Tante Hetty - Angela Stoll - E-Book

Tante Hetty E-Book

Angela Stoll

4,9

Beschreibung

Rauchschwaden aus den Schornsteinen der Eisenhütten verfinstern die Stadt. Ebenfalls düster sieht es für einen ihrer Bewohner aus. Rupert ist zehn Jahre alt und allein. Als unehelich geborenes Kind vertraut er auf die Fürsorge von Tante Hetty, einer Frau, die seiner kürzlich verstorbenen Mutter sehr nahestand. Ihm bleibt keine Zeit zum Trauern, denn die Tante entpuppt sich als perfide Betrügerin. Als der verlassene Junge einsam durch die Straßen stolpert und einer Geisterfrau begegnet, eröffnen sich für Rupert neue Welten: die Bedrohung durch mechanische Wächter, der Ruß der Stadt und die Obhut einer starken Frau. All dies vermischt sich mit dem allgegenwärtigen Geschmack von Tantes Hettys Ingwerbonbons – und dem einer Intrige.

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Seitenzahl: 104

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Tante Hetty

Ingwer und Intrige

Die Deutsche Bibliothek und die Österreichische Nationalbibliothek verzeichnen diese Publikation in der jeweiligen Nationalbibliografie. Bibliografische Daten:

http://dnb.ddp.de

http://www.onb.ac.at

© 2017 Verlag ohneohren, Ingrid Pointecker, Wien

1. Auflage

Autorin: Angela Stoll

Covergestaltung: Verlag ohneohren

Covergrafiken: freepik.com

Lektorat, Korrektorat: Verlag ohneohren

www.ohneohren.com

ISBN: 978-3-903006-87-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und/oder des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Eine Freundin fürs Leben

In Tante Hettys Obhut

Zwei Frauen, zwei Welten

Wunderwelt

Neue Pläne

Bittere Erkenntnis

Alberts Freundschaft

Margaret

Ein Geschenk für Rupert

Bellas Traum vom Glück

Tante Hetty

Süß und scharf vom Glück

Ende und Anfang

Eine Freundin fürs Leben

An dem Tag, an dem Ruperts Mutter erfuhr, dass in ihrem Körper eine Krankheit hauste, die sie nach und nach auffressen würde, begegnete ihr ein Engel in Form einer allerbesten Freundin: Hetty.

Es war in einer Apotheke. Sie und Hetty warteten gemeinsam im düsteren Verkaufsraum auf ihre Pillen, die erst angefertigt werden mussten. Kurz zögerten sie, dann kamen sie ins Gespräch und stellten fest, wie übel ihnen das Leben mitgespielt hatte.

Hetty war zwar nicht sterbenskrank, aber sie trauerte um ihr einziges Kind. Ihr geliebtes Söhnchen war mit gerade einmal sechs Jahren an Diphtherie verstorben, kurz nach dem Tod seines Vaters. Während Hetty davon mit zitternder Stimme erzählte, umklammerte sie ein goldenes Medaillon, das mit einem winzigen Herzchen an einer zierlichen Kette um ihren Hals befestigt war. Das Bild ihres Engelchens darin sei ihr ein und alles, beteuerte sie tränenreich. Gerührt von all der Liebe umarmte Ruperts Mutter ihr Gegenüber und nahm sich danach ein Stück des kandierten Ingwers, das Hetty ihr spontan anbot. Von diesem Augenblick an vertrauten sie einander wie Schwestern.

Hetty stand Ruperts Mutter in der Folgezeit zur Seite, wie die Freundin, auf die jene stets gehofft hatte. Wichtiger noch, sie versprach ihr, sich um Rupert zu kümmern, sobald das Schlimmste eintraf und der Junge eines hoffentlich noch fernen Tages seine Mutter verlieren würde.

Hetty kümmerte sich um viele Dinge. Sie organisierte Pflege und Versorgung der Kranken, half Rupert bei den Schulaufgaben und versprach, immer für ihn da zu sein, wenn seine Mutter dies nicht länger konnte.

Ruperts Mutter nahm dankbar jede Hilfe an. Ihr bisheriges Leben war wenig glücklich verlaufen. Ihre Familie hatte sie schon vor Ruperts Geburt verstoßen und all ihre Freundinnen hatten sich von ihr abgewandt, als sie von dem Sündenfall der Schwangerschaft erfahren hatten.

Rupert konnte freilich nichts dafür, aber, wie um die Schande seiner unehelichen Geburt öffentlich herauszuschreien, war er im Gesicht mit einem Feuermal gezeichnet. Wo immer sie hinkamen, tuschelten die Leute über ihn und machten die Mutter für die Missbildung verantwortlich.

Wenigstens war für seine Zukunft gesorgt. Der Junge hatte einen Vater, wie jeder Mensch auf dieser Welt. In seinem Fall war es ein reicher und wichtiger Politiker, der eine Menge Geld bezahlt hatte, um sich von Ruperts Mutter und seinem ungewollten Sprössling freizukaufen.

Rupert wusste freilich nichts von seiner Abkunft und so sollte es auch bleiben. Für ihn war sein Vater als Soldat im fernen Asien auf einem Luftschiff zu Tode gekommen. Als Held und nicht als Feigling, der den eigenen Sohn verleugnete.

Bis zu Ruperts Volljährigkeit würde Hetty sich um ihn und sein Vermögen kümmern, so hatte die Freundin es Ruperts Mutter angeboten und erklärt: „Du willst doch sichergehen, dass dein Prachtbursche nicht von einem verbrecherischen Anwalt oder Notar übers Ohr gehauen wird? Ich könnte dir da Geschichten erzählen! Bei mir hingegen ist das Geld sicher.“

Ruperts Mutter hatte ihr jedes Wort geglaubt und starb im festen Glauben, mit Hetty dem wunderbarsten Menschen ihres Lebens begegnet zu sein.

In Tante Hettys Obhut

Die Beerdigung von Ruperts Mutter dauerte höchstens fünf Minuten. Genauso lange, wie die Männer benötigten, um sie vor dem Friedhof vom Leichenwagen in die Lastdampfkutsche umzuladen.

„Wir wollen doch nicht, dass ihre sterblichen Überreste von Würmern gefressen werden? Wir lassen sie an einen besseren Ort bringen.“ So zumindest hatte Tante Hetty es Rupert erklärt.

Die Hände zu Fäusten geballt, stand er da und sah dabei zu, wie der Wagen mit dem Leichnam seiner Mutter verschwand. Er schluckte seine Tränen und überlegte, ob die große Aufschrift an den Wagenseiten bedeutete, was er vermutete: Ob Onkel, Tante, Greise, wir zahlen die höchsten Preise. Darunter stand in kleinerer Schrift: Körperverwertung und Im Geschäft seit 1802.

Tante Hetty beachtete ihn nicht weiter, zählte das Geld in dem Umschlag, den ihr der Fahrer des Liefergefährts überreicht hatte, und sagte zu Rupert: „Komm, unsere Mietkutsche wird nach Zeit bezahlt.“

Er warf noch einen letzten Blick zurück in Richtung des Friedhofs. Wieso nur war seine Mutter nicht dort bestattet worden, wie es ihr Tante Hetty in die Hand versprochen hatte? Mutter hatte ihr doch das dafür gesparte Geld anvertraut! Und warum hatte sie statt in einem ordentlichen Sarg in einer Holzkiste aus ungehobelten Brettern liegen müssen?

So viele Fragen, aber er wagte sie nicht zu stellen, denn sein Kopf hatte heute bereits mehrmals Bekanntschaft mit Tante Hettys harten Fingerknöcheln gemacht. Sie mochte keine vorlauten und neugierigen Kinder.

Gleich darauf hockte er wieder in der Mietkutsche, seiner Tante gegenüber, und klammerte sich an der harten Holzbank fest. Die Dampfkutsche spuckte Qualm in den ohnehin schon düsteren Himmel, es zischte und sie rumpelten los.

„Dort, wo sie hingebracht wird, gefällt es ihr bestimmt“, erklärte Tante Hetty, holte ihr Döschen mit kandiertem Ingwer hervor und steckte sich ein Stück in den Mund. Gleich darauf forderte sie Rupert auf, den Schal wieder über seine linke Gesichtshälfte zu drapieren. „Junge, dein Anblick lässt jeden gottesfürchtigen Menschen erschaudern. Du trägst das Mal des Bösen“, zischte sie ihn an.

Rupert antwortete nicht, gehorchte aber sofort. Das rote Mal auf seiner Wange sei kein Teufelszeichen, hatte seine Mutter immer wieder beteuert.

Tante Hetty hatte bisher nie etwas darüber gesagt, doch kaum war Mutter tot, schien sie es für ein Zeichen seiner Verderbtheit zu halten.

Er schluckte gegen die plötzliche Trockenheit im Mund an. Was sollte nur aus ihm werden, mutterlos und ohne Vater? Nun hatte er nur noch diese Tante, die ihm ziemliche Angst einjagte.

Sie waren eine Weile gefahren, da hämmerte Tante Hetty mit ihrem Schirm gegen die Wand zur Fahrerseite. Die Dampfkutsche hielt mit einem Schnaufen.

Tante Hetty legte eine Hand auf Ruperts Knie und sagte: „Steig aus, Junge. Ich hole dich gleich wieder ab. Es dauert nicht lange.“

Rupert kletterte gehorsam die Wagenstufen hinunter. Sobald er erkannte, an welch düsterer Ecke der Stadt er sich befand, wollte er in die Kutsche zurückspringen, doch die Tür schlug zu und der Wagen holperte davon. Rupert rief Tante Hetty hinterher, bis er heiser war, ohne Erfolg. Sie hörte ihn nicht.

Verängstigt blickte er um sich. Seine Mutter hatte ihm oft genug von schlimmen Dingen erzählt, die unschuldigen Kindern an üblen Orten wie diesem geschehen konnten. Die Häuser an der schmalen Straße waren eher Ruinen, mit vernagelten Fenstern und vom Ruß schwarzen Wänden, die gefährlich in seine Richtung lehnten.

Wenn es ein Kopfsteinpflaster gab, war es unter dem Morast begraben, in dem seine Schuhe bis über die Sohlen einsanken. Die Luft war von Fäulnisgestank getränkt und brannte in den Lungen. Rupert zitterte bei dem Gedanken, hier auch nur für kurze Zeit allein ausharren zu müssen. Verängstigt suchte er in einer Hausecke ein wenig Schutz vor dem bitterkalten Wind. Zerlumpte Gestalten, die aus der Hölle stammen konnten, hasteten an ihm vorbei, schenkten ihm aber glücklicherweise keinerlei Beachtung.

Lange wartete er und redete sich ein, Tante Hetty müsse viele Besorgungen machen. Endlich gab er zu: Sie kam nicht zurück, hatte es vermutlich nie vorgehabt. Verzweifelt heulte er los.

Ein alter Mann, der schrecklich stank, erkundigte sich, was los sei. Als er ihm unter Schluchzen von seiner Tante und ihrem Verschwinden erzählte, sah er ihn nur aus seinen rotgeränderten Augen an und sagte: „Die kommt nicht wieder, Junge. Ich wette, viel Geld hat sie dir auch nicht gegeben. Nicht mal eine kleine Münze für den alten Charlie?“

Rupert schüttelte den Kopf.

„Dachte ich mir“, murmelte der Alte und schlurfte weiter.

Keinen einzigen Penny hatte Tante Hetty Rupert gelassen. Noch vor dem Tod seiner Mutter hatte sie die Wohnung durchsucht und eingepackt, was ihr wertvoll und brauchbar erschienen war. Unmittelbar vor der angeblichen Beisetzung waren dann Männer gekommen und hatten die restlichen Möbel mitgenommen.

„Du wohnst doch jetzt bei mir, also brauchst du sie nicht mehr“, hatte sie gesagt. „Das Geld vom Verkauf hebe ich selbstverständlich für dich auf, bis du erwachsen bist.“

Das war eine Lüge gewesen, genauso wie sie seine arme Mutter um eine anständige Beerdigung betrogen hatte.

Wieso erkannte er das alles erst jetzt? Er fühlte sich, als wäre sein Hirn mit Spinnweben verstopft gewesen.

Hier zu bleiben, half ihm nicht weiter, also schleppte Rupert sich auf der verzweifelten Suche nach Essen und ein wenig Wärme durch die Straßen.

Ab und zu hatte jemand in einer Tonne Abfall in Brand gesetzt. Doch es gab andere armselige Gestalten, die sich um die gelegentlichen Wärmequellen scharten, größer und stärker als er, und sie ließen ihn nicht einmal in die Nähe eines Feuers kommen.

Schließlich wurde es Nacht. Müde und erschöpft kauerte er sich auf eine Türschwelle. Einen Moment nur ausruhen, dann würde er weitergehen, versprach er sich selbst.

Er musste eingenickt sein, denn im Traum befand er sich zu Hause bei seiner Mutter und aß ein knuspriges Brathähnchen. Die krosse Haut schmeckte so köstlich!

Etwas schüttelte ihn durch. Einer der metallischen Straßenwächter beugte sich über ihn. Seine Außenhülle wurde vom flackernden Licht einer Gaslaterne beleuchtet und schimmerte kupfern. Mit scheppernder Stimme schnarrte er: „Es ist den Einwohnern laut Gesetz untersagt, auf der Straße zu schlafen. Ich werde Euch mitnehmen, Untertan, und an einen Schutzmann übergeben.“

So wenig Rupert auch vom Leben wusste: Elternlose Kinder und Jugendliche, die den Schutzmännern in die Hände fielen, landeten zuerst im Arbeitshaus und wurden von dort an Arbeitsstellen verkauft, zu denen niemand sonst wollte, weil sie zu gefährlich waren.

Seine Mutter hatte ihn oft genug davor gewarnt.

Rupert schob sich an der Mauer hoch und flitzte los. Er schlug Haken, denn neuerdings trugen die Straßenwächter Funken sprühende Stäbe bei sich, mit denen sie wie mit einer Harpune schießen konnten.

Er rannte immer weiter, bis ihm übel wurde vor Anstrengung. Nach Atem ringend suchte er nach einem Versteck, in dem der Wächter ihn nicht aufspüren konnte. Endlich fand er einen Zaun, dessen Latten an einer Stelle verfault waren. Fast hatte er sich schon durch die schmale Öffnung gequetscht, da hielt ihn jemand an der Jacke fest.

„Dort wartet nichts Gutes auf dich.“

Er drehte mich um, bereit, dem Blechmann oder wem auch immer, der ihn gepackt hatte, einen Tritt zu geben.

Eine Geisterfrau blinzelte ihn an. In der Hand trug sie eine Lampe mit einer Kurbel, die sie betätigte und so vermutlich dafür sorgte, dass der Glühfaden mit Energie versorgt wurde.

„Was treibst du hier so allein und das zu dieser Uhrzeit?“, fragte sie.

Rupert überlegte, ob eine Geisterfrau gefährlicher als ein Schutzmann sein mochte.

„Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Ich habe niemanden mehr, der sich um mich kümmert“, entfuhr es ihm.

Er schlug sich auf den Mund. Wieso hatte er dieser unheimlichen Frau die Wahrheit anvertraut? Was, wenn sie ihn an den Straßenwächter auslieferte, schlimmer noch, tat, was Geister so mit Menschen anstellten?

Sie tippte ihm auf die Brust. „Nachts fremde Grundstücke zu betreten, ist gefährlich. Nicht alle Leute sind so harmlos wie ich. Niemand wird dich vermissen, also nie jemand nachforschen, was mit dir geschehen ist. Verstanden?“

Er nickte erleichtert. Offensichtlich wollte sie ihn nur warnen, nicht verhaften lassen, und plante auch sonst nichts Übles mit ihm. Nun wagte er, sie genauer zu betrachten.

Sie wirkte zwar wie ein Geist aus einer Gruselgeschichte mit ihrer weißen Haut und den seltsam hellen Augen. Gleichzeitig verhielt sie sich jedoch wie eine Lady und war auch gekleidet wie eine.

Sie zog ihm den Schal vom Gesicht, betrachtete das Feuermal und seufzte. „Wenn ich dich nicht mitnehme, bist du in einigen Tagen tot. Also komm.“

Rupert wusste nicht, ob er ihr vertrauen konnte, aber am Schluss siegte die Hoffnung. So trottete er neben ihr den Fußweg entlang und fühlte sich ein wenig wie ein aufgelesener Hund.