Tante Poldi und der Gesang der Sirenen - Mario Giordano - E-Book
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Tante Poldi und der Gesang der Sirenen E-Book

Mario Giordano

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Beschreibung

Es ist so weit: Die Poldi heiratet Montana. So jedenfalls der Plan. Die Hochzeitsvorbereitungen laufen auf vollen Touren, bei manchen liegen die Nerven bereits blank. Aber - man kennt das - Sizilien ist kompliziert, immer kommt was dazwischen. Ein unbeliebter Unternehmer verschwindet. Fiel er etwa in die Hände der Mafia? Und auf der Isola Bella vor Taormina wird die Leiche einer jungen Frau angespült. Die schöne Slowakin ist an einer Überdosis Ketamin gestorben. War es Selbstmord? Ein Unfall? Für die Poldi steht bereits fest: Mord. Zwei gute Gründe, die strapaziösen Vorbereitungen einer sizilianischen Hochzeit erst mal ad acta zu legen und stattdessen dem Jagdinstinkt zu folgen ...

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Inhalt

Über das Buch

Über den Autor

Weitere Titel des Autors

Titel

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Über das Buch

Es ist so weit: Die Poldi heiratet Montana. So jedenfalls der Plan. Die Hochzeitsvorbereitungen laufen auf vollen Touren, bei manchen liegen die Nerven bereits blank. Aber – man kennt das – Sizilien ist kompliziert, immer kommt was dazwischen. Ein unbeliebter Unternehmer verschwindet. Fiel er etwa in die Hände der Mafia? Und auf der Isola Bella vor Taormina wird die Leiche einer jungen Frau angespült. Die schöne Slowakin ist an einer Überdosis Ketamin gestorben. War es Selbstmord? Ein Unfall? Für die Poldi steht bereits fest: Mord. Zwei gute Gründe, die strapaziösen Vorbereitungen einer sizilianischen Hochzeit erst mal ad acta zu legen und stattdessen dem Jagdinstinkt zu folgen …

Über den Autor

Mario Giordano, geboren 1963 in München, schreibt Romane, Jugendbücher und Drehbücher (u. a. »Tatort«, »Schimanski«, »Polizeiruf 110«, »Das Experiment«). Bei Bastei Lübbe ist er mit der Apocalypsis-Trilogie und vor allem mit seiner Krimireihe um die charismatische Tante Poldi sehr erfolgreich. Giordano lebt in Berlin.

Weitere Titel des Autors:

Tante Poldi und die sizilianischen Löwen

Tante Poldi und die Früchte des Herrn

Tante Poldi und der schöne Antonio

Tante Poldi und die Schwarze Madonna

Apocalypsis

Apocalypsis II

Apocalypsis III

Wir waren Papst. Das Apocalypsis-Interview

Cotton Reloaded – 01

Titel auch als Hörbuch erhältlich

MARIO GIORDANO

Kriminalroman

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2020/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Daniela Jarzynka

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München unter Verwendung eines Motivs von © Martina Frank, München

E-Book-Produktion: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-8638-7

luebbe.de

lesejury.de

1. Kapitel

Erzählt von Gerüchten, Abstellgleisen und Kotzbrocken, vom Verschwinden und kosmischer Ordnung. Die Poldi bereitet ihre Hochzeit vor und hat vorläufig dem Suff und sämtlichen Mordermittlungen abgeschworen. Wer’s glaubt. Der Neffe jedenfalls nicht. Der verzweifelt an der Quadratur des Kreises und kriegt eine Abfuhr. Vito Montana sagt erst lange nichts, aber dann lässt er die Bombe platzen.

Als Anfang September die ersten Gerüchte durchsickerten, dass Aldo Favarotta – ja genau, der Aldo Favarotta, der Inbegriff von Verdorbenheit und Korruption – spurlos verschwunden war, gab es kaum jemanden zwischen Catania und Messina, der ihn sich wieder heil und an einem Stück zurückwünschte. Als es schließlich in der La Sicilia stand, heuchelte man natürlich öffentlich Entsetzen und Mitgefühl, war man »in Gedanken bei der Familie«, zumal mit dem Mikrofon eines Lokalsenders vor der Nase. Aber hinter vorgehaltener Hand wurden unfreundliche Dinge geraunt, die wenig mit Nächstenliebe und Herzensgüte zu tun hatten, sondern eher mit dem inbrünstigen Wunsch, Favarotta möge bereits in Säure aufgelöst oder irgendwo verscharrt sein, der Herr möge die Welt von diesem Blutsauger erlösen, diesem miesen Schwein, Rassisten und Kotzbrocken.

Aber wie einen krachenden Sommerhit braucht jeder Sommer auch seinen Sommeraufreger, das ist in Sizilien nicht anders als in der deutschen Provinz. Also irgendeinen Skandal, eine sportliche Niederlage, eine Peinlichkeit eines Politikers oder eines B-Promis, über die man endlos spekulieren, sich das Maul zerreißen und seinen Frust auf die eigene Misere ausschwitzen kann. Oder eben eine Hochzeit, auf die man freudig hinfiebern kann wie auf die ersten Kirschblüten an einem grauen Aprilmorgen.

Die Familie ist immer noch das Fundament der italienischen Gesellschaft, und Hochzeiten sind der Mörtel, der Familien zusammenfügt. Jede Hochzeit webt weiter an jenem Geflecht aus unausgesprochenen Verbindlichkeiten, Gefälligkeiten und sorgfältigen Ausgrenzungen, das ganz Italien durch alle Krisen hindurch zusammenhält. Hochzeiten strukturieren die Jahre. Wenn meine Tanten in Erinnerungen schwelgen, dann sagen sie oft Dinge wie: »War das nicht das Jahr, in dem Valentina und Enzo geheiratet haben?«

In diesem paradoxen Kernland des Katholizismus, das den Sexappeal und die Virilität beider Geschlechter zum nationalen Mythos erklärt, in dem vorehelicher Sex jedoch noch vor wenigen Jahrzehnten nur in Kleinwagen, am Strand und überhaupt nur unter größter Heimlichkeit möglich war, wurde schon immer früh geheiratet. Aber auch späte Hochzeiten werden gern gefeiert. Auch ganz späte. Hauptsache, man ist eingeladen, es gibt tüchtig zu essen, man kann ein paar einflussreiche Leute treffen und eine weitere bomboniera zu der Sammlung im Schrank stellen wie den Pokal einer gewonnenen Meisterschaft.

Hauptsache Hochzeit.

Aldo Favarotta war also spurlos verschwunden, und das war ein ziemlicher Knaller, schon allein deswegen, weil ihn sich fast niemand zurückwünschte. Blöderweise konkurrierte sein Verschwinden aber auf lokaler Ebene mit der bevorstehenden Mega-Hochzeit des Jahres. Mitte September schließlich würden meine Tante Poldi und Vito Montana sich vor dem Bürgermeister von Acireale das Ja-Wort geben und sich danach von Padre Paolo in der kleinen Fischerkirche von Torre Archirafi ihren Segen dazu abholen. Da beide geschieden waren, kam eine richtige kirchliche Trauung nicht mehr infrage. Was jedoch niemanden störte. Montana war zwar Katholik, aber eben auch Kommunist, und die Poldi war ohnehin ein spiritueller Freigeist. Hauptsache, man konnte es anschließend tüchtig krachen lassen.

Seit die Poldi und ihr Commissario des Herzens sich nackt, gefesselt und geknebelt, den Tod vor Augen in einem Lieferwagen per Morsezeichen verlobt hatten, liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Ganz Torre Archirafi vibrierte und summte vor Aufregung. Aber auch in den umliegenden Kommunen – in Riposto, Giarre, Fiumefreddo, Mascali, Calatabiano, Santa Venerina, ja, bis hin nach Taormina und Catania – spekulierte man bereits darüber, was meine Tante Poldi tragen, wie viel Karat der Ring haben, was es zu essen geben würde (hoffentlich bloß nichts aus Poldis barbarischer Heimat), welche Promis eingeladen waren und vor allem, mit welchem Eklat wohl zu rechnen sei. Denn der Vergnügungswert jeder sizilianischen Hochzeit ruht auf drei Säulen: der Länge der Menüfolge, der Kitschigkeit der bomboniera und dem Ausmaß des Eklats. Und von Eklats und Kitsch verstand meine Tante Poldi schließlich was.

Meine Tante Poldi. Bürgerlich Isolde Oberreiter, gebürtig aus Augsburg, langjährig ansässig in München, inzwischen wohnhaft in der Via Baronessa 29, Torre Archirafi, Frazione di Riposto, Sizilien. Verheiratet, verwitwet, geschieden, verlobt. Eine barocke Erscheinung in jeder Hinsicht, immer für einen Eklat, einen dramatischen Auftritt und eine knallharte Mordermittlung gut. Markige Flüche, große Gefühle, Vollräusche, goldene Riemchensandalen und Perücke inklusive. Außer meinem verstorbenen Onkel Peppe und Vita Montana hatte noch nie jemand die Poldi ohne dieses schwarze Trum von Perücke gesehen, und niemand wusste, was sich darunter verbarg.

In einer meiner ältesten Erinnerungen sehe ich sie mit meinem Onkel Peppe im Garten meiner Eltern in Neufahrn. Die Poldi trägt ihre zur Bienenkorb-Frisur hochtoupierte Perücke und einen Jumpsuit mit Tigermuster. In meiner Erinnerung ist sie ein bisschen schlanker als heute, aber dennoch eine stattliche bajuwarische Erscheinung mit Kurven und Kanten und vor allem einer Stimme wie das Donnern eines Alpengewitters. Mein Onkel Peppe trägt einen selbst geschneiderten, lässigen weißen Leinenanzug mit sehr weit offenem Hemd und raucht eine Roth-Händle nach der anderen. Er raucht praktisch, wie er atmet. Die Poldi und der Peppe streiten sich wie die Kesselflicker, schreien sich auf Bairisch an, werfen sich die übelsten Schimpfworte an den Kopf, die ich mir alle für den nächsten Schultag zu merken versuche. Es geht um Freiheit und um einen Manfred, und dabei zischen sie die Biere nur so weg. Ich erinnere mich, dass ich mich ein bisschen fürchte, aber dann sehe ich, dass meine Eltern ganz entspannt und lächelnd daneben­sitzen. Und im nächsten Augenblick, wie die Poldi und mein Onkel Peppe sich schon wieder umarmen und leidenschaftlich küssen und sich kurz darauf dann hastig verabschieden.

Das ist alles lange her.

Als mein Onkel Peppe vor einigen Jahren starb, verlor die Poldi so ein bisschen die Bodenhaftung. Sie hat schon immer viel getrunken, aber damals, stelle ich mir vor, muss ihr Plan gereift sein, sich so richtig die Birne, die Trauer und die Schwermut con tutto wegzusaufen. Damals verloren wir sie dann auch aus den Augen. Die Poldi wanderte nach Tansania aus, zog wieder zurück nach München, erbte und verkaufte ihr Elternhaus. Und dann, vor etwas über einem Jahr, kaufte sie das kleine Haus in Torre Archirafi und zog an ihrem sechzigsten Geburtstag von München nach Sizilien, um sich gepflegt mit Meerblick totzusaufen.

So weit der Plan.

Trotz diverser Abstürze lag dieser Plan inzwischen jedoch zum Glück on the rocks, und das war vor allem Vito Montana, meinen Tanten und Sizilien zu verdanken. Statt sich totzusaufen, hatte die Poldi nämlich so ganz nebenbei ein paar Mordfälle aufgeklärt, diverse Kerle flachgelegt, zwei Autos zu Schrott gefahren, eine Ehe gestiftet, Freunde gefunden und auch die Liebe. Ganz gegen ihren ursprünglichen Plan war sie dem Tod etliche Male von der Schippe gesprungen, hatte sich sogar ein wenig mit ihm angefreundet, könnte man sagen. Irgendwie hing sie ja doch am Leben. Denn auch, wenn sie es oft und ziemlich schlimm mit der Schwermut hat, kenne ich keinen Menschen mit mehr überschäumender bajuwarischer Lebensfreude als meine Tante Poldi.

Vor einem Jahr hatte ich sie in ihrem alten Alfa von München bis nach Sizilien gefahren, und da ich mit meinem Familienroman nicht wirklich vorankam und aus Sicht meiner Tanten Teresa, Caterina und Luisa ohnehin praktisch arbeitslos war, hatten sie mich regelmäßig aus Deutschland einfliegen lassen, um auf die Poldi aufzupassen. Was dazu führte, dass ich irgendwann bunte Hemden und schwarze Anzüge trug, mit dem Rauchen anfing, mich tätowieren und mir zwei Mal so richtig volle Kanne das Herz brechen ließ. So viel zum Thema Aufpassen.

Dennoch waren wir im Lauf des vergangenen Jahres so ein bisschen zusammengewachsen, möchte ich sagen. Wir hatten eine Schießerei und zwei Anschläge von Maria überlebt. Wir waren jetzt ein Team. Sie hatte mich zu ihrem Trauzeugen bestimmt, was sagt man dazu? Wer etwas von ihr wollte, musste erst an mir vorbei, bitte Wartenummer ziehen. Ich war ihr Chronist, Manager, Hausmeister, Fahrer, linke Gehirnhälfte, Kummerkasten und Klotz am Bein. Kurz gesagt: voll auf Augenhöhe!

Selbstredend war ich daher auch Dreh- und Angelpunkt der Hochzeitsvorbereitungen.

Eine sizilianische Hochzeit ist nichts für Anfänger, da wird alles bis ins kleinste Detail durchgeplant. Ich mag mich in der Vergangenheit möglicherweise hie und da abfällig über italienische Hochzeiten geäußert haben, aber wenn man selbst zum Rädchen eines perfekt abgestimmten familiären Getriebes wird, dann sieht man die Dinge anders. Eine sizilianische Hochzeit ist, was Konzeption, Zusammenspiel der verschiedenen Kräfte und Gewerke, Vorbereitung, Durchführung und Harmonie des Ergebnisses betrifft, nichts weniger als ein Renaissance-Kunstwerk. Ich glaube, der griechische Ausdruck kosmos für die innere Ordnung und Schönheit der Welt wurde anlässlich einer Hochzeit auf sizilianischem Boden erfunden.

Weil niemand in meiner Familie das besser verinnerlicht als ich und ich außerdem mit deutschen Grundtugenden ausgestattet war, hatte mir die Poldi die allerwichtigste Aufgabe von allen übertragen: die Tischordnung!

Das klingt jetzt vielleicht so mittelschwierig, aber bei zweihundert geladenen Gästen aus Politik, Showbiz, Polizei, Einzelhandel, Landwirtschaft, Kirche, Nachbarschaft, Halbwelt und Familie galt es, eben so ein kosmisches Kunstwerk der gesellschaftlichen Ordnung und Harmonie zu schaffen. Immerhin war genug Platz vorhanden, da die Hochzeit in Valéries Garten auf Femminamorta stattfinden würde.

Praktischerweise war ich inzwischen bei der Poldi ausgezogen und bewohnte die ehemalige Kapelle in Femminamorta. Praktisch vor allem, weil ich mich dadurch jeden Tag mit Valérie streiten und dann wieder versöhnen konnte. Und weil ich direkt vor Ort war, was für meine detaillierte Planung nur von Vorteil sein konnte.

Die Hochzeitsgäste würden zwischen Palmen, Avocado- und Mangobäumen an wie mit leichter Hand verstreuten Zehner-Tischen sitzen, aber natürlich folgte alles einer geheimen Ordnung. Nämlich meiner. Wo waren die Sichtachsen? Von jedem Tisch aus mussten die Poldi und Montana gut zu sehen sein. Die Verteilung der Tische sollte dem Goldenen Schnitt folgen, gleichzeitig aber sollte eine intime, zwanglose Atmosphäre geschaffen werden – wie bei einer Landpartie. Meine Tischordnung sollte eine Parabel auf die deutsch-italienische Verständigung werden, ein Spiegelbild des europäischen Gedankens. Ganz großes Storytelling, das ganz große Bild. Meine Tischordnung sollte Geschichte schreiben.

Dazu mussten zunächst harte Faktoren wie Geschlecht, Alter, sozialer Status, geschätztes Jahreseinkommen, Familienstand, Muttersprache, Fremdsprachenkenntnisse, Hobbys, Allergien, Vorstrafen sowie sexuelle und politische Orientierung berücksichtigt werden. Die weichen Faktoren mussten selbstverständlich ebenso bedacht werden. Ich musste wissen, wer mit wem konnte oder auch so was von gar nicht. Ich musste Familiengrade, unausgesprochene Hierarchien, Neid, Schulden, ausstehende Gefälligkeiten, Temperament, Suchtneigung und Sozialverträglichkeit ausbalancieren. Wer musste dringend mit wem verkuppelt werden? Wer durfte auf keinen Fall mit irgendwem verkuppelt werden? Sollten Paare zusammensitzen oder besser nicht? Bunte Reihe – ja oder nein? Die Promis alle zusammen oder auf die Tische verteilt? Wer würde in Uniform kommen? Wer waren die notorischen Witzbolde, Grapscher, Schwadronierer oder Langweiler? Konnte ich Poldis Ganovenfreunde mit den Polizisten mischen oder war Vorsicht geboten? Wohin mit den Altkommunisten? Eine Prise Konflikt hie und da würde für Stimmung und Gesprächsstoff sorgen, aber wehe, wenn der Funke in ein Pulverfass fiel. An keinem der Zehner-Tische durfte es Streit geben, aber verstocktes Schweigen wäre ebenso Gift für die Stimmung. Wie wanderte die Sonne, wo würde es ausreichend Schatten für die älteren Herrschaften geben? Und überhaupt: Wohin eigentlich mit mir selbst? Sollte ich mich selbstbewusst und für alle sichtbar neben Valérie platzieren oder eher ganz bescheiden an den Rand beziehungsweise irgendwie unauffällig in Martas Nähe?

Man ahnt schon: Sizilien, kompliziert, immer kommt was dazwischen.

Die Gästeliste schwoll mit jeder Woche weiter an. Überfordert mit der Datenmenge suchte ich nach einem Algorithmus, mit dem ich die einzelnen Faktoren quantifizieren und handlich clustern konnte. Dazu dübelte ich unter Valéries Protest ein großes Whiteboard an ihre Küchenwand und begann, Mindmaps zu malen. Hatte ich von der Poldi gelernt.

Da ich über Montanas Familie so gut wie nichts wusste, telefonierte ich bald jeden Abend ausführlich mit Marta, seiner Tochter in Rom, die ich auf Poldis einundsechzigstem Geburtstag kurz kennengelernt hatte. Ich wusste natürlich, dass sie praktisch verlobt mit diesem Fabio war, und es ging ja wirklich nur um Sachthemen. Aber ich mochte ihre Stimme, hörte ihr gerne zu, und irgendwann sprachen wir über alles Mögliche. Als Valérie das zufällig spitzkriegte, brach sie einen Mörderstreit vom Zaun und zerstörte das Whiteboard.

Das alles – die Datenflut, die Verantwortung, die Streits mit Valérie multipliziert mit Dehydrierung und Schlafmangel – führte dann Anfang September zu einem kleinen nervlichen Zusammenbruch.

Ich gebe zu, ich wollte alles hinschmeißen.

Bis dann eben die ersten Meldungen über das Verschwinden von Aldo Favarotta durchsickerten. Irgendwie weckte das meine Lebensgeister wie eine eiskalte Zitronenlimo an einem Nachmittag im August. Denn ein Jahr Praktikum bei meiner Tante Poldi hatte aus einem planlosen Nerd und Möchtegern-Schriftsteller eine auf knallharte Deduktion gepolte Kriminalmaschine gefräst, einen Detektivoid, und mein sechster Sinn raunte mir zu, dass da was ganz Großes im Busch war. Größer jedenfalls als eine Tischordnung.

Das Verschwinden von Aldo Favarotta beflügelte meine Fantasie, plätscherte träge in das Sommerloch in meinem Gehirn. Aus den Nachrichten erfuhr man so gut wie nichts. Weder, ob es sich um eine Entführung handelte, noch, ob es ein Lebenszeichen oder erste Erkenntnisse gab. Dieser Mix aus Halbinformationen, Spekulationen, Neid, Missgunst und Hitze heizte auch in der Bar an der kleinen Piazza von Torre Archirafi die Diskussionen an. Der Name Favarotta war mir ein paarmal in Zeitungsartikeln begegnet, aber ich hatte mich bisher nicht sonderlich für Lokalpolitik interessiert. Da man mich in der Bar der traurigen Signora inzwischen aber kannte, wurde ich großzügig mit Gerüchten versorgt.

Trotz schlechter Schulbildung, aber mit Chuzpe und wenig Zimperlichkeit hatte sich der in Enna geborene Favarotta ein Imperium aufgebaut. Er war einer der größten Arbeitgeber der Region. Ihm gehörten zahlreiche Einkaufszentren, Outlets und Spielhallen an der Ost­küste.

Er selbst bezeichnete sich gern als »Innovator« und prahlte mit seinen Erfindungen wie zum Beispiel dem Favamot. Eine Art Perpetuum mobile, das angeblich nur auf Basis von Erdmagnetismus und Schwerkraft funktionierte und mit dem Favarotta in Kürze eine von ihm selbst designte Serie von Elektrorollern und Kleinfahrzeugen produzieren und damit die Mobilität revolutionieren wollte.

Er unterstützte die Lega Nord, gab Interviews in Table-Dance-Bars und prahlte gern mit seinem Reichtum und seiner Virilität.

In einem Interview hatte er erklärt, dass man die nordafrikanischen boat people, die die Hölle der Überfahrt irgendwie überlebt und es gegen alle Maßnahmen der Regierung und der Küstenwache auf italienischen Boden geschafft hatten, umgehend zurück ins Meer werfen müsse, um die Gefahr der nächsten Eroberung Siziliens abzuwehren.

Er gab die Zeitschrift Aldorama heraus, die kostenlos in seinen Shopping-Malls verteilt wurde und die vom ConsiglioNazionaleOrdineDeiGiornalisti,dem italienischen Presserat, als verschwörungstheoretisch eingestuft wurde. So behauptete ein Artikel in Aldorama beispielsweise, dass Italien seit dem Zweiten Weltkrieg von einer von den Reptiloiden unter dem Ätna eingesetzten Marionettenregierung geführt würde. Die in Aldorama abgedruckten Interviews mit Sting, Elon Musk, Kim Jong Un und Sophia Loren stellten sich sämtlich als erfunden heraus.

Je mehr ich über Aldo Favarotta hörte, desto mehr kristallisierte sich das Bild eines gerissenen Narzissten und großen Kindes heraus, dem nie jemand auf die Finger geklopft hatte, weil alle zu fasziniert oder zu angewidert von seiner Dreistigkeit waren.

Ich gebe zu, ich fand das irgendwie cool. Favarotta erinnerte mich an das Bild Der Scharlatan von Hieronymus Bosch, auf dem ein hakennasiger, schlecht rasierter Mann mit Hut eine kleine Gruppe von Leichtgläubigen mit einem Taschenspielertrick über den Tisch zieht. Immer, wenn ich dieses Bild betrachte, wünsche ich mir, ich könnte ein richtiger, mit allen Wassern gewaschener Scharlatan sein.

Wenn an Onkel Martinos Faustregel: »Je kleiner der Mann, umso wahrscheinlicher Mafioso!« etwas dran war, dann musste Favarotta zudem ein sehr gefährlicher Mann sein, denn er war bestimmt nicht größer als ein Meter fünfzig.

Mit eineinhalb Metern Reichtum, Unverschämtheit, Machismo und Prahlerei plus Geschmacklosigkeit und offenem Rassismus kann man es in Italien durchaus zum Liebling der Medien bringen. Seltsamerweise hatte diese Zusammenstellung bei Favarotta versagt. Die Medien schienen ihn nur mit der Kneifzange anzufassen. Wenn sein Name überhaupt irgendwo auftauchte, dann meist in Verbindung mit den Arbeitsbedingungen in seinen Outlets oder einer Orgie in einem Swingerclub. Selbst rechtsextreme Politiker mit allerniedrigster Hemmschwelle ließen sich nur ungern mit ihm fotografieren. Vielleicht fehlte ihm einfach nur der ölige Charme eines Berlusconi, das zornige Charisma eines Beppe Grillo, der Blutdurst eines Matteo Denaro oder der kalkulierte Zynismus eines Salvini. Vielleicht lag es auch an seinem Aussehen. Auf einem Zeitungsfoto, das man mir in der Bar zeigte, sah ich einen kurz gewachsenen, fast halslosen Mann von Mitte vierzig mit schlechter Haut und schütterem Haar. In einer formlosen Hose und einem Polo-Shirt mit Ferrari-Emblem posierte er vor einer amerikanischen Corvette. Fast alles an ihm wirkte irgendwie daneben. Sein Grinsen linkisch und verschlagen, in seinen Augen erkannte ich eine Mischung aus Neid und Kummer.

Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Das mochte an den vielen unerfreulichen Geschichten liegen, die man mir über ihn erzählte. Wie mies Favarotta seine Angestellten behandelt, wen er alles übervorteilt, betrogen, verraten, verleumdet und in den Ruin getrieben hatte. Demnach musste der Mann genug Feinde haben, die ihm den Tod und alles Schlechte an den Hals wünschten.

Hochzeitsvorbereitungen hin oder her, ich war mir sicher, dass der Jagdinstinkt meiner Tante Poldi bei einem Vorfall dieser Größenordnung gar nicht anders konnte als anzuspringen. Ich ging fest davon aus, dass sie bereits erste diskrete Ermittlungen angestellt hatte und möglicherweise meine ebenso diskrete Unterstützung brauchen könnte. Zumal ich seit Tagen nichts von ihr gehört hatte, was bisher immer ein Hinweis darauf war, dass sie irgendwas ausbrütet.

In einem wahnsinnig emotionalen Interview mit Radio Galatea 95,2 hatte die Poldi zwar verkündet, dass sie bis auf Weiteres nicht mehr kriminalistisch tätig sein und sich ganz auf ihr privates Glück konzentrieren würde, aber ich kannte sie ja besser.

Also erschien ich eines schönen Morgens Anfang September, keine zwei Wochen vor der Hochzeit, mit drei Portionen Granita mandorla-caffè, drei duftenden, warmen Brioches, so herrlich fluffig wie die Rauchwolke über dem Ätna, plus der neuesten Ausgabe der La Sicilia in der Via Baronessa 29.

Nachdem ein gewisser gut aussehender Commissario mit grau meliertem Vollbart, grünen Augen, kompaktem Bäuchlein, Zornesfalte zwischen den Augen und zerknitterten Anzügen dort eingezogen war, hatte ich mein Dachkabuff geräumt, um die beiden best-ager-Turteltäubchen nicht beim Dings zu stören. Andererseits war ich seitdem nicht mehr so nah am Geschehen.

Ich gebe es zu, ich platzte vor Neugierde und Sensationslust. Aber meine Tante Poldi ist ja bekanntlich etwa so berechenbar wie das Wetter am Ammersee, was wunderte ich mich eigentlich?

In der Via Baronessa hatte sich nicht viel verändert. Bis auf den Baukran auf dem Grundstück mit dem verfallenen Haus gegenüber. Wie ein großes gelbes Unkraut schien er über Nacht zwischen dem Ginster emporgewachsen zu sein. Ein hölzerner Bauzaun sperrte das Grundstück ab, dahinter hörte ich Gehämmere und Stimmen. Der Ausleger des Krans drehte über mir durch den wolkenlosen Himmel und schaffte Zementsäcke in einer großen Maurerwanne von der Gasse auf die andere Seite des Zauns.

Ich musste drei Mal klingeln und sogar den Türklopfer bemühen, bevor die Poldi mir endlich öffnete, aber eben auch nur einen Spaltbreit.

Sie trug einen malvenfarbenen Kimono mit Blütenmuster, dazu goldene Seidenpantöffelchen mit kleinen Puscheln. Sie war geschminkt, smokey eyes, die Perücke frisch toupiert, und sie duftete wie ein Jasmingarten. Sie wirkte wie Madame Butterfly in sehnsüchtiger Erwartung Pinkertons. Das hätte mich eigentlich schon stutzig machen können.

»Ach, du bist’s, Bub.«

»Tadaaa!«, rief ich schwungvoll und hielt ihr die beiden duftenden Papiertüten hin. »Frühstück!«

Die Poldi spähte kurz auf die Straße und sah mich an, als ob sie nicht genau wüsste, was sie mit mir und den Tüten anfangen solle.

»Äh, stör ich?«

»Geh, Schmarrn!«, seufzte sie, rührte sich aber nicht von der Stelle, die Tür hielt sie fest. »Du, Bub, sei mir nicht böse, gell, aber magst morgen vielleicht noch einmal vorbeischauen?«

»Äh, warum? Was ist morgen anders?«

»Gar nix.« Die Poldi nahm mir die beiden Tüten aus der Hand. »Mei, des ist so lieb von dir, Bub. Also, wir sehen uns morgen, ja? Bussi!«

Sie wollte die Tür wieder schließen, aber geistesgegenwärtig und reaktionsschnell, wie ich bin, hielt ich sie mit einer Hand auf. Ich stehe manchmal vielleicht ein wenig auf der Leitung, aber zu blöd, um die Nachtigall in Klompen trapsen zu hören, bin ich auch wieder nicht. Die Poldi hielt dagegen, wortlos rangelten wir ein bisschen um die Tür.

»Sag mal, Poldi, erwartest du etwa jemanden?«, fragte ich.

»Geh, Schmarrn!«, blaffte sie mich an.

»Oder hast du etwa … Herrenbesuch?«

»Für was hältst mich?!«, schnaubte sie. »Vielleicht brauchen der Vito und i bei dem ganzen Rummel zwischendurch einfach mal ein bisserl privacy?«

Ich sah sie prüfend an. Aber sie zeigte keinerlei Anzeichen eines Hangovers, wirkte taufrisch und voll auf der Höhe. Ich ließ die Tür los.

»Es ist halb elf, Poldi! Du bist angezogen, halbwegs nüchtern und selbst sexuelle Naturgewalten brauchen Erholungsphasen. Sprich, Frühstück. Und ich brauche ein Update. Ich bleib auch nicht lange. Also lässt du mich jetzt endlich rein?«

»Nein!«

Wenn ich eines von meiner Tante Poldi gelernt habe, dann, wann es Zeit wird, die schmutzigen Tricks auszupacken. Ehe sie die Tür wieder schließen konnte, starrte ich ins Dunkel hinter ihr und riss die Augen auf.

»Boah! Das glaub ich nicht!«

Irritiert wandte sich die Poldi um, und ich nutzte den Moment. Entschlossen drängte ich mich wie eine Katze an ihr vorbei ins Haus.

»Du bleder Gloifel!«, schimpfte sie mir auf Bairisch hinterher, aber ich war nicht mehr aufzuhalten.

Energisch und investigativ stiefelte ich ins Haus und scannte mit allen Sinnen die Lage. Irgendetwas stimmte hier nicht. Das Haus wirkte zu still und aufgeräumt für das Epizentrum einer sizilianischen Hochzeit zwei Wochen vor Tag X. Nirgendwo Stoffproben, Kataloge für Tischdekoration oder Bonbonieren-Muster aus allen Kreisen der Kitschhölle. Noch nicht einmal die unvermeidliche Vogue Sposa, die wichtigste almanachartige Veröffentlichung Italiens, ein telefonbuchdicker Katalog der aktuellen Brautmoden und Accessoires.

Als ich in Poldis kleinen schattigen Innenhof trat, schoss mir Totti schwanzwedelnd entgegen, sprang an mir hoch und furzte vor Wiedersehensfreude.

»Was macht der denn hier?«, fragte ich die Poldi, die stinksauer hinter mir auftauchte.

Denn, muss man wissen, Totti war ja der Hund von Tante Teresa und Onkel Martino. Eine typisch sizilianische Promenadenmischung, wie aus Einzelteilen sämtlicher Hunderassen zusammengelötet, gelb mit schwarzer Schnauze und riesigen Fledermausohren. Als Wachhund war Totti wegen seines freundlichen Gemüts zwar völlig untauglich, dafür hatte der Onkel ihn zum perfekten Trüffel- und Steinpilzhund abgerichtet und verbrachte einen Großteil seines Pensionärslebens mit ihm in den Eichenwäldern am Ätna. Die beiden bildeten im Grunde eine mentale, fast siamesische Einheit und waren praktisch unzertrennlich, daher meine Verwunderung.

»Des ist Hausfriedensbruch, des weißt fei schon, gell?«

»Jetzt komm mal runter, Poldi! Also, was macht Totti hier?«

»Der ist halt … also … Sag einmal, wie redest du eigentlich mit mir? I bin fei immer noch deine Tante und damit quasi Respektsperson!«

Streng wie ein Untersuchungsrichter hob ich die Hand, sah mich weiter um und lauschte. Das Haus wirkte immer noch still. Aber von irgendwoher hörte ich ein leises Summen und Knarzen.

»Wo ist Montana?«

»Der musste früh zum Dienst.«

Die Poldi wirkte zunehmend nervös und blinzelte kurz rüber in Richtung Schlafzimmer.

Und ich nur so zu mir selbst: Bingo!

Um das klarzustellen: Ich bin nun wirklich kein Moralapostel. Die Poldi ist mir über nichts Rechenschaft schuldig. Sie ist eben ein Mensch mit einem hohen … ich sag mal … Freiheitsbedürfnis. Ich liebe sie, und es steht mir nicht zu, über sie zu urteilen.

Aber mal ganz ehrlich – sie stand kurz davor, Montana zu heiraten! Da konnte ich ihr keine Seitensprünge durchgehen lassen. Da war ich der Familie und auch Vito Montana verpflichtet, so viel sicilianità musste sein.

Geschickt und wendig wie ein italienischer Nationalspieler täuschte ich links an, um rechts an ihr vorbeizusprinten. Trotz ihres schlimmen Knies und der leichten Fülle reagierte die Poldi jedoch geschmeidig wie ein Panther und tackelte mich. Ich stolperte, berappelte mich aber sofort und stürmte zurück ins Haus. Die Poldi und Totti hinter mir her.

»Ja, Kreuzsacklzement, bleibst du wohl stehen! Totti, fass!«

Aber ich war nicht mehr aufzuhalten. Ich sprang über das Sofa, umkurvte Totti, der mich begeistert anhechelte und mir zwischen die Beine lief, und hechtete zur Schlafzimmertür. Ich riss die Tür auf und platzte ins Schlafzimmer.

Und dort sah ich …

Nichts.

Ich gebe zu, ich hatte erwartet, Russo in flagranti im Bett zu erwischen. Zumindest einen nackten Verkehrspolizisten, denn auf nichts fährt die Poldi mehr ab als auf uniformierte italienische Ordnungshüter.

Doch stattdessen – niente! Zero.

Das Bett war frisch gemacht. Es duftete nach Rosen, Mottenkugeln und Montanas Aftershave.

Ein bisschen perplex zögerte ich einen Moment, dann riss ich eine Schranktür auf.

In diesem Moment schlug hinter mir die Schlafzimmertür zu, ich hörte, wie energisch abgeschlossen wurde.

»Poldi! Was soll das?« Ich hämmerte gegen die Tür. »Mach sofort wieder auf!«

»Tut mir leid, Bub«, hörte ich sie von der anderen Seite.

Kurz darauf von oben Schritte und Getrappel, gepresste Stimmen auf Italienisch, ich konnte sie allerdings nicht zuordnen. Totti bellte, niemand reagierte auf ihn, die Stimmen schienen irgendwas zu diskutieren. Eine resolute Frauenstimme, die mir bekannt vorkam, mischte sich ein. Kurz darauf polterten die Schritte die Treppe hinab. Durchs Schlüsselloch war nichts zu erkennen, also presste ich ein Ohr an die Tür. Eine ganze Gruppe von Leuten schien da die Treppe hinabzukommen. Gesprochen wurde nur noch wenig. Stühle wurden gerückt. In der Küche zischte auf einmal eine caffètiera.

»Hallo?«, rief ich laut und hämmerte wieder an die Tür. »He! Ich bin übrigens auch noch da!«

Jemand brummte etwas, Schritte näherten sich schlurfend, es wurde aufgeschlossen.

Ich trat einen Schritt zurück und straffte mich, entschlossen, der Poldi so was von die Hölle heißzumachen. Aber nicht die Poldi öffnete mir.

Sondern meine Tante Teresa.

»Magst einen caffè, tesoro?«

Ich starrte sie ungläubig an. »Äh … Was …? Ich meine, wie …?«

»Oder möchtest du lieber hier stehen bleiben und ›Äh‹ sagen?«

Aus dem cortile die Stimme von Onkel Martino. »Teresa!«

Einfach nur so. Wie immer, wenn sie nicht in seiner Nähe war, wie so ein Leuchtfeuer der Liebe und der Gewohnheit.

Meine Tanten Teresa, Caterina und Luisa sind die Stützen unserer Familie. Geschöpfe des Frühlings, sanft und mild wie eine Maibrise, wechselhaft und stürmisch wie das Wetter im April, hartnäckig wie die letzten Wintertage im März. Alle drei sind in München geboren worden, ihr Deutsch ist immer noch makellos, mit einem Hauch von Bairisch – zum Verlieben! Meine Tante Teresa, die älteste der drei Schwestern, ist der Boss der Familie. Sie hat die sanfteste Stimme von allen, und so lange sie deutsch spricht, scheint die Sonne. Aber wehe, sie wird sauer und legt auf Sizilianisch los, dann zieht man besser den Kopf ein.

Immer noch verdattert folgte ich ihr in den Hof. Wo mich das gesamte Hochzeitskomitee erwartete: die Poldi, die drei Tanten, Onkel Martino, Totti, Vito Montana, die Signora Cocuzza und Padre Paolo.

Der Padre löffelte sich die inzwischen fast geschmolzene granita rein und rauchte abwechselnd dabei. Onkel Martino trank einen caffè nach dem anderen und mampfte eine Brioche dazu. Beziehungsweise zerrupfte sie und verfütterte das meiste an Totti. Die Poldi war gerade dabei, eine Flasche Prosecco zu öffnen, Luisa und Caterina verteilten schon mal Gläser.

Niemand nahm sonderlich Notiz von mir, es schien, als hätte ich mir das ganze Versteckspiel nur eingebildet.

Ich hob fragend die Arme.

»Setz dich«, brummte Montana.

Ich gehorchte.

Onkel Martino schob mir eine Tasse caffè über den Tisch. »Dai!«

Ich zuckerte den Espresso, rührte einmal um und kippte ihn dann in zwei bedächtigen Schlucken runter, wie es sich gehörte. Alles schweigend wie bei einem uralten Ritual, dessen Ablauf ich zwar kannte, aber nicht den Sinn dahinter.

Gegenüber auf der Baustelle legte ein Presslufthammer los.

Der Korken knallte, die Poldi füllte Gläser und reichte mir das erste.

»Na, los. Auf den Schreck.«

Wortlos nahm ich das Glas entgegen, trank aber nicht.

Als ob nichts gewesen wäre, stieß die Poldi mit mir an.

»Tut mir leid, Bub. Aber du hast uns vorhin ganz schön überrumpelt, weißt. Wie kommst mit der Tischordnung voran?«

»Dein Ernst jetzt?«

Die Poldi zuckte mit den Schultern. »Ja, freilich.«

»Ganz ehrlich?«, stöhnte ich. »Gar nicht!« Und dann weiter auf Italienisch, damit jeder es verstehen konnte: »Ja, ich geb’s zu, ich bin voll am Ende. Schlagt mich, köpft mich, werft mich unehrenhaft aus der Familie raus, aber ich krieg’s einfach nicht hin mit der Tischordnung. So jetzt ist es raus.«

Ich hob ergeben die Hände und erwartete Ausbrüche der Enttäuschung, Haareraufen, Klagen, Vorwürfe, zumindest düsteres Stirnrunzeln. Stattdessen: verständnisvolles Kopfnicken.

»Das wussten wir doch, tesoro«, sagte Tante Teresa sanft auf Deutsch.

»Wie bitte?«

»Die Tischordnung ist im Grunde gar nicht so wichtig«, versuchte Tante Luisa mich zu beruhigen.

»Nicht wichtig?!?«, rief ich aus. »Die Tischordnung ist das Herzchakra der Hochzeit! Ein Mandala der kosmischen Ordnung, und ich bin so knapp davor!«

Ich zeigte mit Daumen und Zeigefinger an, wie knapp.

»Geh, Schmarrn«, winkte die Poldi ab. »Die Aufgabe ist quasi unlösbar. Des ist wie ein Koan, weißt? So ein unlösbares Rätsel, des der Zenmeister seinem Schüler gibt, damit er sich daran die Zähne ausbeißt und darüber nachert zur Erleuchtung g’langt.« Sie räusperte sich. »Beziehungsweise, um ihn zu beschäftigen, damit er nicht rumnervt, während der Meister auf dem Weg zur Erleuchtung ist. Respektive Meisterin.«

Da dämmerte es mir langsam.

»Ihr habt mich auf ein Abstellgleis gestellt! Ihr wolltet mich aus dem Weg haben!«

Kein Kommentar aus der Gruppe. Es schien ihnen nicht einmal peinlich zu sein.

»Nein, wir haben dich vom Radar genommen«, korrigierte mich die Poldi. »Des ist ein Unterschied.«

Allgemeines Nicken. Die Poldi wollte noch etwas hinzufügen, aber ich schnitt ihr das Wort ab.

»Moment mal! Willst damit sagen, du … nein … ihr alle zusammen seid da schon wieder an einem Fall dran? Aber ihr sagt’s mir nicht?«

»Jetzt sei nicht wieder gleich eing’schnappt.«

»Warum, Poldi???«

»Herrgott, warum, warum, warum!«, rief die Poldi gereizt. »Wenn du dich nur hören könntest! Warum, glaubst du, planen wir diese Riesenhochzeit mit allem Pipapo?«

»Weil es wichtig ist, hallo?«, rief ich aus. »Weil wir Sizilianer sind? Weil wir – deine Worte, Poldi – den guten Göttern des Glücks opfern müssen, indem wir es regelmäßig so richtig krachen lassen?«

Allgemeines Nicken beim deutschsprachigen Teil der Runde. Die Poldi sah mich nur milde an.

»Scho richtig. Aber nun haben wir ja gerade kürzlich erst meinen Geburtstag g’feiert, und du kennst meine natürliche Bescheidenheit. Also – wozu der ganze Aufriss, könntest dich doch nachert fragen.«

»Sag’s mir, Poldi!«

»Mei, wie vernagelt bist du eigentlich? Weil des ein honey pot ist, natürlich!«

»Ein was?«

»Mei, eine Falle halt. Um jemanden anzulocken, der dann daran pappen bleibt. Herrgott, ist des denn so schwer zu kapieren!«

»Wen?«

»Denk nach.«

Und in diesem Moment machte es Klick bei mir.

»Nein!«

»Doch.«

»Unmöglich! Wie …?«

»Jetzt sei halt nicht wieder so ungeduldig und sperr die Ohren auf.«

Sie wandte sich zu ihrem Verlobten und Commissario des Herzens. Montana sah wiederum mich ernst an, wie man jemanden anschaut, den man trotz aller Fehler, Macken und Neurosen respektiert.

»Wir konnten dich nicht einweihen«, erklärte er mir in ruhigem Ton. »Nicht, bevor wir mehr Informationen hatten. Deswegen haben wir nur den engsten Kreis eingebunden.«

»Ich bin der engste Kreis!«, rief ich anklagend, machte mit beiden Händen Krönchen und schüttelte sie lebhaft vor der Brust.

Die ewige italienische Geste allgemeiner Erregung und Emphase. Ich hab’s ja sonst eher nicht so mit großen Gesten, aber hier fand ich sie ziemlich angebracht.

Montana hob die Hand. »Es gab Gründe. Aber als du heute Morgen hier reingeplatzt bist, haben wir beschlossen, dich ins Boot zu holen.«

»Na super.«

Montana ignorierte mich und holte Luft.

»Sagt dir der Name Aldo Favarotta etwas?«

2. Kapitel

Erzählt von Hartnäckigkeit, Bürokratie, dem natürlichen Verhältnis von Frau und Mann und von sizilianischen Familien. Ach, und von Tempeln und Raubkatzen. In China fällt ein Sack Reis um, die Poldi hat einen neuen Plan und rennt gegen Windmühlen an. Sie drückt mehrere Anrufe weg und kriegt ein Angebot, das sie dann doch neugierig macht. Neugierig genug jedenfalls für eine kleine Spritztour aufs Land.

Kurz nach ihrem einundsechzigsten Geburtstag nahm die Poldi Montana auf einen kleinen Heimaturlaub nach München und in das Voralpenland mit. Wo es sich die beiden Frischverlobten bei frischer Luft, frisch gezapften Hellen und frisch verliebtem Dings so richtig gut gehen ließen. Eine Zeit voller Vorfreude und Heiterkeit. Sollte man meinen.

Aber zu diesem Zeitpunkt, stelle ich mir vor, fiel eben irgendwo in China ein Sack Reis um. Mit einem matten Plumps kippte er am Rande eines großen Stapels in den sandigen Boden der Inneren Mongolei und blieb dort liegen. Staub wirbelte auf, eine Maus wetzte erschrocken davon. Die Katze von Herrn Liu jagte ihr hinterher, das nervte den Hund von Herrn Liu, wie verrückt bellte er der verhassten Katze hinterher. Das nun weckte Herrn Liu aus seinem Mittagsschlaf. Herr Liu bemerkte, dass er spät dran war, er sprang in seinen Wagen und brauste los, um seine Tochter von der Schule abzuholen. Ohne dass er selbst davon irgendetwas gemerkt hätte, brauste er mitten durch eine riesige Warmluftblase, die träge über den endlosen Feldern der Provinz Ningxia waberte, unschlüssig, was sie mit dem angebrochenen Nachmittag anfangen sollte. Die Verwirbelungen von Herrn Lius Wagen führten dazu, dass die warme Luft sich seufzend vom Boden ablöste und langsam aufstieg. Was eine komplexe meteorologische Kettenreaktion in Gang setzte, die sich schließlich in einem Mördergewitter entlud, das wiederum zu vielen weiteren globalen Kettenreaktionen führte, von denen Herr Liu und ich nie erfahren würden – alle nicht wirklich dramatisch, aber alle miteinander verbunden –, die aber einige Wochen später dann Sizilien erreichten. Stelle ich mir vor. Weil alles in der Welt ja miteinander verbunden ist, sagt die Poldi. Weil wir alle ständig und unablässig Dominosteinchen in irgendeinem labilen Gleichgewicht sind, Elemente jener fortgesetzten Kettenreaktion ohne Anfang und Ende, aus der Koinzidenz entsteht. Der seltsame Zufall. Das, was immer dazwischenkommt, wenn wir gerade Pläne machen. Sprich, das Leben.

Ende August erhielt die Poldi einen Anruf von einer unbekannten Nummer.

Das war erst mal nicht ungewöhnlich. Seit meine Tante Poldi es zu einer gewissen Prominenz in der Region um Riposto gebracht hatte, riefen alle naselang fremde Leute bei ihr an. Um sie für diskrete private Ermittlungen zu engagieren, sprich: ihre Partner auszuspionieren, um sie um Rat zu bitten, um einen Tipp für die Lottozahlen zu erhalten, um ihr Tinnef, Finanzprodukte oder irgendwelche Abos anzudrehen oder auch, um sie als Werbepartnerin zu gewinnen. All diese Anfragen lehnte die Poldi mittlerweile ab, beziehungsweise drückte sie sofort weg.

Außerdem, sollte ich vielleicht erwähnen, hatte die Poldi ja ein ganz neues Projekt. Eines, das sich erst kürzlich frisch und krakeelend wie der tätowierte Phönix auf ihrer linken Brust aus der Asche des vergangenen Jahres erhoben hatte und das ihre Expertise auf einem anderen Gebiet mit Lebensfreude und Geschäftssinn verband: nämlich eine Weinbar zu eröffnen. Wer hätte es gedacht?! Eine kleine, schnuckelige, multikulturelle Weinbar in Taormina, stellte sich die Poldi vor, wo sie zu deutschen Weißweinen und sizilianischen Rotweinen und spumanti diverse sizilianisch-bayrische Tapas servieren würde. Fusionsküche, sozusagen, und selbstverständlich alles hausgemacht. Der Name stand auch schon fest: Oberreiter.

»Weil«, erklärte mir die Poldi, »des klingt bodenständig und zugleich fancy in Italien, verstehst? Weil des Deutsche hat ja in Taormina historisch immer noch einen gewissen Nachhall. Denk an Thomas Mann und die ganze deutsche Bohème. Deswegen hab i zuerst gedacht, i nenn die Bar Zauberbar. Nicht schlecht, gell? Verstehst – Zauberbar, Zauberberg?«

»Poldi!«, stöhnte ich fassungslos.

»Aber mei«, fuhr die Poldi ungerührt fort, »des fand i dann doch zu nah an der Wunderbar an der Porta Catania. Des gibt dann nachert nur böses Blut, wenn meine Bar so richtig einschlägt.«

»Fehlt der Apostroph«, ätzte ich ein bisschen. »Warum nicht Oberreiter’s und nicht gleich noch eine in München und eine in Manhattan aufmachen? Warum kleckern, wenn man klotzen kann?«

»Geh, Schmarrn«, winkte die Poldi ab. Aber so, als hätte ich einen durchaus überdenkenswerten Vorschlag gemacht. »Ein Apostroph im Namen wirft immer ein schlechtes Licht auf deine Libido und deine geistige Gesundheit. Merk dir des. Aber des mit dem Franchise hab i mir natürlich auch schon überlegt. Aber gell, immer schön eins nach dem anderen. I bin ja nicht überg’schnappt.«

Man wird vielleicht nachvollziehen können, dass meine Tanten nicht wirklich begeistert von der Idee waren. Montanas Enthusiasmus hielt sich ebenfalls in Grenzen. Aber er kannte die Poldi inzwischen gut genug, um sich zu hüten, ihr irgendwas ausreden zu wollen. Meine Tanten Teresa, Caterina und Luisa jedoch sahen in dem Projekt »Schnuckelige Weinbar in Taormina« eine praktisch deckungsgleiche Schnittmenge mit Poldis ursprünglichem Projekt »Totsaufen mit Meerblick« und wurden nicht müde, ihr den Kopf zu waschen. Das große finanzielle Risiko, die mangelnde gastronomische Erfahrung, und warum überhaupt sich im Alter so was noch ans Bein binden?

Aber nun tickt die Poldi eben anders. Wenn man versucht, ihr irgendeine Schnapsidee auszureden, dann verhakt die sich nur umso mehr, und sie muss sie erst recht durchziehen. Außerdem brauchte sie dringend ein neues Projekt, in das sie sich verbeißen konnte, um sich vom Ermitteln abzulenken. Oder besser gesagt: vom Nicht-Ermitteln. Denn wer meine Tante Poldi kennt, ahnt, welche schier übermenschliche Leistung es für ein detektivisches Superhirn wie sie bedeutete, keinerlei Ermittlungen mehr nachzugehen. Aber wer Sizilien kennt, der weiß auch: Es ist kompliziert, immer kommt was dazwischen.

In diesem Fall der überhitzte Immobilienmarkt in Taormina plus Bürokratie, Nepotismus und Neid zum Quadrat. Keine wirklich gründerfreundliche Gleichung.

Außerdem, darf man nicht vergessen, war in China ja vor Kurzem ein Sack Reis umgefallen. Die Kettenreaktion hatte sich gemütlich fortgepflanzt.

Das Gewitter hatte die Stadt Yinchuan genau in dem Augenblick erreicht, als Frau Wang, die sechzehn Stunden am Tag Pakete für einen chinesischen Logistik-Konzern auslieferte, gerade bei Grün losfahren wollte. Ein wenig abgelenkt durch den plötzlichen Wolkenbruch hatte sie einen unbedeutenden Auffahrunfall verursacht. Alles nicht schlimm, niemand verletzt, bloß hatte sich dadurch in der Folge die Auslieferung des Prototyps eines High-Tech-Gerätes zur Behandlung von Hautunreinheiten an einen exklusiven Beautysalon in Seoul um einen Tag verzögert. Weswegen Frau Kim, besser bekannt als Liza, Sängerin der koreanischen K-Pop-Band Kamu, ein Interview im Frühstücksfernsehen von JTBC wegen eines schlimmen Pickels kurzfristig abgesagt hatte. Auch nicht schlimm, hatte aber im Internet kurzzeitig zu Spekulationen über den Gesundheitszustand von Liza geführt. Die hatte sich, geschmeichelt von der Sorge ihrer Fans, erst Stunden später auf ihren Social-Media-Accounts dazu geäußert. Doch bis dahin hatten sich die Gerüchte bereits ein kleines bisschen aufgeschaukelt, waren in einem Dutzend Sprachen wie ein Tsunami durchs Netz um die Welt gerast und hatten sich kaum einen Tag später als Gerücht von Lizas Tod vor Daan aufgetürmt, einem jungen Kamu-Fan im niederländischen Eindhoven. Woraufhin Daan keinen Sinn mehr in seinem Leben gesehen und sich außerstande gesehen hatte, an diesem Tag zur Schule zu gehen. Stelle ich mir vor.

Als die Kettenreaktion schließlich Sizilien erreichte, war die Poldi bereits auf der Suche nach einem passenden Lokal für ihre Weinbar, das zentral in der Nähe des Corso Umberto gelegen sein sollte. Die wenigen Ladenlokale, die überhaupt zur Vermietung standen, erwiesen sich jedoch als um ein Zehnfaches teurer, als die Poldi erwartet hatte. Außerdem, nun ja, wer schon mal versucht hat, als Deutscher einen Ausweis für eine öffentliche Bücherei in Italien zu bekommen, der kann sich vielleicht vorstellen, was es bedeutet, eine Ausschanklizenz an einem der touristischen Hotspots Italiens zu bekommen. Sehr zur Erleichterung der Tanten biss die Poldi in der Comune di Taormina auf Granit. Montana erklärte ihr zudem behutsam, dass erstens die meisten Immobilien in Taormina ohnehin im Besitz einer Handvoll von Familien und Investoren seien, dass zweitens natürlich nichts ohne ein gehobenes Level von Bestechung ablaufe und dass drittens das gesamte Gastronomiegewerbe unter alteingesessenen Gastronomen aufgeteilt sei, die voller Neid genauestens darauf achteten, dass es den anderen niemals zu gut gehe.

Aber wenn man der Poldi erklärt, dass die Wahrscheinlichkeit auf den Hauptgewinn in der Lotterie eins zu zehn Millionen stehe, dann sagt sie gut gelaunt: »Mei, pfeilgrad. Dann hab i ja eine Chance!« Denn vom Sportsgeist und von den Chancen des Lebens versteht sie was.

Kein bisschen eingeschüchtert stattete sie daraufhin den wichtigsten Wirten und Restaurantbesitzern kleine Antrittsbesuche ab und erklärte ihnen ihr Vorhaben. Was dazu führte, dass bald jedermann in Taormina über Donna Poldinas neues Projekt Bescheid wusste. Was dann über drei Ecken wiederum dazu führte, dass eine Woche nach ihrem Geburtstag, kurz nach dem Mittagessen, ihr Telefon dudelte. Plingplongdingedongdongdingdingdong. Eine hübsche Melodie, sanft und freundlich wie die chinesische Tropfenfolter.

Die Poldi ließ es klingeln. Sie hatte sich eigentlich zu einer kleinen Siesta hingelegt, doch der Lärm der Jugendlichen vom lungomare her ließ sie nicht in den Schlaf kommen. Die Poldi überlegte gerade, ob sie sich nicht mit einem klitzekleinen Gin Tonic in die verdiente Mittagsruhe verhelfen sollte, verkniff ihn sich aber, da sie sich vorgenommen hatte, die Finger von den harten Sachen zu lassen. Den Schuss Grappa in ihrem Morgenkaffee zählte sie nicht mit.

»Blöderweise«, unterbrach die Poldi jetzt Montana, der mir die ganze Vorgeschichte geduldig und in möglichst allen Details berichtete, »blöderweise hatte der Vito an dem Tag Dienst in der Präfektur in Acireale und würde erst gegen Abend in die Arme seiner Herrin und Gebieterin zurückkehren.«

»Gebieterin? Nicht dein Ernst jetzt, Poldi.«

»Mei, freilich«, erklärte sie mir ungerührt. »Der Vito ist mir doch mit Haut und Haar und seiner unersättlichen sicilianità verfallen. Ein Sklave meiner Lust. Des ist ja nebenbei auch des natürliche Verhältnis von Frau und Mann. Idealerweise hätt’ i da also gern den Vito vernascht, um danach in ein wunderbar wohliges postkoitales Koma zu fallen. Des ist, als wenn du in einen endlos tiefen Brunnen fällst und nachert dann ganz langsam wieder emporsteigst, verstehst? Wobei, des verstehst natürlich nicht, weil des kriegen halt nur sexuelle Ausnahmetalente wie der Vito und i hin.«

Zufrieden lehnte sie sich zurück. Die Tanten wandten sich feixend ab.

»Was hat sie gesagt?«, fragte mich Montana irritiert.

»Nichts«, seufzte ich. »Bitte weiter.«

Also wie gesagt, Siestazeit, die Poldi schlaflos, Plingplongdingedongdongdingdingdong, unbekannte Nummer, die Poldi drückt den Anruf weg.

Es war schwül im Haus, über dem Ätna braute sich was zusammen, die Luft schwer und feucht, wie angefüllt von einer üblen Vorahnung.

Auch den nächsten Anruf drückte die Poldi weg.

Doch kaum zwei Minuten später rief die Nummer erneut an, und dann hartnäckig Plingplongdingedongdongdingdingdong im Abstand von fünf Minuten.

Das fand die Poldi zwar ziemlich nervig, machte sie aber auch neugierig, da kam sie einfach nicht gegen an. Also nahm sie den Anruf irgendwann doch entgegen, bereit, der Person so richtig geharnischt den Kopf zu waschen.

»Pronto!«, knurrte sie gereizt in den Hörer, denn in Italien meldet man sich ja traditionell nicht mit Namen, sondern nur mit dem Hinweis, dass man empfangsbe­reit sei.

Was im Grunde reine Augenwischerei ist, denn Italiener sind naturgemäß eher auf Sendung als auf Empfang gepolt.

»Donna Poldina?«

Eine Männerstimme, so dunkel und ölig wie eine frisch frittierte Aubergine.

Die Poldi sagte nichts.

»Hier ist Favarotta. Aldo Favarotta.«

Er sagte es, als müsste die Poldi wissen, wer er sei. Das wusste die Poldi zwar tatsächlich, aber sie sagte immer noch nichts. Da könnte ja jeder behaupten, dass er der größte Schmierlappen der Region sei.

»Sind Sie noch dran?«

»Was wollen Sie, Signor Favarotta?«

Kurzer Raucherhusten.

»Ich möchte Ihnen ein Geschäft vorschlagen.«

Er sagte wörtlich: »un business«.

»Ich bin nicht interessiert.«

Kurze Irritation am anderen Ende.

»Wollen Sie gar nicht wissen, um was es geht?«

»Nein. Einen schönen Tag noch, Signor Favarotta.«

Die Poldi legte auf.

Zwei Minuten später rief Favarotta wieder an. Wahrscheinlich hatte er so lange gebraucht, um das Nein meiner Tante zu verdauen.

»Wissen Sie, Signor Favarotta«, erklärte ihm die Poldi. »Ich bin Deutsche. Im Herzen bin ich Sizilianerin und Massai, aber da oben im Kopf, da bin ich Deutsche durch und durch. Und wenn wir in unserer barbarischen teutonischen Kultur Nein sagen, dann meinen wir auch Nein. Weil, sonst würden wir Ja sagen, verstehen Sie?«

»Und wenn ich ein Angebot habe, das Sie nicht ablehnen können?«

Da würden Normalos wie ich natürlich sofort drauf anspringen. Der Punkt ist nur: Jedes Mal, wenn Männer so etwas zur Poldi gesagt hatten, war bereits der nächste Satz eine entwürdigende Frechheit gewesen, eine Drohung oder das Angebot einfach nur unterirdisch schlecht.

»Glauben Sie mir, das haben Sie nicht«, seufzte die Poldi müde. »Buona giornata.«

»Sind Sie denn gar nicht neugierig?«

Die Poldi legte auf.

Sie wartete einige Minuten, ob Favarotta es erneut versuchen würde, um ihn dann endgültig zu blockieren, aber diesmal schien er es kapiert zu haben.

Dennoch neugierig geworden, stellte die Poldi ein paar Nachforschungen im Internet über Favarotta an. Das ist so ein Reflex bei ihr. Was sie nun in verschiedenen Online-Artikeln und in sozialen Netzwerken über den Mann las, zeichnete das Bild eines skrupellosen, durchgeknallten Unternehmers mit angeblichen Mafiakontakten und einer allgemein durch und durch verschlagenen Natur. Der häufigste Hashtag in den Kommentarspalten war #gollum.

Favarottas Einkaufszentren und Outlets für Billigmode waren monströse Kitschpaläste im postmodernen Diktatorenbarock aus Beton, Glas, Messing und Fiberglas-Fassaden in Terrakotta-Optik und trugen Namen wie DragoMondo, Palazzo magico oder Shangri-La.

Sein neuestes Großprojekt war ein Komplex aus Themenpark, Shopping-Mall und Hotel namens Xanadu im touristisch unerschlossenen Süden Siziliens. Hier wollte Favarotta die sagenhafte, angeblich von Marco Polo entdeckte Sommerresidenz des chinesischen Kaisers Kublai Khan wiederauferstehen lassen. Das Bauvorhaben, las die Poldi bei ihren Recherchen, hatte bereits zahlreiche Umweltschutzorganisationen, Bürgerinitiativen und Tourismusverbände auf den Plan gerufen. Bislang mit mäßigem Erfolg, wie es aussah, denn in einem Interview kündigte Favarotta stolz und trotzig an, dass er im kommenden Herbst persönlich den ersten Spatenstich ausführen werde.

An diesem Punkt ihrer kurzen Recherche rief Favarotta, Plingplongdingedongdongdingdingdong, erneut an. Und da platzte der Poldi der Kragen.

»Kreuzbirnbaumundhollerstauden! Jetzt sperr die Ohren auf, du bleder Hammel, du Nullchecker!«, fuhr sie ihn auf Bairisch an, und dann auf Italienisch weiter: »Rufen Sie mich nie wieder an, Sie kleine Mistkröte. Ich will mit Ihnen nichts, aber auch gar nichts zu tun haben, kapiert? Ansonsten werden Sie mich kennenlernen! Haben Sie das jetzt verstanden?«

Für einen Moment Stille in der Leitung.

Dann sagte eine Frauenstimme in akzentfreiem Deutsch: »Bis auf die bairischen Flüche habe ich Sie sehr gut verstanden, Donna Poldina. Und wenn Sie mir fünf Minuten Ihrer Zeit geben, können wir vielleicht weitere Missverständnisse vermeiden.«

Die Frau klang freundlich und bestimmt. Als ob sie gewohnt sei, zu bekommen, was sie wollte.

»Und wer sind Sie jetzt?«, fragte die Poldi verblüfft.

»Silvia Favarotta. Mein Mann hat sich vorhin vielleicht nicht ganz klar ausgedrückt. Aber er würde sich geehrt fühlen, wenn Sie es einrichten könnten, bei uns vorbeizukommen und sich sein Angebot anzuhören. Es verpflichtet Sie zu nichts, es ist in keiner Weise unmoralisch, und ich kann Ihnen versichern, dass es wirklich interessant ist.«

Vielleicht war es der Tonfall der Frau, der Klang der deutschen Sprache oder schlicht die Neugierde, die die Poldi inzwischen gepackt hatte.

»Um was, in Dreiteufelsnamen, geht es denn?«, seufzte die Poldi jedenfalls.

»Um einen kleinen Gefallen.«

»Soso.«

»Meinem Mann ist zu Ohren gekommen, dass Sie eine Weinbar in Taormina eröffnen wollen und vor schrecklich bürokratischen Hürden stehen. So was kann Jahre dauern, wenn es überhaupt klappt, mein Mann weiß ein Lied davon zu singen.«

»Soso.«

»Aber mit seinen vielfältigen Verbindungen könnte mein Mann es möglich machen, dass Sie ganz unbürokratisch eine Ausschanklizenz und auch ein schnuckeliges Ladenlokal erhalten könnten. Was sagen Sie dazu?«

Die Poldi hatte so etwas geahnt. Unter normalen Umständen wäre sie sogar ein bisschen darauf angesprungen, aber nach ihrer Recherche über Favarotta war ihr sämtliche Lust vergangen, den Mann auch nur kennenzulernen. Auch wenn er eine Frau hatte, die gutes Deutsch sprach und ganz vernünftig wirkte.

»I bin nicht interessiert.«

»Ja, das habe ich mir schon gedacht.«

»So, haben Sie des!« Die Poldi lachte. »Und warum rufen Sie mich dann noch an?«

»Sagen wir, ein kleiner Test. Mein Mann hat natürlich noch ein besseres Angebot für Sie.«

Ehe die Poldi etwas einwenden konnte, sprach Silvia Favarotta weiter.

Und die Poldi nur so: »Jalecktsmiamarsch!«

Die Villa der Favarottas lag am Ortsrand von Gaggi, einem kleinen Ort unweit von Taormina, im Flusstal des Alcantara gelegen.