlag meldete, dass die Bibliothek frei sei von Dämpfen. Ich betrat die Schleuse und stand dann in diesem Negativ eines Turms.
Zur Not gab es Kerzen auch hier zur Beleuchtung, weiße. Und daneben die roten, giftigen, die auch Ungeziefer fernhielten, das die Bücher hätte zerstören können. Aber noch arbeitete die Versorgung des Silos, und die mittlere Säule, an der die Treppe hing, fluoreszierte in warmem Licht. Bücher, zu Tausenden in die Tiefe gestapelt, Ring für Ring, nach überlieferten Ordnungen und zunächst einem strengen Schema folgend. Oben, so erklärte die Stimme, Enzyklopädien, Nachschlagewerke, Sprachführer der alten Reiche. Wenn ich das eine oder andere Buch herausnahm, sah ich an der Anordnung der Wörter, an der Vielzahl der Bilder, die dem Geschriebenen gegenüberstanden, dass es sich um Lexika handeln müsste. Folgte man dem Schacht tiefer, war der Freiheit seines Erbauers mehr Raum gegeben. Je nach den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, hatte er Lieder lagern dürfen, Noten, Mathematik und, ganz tief unten, Märchen der frühen Epochen.
Ich machte mich an die Arbeit. Mit einem Wedel, von oben an, mussten die Bände von Staub befreit werden, was nicht viel gewesen wäre, denn die Türen schlossen hermetisch. Aber die Bücher neigten dazu, im Laufe der Jahrhunderte zu bröckeln, und auch die Dämpfe der Kerzen lagerten sich auf ihnen ab. So schritt ich die Wendeltreppe Stufe für Stufe abwärts, reinigte die Bände, sprach zu ihnen und betete darum, sie eines Tages lesen zu können oder, wenn nicht ich, dann ein Flüchtling der folgenden Generation.
Jetzt und in Sicherheit, auf der Treppe sitzend, überfiel mich die Erinnerung daran, was ich überlebt hatte. Und während ich doch den einen oder anderen Band aus den Gestellen nehmen wollte und – konnte ich ihn schon nicht entziffern – wenigstens in den Händen wiegen, mit den Fingern über den Einband streichen, der eingeprägten Titelzeile folgend, wie dieser, die mit einem Buchstaben begann, der wie ein Bogen mir erschien, auf dessen Sehne man noch keinen Pfeil gelegt, da überfiel mich mit der Erinnerung an die überstandenen Ängste, an den Verrat, den man an mir begangen hatte, eine Empfindung, die ich zu kennen mir nie gewünscht hätte und für die ich in den Arsenalen meines Gedächtnisses keinen Begriff fand; es sei denn Wut.
Nach einer Weile begann ich mich zu fassen. Ruhe hätte in mir aufsteigen können, hätte ich nicht versucht zu verstehen, was in mir geschah. Denn das erreichte ich wohl: Ich rekonstruierte aus den Stationen meiner Flucht, wie man aus den Trümmern eines Ruinenfeldes in etwa die Größe einer vergangenen Architektur erahnen konnte, das Gebäude jenes Charakters, der ich hätte sein können, der stolz und gelassen, und wenn bewegt, dann nur von Zuneigung, sein Leben überschaute, das bei mir nichts war als eine Spur von Versteck zu Versteck, von Flucht und von erschlichener Liebe, von Verrat, von charakterlosen Begleitern, von hungrigen, ihren Zielen verfallenen Furien, von Flintenweibern, die mich hetzten, die alle Schattierungen ihres Geschlechts durchspielten, Brunst und Mütterlichkeit, die Ernährerin und Lehrerin sein wollten, die die Schwester darstellten, die Freundin, und die alle doch nur in Larven die Zügellosigkeit ihrer Macht zu kleiden suchten, um für den Augenblick wenigstens jenes eine zu gewinnen, das sie nicht besaßen. Mich.
Und wie gering ich ihnen schien, das merkte ich, wenn sie mich verfolgten, wenn sie die Jagdkatzen auf mich hetzten, wenn sie den Finger um den Abzug krümmten, die Messer warfen, wenn die Bola sirrend hinter mir die Luft durchschnitt, wenn Peitschenhiebe auf meinen Rücken knallten, wenn sie schließlich, wie einmal schon, mir die Beine brachen, um mich an der Flucht zu hindern, weil ihnen ein Krüppel lieber war als ein freier Begleiter. Dann wusste ich, was es hieß, von Frauen geliebt zu werden.
Ihre Liebe genießen, das hieße auch, danach nur noch kriechen zu können. Ich musste den kleinen Platz suchen, einen Wall von Ästen und Laub um mich, dorthin die Füße nachschleifen, die ich nicht benutzen konnte, weil ich die Waden geschient hatte, mit Stöcken, die ich mit Bast an die Beine band. Denn damals hatte ich ja noch keine meiner Bibliotheken, wusste noch nichts von den künstlichen Höhlen, von schmerzstillenden Kanülen, die im Fleisch Frieden hinterließen und, wenn man wünschte, sogar den endgültigen. Es hatte Wochen gedauert, bis ich mich am Stock bewegen konnte. Ich hatte kriechend jagen müssen, und meine Beute war nicht besser als die der Schlangen. Und doch – gemessen an dem, was mich in den Loggien der Witwen erwartete, ging es mir gut. An besseren Tagen gelang es mir, ein Vogelnest zu plündern, und schlechten Gewissens schlürfte ich die Eier. Ich leckte den Tau von Blättern, und ich fand Früchte.
Diese Erfahrung, aufzuwachen und nicht mehr in jenem Bett zu liegen, das man vorher mit einer Jägerin geteilt hatte, musste ich wiederholten – nur, dass ich mir über die möglichen Folgen zu wenig Gedanken gemacht hatte.
Ich erwachte und war festgebunden auf einem Tisch. Sie stand da in kostbarem Leinen, und ihre Jägerinnen schoben einen zweiten Tisch herbei, hoben meine Beine und legten die Fersen auf die Kante des andern. Ich hatte – so gnädig war sie – gar keine Zeit zu überlegen, was nun folgen sollte, denn eine Dritte trat mit einem Prügel herbei, und brach mir mit zwei Schlägen die Knochen. Wo sie nicht gestützt waren vom Holz des Tisches, hingen die Beine jetzt durch. Da keine Gefahr mehr bestand, ich könnte leicht entfliehen, schnallten die Frauen mich los und trugen mich wieder ins Bett. Noch hatte ich keine Schmerzen. Ich betrachtete die bislang Zärtliche, die mir ans Bett gefolgt war. Da ich das Bewusstsein nicht verlor, meinte sie, ich sei zäh genug, ihren Ritt zu ertragen. Sie ließ das Leinen fallen. Dann stand Unmut in ihren Zügen, weil sie sah, dass ihre Schönheit das Leben in mir nicht weckte.
Als ich stöhnte, lächelte sie und meinte, sie wolle mir die Nachtruhe gönnen.
Sie nahm auch die Wachen mit, so dass ich nachts mich vom Bett rollte, zum Fenster hochzog und über die Brüstung fallen ließ, in der Hoffnung auf Freiheit, und auf Wasser schlug, weil sie mich besonders sicher hatte verbringen wollen. Der Fluss trug mich weiter. Ich weiß nicht, wie ich in den Wald kam, unter die Fittiche der Äste, die gnädig meine Bewusstlosigkeit beschirmten, dass die Schlangen mich mieden und die Skorpione, die Wanderameisen einen Bogen um mich machten und die Termiten mich für lebensfähig hielten. Vielleicht war es auch das Parfum der letzten Geliebten, das diese Wirkung zeitigte. Denn wirklich, ich wurde nicht belästigt. Und als ich erwachte, war alles noch da, einschließlich der Schmerzen und eines wütenden Hungers, den mit Waldbeeren und mürbem Bast zu stillen nur unzureichend gelang. Ich griff mir Käfer, die ich kannte, und vergalt ihnen ihre Abstinenz mit Verfolgung, und mit einem Stein schlug ich eine Echse vom Baum, die mich stumm beäugt hatte. Das brachte mich auf einen Gedanken. Faule Bäume gab es genug, unter ihren Rinden schliefen die Maden, köstlich wehrlose Körper, die ich schluckte, ohne die Probe auf ihren Geschmack zu machen.
Doch das alles genügte nicht, um zu jenem Initial zu kommen, dem alles Rankenwerk folgte. Es war nicht nur so, als ob sich im Laufe der Monate eine Vielzahl von Tätlichkeiten summiert hätten, die mir widerfahren waren, sondern auch, als würde das Nachdenken darüber Stimmungen zutage fördern, Ereignisse ins Bewusstsein heben, die die Einsichten akzentuierten. Und doch ergab das alles nicht Hass, sondern Furcht und Schmerzen, durchwachsen von der Hoffnung, so sei nur die oder jene, aber nicht alle. Und wenn auch die meisten mich verrieten, wenn an ihnen ich scheiterte, wenn ich jede missverstünde, eine würde es geben, die würde es mir unendlich vergelten. Sie würde verstehen. Sie hielte Wort. Sie liebte mich nicht um des Ereignisses willen, das ich in ihr anrichtete, sondern weil sie mein Leben wünschte, für mich.
So saß ich auf der Treppe und träumte. Hoffnung und Neigung mischten eine neue Enttäuschung; eine, die mir längst bekannt war: Dass ich nur die Schrift der Knaben lesen konnte, war mir lange bewusst. Was ich nun begriff; meine Schrift war künstlich und nicht vergleichbar mit der überlieferten.
So wog ich das Buch in der Hand, folgte mit dem Finger den Lettern, die tief und dunkel eingeprägt waren in das Pergament des Einbandes, mit Gold ausgelegt. Einem zarten, abblätternden Gold, das wie Staub von Schmetterlingsflügeln mir an den Fingerkuppen blieb, das ich hätte fortblasen können, wäre es nicht das einzige gewesen, was vom Buch zu mir herüberdringen konnte:
Die erste Letter, ein aufrecht stehender Bogen. Die zweite, ein Trichter, dessen Spitze nach oben wies, in der Mitte von einem Querbalken geteilt. Die dritte, das auf der Seite liegende Zickzack eines Blitzes. Die vierte, der Querschnitt eines mageren Pilzes. Und die fünfte, Poseidons zur Seite weisender Dreizack. Ein Bild, das ich nicht vergessen würde, das mich mit Empfindungen überzog. Das in mir Kraft hervorrief und Bewegung, ohne dass ich es verstand. Ich wusste ja nicht einmal, ob es der Dichter war oder sein Werk, das ich mir einprägte. Es lag mir in den Augen und sickerte ins Gehirn, so, wie der Goldstaub von den Fingerkuppen über die Kapillaren mir in die Blutbahn treten würde, um irgendwann einmal sich mit jenen Erinnerungen zu mischen, die der Titel in meinem Gedächtnis hinterließ.
Auf der letzten Stufe wurde ich doch überrascht, denn neben dem Gitter, das den Kanal verschloss, durch den die Gifte ins Freie gesogen wurden, stand eine Kiste. Als ich sie öffnete, fand ich sechzehn Flaschen und einen archaischen Korkenzieher. Bis auf eine waren alle verschlossen und die geöffnete zu einem Drittel geleert. Da es kein Skelett gab, auch keins in den Räumen darüber, schien der Genuss nicht zu schaden. Ich hielt die Flasche gegen die Säule. Sie schimmerte golden. Das Etikett in Rot und Gold sagte mir nichts. So zog ich den Korken und reinigte den Verschluss. Es roch, wie es in einer Bibliothek riechen sollte. Rauchig, ein bisschen nach Staub und ein bisschen nach jenem Geist, über den es keine Legenden gab. Ich nahm einen Schluck und musste husten, aber die Belästigung entsprach in keiner Weise dem Genuss. Und ich fragte mich, ob es das sei, worüber Talleyrand schrieb, wie es hieß, und was die Überlieferung weitertrug: Die Briten hätten ein höllisch Gesöff? Ich hätte es gerne gewusst.
Denn die Engländer waren dahin mit den Europäern, und die Magazine, soweit ich wusste, lagen im subtropischen Gürtel und sonst nirgends.
Ich machte eine neue Erfahrung. Gegen meine Erwartung, dass ein geistiges Getränk in den Kopf steigen müsste, ging dieses in die Beine. Ich hatte Mühe, die Treppe wieder hinaufzukommen. Und um mich zu stärken, nahm ich die Flasche mit und trank, bis ich oben war, noch den einen oder anderen Schluck und studierte dabei die Bücherrücken und lauschte der Musik, die von oben zu mir drang.
Ich hatte kein Wort für diese Stimmung. Ich konnte sie nicht beschreiben, nur die Empfindung, die sie in mir auslöste. Ich fühlte mich nicht alleine, und kein Mensch bei mir. Ich blieb zwei Tage, saß auf den Stufen der Wendeltreppe, betrachtete die Folianten und schmalen Bändchen, nahm die Atlanten heraus, ohne dass ich die Lage der Städte und Flüsse wiedererkannte. Ich bewahrte ihr Bild in mir, soweit es mein Gedächtnis erlaubte.
Kunstbände gab es, Bilder, die keiner Namen bedurften, aus Zeiten, in denen Männer noch abgebildet wurden. Schöne Gestalten, die gleichberechtigt mit Frauen durch ideale Landschaften schritten. Ja, da gab es Bilder, in denen es schien, als herrschten die Männer. Aber das konnte nicht sein. Vielleicht waren die Maler trunken oder die Malerinnen. Wer konnte das sagen? Der Überlieferung nach hauptsächlich Männer. Obwohl es hieß, dass in der letzten Phase des alten Regimes auch einige Frauen – als Verräterinnen vergessen – den Männern geholfen hatten, Brunnen zu graben.
Ich verkorkte den Rest in der Flasche, als ich mich zum Aufbruch entschloss, und trug sie wieder hinab. Auf der obersten Treppenstufe, entzündete ich eine rote Kerze und schloss die Tür des Magazins. Viel aufzuräumen hatte ich nicht. Ich badete, brachte meine Kleider in Ordnung, flickte, was mir notwendig erschien, schnürte sie in ein Bündel und stieg nackt in den Bach, schob mich vorsichtig gegen den Sog und zögerte lange, ehe ich die Oberfläche betrat. Niemand zu sehn. Die Ruinen schwiegen, Spuren gab es nicht zu verwischen, die Fußabdrücke trocknete der Wind. Ich zog mich an, packte mein Bündel und merkte mir die Stelle.
Die Ruinen nahmen kein Ende. Was müssen das für Städte gewesen sein, wenn schon ihre Überreste, nachdem ein bestimmtes Stadium des Verfalls erreicht war, nicht weiter zu zerfallen vermochten. Nach Tagen kam ich an einer Stelle vorbei, wo der Kunststein mir feucht erschien. Da es aber früh am Tag war, meinte ich, es sei Tau gewesen, und verzichtete auf eine Überprüfung des Ortes. Aber ich prägte auch ihn in mein Gedächtnis. Denn rätselhaft war es schon, dass ganz in der Nähe der Metropole, die sogar Straßenbahnen besaß, so leicht Plätze zu finden waren wie mein geheimer.
Am häufigsten traf man die Knaben in der Nähe der Hauptstadt. Hier schienen die Chancen am größten, eine Gönnerin zu finden. Schließlich fiel es auch leichter, im Müll nach Nahrung zu suchen als in der Wildnis, die die kleinen Städte vor sich hertrieb. Doch das waren späte Erfahrungen. Erst floh ich die Frauen, doch dann auch den Gestank der kindlichen Banden, des minderjährigen, gepeinigten Proletariats, das von Wunden und Schwären bedeckt, mit zerrissenen Kleidern, in immer engeren Kreisen die Mauern umstreifte, wie ausgehungerte Ratten um den Abfall kämpfend, der prächtig die Kloaken passierte.
Ich müsste sie bedauern, wären sie nicht auch mein Tod, wenn ich mich ihnen überließe oder versuchte, ihnen zu helfen. Jedes Wort wäre zuviel. Die Kleinen rotteten sich zusammen, als hätten sie jede Lektion vergessen, machten sich Zähne aus altem Blech und überfielen einander aus Verzweiflung und Gier angesichts der ständig wachsenden Mauern um die Anwesen der duftenden Weiber.
Einmal fand ich einen in den Ruinen allein, nicht weit von meiner ersten Bibliothek. Er hatte einen Speer in der Hüfte; vielmehr steckte der Rest des Schaftes noch im Fleisch. Als ich versuchte, mich ihm zu nähern, sprang er mich an, fauchte und schrie und hatte alles verloren, was einst ihn von den Bestien unterschied. Ich umkreiste ihn, versuchte, ihm zuzureden. Aber er schrie und hasste mich um so mehr, als ich mich entfernte, weil die letzte Hoffnung, die auf den Fangschuss, mit mir sich verlor.
Die armen Kinder. Glücklicherweise sind es nur wenige von den Schwachen, die mit den Starken entweichen. Manchmal habe ich den Verdacht, dass die Witwen schon so eine Vorauswahl treffen. Und ich hatte keine Zweifel darüber, dass dieser Entscheidung, die den Knaben in einem bestimmten Alter eine Chance zur Flucht bot, eine viel rigorosere Auslese voranging.
Hätte ich eine Waffe gehabt, ich hätte ihn getötet. Aber mit bloßen Händen konnte ich ihm die Gnade nicht erweisen. Auch hätte er versucht, mich mitzunehmen. So verfolgte mich sein Stöhnen und Schreien noch lange, und ich hoffte letztlich, dass er die Aufmerksamkeit der Katzen erregte. Lange hätten sie mit ihm nicht gespielt.
Wie ich später hörte, gab es kaum jemand, der den Zusammenschluss in den Kinderbanden überlebte. Nur die, die das von vornherein Aussichtlose versuchten, die die Wüste wählten oder den Dschungel, hatten eine bescheidene Chance. Manchmal schien es, als ließe sich die Hoffnungslosigkeit nicht steigern. Und dann fandest du wieder vor den Toren der reichen Gehöfte einen Kleinen, der noch Mädchenkleider trug, auf der Schwelle zum Erwachsenen noch, der sich zu maskieren versuchte, mit Naturfarben schminkte. Die Lippen prangend im Blau der Beeren, die Pupillen erweitert von Hunger und Kirschen, die man bei Strafe nicht essen darf, nur ins Auge träufeln, in der wahnwitzigen Hoffnung, versehentlich eingelassen zu werden, zu denen, für die sie sich in ihrem Wahn noch immer hielten.
Ich wollte nicht wissen, wie sie verkamen. Ich floh sie wie die Werwölfinnen, sei's aus Instinkt, vielleicht auch, weil der Geruch mich warnte. Denn anfangs war der Hunger nach Gesellschaft beinahe stärker als der nach Brot.
Der Sterbliche muss laufen. Deshalb übte ich meine Beine, so gut ich konnte, verbot mir die Schmerzen, steigerte mich täglich, was die Strecken betraf, aß, was ich fand, und versuchte, Kleidung und Haut zu schonen.
Eins wurde mir immer klarer: Gefunden zu werden, erwählt, gar geliebt, war auf Dauer zu gefährlich. Sobald ich es vermochte, musste ich die Lage verkehren. Ich musste die Streunenden jagen, wenn mein Gefühl es befahl; mich auf sie stürzen, von Klippen und Bäumen, sie halb erschlagen mit meinem Gewicht und fliehen, nachdem ich meine Botschaft in ihnen gelassen hatte. Dies zur Seite meines Vergnügens, doch es gab Gewichtigeres; ich brauchte ihr Wissen. Einmal hatte ich Glück und traf auf ein Paar, das nicht nur flüsterte.
Wandernde Witwen. Gesellschaft machte sie leichtsinnig. Sie gingen Arm in Arm, suchten die Pfade, anstatt sich durch den Dschungel zu schlagen. Es war leicht, ihnen zu folgen. Läufig waren sie auch, sonst wären sie nicht unterwegs. Je häufiger ich sie außerhalb ihrer Städte traf, desto mehr wuchs in mir die Ahnung, wie schändlich dort die Zustände sein müssten, dass sie ihren Neigungen nur in der Wildnis folgen zu dürfen meinten. Was mochten das für Verbote sein? Was für eine unbarmherzige Scheu? Welche Macht trieb sie in jene öffentlich geübte Keuschheit, die sie hier zu schamlosen Verfolgerinnen ihres Vergnügens machte?
Während sie lagerten und ich näher schlich, hörte ich die ersten Worte ihres Gesprächs. »Nachts kann ich nicht schlafen«, sagte die eine, »ich denk' an die Knaben in den Maschinen, an die alten Vetteln, die mit den Bechern umherziehn. Was für ein widerwärtiges Geschäft. Die Kinder sind ja noch schön und wissen nicht, was ihnen geschieht.«
»Mir ist nicht nach Knaben«, sagte die andere, »ich träume anders. Wenn die Mütter mit ihren Kanülen kommen, mit ihren Gummiblasen, mit ihrem Kauderwelsch, das ich nie lernen will, mit den frommen Sprüchen, warum es so sei, was die Reinheit bedeute und dass sie mir den Saft des Schönsten brächten. Was für ein Hohn, sie dann zu sehen, mit ihren sterilen Klammern, den Wattebäuschchen, diesem hygienischen Glück.«
Sie wollte weitersprechen, und ich merkte, dass es sie würgte. Sie beugte sich zur Seite. Ich dachte schon, sie hätte mich gehört. Einen Schritt machte sie und noch einen, hinter das Gebüsch, und dort übergab sie sich, wischte dann ihren Mund mit Blättern und wankte zurück zu ihrem Platz.
»Ich sage dir«, fuhr sie fort, »ich sage dir etwas, was ich keiner gestand, und ich weiß nicht, was sie mit mir täten, wenn sie es wüssten. Aber ich sehne mich nach dem Schmutz, nach dem Gestank eines Wilden, nach Gerüchen, die unsere Nächte nicht bringen. Und ich bin sicher, ich ertrüge es nicht, wenn es geschähe, und ich würde ihn töten, weil er das wäre, was ich mir wünschte. Ich hasse mich. Ich hasse die Weiber, aus denen ich komme. Ich hasse die Kanülen, die mich in sie verbrachten, und ich hasse meine Träume. Ich will nicht wissen, wann das Ganze begann, ob sie zu dumm sind, das zu vollenden, was sie versuchten, als sie sich von den Männern lösten. Das ist ihre Sache. Diese hochgebildeten Urgroßmütter, die sich Wissenschaften bastelten, die sie ausbeuteten zu ihren Zwecken und die ihnen eines Tages Macht gaben: Wie furchtbar muss es mit den Männern gewesen sein, wenn es jetzt so ist!«
Sie stockte und fragte:
»Du hast doch keine Rekorder?«
»Taste mich ab.«
»Verzeih' mir, mein Herz. Ich tu's. Ich traue dir nicht und keiner.«
Und sie öffnete ihr das Wams, steckte die Hand zwischen Brust und Fell und berührte sie überall, wo sie etwas tragen könnte, was ich nur aus Berichten kannte, ein Spielzeug, vergleichbar der Anlage in meiner Bibliothek, die Musik und Sprache direkt aufzeichnete.
»Es ist doch lächerlich«, sagte die zweite, »Rekorder sind unerschwinglich. Ich weiß nicht, wer sie herstellt. Wir importieren sie aus dem Norden. Der Besitz allein ist schon schmutzig. Vielleicht, dass unsere Beamtinnen zwischen ihren Brüsten oder auf ihren Hintern die Dinger tragen. Solange du nackt sein kannst, kannst du dergleichen weder verbergen, noch hast du ein Bedürfnis danach, die Einzige zu täuschen, die dir einen Moment vielleicht ein Gefühl von Zugehörigkeit schenkt.«
»Aber das Gedächtnis«, sagte die erste, »Träume. Ich könnte nie sicher sein, dass du nicht wiederholst, was ich sagte und mich verrätst?«
»Gewiss, aber auch umgekehrt könnte es so gehen. Sicher wären wir beide nicht, wären nicht unsere Wünsche stärker, als alles, was die Mütter gestatten.«
»Du bist so ruhig«, sagte die erste nach einer Weile, »hast du nicht Angst, dass man uns verfolgen könnte?«
»Weshalb? Das System ist uralt. Unsere Urahnen kannten nichts anderes als dies. Ich kann mir nicht denken, dass wir unbewacht die Städte verlassen dürften, wenn es nicht auch ein Wunsch zumindest einer Fraktion unserer Weisesten wäre, dass dies möglich sei. Vielleicht misstrauen sie ihren eigenen Auswahlkriterien, die dazu führen, dass sie diesen und jenen Jungen für würdig befinden, für seine endgültige Bestimmung. Vielleicht, dass sie sich leiten lassen von Erinnerungen, von eigenen Freuden. Und einen Wilden – soweit ich weiß – haben sie noch nie zurückgewonnen, für ihre Zwecke. Ich weiß nicht, weshalb. Vielleicht ist es die Furcht, sie könnten krank sein, verseucht von unnennbaren Infektionen. Die alten Damen haben doch mehr Angst als wir, die wir uns wenigstens vor uns selbst, zu unseren Wünschen bekennen. Auch wenn wir sie dann nicht ertragen. Ich wünsche, es wäre einer hier. Ich wünsch' es mir so, dass ich glaube, ich könnte ihm treu sein wie einer Freundin.«
Die andere widersprach: »Du bist romantisch. Diese ungewaschenen, hungrigen Wölfe. Wenn es sie gibt und es gibt sie, und es sind nicht die, die frisch den Städten entwichen, nicht die, die um Einlass betteln, die bereit sind, deine Hand zu lecken für ein Stück Kuchen, für ein Lächeln, für ein sauberes Bett, dann sind sie gefährlich. Ihre Kraft brauchst du nicht zu fürchten, du bist ja bewaffnet, und dir dürfen sie sich nicht anders als nackt nähern. Die Regel ist eisern. Es sei denn, du willst den Kitzel erhöhen. Aber sie sind heimtückisch. Mach' dir keine Illusionen. Sie haben längst gelernt, auf Stuten zu springen, Affenweibchen zu schwängern, und, wenn sie erst das Meer erreichen, sind sie endgültig verloren. Dann verfallen sie den Delphinen und verschwinden mit ihnen, wer weiß wohin? Nach Macau? Auch ich träume davon. Ich träume.«
»Aber es könnte doch sein«, sagte die andere, »dass sich in ihnen eine Sehnsucht erhalten hat, dass sie Freundschaft suchen.«
»Und dann erwachst du«, sagte die erste wieder, »und sie sind fort mit deinem Schmuck und deiner Nahrung und mit deinen Waffen, sofern du den Leichtsinn begingst, die auch abzulegen. Wenn du mit einem Mann schläfst, Kindchen, behalt dein Messer am Handgelenk. Es ist nicht umsonst festgeschmiedet. Er muss wissen, jeden Moment, den er auf dir verbringt, verbringt deine Hand auf ihm. In jedem seligen Augenblick kann sich die Schneide in seinen Rücken bohren. Das befeuert unendlich, das macht seine Liebe leicht, das lässt ihn auf jeden Seufzer achten.«
»Aber woher sollen sie denn alles wissen? Sind sie nicht wild? Sie haben als Kinder das Weite gesucht.«
»Ich weiß nicht, es geht das Gerücht, sie wüssten zu viel. Und ein anderes, sie hätten zu lesen gelernt.«
Beide schwiegen und sahen sich an.
»Hast du Hunger? Hier ist Fleisch. Ich habe Brot. Ich habe auch Wein. Ich habe sogar Medizin.«
»Ich brauch' nicht zu träumen; was ich will, steht in mir. Ich hab' keine andere Wahl; bin ich befriedigt, werde ich mich für die Befriedigung rächen. Ich werde zerstören, wonach ich mich sehnte, weil ich mir die Sehnsucht nicht verzeihe. Und weil ich die Sehnsucht jenen nicht verzeihe, die sie in mich pflanzten oder mich nicht von ihr befreiten oder die es zuließen, dass alles so wurde, wie es ist. Dafür muss einer sterben.«
»Es sind genügend gestorben. Wir würden uns doch nicht um die wenigen bringen, von denen wir etwas erhofften?«
»Wir hoffen schon längst nicht mehr, falls du das noch immer nicht weißt. Wir Streunenden sind schlimmer als Tiere. Wir verständigen uns über unsere Gelüste, das ist alles. Denn hätten wir Vernunft, dann würden wir wie die Weisen. Und die stinken in ihrem Schlamm, die wälzen sich in ihren Binden, die keuchen ihre Offenbarung, die röcheln ihre Altersweisheiten, ihre Trunkenheit, ihr Essen und ihre abscheulichen Gebete, dass du alles werden willst, alles, nur nicht alt. Hast du die Töpfchen dabei, die Salbenschalen, die Schminken? Stunden verbringen sie vor den Spiegeln, rätseln über die Macht und über den Lidstrich und vergessen, sich die Schenkel zu spülen. Unsere Professorinnen, unsere professionellen Orakel, unsere Denkerinnen, unsere Priesterinnen, unsere Mütter, Geliebten, Freundinnen. Ich hasse sie. Ich weiß nicht, wie sehr ich sie hasse. Ich weiß nicht, ob irgend jemandem das Wort anderes sagt, als mir. Aber in deinen Augen, Schwester, glimmt etwas, was mir nicht fremd ist. Würde ich weiterreden, auch du würdest wiedererkennen, was wir fliehen, um eines Tages reumütig zurückzukehren in ihre Anstalten, in den Stand der vollkommenen Witwe. Verzeih' mir, ich nahm vorhin von den Tropfen, jetzt wünscht' ich, ich wäre nüchtern.«
Während sie weitersprachen, verschwand ich im Wald. Sprach zu mir selbst:
»Wenn dich die Einsicht sticht, austauschbar zu sein, tröste dich, du bist es. Vielleicht könnten die Mächtigen uns weniger spüren lassen, dass wir Ersatz von Ersatz sind. Aber wären sie dann noch mächtig?«
Sie haben doch auch ihre Stätten der Anbetung, die Frisiertempel, die Basiliken der kosmetischen Chirurgie und schließlich die Kontakthöfe der Analytikerinnen. Diese ehrwürdigen Anstalten für Körper, Kopf und Seele stehen ja längst nicht mehr ausschließlich für das, was ihr Name verheißt. Im Frisiertempel werden nicht nur die Haare gelegt, dort wird auch das Wissen zurechtgebürstet, toupiert, onduliert, gebleicht und gestutzt, je nach Mode. Auch die anderen Institute, soweit ich hörte, hatten nur einen Zweck, die Vervollkommnung ihrer Besucherinnen. Und bunt sei das Angebot, weil die Methoden, die zur Einsicht führen, vielfältig sind wie die Schulen, auf die sie sich beriefen.
Doch der Verfeinerung nicht genug. Handelsrouten seien eingerichtet, ging das Gerücht, die von unnennbaren Horden nomadisierender Völklein jenseits der Wendekreise, von zigeunerischen Barbaren, Dinge herbeischaffen ließen, für deren Erstellung die eigene Erinnerung nicht mehr reichte.
Vielleicht auch, dass im Überschwang ein bisschen zu viel den Bach hinabgekippt wurde, dass Einiges verloren ging von dem, was einst angeblich funktionierte. Die Kanalisation ließ mehr als zu wünschen übrig.
Freilich, über der Betrachtung der Seele konnte es schon passieren, dass man die Waschungen unterließ, die der Ritus vorschrieb. Früher, hieß es, hätten die Spülungen hygienische Gründe. Doch seit dem Erfolg der Parfümerien, die Salbung und Wäsche mit duftenden Läppchen erlaubten, erschöpfte sich die Toilette in schönen Sprüngen und Biegungen des Leibes.
Aber was wussten die Sänger von der wirklichen Neigung der Frauen und was die Wilden, die in den Wäldern gelegentlich ihr Lager teilten? Was ich wusste, bestand aus Klatsch, übler Nachrede, gewiss, denn die Enttäuschung macht kein gutes Gedächtnis.
Auch ich wäre gerne der einzige geblieben, der Geliebte, wenn auch der öffentlich verleugnete, so doch der geschützte Teilhaber eines Lebens, das Entwicklung aus Dauer gewinnt. Doch wer hält schon Stallvieh die Treue? Und woher sollten sie ihre Vergleiche gewinnen, wenn nicht aus der Aufzucht von Rindern und von der Jagd? Was man in Fallen fängt, braucht man nicht zu streicheln. Fütterung und Verführung sind eins.
So dachte ich, wenn ich in den Wäldern lag und mich meiner Freiheit freute und davon träumte, wie es werden könnte unter anderen Zeichen.
Später fand ich es richtig, Knaben und Mädchen gemeinsam aufzuziehen, bis zu einem gewissen Alter. Vermutlich brauchten die jungen Frauen das zur Gewöhnung. Eine Erinnerung an ihre Herkunft und dass da ein Element gewesen, das sich von ihrem doch unterschied.
Dann reute mich meine Theorie und ich blickte hinauf in die Blätter, die die Haut mir bleich erhielten und feucht und doch so sanft, dass ich den stürmischen Wind nicht auch geliebt hätte und nicht eine Sehnsucht in mir trüge, nach dem unendlichen Meer.
Irgendwohin gehen ja die Flüsse. Es gibt Plätze in unseren Träumen, die haben feste Namen und seitdem sich die Menschheit zurückzog, auf den mittleren Gürtel des Planeten, kann man an allen Plätzen leben. Ich träumte, ich würde eines der großen Flöße besteigen, von denen ich Bilder sah. Ich müsste den Bächen folgen, den schnellen Flüssen. Irgendwann würden sie münden. An Plätzen, die einst Städte waren und jetzt Dörfer, die vom Fischfang lebten und von den Werften, in die von Zeit zu Zeit einer der Katamarane einlief, die haushoch in meiner Vorstellung lebten und in deren Doppelrümpfen es nach Malaysia angeblich nicht weit war, von dort aus ging es schnell nach Sri Lanka und dann zu den reichen Enklaven Arabiens, durch das Rote Meer, durch zerfallene Kanäle, schließlich zu den nördlichsten Punkten, ins Mittelmeer, an die Küsten der Kreter.
Der du mit dir selbst sprichst. Du murmelst im Schlaf und mutig wirst du erst im See, fern vom Ufer, wo du Gesellschaft suchst bei Schnabeltier und Kröte. Unter Wasser tobst du; geborgen im subtropischen Ultramarin, kennst du keine Gefahr, außer der natürlichen, den giftigen Fisch, die Echse, die dich eher flieht und die vegetarisch lebenden Kolosse, von denen du besser nicht weißt, wie sie aussehen.
Bin ich der erste, der sich wundert, dass wir uns nicht rächen? Sind wir weniger grausam? Gemessen daran, wie man uns jagt, müsste eigentlich eine neue Natur entstehen, die uns handeln lässt, gegen die Witwen. Und wirklich, leicht wäre es, ihre Gehöfte mit Feuer zu überziehen, ihre Städte in Brand zu setzen – es fehlte weder an Mitteln, noch an der Schlauheit, das Notwendige zu tun. Denn gemessen an ihrer Macht sind ihre Erfolge bescheiden bei der Unterwerfung der Dinge. Ganz im Gegenteil, legte man als Maßstab den Verfall der Kloaken zugrunde und die Zustände innerhalb ihrer Gemeinden, man käme zu Fragen, die sich auf ihre Fähigkeit bezögen, die simpelsten Verhältnisse einander zuzuordnen.
Sind sie klüger als Männer? Ich weiß es nicht und will keine Probe. Und eine Antwort ergäbe sich sicherlich auch nicht aus dem, was ich ihnen antun könnte. Und das ist der Punkt; etwas hält mich zurück; und wenn mich, dann auch die anderen Flüchtlinge. Was immer die Frauen tun, wir schieben die Grenzen des Erträglichen vor uns her, in der Hoffnung, sie könnten einmal von sich aus das Maß ihrer Forderungen verkleinern. Als sollte ein letztes Band, das uns mit ihnen verbindet und das zu sehen mir lange schon nicht gelingt, nicht zerrissen werden. Als könnten sie uns irgendwann einmal doch noch lieben.
Das ist es. Diese unbegründeten Phantasien, die früher noch Glaube und Hoffnung hießen, wie Phobos und Deimos umkreisen sie die Trümmer des Mars, die letzte der Kolonien, die – wie es hieß – sich selbst zerstörte. Wie hoch in die Ränge der Alten muss der Verrat gesickert sein, dass sie die tief verankerten Hitzekammern ohne Kontrolle ließen, bis der Boden sanft zu glühen begann und die Wasser kochend nach oben drängten und die Schale zerplatzte? So weit das Märchen.
Einmal ging ich nachmittags zum Fluss. Es war schwül. Ich sprang ins Wasser. Als ich wieder hochkam, glaubte ich von fern her ein Kanu herantreiben zu sehen. Ich suchte das Uferdickicht, brach mir ein Schilfrohr und atmete Stunden durch die Kanüle, bis ich im Dämmern aufzutauchen wagte und an Land zu schleichen; erschöpft schlief ich ein und erwachte erst gegen Morgen, weil ein Körper neben mir lag und ich Wärme spürte. Mein Nachbar bemerkte, dass ich erwacht war. Er stand auf. Ich öffnete die Augen und sah einen wölfischen Hund, der mit dem Schwanz wedelte. Ich streckte die Hand aus. Er knurrte und blieb. Ich drehte mich auf den Bauch und zog die Arme unter den Kopf, als wollte ich schlafen. Die Geste genügte, ihn anzulocken. Ich nannte ihn Mars.
Ich hatte von Hunden gehört, aber dieser schien von anderer Rasse. Mars war ein schweigsamer Jäger. Er bellte nie. Er sprach mit den Augen, mit der Art seines Ganges, wenn er schlich oder über die Ebene wirbelte. Vor dem Biss setzte zögerndes Knurren ein. Das war alles.
Danach konnte er noch entscheiden, ob er zuschnappen wollte, was er in meinem Falle meist ließ. So hatte ich, bis wir uns aneinander gewöhnten, nur wenig neue Narben. Plötzlich gab es genügend Fleisch. Mars teilte ungern, aber er teilte. Und es war mir über lange Zeit unerfindlich, was ich ihm geben konnte. Er war wachsamer als ich, schneller, gefährlicher und von keinem Skrupel behindert.
Einmal brachte er eine Katze. Was gut fürs Selbstbewusstsein war, aber schlecht für den Magen. Ein andermal kehrte er hinkend zurück. Ich steckte den Finger in seine Wunde und er verbiss sich in mein Bein. Er hatte eine Kugel im Fleisch. Ich überzeugte ihn, ich weiß nicht wie, mir in die Bibliothek zu folgen. Er produzierte ein neues Geräusch, winselte und kroch mit gesträubtem Fell in die Höhle. Viel Zeit hatte ich nicht. Ich brauchte die Spritze mehr als er. Danach erst suchte ich nach dem Besteck, schnitt ihm das Projektil heraus und hoffte, dass der Knochen nicht gelitten hatte. Ich stellte ihm Wasser hin und getrocknetes Fleisch, und als ich erwachte, hinkte Mars bereits durch den Raum und schnüffelte an den Türen. Ich zeigte ihm alles, einschließlich der Bücher, was kein Fehler war, denn einmal auf ihr Aroma gebracht, entdeckte ich mit seiner Hilfe in kürzester Zeit zwei weitere Verl iese.
Es war, als hätte er eine Witterung aufgenommen, die ihn die versteckten Kanäle finden ließ. Meist in der Nähe von Bächen oder in Zisternen, die ich nie vermutet hätte, in den wüstenartigen Böden der Ruinenstädte. Er fand sie sicher.
Ich nahm mir vor, Pläne zu zeichnen, bis mich eines der Bänder mahnte, keine Notiz zu machen, sondern ausschließlich meinem Gedächtnis zu vertrauen.
So begann ich, systematisch zu suchen und das halbe Dutzend war voll, ehe ich mich versah, und ich begann nachzudenken, ob es sinnvoll sei, weitere Bibliotheken zu kennen.
So hätte ich gerne noch weitergelebt. Dass ich die Bücher nicht verstand, bedrückte mich selten. Meist nur dann – was jetzt kaum mehr vorkam – wenn ich ein neues Silo betrat und die Stimmen vorauszusetzen schienen, dass man sich die Inhalte der Werke erschließen könnte. Ein Grundprogramm wurde immer mündlich vermittelt, sodass man gleich wusste, welche Arbeiten zunächst auszuführen seien.
Was Mars antrieb, meine Nähe zu suchen, begriff ich ebensowenig wie meine literarischen Schätze. Er gewann nichts, eher war er ein Schutz für mich, ein Jagdgefährte, eine zuverlässige Waffe, ein wärmender Partner nachts in den Wäldern.
Es gab Momente in den vergessenen Appartements, die waren vollkommen. Wenn das Licht sich milde in den Raum ergoss, Musikkaskaden die Zimmer füllten, Mars auf dem Fußboden lag, träumend, schlafend, von Zeit zu Zeit mit dem Schweif wedelnd und sich einer lebhaften Jagdszene erinnernd und ich über einem Buch, mich bemühend, aus den Bildern den Text zu erraten; manchmal reichte es sogar für eine verschwommene Ahnung.