Tambara - Heike M. Major - E-Book

Tambara E-Book

Heike M. Major

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Beschreibung

Tambara ist unser Traum von einer perfekten Stadt, einer Stadt, in der die Wirtschaft floriert, nachwachsende Organe und eine optimale medizinische Versorgung Gesundheit und ein langes Leben garantieren und ein breites Freizeitangebot die unterschiedlichsten Bedürfnisse der Bürger befriedigt. Doch einigen Städtern ist dies nicht genug. Sie ahnen, dass ihnen etwas vorenthalten wird, etwas, von dem sie instinktiv spüren, dass es ein Teil von ihnen ist. Sie stöbern in der Vergangenheit und entdecken ... die Natur. Doch Nachforschungen sind nicht gern gesehen in der Stadt Tambara. Informationen verschwinden aus dem »Net«, und auf eine rätselhafte Weise verschwinden auch die Bürger, die sich dafür interessieren. Auf der Suche nach ihren spurlos verschwundenen Eltern entdeckt Soul den Getreidekonzern, ein Reservat, das von drei Klonen geleitet wird. Mit ihrem Bruder Reb und den Freunden Mortues und Botoja will sie das Geheimnis der Klonbrüder erkunden. Doch Geduld ist nicht gerade Souls Stärke. Noch bevor die anderen ihre Vorbereitungen beendet haben, ist sie schon auf dem Weg ins Reservat ...

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Tambara ist unser Traum von einer perfekten Stadt, einer Stadt, in der die Wirtschaft floriert, nachwachsende Organe und eine optimale medizinische Versorgung Gesundheit und ein langes Leben garantieren und ein breites Freizeitangebot die unterschiedlichsten Bedürfnisse der Bürger befriedigt. Doch einigen Städtern ist dies nicht genug. Sie ahnen, dass ihnen etwas vorenthalten wird, etwas, von dem sie instinktiv spüren, dass es ein Teil von ihnen ist. Sie stöbern in der Vergangenheit und entdecken … die Natur. Doch Nachforschungen sind nicht gern gesehen in der Stadt Tambara. Informationen verschwinden aus dem „Net“, und auf eine rätselhafte Weise verschwinden auch die Bürger, die sich dafür interessieren.

Auf der Suche nach ihren spurlos verschwundenen Eltern entdeckt Soul den Getreidekonzern, ein Reservat, das von drei Klonen geleitet wird. Mit ihrem Bruder Reb und den Freunden Mortues und Botoja will sie das Geheimnis der Klonbrüder erkunden. Doch Geduld ist nicht gerade Souls Stärke. Noch bevor die anderen ihre Vorbereitungen beendet haben, ist sie schon auf dem Weg ins Reservat …

Heike M. Major

TAMBARA

Oh Stadt, oh meine Stadt

Engelsdorfer Verlag Leipzig 2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor

Titelbildidee: Heike M. Major Fotos: Heike M. Major

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)www.engelsdorfer-verlag.de

Meinen Freunden und Kollegen, die mich bestärkt haben, diesen Weg zu gehen

Blind

All dessen,

was Menschsein hat wachsen lassen

(frei fließendes Wasser, saubere Luft, gesunde Erde),

beraubt,

irren die Menschen nun rastlos hin und her –

in einer künstlich geschaffenen Welt

das suchend,

was sie dort nie werden finden können.

Ewige Irrlichter!

Heike M. Major

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Endnoten

1

„Soul …, welch merkwürdiger Name.“

Sorgfältig hatte der Kommissar alle Unterlagen geprüft. Sein Füller knirschte lautstark über das Papier, während er die letzten Eintragungen vornahm.

Die Luft in dem Zimmer war stickig und roch nach abgestandenem Kaffee und unbewältigter Vergangenheit. Auf der Fensterbank hinter dem Schreibtisch türmten sich unterschiedlich große Kästen aus Kunststoffglas, in denen Blüten, Blätter und Früchte ausgestorbener Pflanzenarten ihr letztes Zuhause gefunden hatten. Die fast bis zur Decke reichenden Regale des Raumes waren vollgestopft mit veralteter Software, vergilbtem Bildmaterial und noch aus organischen Rohstoffen hergestellten Aktenordnern. An der einzigen regalfreien Wand stand ein niedriger Büroschrank, auf dem sich Berge verstaubter Schnellhefter stapelten. Darüber legte eine lieblos an den Stein genagelte und mit Spitzen, Bordüren und Tuchresten bestückte Schaukastenreihe Zeugnis ab von der Eitelkeit vergangener Jahrhunderte. Alles schien durchtränkt vom undefinierbaren Geruch vielfältigster Konservierungsstoffe.

„Ihre Mutter war Sängerin?“, fragte der Kommissar und schaute die junge Frau über den Rand seiner Brille an.

„Ja.“

Souls Blick hielt dem seinen stand.

„Eine gute nehme ich an?“

„Eine sehr gute, sie liebte Musik über alles.“

„Alte Musik?“

„Auch …, ja …, sicher, schließlich hatte sie noch ihren Lehrstuhl an der Hochschule für Musikgeschichte. Die Jazzkonzerte fanden hauptsächlich als Ergänzung zu den theoretischen Seminaren statt. Aber sie hat auch Gegenwartsmusik präsentiert, überwiegend sogar …, ja, überwiegend.“

Die Neugier des Kommissars schien befriedigt. Er faltete das bearbeitete Formular in der Mitte zusammen, strich den entstandenen Falz mit einem einzigen gezielten Fingerstrich glatt und erhob sich von seinem Stuhl.

„Nun gut, damit wären die Formalitäten erledigt – mein Beileid und alles Gute.“

Mit einem kräftigen Händedruck überreichte er der Antragstellerin das Papier, geleitete sie zur Tür und überließ sie der Obhut seiner Vorzimmerdame.

Die Ausgabestelle befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Kommissariats. Sie brauchten nur den Gang zu überqueren, und Soul fragte sich gerade noch, wie man hier arbeiten konnte, Tag für Tag, in unmittelbarer Nähe mit den Toten, da standen sie schon im Übergabezimmer und ein dürrer, wortkarger Angestellter verlangte das Formular.

„253? – Ja, ich glaube, die ist heute fertig geworden.“

Das Papier in der Hand, den Blick auf die Behälter über ihm gerichtet, wanderte der Konzerndiener die Regale entlang.

„Genau, 253. Wie ich es mir gedacht habe.“

Er griff in eines der Fächer und holte einen dunkelbraunen Kunststoffwürfel heraus.

„Shamon’s group of final arrival“, stand in einem grellen Orangeton darauf geschrieben. „Professionelle Einäscherungen.“

Mit der Urne überreichte er der Trauernden den Schlüssel für die Kapelle und den Bestattungssaal.

„Hier entlang, bitte!“

Routinemäßig leitete die Sekretärin den letzten Teil der Zeremonie ein.

Soul folgte den wiegenden Hüften der Vorzimmerdame und bemühte sich vergebens, ein Gefühl von Andacht zu empfinden. Unverschämt laut knallten die hohen Absätze dieser Person auf die Kacheln des Fliesenbodens. Der Flur war merkwürdig schmal und hoch, die Wände schimmerten schmucklos und die vielen Türen zu beiden Seiten standen stumm, als wollten sie nicht verraten, dass hinter ihnen sich Hunderte von Angestellten in mühseliger Kleinarbeit ihr tägliches Brot verdienten.

Am Ende des Ganges machten sie halt.

„Den Schlüssel, bitte!“

Ehe sich Soul versah, hatte die Sekretärin ihr das Metall schon aus der Hand gezogen. Behänd schob sie es in das Schloss der Kapellentür.

„Ich werde hier warten, bis Sie sich verabschiedet haben. Ich denke, zehn Minuten werden reichen, nicht wahr?“

Soul war dankbar, für einige Minuten allein gelassen zu werden. Sie stellte die Urne auf den Altar und kniete auf einer der wenigen Bänke, die der kleine Raum beherbergte, nieder. Ein Geruch von Weihrauch und Myrrhe entströmte den Duftkammern der Klimaanlage. Dunkelrote Sitzpolster verliehen dem schlichten Mobiliar einen Anstrich von schwüler Feierlichkeit, und der flackernde Schein der künstlichen Altarkerzen setzte die sakralen Wandmalereien, die anscheinend die fehlenden Fenster ersetzen sollten, dramatisch in Szene.

Soul schloss die Augen und bettete den Kopf auf die gefalteten Hände. In ihrem Körper dröhnte und hämmerte es. Was um alles in der Welt war geschehen? Vor ein paar Tagen noch waren sie zusammen einkaufen gewesen, hatten gemeinsam gegessen, geschwatzt, gelacht. Sicher, ein wenig Angst war immer dabei gewesen, aber ihren Alltag hatten sie doch so normal wie nur eben möglich gelebt. Die paar Male, die sie auf eigene Faust in der Vergangenheit gestöbert hatten, daran konnte doch niemand Anstoß genommen haben.

Ein Gebet musste ihr einfallen.

„Wir alle in dir …, und ewig währt dein Licht …“

Wut, Trauer, Hilflosigkeit drängten sich zwischen die Zeilen, ein Anflug von Übelkeit mischte sich darunter. Nicht im Traum hätte sie sich vorstellen können, einmal zu den Betroffenen zu gehören. Soul hob den Kopf und betrachtete hasserfüllt den dunkelbraunen Kasten auf dem Altar. Selbstbewusst erstrahlte die orangefarbene Aufschrift im Schein der künstlichen Kerzen.

Es klopfte.

„Ja? – Ja, einen Moment bitte, ich bin gleich fertig.“

Soul stand auf, holte die Urne und verließ den Raum. Gehorsam folgte sie der Dame, die hinter ihr die Kapellentür wieder verschlossen hatte, in den Bestattungssaal.

„253, sehen Sie, hier! Ein schöner Platz, Südseite – fast den ganzen Tag über scheint die Sonne auf die Verstorbenen.“

Während sie sprach, öffnete die Sekretärin eine der Glastüren des Grabschrankes, der ähnlich wie die Regale in der Ausgabestelle die ganze Wandseite einnahm und eine Vielzahl gleich großer Fächer beherbergte, die mit je einem orange-braunen Würfel gefüllt waren. Soul musste sich ein wenig auf die Zehenspitzen stellen, um den Kasten in der Mitte des zugewiesenen Schreines zu platzieren. Sie faltete die Hände, murmelte ein weiteres kurzes Gebet und beendete es mit einem hastig dahin geworfenen Kreuzzeichen.

„Ich werde dir nie verzeihen, dass du bei der Bestattung unserer Mutter nicht dabei gewesen bist.“

Souls Stimme klang vorwurfsvoll, als ihr Bruder, der auf dem Parkplatz vor dem Gebäude gewartet hatte, den Wagen startete.

„Mutter?“

Der junge Mann verzog das Gesicht.

„Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass das unsere Mutter gewesen ist.“

2

Reb räusperte sich.

„Meine Damen und Herren, im Namen der Miller’s Group – Contemporary Systems of Media Research möchte ich Sie heute zu einem ganz besonderen Ereignis willkommen heißen. Wie Sie alle wissen, ist unser Institut bekannt für die hervorragende Arbeit, die es in den letzten Jahren auf dem Gebiet der Medienforschung geleistet hat. Die innovativen Visualisierungstechniken unseres Konzerns haben einen beispiellosen Siegeszug rund um den Globus angetreten und Maßstäbe gesetzt, an denen Firmen auf der ganzen Welt gemessen werden. Umso erstaunlicher ist es, dass wir Ihnen heute eine Ausstellung präsentieren, die sich weder mit unserer glorreichen Gegenwart beschäftigt, noch Ihnen, wie Sie es bisher von uns gewohnt waren, ein weiteres zukunftsweisendes Projekt vorstellt, sondern sich ausschließlich – und ich betone ‚ausschließlich’ – mit der Vergangenheit beschäftigt.“

Ein kaum hörbares Raunen ging durch den Saal.

„Diese Ausstellung, meine Damen und Herren, wird Ihnen nicht nur einen Einblick in die Anfänge des Medienzeitalters gewähren, sondern Sie auch teilhaben lassen an gentechnischen Entwicklungen und medizinischen Praktiken längst vergangener Epochen. Der Titel ‚Medizin im einundzwanzigsten Jahrhundert – eine Fotoausstellung’ sagt es schon: Die Bilder, die Sie heute und im Laufe der folgenden Wochen bei uns bestaunen können, sind tatsächlich noch echte Fotos. Fotos – lassen Sie es mich für diejenigen unter Ihnen, die mit der Geschichte unseres Instituts nicht so vertraut sind, kurz erklären – waren ursprünglich Bilder, die mit einem kleinen, speziell für diesen Zweck entwickelten Kasten, dem sogenannten Fotoapparat, auf Zelluloidstreifen gebannt und anschließend mithilfe von Licht und drei chemischen Flüssigkeiten – Entwickler, Stoppbad und Fixierer – im Labor auf Papier übertragen wurden. Man sprach damals allerorts vom Fotografieren, einer von privaten Interessenten wie öffentlichen Institutionen gleichermaßen genutzten Visualisierungspraktik.“

Die Gesichter der Zuschauer zeigten einen Ausdruck ungläubigen Erstaunens. Einige Leute klatschten.

„Natürlich handelt es sich bei den in unseren Räumen ausgestellten Bildern immer nur um exzellente Nachbildungen. Die noch auf organischem Papier erstellten Originale sind nun doch zu wertvoll, als dass man sie hier einfach an die Wände hätte hängen können. Sie schlummern friedlich – wie sollte es anders sein – in den Tresoren unseres Instituts. Falls der eine oder andere also mit dem Gedanken spielen sollte, die Aufnahmen irgendwo zu Geld machen zu wollen …, es lohnt sich nicht.“

Verhaltenes Gelächter bestätigte Reb, dass er den richtigen Ton getroffen hatte.

„Aber, verehrte Gäste, lassen Sie mich noch ein wenig ausholen. Warum ausgerechnet eine Ausstellung über das einundzwanzigste Jahrhundert? Den Fachleuten unter Ihnen ist sicherlich bekannt, dass dieses Zeitalter aus heutiger Sicht als Vorstufe unserer modernen Medizin betrachtet werden kann. Das erste Mal in der Geschichte der Menschheit hatte es eine Gruppe von Wissenschaftlern gewagt, in den natürlichen Ablauf der Evolution einzugreifen und durch das gezielte Zusammenführen einer Kernspenderzelle und einer chromosomenfreien Eizelle ein neues Lebewesen außerhalb des Körpers quasi durch Menschenhand zu erschaffen. Die Versuche, durch laborgesteuerte Befruchtung genetisch identische Kopien ein und desselben Lebewesens herzustellen – sie zu klonen, wie man in jenen Tagen zu sagen pflegte –, scheiterten zwar lange Zeit immer wieder, doch die Tür zum Bio-Design war aufgetan und von diesem Zeitpunkt an war es, gemessen an der Geschichte der Menschheit, nur ein kleiner Schritt, bis es den Forschern gelang, sich das Erbgut auch unserer Spezies untertan zu machen. Und nun frage ich Sie, verehrtes Publikum, um welches Lebewesen handelte es sich bei diesem ersten, schon im zwanzigsten Jahrhundert der Öffentlichkeit vorgestellten Klon?“

Auffordernd ließ Reb den Blick über die Köpfe der Zuhörer wandern.

„Na, in der Schule nicht aufgepasst?“

Einige Gäste lachten verlegen.

„Ich gebe Ihnen noch einen Tipp: Die für dieses Experiment verwendete biologische Einheit diente dem Menschen lange Zeit als Haustier. Sie kommen nicht drauf? – Nein? – Ich werde es Ihnen verraten: Es war das uns allen bekannte Schaf Dolly.“

„Ach so, ja, natürlich!“

Jetzt waren die Besucher wieder im Bilde.

„Ja, meine Damen und Herren, auch dieses berühmt gewordene Schaf werden Sie in unserer Ausstellung zu sehen bekommen. Außerdem präsentieren wir Ihnen eine Reihe von historischen Zeitungsartikeln, damit sie selbst nachlesen können, welch kontroverse Diskussion dieser Eingriff in der damaligen Öffentlichkeit auslöste. Des Weiteren werden Sie Fotos zu Gesicht bekommen – hach, allein das Wort ‚Foto‘ jagt mir einen Schauer über den Rücken –, Fotos, die die Chirurgen jener Zeit bei ihrer Arbeit zeigen. Und wenn ich sage ‚bei ihrer Arbeit‘, dann meine ich auch ‚bei ihrer Arbeit‘, denn wie Sie wissen, wurde zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts noch mit der Hand operiert.“

Spontaner Beifall zwang Reb zu einer kleinen Unterbrechung.

„Ja, Sie werden in die uns heute mehr als archaisch anmutenden Operationssäle eingeladen, um den Meistern des Chirurgenfaches bei der Ausübung ihrer schier unglaublichen Kunst über die Schulter zu schauen.

So, meine Damen und Herren, nun möchte ich Sie nicht länger auf die Folter spannen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß – oder sollte ich lieber sagen ‚angenehmen Grusel’ – und empfehle Ihnen zum Schluss noch unseren Ausstellungsführer, den Sie für 5 Tambas am Eingang erwerben können. Sollten Sie weitere Informationen benötigen, steht Ihnen meine Schwester mit Rat und Tat zur Seite, die übrigens nicht nur an dieser Ausstellung, sondern auch an der Vorbereitung des heute Abend stattfindenden Jazzkonzertes mitgewirkt hat – ein weiterer Leckerbissen unseres Programms.“

Reb streckte seinen Arm aus und empfing Soul, die bereits das Podium erklomm, am Rednerpult. Die Besucher erhoben sich von ihren Plätzen und spendeten den Geschwistern tosenden Beifall.

Draußen öffnete sich das riesige Eingangstor des Konzerns. Die Menschenmasse, die bisher ehrfürchtig auf dem Vorplatz gewartet hatte, drängte nun mit verhaltener Neugier in das Gebäude hinein. Viele der Gäste kauften zunächst einen Ausstellungsführer. Mit diesem praktischen Kopfreifen war es möglich, sich durch die Räumlichkeiten führen lassen, ohne die Kommunikation mit einer eventuellen Begleitperson unterbrechen zu müssen. Während die linke Hälfte des Reifens keinerlei technische Hilfsmittel beherbergte und nur dem festen Sitz des Gerätes diente, war die rechte Seite mit einem Ohrhörer und zwei halbkreisförmigen Schienen ausgestattet, von denen die erste in respektvollem Abstand vom Augapfel einen kleinen Bildschirm zur Betrachtung erläuternder Kurzfilme trug, die zweite unterhalb des Kinns in einem winzigen Mikrofon mündete, mit dessen Hilfe der Besucher die passenden Ausschnitte anfordern oder dem Gerät Fragen zum Thema stellen konnte.

Reb hatte sich vorher gründlich überlegt, wie er die Fotos präsentieren wollte. Als gelernter Visualist, ausgebildet in sämtlichen Bereichen der Medienpraxis, war er Fachmann auf diesem Gebiet. Er wollte die Zuschauer behutsam an das Thema heranführen. Sie sollten die Bilder unvoreingenommen auf sich wirken lassen und erst allmählich begreifen, welch schwere Kost hier für sie aufbereitet worden war. So hatte er sich für ein recht kleines Präsentationsmaß entschieden und nur einige wenige Aufnahmen mannshoch vergrößern lassen. Die meisten Fotos waren, ähnlich einer Gemäldeausstellung im alten Stil, in reflexlosem Kunstglas eingelassen und in Augenhöhe des Betrachters am Mauerwerk fixiert worden. Das strukturlose Weiß der umgebenden Wände unterstützte den wissenschaftlichen Charakter der Ausstellung und vermittelte eine Atmosphäre von unumstößlicher Sachlichkeit.

Für den ersten Raum hatte Reb Themen ausgewählt, die den meisten Besuchern noch aus ihrer Schulzeit her vertraut waren und ihnen deshalb eine gewisse Sicherheit vermitteln würden: Aufnahmen aus dem Labor, die die ersten Befruchtungsversuche außerhalb des menschlichen Körpers zeigten, Vergrößerungen von historischen Zeitungsartikeln mit Informationen, Kommentaren und kontroversen Diskussionen, grafische Darstellungen wissenschaftlicher Versuchsreihen zur Entwicklung gentechnisch optimierter Nahrungsmittel und Fotografien geschichtlich bedeutender, systematisch gezüchteter Klonreihen, angefangen bei den ersten Tierversuchen, über die späteren Experimente am Menschen, bis hin zu den wenigen erwachsen gewordenen Klonen des Homo sapiens.

Besonderen Respekt zollte man in jenen Tagen einer Gruppe von hochintelligenten geklonten Persönlichkeiten, die maßgeblich an der Entwicklung und Züchtung von Labororganen beteiligt gewesen waren. Und hier kam schon der erste kritische Punkt. Reb hatte nämlich nicht nur Material über die Forschungsergebnisse zusammengestellt, sondern auch gewagt, die Entwicklung dieser wissenschaftlich phänomenalen Leistung mithilfe von Tagebuchnotizen eines ihrer Mitglieder zu dokumentieren.

Geduldige Leser konnten so zum Beispiel erfahren, dass viele Wissenschaftler ihre Bestimmung als Klon ihr Leben lang als unwürdig, wenn nicht gar demütigend empfunden und sich der Forschergruppe nur angeschlossen hatten, um ihren Nachkommen ein eben solches – gesellschaftlich isoliertes – Dasein, das vornehmlich durch die vergleichsweise bescheidenen Vorgaben seines jeweiligen Erfindergeistes geprägt worden war, zu ersparen. Selbst die Klügsten unter diesen im Computer entworfenen Menschen hatten nie ein Leben in Freiheit führen können. Von Geburt an gezwungen, ihren vorprogrammierten Neigungen nachzugehen, war ihnen die Erforschung ihrer eigenen Person verwehrt geblieben. Hatte ein Klon doch einmal eine Begabung außerhalb des geplanten Programms entwickelt – wahrscheinlich ein Resultat des nie ganz risikofreien Bausteins „Kreativität“ –, fristete sein Talent meist ein unverdientes Schattendasein. Da die Entwicklung dieser Menschenart in jedem Einzelfall penibel dokumentiert und von jedermann in der Fachliteratur nachzulesen war, begegnete man den geklonten Persönlichkeiten fast immer mit Vorurteilen. Die Mitbürger brachten ihnen zwar uneingeschränkte Bewunderung entgegen, zeigten aber an privaten, nicht wissenschaftlich fundierten Neigungen wenig Interesse.

Natürlich war jeder Einwohner der Stadt Tambara irgendwann einmal in seinem Leben mit diesem unerfreulichen Aspekt der menschlichen Forschungsgeschichte in Berührung gekommen, doch sprach man nicht gern über die Irrwege vergangener Jahrhunderte. Lieber betonte man, dass die Erzeugung von Klonmenschen schlichtweg zu langwierig und damit wirtschaftlich unrentabel gewesen war, während die Züchtung von nachwachsenden Organen im Labor sich recht schnell zu einem profitablen Unternehmen entwickelt hatte und auch für den Normalbürger nicht zu übersehende Vorteile mit sich brachte.

Reb beobachtete die Gäste, wie sie sich noch ein wenig zögernd von Bild zu Bild bewegten und offensichtlich froh waren, mit den Inhalten des Eingangsbereiches etwas anfangen zu können. Die Tagebuchnotizen wurden registriert, doch nach einem kurzen Blick auf das vergrößerte Werk wanderten die Besucher weiter. Hatten sie die Bedeutung der Texte nicht erkannt? Oder trauten sie sich noch nicht an das Thema heran?

Neben dem Durchgang zum zweiten Raum prangte ein zwei Meter großes Bild des Schafes Dolly. Eine Mutter stand mit ihrem knapp fünfjährigen Sohn davor und versuchte ihrem Kind die Bedeutung des Wortes „Schaf“ zu erklären.

„D…, D…, Do…, Dol…, Dolllllly“, juchzte der Kleine triumphierend, während er die Schrift neben dem Foto entzifferte.

Die Mutter wirkte merkwürdig unzufrieden.

Als Reb an ihr vorüberging, hörte er sie sprechen.

„Das ist kein Dolly, das ist ein Schaf, hörst du? Ein Schaf!“

Ihr Sohn blickte sie ungläubig an.

„Ein Schaf ist ein Tier“, erklärte die Frau weiter. „Was ein Tier ist, weißt du doch, oder?“

Der Junge nickte verunsichert.

„Siehst du. Dieses Tier ist ein Schaf. Und das Schaf hat einen Namen. Der Name dieses Schafes ist Dolly.“

Vorsichtshalber hielt der Kleine den Mund. Er wollte seine Mutter nicht noch mehr erzürnen. Die Frau warf einen forschenden Blick durch den Türbogen zu den nachfolgenden Fotografien hinüber und entschied sich, ihrem Sohn die weiteren Ausstellungsräumlichkeiten vorzuenthalten. Mit ihrem verdutzten Sprössling an der Hand spazierte sie zum Eingang zurück.

Im nächsten Raum kämpfte eine junge Dame mit einem Anflug von Übelkeit. Sie hatte sich in ein Foto vertieft, auf dem eine Organtransplantation gezeigt wurde. Viele vermummte Gestalten in grünen Kitteln beugten sich über einen Patienten, von dem nur die bloß gelegte Operationsstelle zu sehen war. Ein Chirurg tauchte gerade sein Skalpell in die Wunde.

Der Freund der Frau suchte nach beruhigenden Worten.

„Bei der Operation deines Vaters warst du doch auch dabei. Damals hat dich nur eine Glaswand vom OP-Tisch getrennt.“

„Ja, schon“, erklärte die Frau, „aber da operierten Roboter. Hier sind es Menschen.“

Ihre Magengegend mit beiden Armen umschlingend, schielte sie, den Körper halb abgewandt, zu den Personen auf dem Bild hinüber.

„Wenn diese Hände nun anfangen zu zittern?“

„Du machst dir zu viele Gedanken“, tröstete der Freund. „Die Chirurgen von damals verstanden ihr Handwerk. Außerdem handelt es sich um ein Stück Geschichte. Der Patient auf dem Foto ist doch längst …“

Bestürzt hielt er inne und schaute seine Freundin an.

„Eben“, konterte diese, drehte sich um und spazierte davon.

Der junge Mann folgte ihr seufzend.

Reb setzte seinen Ausstellungsführer auf und vertiefte sich selbst noch einmal in das Bild von der Operation.

„Stichwort ‚Organspende’“, sprach er in das Mikrofon.

Auf dem Bildschirm erschien eine Filmszene, die zwei Chirurgen bei einer Herztransplantation zeigte. Eine angenehme weibliche Stimme sprach dazu: „Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts standen noch keine nachwachsenden Organe aus dem Labor zur Verfügung. Ein Patient mit einem kranken Herzen zum Beispiel musste warten, bis ein Mitglied der Gesellschaft starb, um sich das Organ dieses Menschen einpflanzen zu lassen. Es gab regelrechte Wartelisten. Der Eingriff war mit etlichen Risiken verbunden. Nicht alle Patienten wachten aus der Narkose wieder auf. Gelang die Operation, war der Patient noch lange nicht gerettet. Manchmal stieß der Körper das neue Organ ab …“

Reb verzog das Gesicht und klappte den Bildschirm hoch.

Nach und nach füllte sich der Raum. Mit zunehmender Zuschauerdichte schien auch das Interesse an den Fotos zu wachsen. Vor dem Bild eines Klonkindes, das gerade sechs Kerzen auf einem Geburtstagskuchen ausblies, stand ein Mann Mitte vierzig und befragte sein Mikrofon.

„In welchem Alter erfuhr ein Klonkind von seinen Zieheltern, dass es nicht auf natürlichem Wege geboren worden war?“

„Nicht geboren – gezeugt“, mischte sich Reb ein.

„Wie bitte?“

Der Besucher blickte sich nach dem Störenfried um.

„Entschuldigung, ich wollte nur helfen. Auf den Begriff ‚geboren’ reagiert der Computer nicht. Benutzen Sie ‚gezeugt’.“

„Ach so, ja danke.“

Der Mann wiederholte die Frage. An seinem Gesicht konnte Reb ablesen, dass er die richtige Stelle gefunden hatte.

Im selben Raum hing auch die Fotografie eines Hochzeitspaares. Zwei Mitglieder der Wissenschaftsgruppe hatten geheiratet. Reb horchte auf die Fragen, die die Zuschauer im Glauben sicherer Anonymität ihrem Ausstellungsführer stellten.

„Wie viele Klonmenschen ließen ihre eigenen Kinder klonen?“

„Wie viel Prozent bevorzugten den natürlichen Zeugungsvorgang?“

„Gab es Klone, die normale Menschen heirateten, oder beschränkte sich diese Spezies bei der Partnerwahl auf ihresgleichen?“

„Na, wie läuft’s?“

Aufgeschreckt fuhr Reb herum.

„Ach, du bist’s.“

„Alles in Ordnung?“, fragte Soul besorgt.

„Aber natürlich.“

„Bist du sicher?“

Reb ergriff den Arm seiner Schwester und führte sie behutsam zum Fenster.

„Schau mal, Schwesterchen, wir halten uns doch nur an das, was wir gelernt haben. Wir zeigen den Besuchern, dass es ihnen, dank der Bemühungen unserer Gesellschaft, immer und überall das Bessere durch das Beste zu ersetzen, heute so gut geht wie nie zuvor. Sollten einige Bürger unsere Ausstellung zu eigenen Interpretationen nutzen, die sich unter Umständen als nicht ganz staatskonform erweisen …, was können wir dafür?“

Souls Blick fiel auf das riesige Eingangstor des Medienkonzerns. Kraftstrotzend setzte sich die leuchtend weiße Neonschrift von dem blauen Gebäude ab. Ihr Licht überflutete den ganzen Vorplatz und vermittelte dem Betrachter ein Gefühl von Ehrfurcht gebietender Unumstößlichkeit. Über dem Eingang stand der Leitsatz der Stadt Tambara: „Das Beste bleibt.“

3

Sie hatten den Präsidenten der Christie’s Group of Music-Design überreden können, die Aufführung des Jazzkonzerts nicht wie sonst üblich im Musikkonzern, sondern ausnahmsweise im Zentralraum des Mediencenters stattfinden zu lassen. Die in fast allen Firmen im Gebäudemittelpunkt errichteten Zentralräume wurden hauptsächlich für Werbezwecke in eigener Sache genutzt. Hier präsentierte jeder Konzern seine Neuerscheinungen, organisierte Tagungen zu aktuellen Produktentwicklungen oder Ausstellungen zur Firmengeschichte und Managementphilosophie. Die Weltkonzerne für Mode, Medien, Medizin, Musik, Verkehrsmittel und andere Notwendigkeiten des täglichen Lebens standen in starker Konkurrenz zueinander, und so ließ sich auch der Präsident des Musikkonzerns nur ungern zu einem Verzicht auf solch einen Leckerbissen überreden. Doch als alter Freund der Familie gab er schließlich Rebs Drängen nach, zumal er einsah, dass die ausgesuchten Darbietungen zum zeitlichen Rahmen der Fotoausstellung passten und diese wunderbar ergänzen würden. Reb hatte, hartnäckig wie er war, ein paar Schwarz-Weiß-Fotos berühmter Jazzmusiker auftreiben können, die nun die Wände des zum Konzertsaal umfunktionierten Zentralraumes schmückten.

Im Innenbereich des dreigeteilten Gewölbes hatten sie eine viereckige, von allen Seiten durch Treppenstufen erreichbare Bühne aufgebaut und mit Reihen aus schwarzledernen Regiestühlen umgeben. Das Orchester spielte auf einer drehbaren Plattform, die dem Publikum in regelmäßigen Abständen eine neue Perspektive präsentierte. Die gedämpfte Beleuchtung verlieh dem vornehmlich in warmen Schwarztönen gehaltenen Ambiente ein extravagantes Flair und bildete den idealen Hintergrund für einen musikalischen Abend von außergewöhnlicher Exklusivität.

Der Veranstaltungssaal war an seinen Außenseiten durch eine Vielzahl von Durchgängen in Form arkadenartiger Rundbögen mit einem breiten Gang verbunden, der um den gesamten Innenbereich herumführte. Durch seine hellen Wände wirkte dieser zweite Teil des Zentralraumes besonders geräumig. Auf blauschwarzem Kunststoffmarmor standen, gruppiert um niedrige Acrylglastische, Sitzgruppen aus weißem Leder, großzügig geschnittene Zwei- und Dreisitzer und bequeme Einzelsessel, denen in unregelmäßiger Folge eine Reihe künstlicher Phönixpalmen zur Seite gestellt worden war. Wer hier saß, suchte ein stilles Musikerlebnis, wollte die Show ohne großen Rummel genießen oder sich bei angenehmer Musik ein wenig unterhalten. Auch der Mittelraum wurde an seiner Außenseite von Rundbögen begrenzt. Sie waren etwas kleiner als ihre Pendants an der gegenüberliegenden Seite und spärlicher an der Zahl, sodass sie noch genügend Wand übrig ließen, an die Reb seine Jazzfotos hatte hängen können.

Der dritte Bereich bestand aus einem weiteren Rundgang mit großen ausladenden Tischen für bunt gemischte Gesellschaften, etlichen Buffets und einigen Bars. In diesen Hallen konnte man nach Herzenslust dinieren, diskutieren oder ausgelassen feiern und durfte auch ein wenig laut werden, ohne Angst haben zu müssen, die Vorführung zu stören. Neuartige Materialien und eine ausgeklügelte Bauweise sorgten dafür, dass die Musik in unterschiedlicher Lautstärke in allen drei Gewölben des Zentralraumes zu hören war, die Stimmen und Hintergrundgeräusche aus den Rundgängen jedoch nur in unbedeutendem Maße in den Veranstaltungssaal eindringen konnten.

Soul hatte sich einen Imbiss geholt und sich in einem der vielen weißen Sofas im Mittelraum niedergelassen. Hier war es um diese Zeit noch am ruhigsten. Nur wenige Besucher saßen in den Sitzgruppen, plauderten leise oder gaben sich entspannt und teils mit geschlossenen Augen dem Musikgenuss hin.

Soul platzierte den Teller mit dem Imbiss auf ihren Knien und versuchte, sich auf die Mahlzeit zu konzentrieren. Doch während sie das Fleisch mit dem Messer zerteilte, wanderten ihre Gedanken immer wieder zurück zu den Ereignissen der letzten Tage. Warum nur war sie nach dem Tod der Mutter nicht sofort informiert worden? Ein Autounfall, hatte es geheißen, die Fahrerin wäre noch an der Unfallstelle gestorben. Doch an jenem Tag war ihre Mutter mit zwei Freundinnen im hauseigenen Fitnesscenter verabredet gewesen. Wie passte da eine plötzliche Autofahrt ins Bild? Der Leichnam wäre völlig zerstückelt gewesen – kein schöner Anblick für eine Tochter von gerade einmal fünfundzwanzig Jahren.

„Einäscherung aus ästhetisch-psychologischen Gründen“, hatte auf dem Formular gestanden, „ohne vorherige In-Kenntnis-Setzung der Angehörigen.“

Nur wenige Monate zuvor war Souls Vater zu einer Außenmission in ein Reservat berufen worden und von dieser Reise nicht wieder zurückgekehrt. In einem maschinell erstellten Abschiedsbrief hatte er Frau und Kinder um Verzeihung gebeten, weil er ein neues Leben beginnen wollte fernab beruflicher Verpflichtungen und familiärer Bindungen. Die Geschwister waren fassungslos gewesen. Ihre Familie hatten sie immer als eingeschworene Gemeinschaft erlebt, in der sich jeder auf den anderen verlassen konnte. Das Wohl der Kinder ging ihren Eltern über alles. Wie lange zum Beispiel hatte ihr Vater um eine Verkürzung der nachmittäglichen Hortstunden kämpfen müssen. In einer hoch technisierten Gesellschaft wie der Stadt Tambara, in der sowohl das Berufsleben als auch die arbeitsfreie Zeit nach einem bis ins Detail geplanten und größtmögliche Effizienz versprechenden Programm vonstattenging, kam es höchst selten vor, dass Eltern ihre Kinder vor Ablauf des Tages zu sich nach Hause holten, nur um mit ihnen noch ein paar Stunden gemeinsam zu verbringen. Institutsleiter, Vorgesetzte, Pädagogen, ja selbst enge Freunde hatten ihm zu bedenken gegeben, wie viele wertvolle Erfahrungen seinen Nachkommen vorenthalten blieben, wenn er die vom Erziehungsinstitut von Tambara empfohlene Betreuungszeit für Säuglinge und Kleinkinder unterschritt und Reb und Soul einen Teil des abwechslungsreichen Freizeitangebotes verpassten. Doch der Vater hatte seine Forderungen durchgesetzt und auch, trotz seiner anspruchsvollen Arbeit als Arzt, immer wieder die Zeit gefunden, mit der Familie etwas zusammen zu unternehmen. Und dieser Mann sollte seine Kinder im Stich lassen? Von einem Tag auf den anderen? Ohne Abschied, ohne ein offenes Wort? Niemals!

Soul verstärkte den Druck unter ihrer Klinge und zerschnitt das Fleisch in unzählige kleine Stücke. Nach dem Eintreffen dieses schrecklichen Briefes war ihre Mutter von einer Behörde zur anderen gelaufen, um eine Besuchserlaubnis für das Reservat zu beantragen. Sie hatte gehofft, an Ort und Stelle einen Anhaltspunkt zu finden, der vielleicht zu einer Spur ihres Ehegatten hätte führen können. Doch eine simple Familienangelegenheit war kein ausreichender Grund für einen Reservatbesuch.

Soul griff nach dem Teller, der durch eine unachtsame Bewegung ins Wanken geraten war, und setzte ihn entnervt auf der Tischplatte ab. Dabei traf ihr Blick auf den eines elegant gekleideten, jungen Herrn, der ihr gegenüber an einem der Durchgänge stand und sie allem Anschein nach schon geraume Zeit beobachtet hatte. Während er, die linke Hand in der Hosentasche, lässig an der Einfassung des Rundbogens lehnte, hob er das Glas in seiner Rechten zum Gruß. Ein angedeutetes Lächeln verriet ihr, dass sie gemeint war.

„Ach, hier bist du!“

Reb hatte seine Schwester entdeckt und sich neben sie auf das Sofa geworfen. Mit einem Druck auf den Serviceknopf in der Armlehne forderte er die Bedienung an. Eine Kellnerin im weißen Kittel räumte den Teller ab und wischte mit einem ebenso weißen Reinigungstuch über die Glasplatte des Tisches. Soul wagte einen erneuten Blick zum Rundbogen hinüber, aber der Fremde war verschwunden.

„Warum mischt du dich nicht unters Volk?“, fragte Reb. „Ein wenig Abwechslung würde dir guttun.“

„Ach, gönn mir einfach ein wenig Ruhe. Es läuft doch alles wie geplant. Das Thema der Ausstellung scheint auf Interesse zu stoßen, und wenn wir Glück haben, beschäftigen sich wieder einige Bürger mehr mit unserer nebulösen Vergangenheit.“

Erschrocken über den fast provozierenden Unterton, mit dem sie die letzten Worte ausgesprochen hatte, stockte Soul und sandte ein paar unsichere Blicke in die Umgebung hinaus. Mit gedämpfter Stimme sprach sie weiter.

„Was wohl die Presse über unsere Ausstellung schreiben wird?“

„Schwesterchen, du machst dir zu viele Sorgen. Vergiss nicht: Die Presse – das sind wir.“

Soul runzelte die Stirn.

„Sind deine Kollegen verlässlich?“

„Die, die den Artikel schreiben, schon. Und da die Ausstellung ein Kind des Medienkonzerns ist – wenn auch gefärbt durch unsere persönliche Sichtweise –, wird schon niemand wagen, sie zu zerreißen.“

Die beiden schwiegen, als ein Angestelltenpaar des Sicherheitsdienstes an ihnen vorbeischlenderte.

„Tambara-Hallo“, grüßte der Mann, „alles in Ordnung?“

„Aber sicher doch“, erwiderte Reb souverän, „und bei euch?“

„Wie immer“, antwortete die Frau freundlich und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Menge zu.

Im Veranstaltungssaal verstummte das Orchester. Durch die Rundbögen hindurch sah Soul, wie sich der Dirigent an das Publikum wandte.

„Meine Damen und Herren“, sprach er in das Mikrofon, „im Rahmen unseres heutigen Konzertes haben wir für Sie einen ganz besonderen Leckerbissen vorbereitet. Wie manche von Ihnen vielleicht wissen, wurde der Jazz in damaligen Zeiten nicht von allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen verstanden und geliebt. Den Künstler aber, den wir Ihnen nun präsentieren, kannte man auf der ganzen Welt. Seine sympathische Stimme war in jenen Tagen ebenso populär wie sein Trompetenspiel. Ladys and Gentlemen, begrüßen Sie mit mir“, er hob den Arm und deutete zum Bühnenaufgang hinüber, „Louis Armstrong – the legendary Satchmo!“

Das Publikum klatschte höflich, als ein älterer Farbiger die Bühne erklomm. Die Lichter erloschen, und während das Orchester in der Dunkelheit nur noch schemenhaft zu erkennen war, suchte ein einziger greller Scheinwerfer das winzige Stückchen Bühne, auf dem sich der Sänger postiert hatte. Als der Spot sein Gesicht erhellte, ging ein Raunen durch den Saal.

„Louis Armstrong …, Armstrong, Louis …“, flüsterten die Gäste in ihr Technikarmband und betrachteten erstaunt das Gesicht, das sich auf dem kleinen Bildschirm an ihrem Handgelenk formte.

Anerkennend stellten sie fest, dass Visagisten, Kostümbilder und Beleuchter hier wieder einmal ganze Arbeit geleistet hatten, denn der Mann auf der Bühne sah dem verstorbenen Sänger zum Verwechseln ähnlich. Während das Orchester nun den Song live vom Blatt spielte, erklang aus den Lautsprechern die historische Originalstimme, und Musiker und Schauspieler stellten eine alte Filmszene nach. Nur wenige Minuten dauerte es, und der künstliche Satchmo hatte die Besucher vollkommen in seinen Bann gezogen. Berührt lauschten sie den fremdartigen Rhythmen, ließen sich umgarnen vom warmen Timbre dieser rauchigen Stimme und verfolgten befremdet und fasziniert zugleich den Auftritt eines mit sich und der Welt zufriedenen Menschen, dessen einziger Wunsch es zu sein schien, seine Zuhörer glücklich zu machen und von ihnen geliebt zu werden.

Für einen Moment vergaß selbst Soul, dass es sich um eine Attrappe handelte. Sie lehnte entspannt in ihrem Kunststoffsofa und schaute verträumt zur Bühne hinüber.

„I see trees of green, red roses too, I see them bloom for me and you …”, drang die Stimme aus dem Lautsprecher.

Ein leichtes Unbehagen bemächtigte sich ihrer, als sie jetzt den Worten des Liedes lauschte.

„I see skies of blue and clouds of white, the bright blessed day, the dark sacred night …”

Plötzlich erschien es ihr wie eine Provokation, in einem Zeitalter, in dem Tiere und Pflanzen nur noch in Reservaten lebten, jegliche natürliche Erde unter Hightech-Kunststoff verschwunden war und selbst das allgegenwärtige kosmische Staubkorn sich anstrengen musste, einen Platz in der Wohnung zu finden, von so etwas Verrücktem wie Bäumen und Rosen zu singen.

„The colors of the rainbow so pretty in the sky are also on the faces of people going by …”

„Ob es damals wirklich so schön war auf unserer Erde?“, wandte sie sich an ihren Bruder.

„Ich weiß nicht“, antwortete Reb. „Jedenfalls fühlt es sich verdammt gut an.“

Die Arme hinter dem Kopf verschränkt und seine Beine weit von sich gestreckt, so lauschte auch er den verführerischen Klängen.

Die Gäste im Mittelraum schienen genauso zu empfinden. Sie lehnten entspannt in ihren Sitzgruppen, verfolgten gebannt das Spektakel auf der Bühne oder konzentrieren sich mit geschlossenen Augen ganz auf die Musik. Andere schlenderten an Rebs Fotografien vorbei, blieben hier und da stehen, vertieften sich in eines seiner Bilder oder diskutierten mit verhaltener Stimme über das Für und Wider vergangener Visualisierungspraktiken. Alles wirkte so elegant, so perfekt und unendlich friedlich, als hätte es nie irgendwelche Irritationen gegeben.

„I hear babies cry, I watch them grow, they’ll learn much more than I’ll ever know – yes, I think to myself what a wonderful world …”

Reb hatte noch einige Repräsentationspflichten zu erfüllen und begab sich wieder an seine Arbeit. Soul betrachtete die Leute vor der Bildergalerie. Die ausschließlich in schwarz-weiß gehaltenen Fotografien schienen eine ungewöhnliche Anziehungskraft auf die Besucher auszuüben. Erstaunlich lange begutachteten sie die Ausstellungsstücke.

Soul stand auf und tat es ihnen nach. Mit verschränkten Armen wanderte sie die Bildreihe entlang. Es war schon irgendwie merkwürdig. Diese historischen Fotos hatten so wenig gemein mit dem Material aus dem Medienkonzern. An ihnen war nichts perfekt. Die stimulierende Farbe fehlte, das Ursprungspapier ließ keine absolute Bildschärfe zu und es waren keine professionell hergerichteten Studiogesichter zu sehen, sondern ausschließlich Menschen in ihrer alltäglichen Umgebung, die ganz ungezwungen miteinander lachten, tanzten, musizierten, so als wäre die Kamera gar nicht zugegen. Doch trotz oder vielleicht gerade wegen dieser aus moderner Sicht eindeutig kompositorischen Fehler verströmten diese Aufnahmen eine fast fühlbare physische Nähe.

Vor der Fotografie eines Saxofonisten blieb sie stehen. Der farbige Musiker hatte die Augen geschlossen und blies voller Hingabe in sein Instrument. Soul hörte den Blues, der aus dem Innenraum herüberdrang, und für einen Moment war ihr, als würde dieses Bild vor ihren Augen lebendig. Das Saxofon schien sich zu bewegen, und die Hände, die es hielten, wiegten es behutsam im Takt der Musik.

„Ist es nicht wunderschön?“

Jemand war an sie herangetreten und stand nun dicht hinter ihr. In der Reflexion des Glases erkannte sie den eleganten Fremden, der kurz zuvor an einem der Rundbögen gelehnt hatte.

„Wunderschön, ja …“

Soul überlegte, ob sie sich einem gänzlich Unbekannten anvertrauen durfte.

„Sie wollten etwas sagen?“, ermutigte sie dieser.

„Ich finde …, es hat Gefühl“, platzte sie heraus.

„Sollte uns das beunruhigen? Es ist doch nicht verboten, sich beim Betrachten eines Bildes berührt zu fühlen.“

„Verboten nicht, nein.“

Soul wagte einen Blick zur Seite.

„Trotzdem ist es Ihnen unangenehm.“

„Nun ja, in einer Welt, in der fast jeder nach Perfektion strebt und unser Alltagsleben strengen wirtschaftlichen Optimierungsprozessen unterliegt, ist es schon irgendwie merkwürdig, wenn jemand auf einer offiziellen Veranstaltung von so etwas … Unkalkulierbarem wie Gefühlen spricht. Finden Sie nicht?“

Für einen kurzen Moment standen beide wortlos nebeneinander und betrachteten das Bild. Plötzlich hob der Fremde seinen Arm und deutete mit der linken, halb geöffneten Hand auf das Saxofon.

„Schauen Sie sich diese Linie an“, forderte er seine Gesprächspartnerin auf und fuhr mit der Hand die Form des Instrumentes nach. „Sehen Sie, wie konsequent der Fotograf sie gestaltet hat? Kraftvoll und elegant ist sie, raumgreifend und fließend, erfrischend klar und doch … erfüllt von einer fast physisch spürbaren Wärme.“

Während er sprach, glitten seine Finger über das Bild, ohne das Glas zu berühren. An seinem schlanken Handgelenk registrierte Soul ein teures Technikarmband und eine weiße Hemdmanschette.

„Ich finde, das Motiv fasziniert nicht nur durch die gelungene Komposition bildnerischer Elemente“, ergänzte sie energisch und richtete sich auf. „Es ist die Aussage, die besticht. Dieses Foto will keine vorprogrammierten Inhalte im Kopf des Betrachters festsetzen, um ihn zum Kauf irgendeines Produktes zu bewegen. Hier geht es um Genuss, und zwar um den Genuss um seiner selbst willen. Der Musiker plant seine Melodie nicht im Voraus, sondern nimmt sich Zeit, sich auf sie einzulassen. Er wartet ab, wie sie sich entwickelt, und findet erst während des Auftritts seine momentane Spielart. Wahrscheinlich hat er dieses Stück schon Hunderte von Malen gespielt, doch wie er es in diesem Augenblick gestalten wird, hängt von seiner Stimmung ab, von dem Tag, den er verlebt hat, den Menschen, die ihm begegnet sind. Er legt all seine Freude hinein, seine Enttäuschung, seine Hoffnung. Indem er seinen Gefühlen Ausdruck verleiht, befreit er sich selbst. Und so wie der Musiker nur für diesen Augenblick spielt, so lebt auch das Bild nur durch sich selbst und für sich selbst …, und deshalb ist auch das Betrachten dieses Bildes … purer Genuss.“

Soul atmete tief und heftig.

Für einen Moment schwiegen beide.

Schließlich löste sich ihr Gegenüber vom Anblick der Fotografie.

„Welch weise Interpretation für eine so junge Dame. Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist W.I.T., Sir W.I.T.“

Er reichte ihr die Hand.

Soul wurde blass.

„W.I.T. …? Sir W.I.T. …? Der Sir …?“, fragte sie ein wenig zu laut und merkte, wie ihr Gegenüber zusammenzuckte.