Tausche Brautkleid gegen Pistole - Regine Schneider - E-Book

Tausche Brautkleid gegen Pistole E-Book

Regine Schneider

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Beschreibung

Victoria Maiwald, Lokalredakteurin mit Karriereambitionen, plant ihre Hochzeit. Doch ihr Angebeteter bringt leider eine klettenhafte Mutter in die Beziehung mit ein. Erna will ihren Liebling auf keinen Fall freigeben und kämpft mit harten Bandagen. Victoria schließt sich einer Schwiegermutter-Selbsthilfegruppe an und kommt dort auf manch gute Idee. So richtig fällt der Groschen aber erst bei der Hochzeit ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Regine Schneider

Tausche Brautkleid gegen Pistole

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Inhalt

Tausche Brautkleid gegen Pistole [Teil 1]Tausche Brautkleid gegen Pistole [Teil 2]

Mein regelmäßig wiederkehrender Alptraum: Rüdiger sitzt in weiter Ferne auf einem Thron. Um ihn herum Nebelschwaden. Auf seinem Schoß eine Frau. Ihr Gesicht kann ich nicht erkennen. Sie hat den Arm um ihn gelegt und ruft: »Du gehörst mir! Für immer und ewig!« Ich brenne vor Eifersucht. Ich bin aufgewühlt. Vorsichtig schleiche ich mich heran. Sie bemerken mich nicht. Rüdiger blickt mit starren Augen ins Nichts. Die Frau sieht böse in meine Richtung. Da erkenne ich ihr Gesicht. Es ist seine Mutter. Erna. Mit Raubtiergebiß.Erna fletscht die Zähne und knurrt mich an. Sie will mich vertreiben.

Schweißgebadet werde ich wach und setze mich mit einem Ruck auf. 4.30 Uhr. Noch zwei Stunden, bis der Wecker rasselt. Ich blicke zu Rüdiger. Wie ein Baby liegt er auf dem Rücken. Die Arme angewinkelt rechts und links neben seinem Kopf. Unschuldig-entspannter Gesichtsausdruck. Der Mund ist geöffnet. Er schnarcht leise. Irgendwie muß ich jetzt reden.

Ich schiebe ihm meinen Zeigefinger in den Mund, tippe auf seine Zunge und ziehe den Finger schnell zurück. Rüdiger verschluckt sich und wird wach. »Was ist los?« murmelt er schlaftrunken.

Er vergißt Gott sei Dank immer sofort die Ursache seines Wachwerdens. Unschuldig sage ich: »Oh, du bist auch wach?«

»Du hast mich geweckt.«

»Ich habe dich gar nicht geweckt. Aber wo du schon mal wach bist, wieso sehe ich immer Erna auf deinem Schoß?«

»Weil du spinnst.«

Inzwischen bin ich hellwach: »Was haben Träume mit der Realität zu tun?«

Rüdiger ist sehr belesen. Er weiß auf alles eine Antwort. »Nichts. Träume sind Schäume. Laß mich jetzt schlafen.«

»Aber in Träumen stecken Signale. Die soll man nicht übergehen. Die wollen einem was sagen.« Ich bin putzmunter.

»Die soll man aber auch nicht wörtlich nehmen. Und schon gar nicht mitten in der Nacht. Ich bin müde.« Rüdiger rollt sich zusammen und dreht mir den Po zu. Er zieht demonstrativ die Decke über den Kopf. »Und hör auf mit deinen Gewalttätigkeiten.«

»Welche Gewalttätigkeiten?«

»Das weißt du genau. Wir reden morgen. Laß mich schlafen.«

Leider gelingt es mir nicht, ihn zu einem Gespräch zu animieren. »Nimm mich wenigstens in den Arm.«

Er dreht sich wieder um und stöhnt. »Na, dann komm, aber halt endlich deinen Mund.«

Ich bin kaum auf Rüdigers warme Bettseite gekrochen, da schnarcht er bereits. Typisch Mann. Kein Problembewußtsein. Keine Diskussionsbereitschaft. Immer alles unter den Teppich kehren.

Aber immerhin liege ich jetzt in seinen Armen. Seine Brusthaare kitzeln meine Nase, ich drücke meine Stirn in seine Armbeuge und atme tief. Ich denke über diesen Traum nach. Eigentlich ist Erna, meine zukünftige Schwiegermutter, ganz nett zu mir. Sie kreuzt nur etwas zu oft bei uns auf, was daran liegt, daß sie keinen Bekanntenkreis hat. Und kein Hobby. Zur Zeit plant sie unsere Hochzeit. Das ist ihr Hobby. Deshalb hat sie uns heute abend zum Essen in den Ratskeller eingeladen.

 

Ich rühre in meiner Kaffeetasse. Rüdiger hat sich hinter seiner Zeitung vergraben. Den nächtlichen Zwischenfall hat er wohl vergessen. Ich bringe die Sprache drauf.

»Rüdiger!«

»Hm.«

»Wir wollten über meinen Traum reden.«

»Welchen Traum?«

»Hast du heute nacht vergessen?«

»Was war denn heute nacht?«

»Du hast mir versprochen, daß wir heute reden.«

»Heute abend. Falls es nicht zu spät wird.«

»Heute nacht hast du gesagt, morgen früh. Heute abend sagst du, du bist abgespannt.«

»Nein, sage ich nicht.«

Er gießt sich hastig eine Tasse Kaffee ein, kippt Milch hinterher und stürzt den Kaffee in einem Schluck hinunter.

»Bin dann weg. Bussi.« Rüdiger hastet in den Flur, reißt sein Jackett vom Haken. Die Tür fällt ins Schloß.Kein richtiger Abschiedskuß.Morgens ist er immer wahnsinnig in Eile. Er hat im Amt für Statistik zwar gleitende Arbeitszeit, aber er bleibt immer bis zur letzten Minute im warmen Bett.

Seufzend gehe ich ins Badezimmer. Mein Arbeitstag beginnt erst um 9 Uhr. Ich verteile Tagescreme in meinem Gesicht. Dann klopfe ich Augenfältchencreme um meine Augen herum ein. Damit kann man gar nicht früh genug beginnen. Immerhin bin ich schon einunddreißig. Jetzt noch etwas Rouge, Lip gloss, die Wimpern getuscht. Es wird Zeit. Um 9 Uhr muß ich in der Redaktion sein. Vorher gehe ich immer beim Metzger vorbei und lasse mit Wurstbrötchen schmieren. Ich liebe frischgeschmierte Wurstbrötchen vom Metzger.

 

Über dem Schaufenster, in dem unser Lokalteil ausgehängt ist, steht auf einem großen Schild: Stinkelfurter Heimatnachrichten. An der Schelle steht: »Lokalredaktion Stinkelfurt.« Ich nehme zwei Stufen auf einmal. Abgehetzt komme ich im ersten Stock an.

Meine Kollegen sind bereits vollständig versammelt. Wolfhart Pneusemüller, den wir Schmeißfliege nennen, weil er sich nicht abschütteln läßt, wenn er recherchiert, hatte Bereitschaft. Manchmal weiß er mehr als die Polizei. Mir ist Pneusemüller unsympathisch, ich mag keine unzivilisierten Haudegen. Das ist er nämlich. In meinen Augen ist er ein halbgebildeter Kotzbrocken und Kulturbanause. Sein kultureller Horizont beschränkt sich auf das alljährlich in Stinkelfurt stattfindende Schützenfest, wo er sich vollaufen läßt, bis ihm der Faden reißt.

Mein Redaktionsleiter Heiko Adamkowitsch fragt wie immer sensationsgeil: »Wie war die Nacht, Pneusemüller? Kein Toter? Kein Schwerverletzter? Überhaupt kein Zwischenfall? Nicht gut, wir haben noch keinen Aufmacher.«

»Eine versuchte Vergewaltigung.«

»Ist doch schon mal was. Kann man ja etwas aufbauschen. Kann man nicht 'ne vollendete Vergewaltigung draus machen?«

»Schlecht, die Alte hat sich gewehrt. Der Typ ist geflohen.«

»'ne richtig Vergewaltigte kommt aber besser.«

»Ich seh mal, was sich machen läßt. Vielleicht hat er ihr ja wenigstens die Klamotten vom Leib gerissen. Dann hätten wir 'ne Nackte.«

»Die müßte aber durchfotografiert werden. Kann man das noch irgendwie stellen?«

»Vielleicht läßt se für die Stinkelfurter Heimatnachrichten noch mal die Hüllen fallen«, frotzelt Pneusemüller dreckig.

»Wie alt war se denn?«

»Knackige neunundzwanzig«, posaunt Pneusemüller und leckt sich die wulstigen Lippen. »Lange blonde Haare … Da fällt mir ein Blondinenwitz ein …«

Muß mir schon am frühen Morgen schlecht werden? »Pneusemüller, du bist ein frauenfeindliches Arschloch«, schäume ich.

»Oh, unser Mimöschen vom Dienst.«

»Ich möchte mal wissen, wie deine Frau das mit dir aushält.«

»Die weiß meine Schokoladenseiten sehr zu schätzen. Würdest du auch …«, deutet er anzüglich an, und ich glaube ihm kein Wort. Seine Frau muß ein extrem unterentwickeltes Selbstwertgefühl haben. Da unterbricht »tatütata« unser Gespräch. Polizei und Feuerwehr. Unser Fotograf Rolf Rasemeyer hat seinen Fotoapparat schon in der Hand.

Ein kurzer Anruf, und er ist im Bilde. »Sieh zu, daß du vor der Polizei da bist«, ruft Adamkowitsch. »Und halte richtig drauf. Wir wollen Blut sehen.«

In diesem Männerhaufen will ich Redaktionsleiterin werden. Heiko Adamkowitsch ist kurz vor der Pensionierung. Nächste Woche habe ich ein Gespräch mit dem zuständigen Chefredakteur in unserer Kreisstadt, wo die Zentralredaktion sitzt. Er gilt als Frauenfreund. Besser gesagt, er ist mit einer fortschrittlichen Emanze verheiratet, die ihn bei allen möglichen Gelegenheiten als Quotenmann vorführt.

Seine Frau ist Leiterin der Kreis-VHS und bemüht, in unsere Gegend, in der man sich an alten Werten festhält, fortschrittliches Gedankengut für uns Frauen zu tragen. Sie lädt gerne feministische Kursleiterinnen ein. Zu diesen Abenden muß mein Chefredakteur immer mit, um zu demonstrieren, daß ihn als Mann Frauenthemen brennend interessieren. Seine Frau bietet Seminare an wie »Wechseljahre und Lebenslust – jetzt starte ich richtig durch« oder »Nie mehr graue Maus – so gewinne ich Ausstrahlung« und »Die Power der Landfrauen«. Da muß unser Chefredakteur den Klimakteriumsgeplagten aufmunternd zunicken oder so tun, als fände er unscheinbare Landeier charmant und unwiderstehlich.

Einmal hat bei dem Seminar »Jeder Busen ist schön« eine extrem Hängebusige denselbigen spontan entblößt und meinen Chefredakteur gefragt, wie er ihn fände. Mit so etwas rechnet man in unserer stockkonservativen Gegend natürlich nicht. Da war er überfordert. Er muß, so wurde erzählt, sehr aus seiner inneren Balance gekommen sein. Seitdem wird er in Körperteilseminare nicht mehr mitgenommen.

Auf diesen Mann setze ich.

Ich mache mich an meine Arbeit. Das Übliche heute. Der TuS Stinkelfurt bietet neuerdings Callanetics-Kurse für Frauen an. Eine Meldung. Die Stinkelfurter Senioren ziehen ihren alljährlichen Seniorenkarneval um eine Woche vor. Auch eine Meldung. Dann schreibe ich weiter an meinem Artikel zu unserem fünfundzwanzigjährigen Stadtjubiläum, das demnächst bevorsteht. Vor fünfundzwanzig Jahren nämlich wurden Stinkelfurt die Stadtrechte verliehen. Für uns von den Stinkelfurter Heimatnachrichten Anlaß, Bilanz zu ziehen.

»An jedes Ortseingangsschild gehört bei uns das Hinweisschild ›Bitte nicht stören‹ und an den Ortsausgang ›Danke, es ist alles ruhig geblieben‹. In Stinkelfurt will das Völkchen besonders ruhig leben. Aber dient das dem Fortschritt und der Weiterentwicklung?« habe ich schon zu Papier gebracht. Ich will das Jubiläum zum Anlaß nehmen, um die Stadtväter mal etwas aufzurütteln. »Einerseits wollen wir mit der Zeit gehen, andererseits begegnen wir allem, was wir nicht kennen, mit Argwohn. Für Veränderungen und neue Menschen offen sein, das ist meine Vision für die nächsten fünfundzwanzig Jahre.« Ein treffender Appell. Und ein Seitenhieb auf die Unflexibilität unserer Stadtväter, die sich gegen jede Neuerung sträuben wie ein Hund, der bei Gewitter ins Freie gezerrt wird. Ich bin stolz auf mich.

 

Nach Redaktionsschluß renne ich noch schnell zu Ali. Ich brauche frisches Obst. Ali Alioglu ist Türke und Stinkelfurts Frauenheld. Er betreibt ein gutgehendes Obst- und Gemüsegeschäft. Seit wir in Stinkelfurt Aussiedler aus dem Osten aufnehmen müssen, gibt es bei uns keine Türkenfeindlichkeit mehr. Die Türken schimpfen jetzt auf »die Scheißossis« und erzählen Polenwitze.

»Ahh, schönstes Frau vom Stinkelfurt, was du wollen? Frischen Spargel, saftige Tomaten oder knackige Äpfel?« Ali breitet seine Arme aus und findet sich unwiderstehlich. Dabei sieht er mit vierzig schon aus wie Horst Frank mit achtundsechzig. Gelb, knitterig und verlebt.

»Trag nicht so dick auf, Ali. Wie geht es deiner Frau und deinen drei Kindern?« Die Frage holt ihn meistens wieder auf den Teppich.

»Frau viel Arbeit. Nie Zeit. Immer müde. Immer kaputt. Nix gutt für Mann«, beschwert er sich und steckt eine Zigarette an der anderen an. Ali ist Kettenraucher. Er streicht sich mit braunen Fingern durchs gewellte schwarze Pomadenhaar und pflanzt sich breitbeinig vor mir auf wie ein dampfender Hengst kurz vorm Sprung. Ich trete vorsichtshalber einen Schritt zurück.

»Wie wäre es, wenn du ihr mal die Kinder abnimmst?«

»Ach, Victoria, ich auch viel Arbeit. Kinder gehören zu Mama, nicht zu Papa.«

»Ihr Männer aus Anatolien denkt noch wie im Mittelalter. Ihr seid alte Machos.«

»Ich nix Macho«, grinst Ali frech. »Ich Freund von Frauen.«

Ayşe, seine Angetraute, ist um Ali nicht zu beneiden. Mit sechzehn wurde sie mit ihm verheiratet. Jetzt ist sie zwanzig und hat nicht nur Haushalt und Kinder am Hals, sie hilft auch mit im Geschäft. Ali sagt: »Ayşe hinten im Lager. Du kannst besuchen.«

Ayşe mag ich sehr. Eine sensible, temperamentvolle Schönheit. Da hat ihre Familie eine Perle vor die Sau geworfen. Ali versteckt sie unter Kopftuch und Wallewallekleider. Er betrachtet Ayşe als sein persönliches Eigentum und ist rasend eifersüchtig. Ali dagegen macht den Beschäler.

»Du bist kein guter Ehemann, Ali. Du mußt deine Frau mehr unterstützen«, sage ich, da kommt Ayşe herein.

»Schön, dich zu sehen, Victoria. Wie geht's?«

»Du hast in den drei Jahren besser Deutsch gelernt als dein Mann in zwanzig.«

»Danke.«

»Wie geht es dir und den Kindern?«

»Den Kindern gut. Aber mir rennt Zeit weg. Ich fühle mich wie alte Frau. Zuviel zu tun.«

»Laß deine Kinder mal bei ihrem Vater und komm mich besuchen, dann machen wir uns einen schönen Nachmittag.« An dieser Stelle greift Ali immer ein.

»Ayşe nix dich besuchen. Sonst kriegt Unsinn in Kopf.«

Heute habe ich keine Zeit, mich mit dem Gockel anzulegen. »Äpfel, Erdbeeren und Bananen. Ich muß mich beeilen.«

Ayşe dreht die Augen zum Himmel. Wir verstehen uns auch ohne Worte. Ali blickt leicht säuerlich. Gekränkte Eitelkeit. Er fühlt sich nicht genug gebauchpinselt. Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen.

 

Erna wartet schon im Stinkelfurter Ratskeller. Sie ist zu Fuß gekommen. Sie wohnt fünf Minuten von uns entfernt in einem kleinen von ihrer Familie geerbten Fachwerkhaus in einer Kopfsteinpflaster-Seitenstraße. Aus dem Häuschen könnte man richtig was machen.

»Kinder, ihr seid immer zu spät.« Vorwurfsvoll sieht sie uns an. Es ist 20.03 Uhr. Ihr Blick gleitet an mir herunter.

»Der Lippenstift paßt nicht zum Rock.«

»Mutti, heute kombiniert man Pink mit Knallrot.«

»Zu meiner Zeit gab's das nicht.«

Erna hat ihr Blaugeblümtes an. Um den Busen hemdblusig, unterhalb des Gürtels plissiert. Dazu trägt sie ihre Bernsteinkette.

»Kinder was wollt ihr essen? Hier ist die Speisekarte.«

In ihrer Gegenwart überfällt mich immer ein wahnsinniger Heißhunger. Ich könnte essen und essen. Natürlich beherrsche ich mich, aber auffällig ist das schon.

Erna nimmt das Angebot des Tages: Schweineschnitzel extra groß mit Pommes und Salat für 9,50DM. Schweineschnitzel unter zehn Mark gibt es sonst nirgends mehr.

»Rüdiger, bestell dir auch ein leckeres Schnitzel«, fordert sie ihren Sohn großzügig auf, »so was Gutes bekommst du zu Hause nicht.«

Ist das ein Affront gegen meine Kochkünste? Ich beschließe, darüber hinwegzuhören. Wie sagt Rüdiger immer? »Da mußt du drüberstehen. Mutti meint so was nicht böse.«

Rüdiger schließt sich Muttis Riesenschweineschnitzel an und bestellt statt Pommes Röstkartoffeln dazu.

»Das kostet extra«, sagt die Kellnerin.

»Dann nimmt mein Sohn auch Pommes«, entscheidet Erna. Rüdiger sagt nichts.

Ich wähle den Ratsherrentopf. Das sind verschiedene Steaks mit Pilzen, überbacken mit einer Sauce hollandaise, für 18,50DM. Dazu werden Röstkartoffeln und ein Salatteller gereicht.

»Victoria muß immer etwas Besonderes haben«, kommentiert Erna meine Wahl.

Wahrscheinlich ist es ihr zu teuer.

Das Essen nehmen wir relativ schweigend ein. Erna ist als erste fertig. »Kaiser«, ruft sie mit noch vollem Mund und schielt zu mir. »Victoria wird der Bettelmann.« Dann tupft sie sorgfältig ihre fettigen Mundwinkel aus und trinkt den Rest Fanta. Zum Schluß dreht sie den Kopf zur Seite und arbeitet hinter vorgehaltener Hand mit dem Zahnstocher. »Ein Gebiß ist etwas Furchtbares. Dauernd hängen sich Fleischfasern fest.«

Ich sehe solange bemüht an Erna vorbei zum Tresen. Da hockt die Mannschaft von der AOK Stinkelfurt und bechert Bier und Korn. Der AOK-Leiter heißt Paul Rammelmeier, hat ein Gesicht wie das Meerschweinchen von Ayşes Tochter und prostet mir freundlich zu.

»So, Kinder. Und nun zu eurer Hochzeit. Victoria, heute habe ich dein Kleid gesehen. Ich sage nur: weißer Satin. Sieht aus wie Seide. Weite Tüllbahnen drüber. Reifrock drunter. Ein Traum. Im neuen Schwabkatalog. Und nun der Knüller: ganze 750 Mark. Jetzt bist du dran.«

Nun muß ich entschieden widersprechen. »Mutti, ich will nicht wie Dornröschen heiraten. Außerdem kaufe ich mein Kleid nicht Monate vorher. Und schon gar nicht aus dem Katalog.«

»Du mußt doch immer eine Extrawurst haben, Victoria. Von wem hast du das bloß?«

Rüdiger hält sich raus. Er hat den Kopf in den Nacken gezogen und blickt etwas schmallippig. Er könnte mir ruhig mal den Rücken stärken.

»Und jetzt zur Kirchenfrage. Ich würde es gerne sehen, wenn ihr in der alten Dorfkirche von Stinkelfurt heiratet. Die ist am nächsten am Standesamt, da müssen wir dann nur rübergehen. Da beides an einem Tag stattfinden soll, kommen der 5. oder der 11. September in Frage. Anschließend gehen wir hier im Ratskeller essen. Ich habe mir schon ein Hochzeitsmenü überlegt. Ein Hühnersüppchen vorweg. Möhren, Bohnen, Spargel zu einem schönen Braten und Kartoffelkroketten. Wie findet ihr das? Zum Nachtisch eine Eisbombe.«

»Mutti, ich mag nicht meine Hochzeit von dir verplanen lassen.«

»Victoria, ich weiß nicht, was du immer hast. Ich nehme euch die Arbeit ab, und du maulst rum. Laß mir doch die Freude.«

Rüdiger unterstützt Mami: »Ja, laß ihr doch die Freude.«

Ich schweige und kratze mit einem Stück Brot die letzte Soße weg. Als ich fertig bin, habe ich das Gefühl, ich muß weiteressen. Eine Freßattacke? Nicht, daß ich noch hungrig wäre, aber irgendwie bildet sich ständig Speichel im Mund, so daß ich einen Schluckzwang habe. Fürchterlich. Vielleicht hätte ich Rüdiger vors Schienbein treten sollen.

»Ich nehme noch einen Nachtisch.«

»Den zahlst du aber selbst«, sagt Erna sofort. »Oder willst du auch einen, Rüdiger?«

»Ich nehme Vanillepudding wie von Großmutter.« Er hält doch zu mir. Den Pudding rühren sie hier nach altem Rezept an.

»Also gut, dann nehmen wir alle einen Nachtisch«, entscheidet sie. »Was nimmst du, Victoria?«

»Den Eistraum mit Sahne.«

»Soviel schaffst du noch? Den nehme ich auch.«

Als wir gegen 22 Uhr zu Hause sind, habe ich das Gefühl, ich trage einen Rettungsreifen um den Bauch.

»Ich brauche einen Jägermeister.«

»Ich auch«, sagt Rüdiger.

»Findest du nicht, daß Erna ziemlich dominant und rechthaberisch ist?«

»Ach, sieh das nicht so eng, Victoria. Du bist immer so eigen. Mutti ist eigentlich ein sehr herzlicher Mensch.«

So ganz kann ich seine Meinung nicht teilen. Aber ich sage nichts.

 

Am Donnerstag um 10.30 Uhr wird unser Dorf-Sheriff Hinrich Lorenz offiziell in den Ruhestand verabschiedet. In fünfundvierzig Dienstjahren hat er es zum stellvertretenden Leiter der Polizeidienststelle Stinkelfurt gebracht. Eine beispielhafte Karriere. Bei den Feierlichkeiten muß ich meinen Redaktionsleiter würdig vertreten.

Lustlos mache ich mich auf den Weg in die mit bunten Girlanden geschmückte Stinkelfurter Schützenhalle, wo Hinrich Lorenz seinen Abschied aus dem aktiven Polizeidienst feiert. Seine Schützenbrüder und -schwestern, seine Kegelfreunde und Kollegen, die Mitglieder aus dem Stinkelfurter Gebrauchshundeverein, wo Hinrich Lorenz mit seinem Schäferhund Bosko die Begleit- und Schutzhundeprüfungen absolvierte und den letzten internen Fährten-Pokalwettbewerb gewann, sind schon versammelt, um Hinrich ein würdiges Ende seiner Beamtenlaufbahn zu bereiten.

Unser Stadtdirektor Lothar Kumpelkötter hält eine Ansprache. Alle schweigen ergriffen.

»Die Polizei dein Freund und Helfer – dieser Spruch hat im Revier Stinkelfurt rund um die Uhr Gültigkeit. Hinrich Lorenz hat mit dem heutigen Tage ein sinnvolles und erfülltes Berufsleben beendet. Darauf kann er voller Stolz zurückblicken. Ich möchte nur an ein paar Erfolge erinnern. Wer hat damals die Einbrecher auf dem Martens-Hof dingfest gemacht? Das darf sich unser Hinrich Lorenz allein auf seine Fahne schreiben. Wer hat sich um die Sicherung der Schulwege verdient gemacht? Unser aller Hinrich. Wer hat sein wachsames Auge überall umherstreifen lassen? Der Dorf-Sheriff.«

Alle applaudieren heftig an dieser Stelle.

Lothar Kumpelkötters Blick wandert bewegt durch die Runde, um dann auf Mimi Lorenz ruhen zu bleiben. »Unser Dank gilt aber nicht nur ihm allein. Denn was hätte Hinrich Lorenz ohne seine Frau Mimi gemacht, die ihm stets tapfer zur Seite gestanden hat? Deshalb spreche ich beiden unser aller Dank aus.«

Er drückt Mimi Lorenz, die für diesen Ehrentag eine beige Bluse und einen schwarzen Rock gewählt hat, einen Gerberastrauß in die Hand. Mimi schnieft heftig bewegt und wühlt in ihrer schwarzen Handtasche nach einem Tempo. Der Sheriff, dessen Haarteil sich bei den vielen spontanen Umarmungen auf seiner kahlen Schädeldecke quergelegt hat, verdrückt verschämt ein paar Tränchen. Als er von Lothar Kumpelkötter eine Radierung mit dem Stadtwappen von Stinkelfurt im Holzrahmen überreicht bekommt, sagt er mit gebrochener Stimme: »Ich bin kein Mann der großen Worte, aber diesen schönen Tag werde ich nicht vergessen.« Dann kippt er schnell einen Kümmerling hinterher.

Bürgermeister Hajo Haverkamp hat eine dicke Havanna zwischen seine schmalen bläulichen Lippen geklemmt. Lothar Kumpelkötter schüttelt nach seiner Rede fleißig Hände. Ich habe immer die Befürchtung, daß seine Schweinsäuglein irgendwann in ihren Höhlen verschwinden und sein hochroter Kopf platzt.

Die Frauen der Mitglieder aus dem Gebrauchshundeverein kümmern sich rege um das leibliche Wohl. Sie haben gestärkte weiße Cocktailschürzchen um und gehen unermüdlich auf stämmigen Beinen mit Tabletts voller Korn- und Kümmerling-Pinnchen durch die Reihen. Außerdem haben sie Frikadellen gebraten und Kartoffelsalat gemacht, als Unterlage für die Hochprozentigen.

Nun wird der zweite Teil der Feier angesagt: »Liebe Gäste und Ehrengäste! Die Schützenbrüder und -schwestern haben liebevoll und mit viel Einfallsreichtum ein kleines Unterhaltungsprogramm vorbereitet. Laßt euch überraschen.«

In braunen Mönchskutten schreiten die Schützen, allen voran unser letzter Schützenkönig, nach vorn und sprechen abwechselnd zahlreiche Gebete, in die sie den Dorf-Sheriff einschließen. Das kommt gut an. Hinrich Lorenz ist wieder den Tränen nahe und kippt schnell einen weiteren Kümmerling und ein Bierchen hinterher. Gute Wünsche und dezente Hinweise wie »Der Mensch lebt nicht von Brot allein – es darf auch mal ein Schnäpschen sein« heben die Laune bei den Stinkelfurtern.

Ich will mich gerade wieder auf den Weg in die Redaktion machen, da bekommt mich Bürgermeister Hajo Haverkamp zu fassen. Er wischt sich die Fettreste vom Kartoffelsalat aus den Mundecken und drängt mir ein Pinnchen Korn auf. »Na, kein Redaktionsleiter heute?«

»Herr Adamkowitsch ist bei der Jahreshauptversammlung der Franziskus-Gemeinschaft.«

»Ach so, und Sie machen hier seine Vertretung?«

»Das kann man so sagen.«

In Stinkelfurt nimmt man es mit der Hierarchie sehr genau. Eigentlich ist die Verabschiedung von Hinrich Lorenz von der Wichtigkeit her ein Redaktionsleitertermin. Das wird sehr penibel registriert. Von unserer örtlichen Konkurrenz, dem Stinkelfurter Boten, ist der Redaktionsleiter da.

»Sie sehen ihn auf jeden Fall heute abend in der Ratssitzung«, versuche ich auszubügeln.

»Na ja, und morgen wird er ja wohl den Termin zum runden Geburtstag unseres Kreissparkassenleiters wahrnehmen. Da bin ich auch. Noch 'n Schnäpsken?«

Ich wehre ab, doch da habe ich schon wieder ein volles Pinnchen in der Hand.

»Unsere Stinkelfurter Mädels sind doch trinkfest. Oder irre ich mich da?« zwinkert mir Haverkamp mit glasigen Augen zu. Ich möchte nicht wissen, wieviel Klare der täglich zu sich nimmt.

»Ich muß leider gehen, was ich sehr bedauere«, rede ich mich raus. »Sie wissen ja, ein Termin jagt den nächsten.«

»Wir Stinkelfurter verstehen es zu feiern«, lallt Haverkamp hinter mir her.

Ich bin froh, als ich draußen bin.

Den Rest des Tages verbringe ich Meldungen schreibend. Auch das gehört zur Arbeit einer Lokalredakteurin.

 

Rüdiger ist schon zu Hause, als ich um 18 Uhr endlich die Tür aufschließe. Ich gebe ihm einen Kuß.

»Schon lange hier?«

»Seit einer Stunde.«

»Wie war dein Tag?«

»Ich habe den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen und Durchschnittswerte ausgerechnet.«

»Sehr prickelnd.«

Sein Jackett liegt auf dem Fußboden. Ein Schuh im Flur, einer im Wohnzimmer. Das Geschirr steht unabgeräumt auf dem Frühstückstisch, und die Betten sind auch nicht gemacht. Rüdigers dreckige Unterwäsche liegt noch von gestern neben seiner Bettseite.

Ich kann es mir nicht verkneifen: »Man merkt, daß deine Mutter dir immer alles hinterhergeräumt hat«, bemerke ich giftig.

»Hackst du schon wieder auf meiner Mutter herum?« kontert er ungehalten.

»Nein, ich übe berechtigte Kritik. Ist das zuviel verlangt, deine eigenen Sachen aufzuräumen?«

»Manchmal glaube ich, du brauchst Streit. Wenn es nichts zu nörgeln gibt, findest du was.«

In solchen Momenten möchte ich ihn würgen. Eines Tages mache ich es wahr: Ich werde seine sämtlichen Sachen einsammeln und einfach aus dem Fenster werfen. In den von ihm mit Wasserwaage und Zentimetermaß mathematisch penibel ausgerechneten Vorgarten, wo die Pflanzen in millimetergenauen Abständen sprießen. Das braucht er wahrscheinlich. Ich mache mich schweigend daran, die Spülmaschine einzuräumen.

»Nicht eine Tasse ist mehr sauber.«

»Überredet, ich mache die Betten«, lenkt er ein. »Obwohl das ja eigentlich Quatsch ist, denn in drei Stunden liegen wir wieder drin.« Die Weltsicht von Männern.

»So gesehen ist jede Hausarbeit Quatsch. Das Geschirr wird auch wieder dreckig. Trotzdem möchte ich nicht aus dreckigen Tassen trinken und von Tellern mit Essensresten essen.«

»Ist ja gut.«

Rüdiger hebt die Kopfkissen einmal hoch und läßt sie wieder fallen. Mit den Bettdecken tut er das gleiche. »Die Betten sind frisch aufgeschüttelt und einstiegsbereit.«

Das soll wohl witzig sein. Na immerhin hat er seinen guten Willen gezeigt. Ich werfe seinen zweiten Schuh in den Flur. Das reicht für heute. Gott sei Dank haben wir einmal die Woche eine Haushaltshilfe. Die teilen wir uns finanziell. Und wenn sie Rüdigers Hemden bügelt, muß er die Stunde allein zahlen. Dazu ist er aber meist zu geizig. Lieber zieht er seine Hemden knitterig an oder überläßt sie Erna zum Bügeln.

»Wer kocht?«

»Immer der, der eingekauft hat.«

Umwerfende Logik. »Dann gibt es Käsebrote mit Rotwein.«

»Nur?«

»Ich habe den guten türkischen von Ali mitgebracht.«

Nach Rotwein und Käse sieht die Welt wieder rosig aus. Rüdigers ansprechende Seiten, die, für die ich ihn liebe, treten deutlich in den Vordergrund. Ich sehe seine liebevollen Hände, seine sanften braunen Augen und sein Grübchenkinn. Rüdiger ist sehr zärtlich. Ich streichele seinen Rücken und fahre mit dem Finger an seiner Wirbelsäule hinunter. Dabei drücke ich meine Nase in seine Halsbeuge und schnuppere an ihm. Ich liebe seinen männlichen Duft. Wenn das Rasierwasser längst verflogen ist und Rüdiger einen leichten Schweißgeruch verströmt. Meine Hand wandert um seine Hüfte in Richtung Oberschenkel. Rüdiger zuckt zusammen. »Woher dieser Sinneswandel?« stöhnt er. Und schon greift er nach mir, lehnt sich meinen Händen entgegen und atmet immer heftiger. Er beißt sanft in meine Ohrläppchen, knöpft dabei meine Bluse auf und löst meinen BH-Verschluß.Seine Zunge wandert von meinen Ohren zu meinem Busen. Er saugt sanft an meinen Brustwarzen. Wir rollen auf den Teppich, und alles ist wunderbar. In solchen Momenten ist Erna in weiter Ferne und völlig ohne Bedeutung. Ich liege verschwitzt und selig in Rüdigers Armen, da schellt das Telefon. Ich hebe ab.

»Hier Mutti. Ihr laßt wohl auch nichts mehr von euch hören. Wenn ich nicht immer wieder anrufen würde …« Ihre Stimme trieft vorwurfsvoll.

Schweigend reiche ich den Hörer an Rüdiger weiter, der, nur noch mit einem Socken bekleidet, satt und zufrieden seinen Gedanken nachhängt. Rüdigers Gesicht verspannt sich.

»Sag ihr doch, daß sie im Moment stört«, flüstere ich ihm zu.

»Pscht«, er legt die Hand auf den Mund.

Drei Minuten herrscht Stille. Erna redet immer wie ein Wasserfall auf einen ein. Keine Chance, dazwischen zu kommen. Rüdiger läßt das über sich ergehen. Ich habe mir angewöhnt, mir eine Zeitschrift in greifbare Nähe zu legen, falls ich Erna an der Strippe habe. Die blättere ich dann in Ruhe durch. Seitdem bin ich bestens im Bilde über alle Königshäuser dieser Welt. Erna will nämlich nur reden. An Antworten erwartet sie lediglich manchmal ein Ja. Das reicht ihr.

Rüdiger verdreht die Augen zum Himmel. Nach fünf Minuten sagt er schleimig: »Okay, Mutti, bis Sonntag. Victoria freut sich.« Er legt den Hörer auf.

»Lüge«, fauche ich.

»Mutti kommt Sonntag zum Essen.«

»Warum können wir nie einen Sonntag ohne Erna verbringen?« Jetzt ist meine gute Laune wieder dahin.

»Victoria, sei doch vernünftig. Sie hat nur noch mich. Und du hast mich schließlich die ganze Woche. Erstens bleibt sie höchstens zwei Stunden. Zweitens kann ich sie nicht dauernd sich selbst überlassen, schließlich ist sie meine Mutter. Außerdem hat sie viel für mich getan.«

Ich bin leicht genervt. Noch nie hat Rüdiger gesagt: Es geht nicht, Mutti. Sogar auf dem Klo nimmt er ihren Anruf entgegen. Lieber kneift er Zähne und Pobacken zusammen, als einmal nein, Mami zu sagen.

 

In Stinkelfurt, unserem exakt 9997 Einwohner zählenden Provinzstädtchen, ticken die Uhren noch anders als in der Großstadt. Jeder kennt hier jeden. Das Leben verläuft nach bestimmten Mustern und Regeln. Aus der Reihe getanzt wird nicht. Wer es tut, wird ausgegrenzt. Berufstätige Mütter gelten als Rabenmütter, überzeugten Singlefrauen wird Lesbentum angedichtet. Frauen mit Karriereambitionen, wie ich eine bin, müssen sich nachsagen lassen, sie seien unweiblich. Hier sind erwachsene Frauen in der Regel Hausfrauen und Vollzeitmütter. Und leben mit ihren Schwiegermüttern unter einem Dach. Wer den Drang verspürt, sich zu engagieren, geht in die Stillgruppe oder den Hausfrauenbund. Viele Frauen singen im Kirchenchor. Der Pfarrer gilt noch als Respektsperson und Ratgeber.

Der Antrag auf eine Kindertagesstätte zur Entlastung berufstätiger Mütter – eingebracht von den zwei Mitgliedern der Stinkelfurter freien Wählergemeinschaft (SWG), die bei uns im Stadtrat sitzt – war gerade in der vorletzten Sitzung abgeschmettert worden: kein Bedarf. Dafür haben sich unsere Stadtväter für einen günstigen McDonald's-Standort im Zentrum von Stinkelfurt Am Alten Markt stark gemacht. Das soll Kaufkraft aus den Nachbargemeinden abziehen.

Heute habe ich Spätdienst. Die Redaktion liegt mitten im Zentrum. In einem kleinen Fachwerkhäuschen im ersten Stock. Andere haben jetzt Feierabend und machen letzte Einkäufe. Ich höre das Getrappel eiliger Füße von der Straße her. Es ist nichts los. Gelangweilt blättere ich in den Unterlagen zur nächsten Hauptausschußsitzung. Die öffentliche Sitzung ist langweilig. In der nichtöffentlichen bahnt sich ein kleiner Skandal an. Irgend jemand im Bauamt hat großzügig darüber hinweggesehen, daß die neue Kegelbahn vom Stinkelfurter Ratskeller weit umfangreicher ausgefallen ist, als in der Baugenehmigung vorgesehen. Sie ragt unterirdisch bis unters Nachbargrundstück. Keiner im Bauamt will beide Augen zugedrückt haben, und jetzt wird versucht, das Ganze in nichtöffentlicher Sitzung aus der Welt zu schaffen, indem man sich mit dem Nachbarn im nachhinein einigt. Weil der Wirt vom Ratskeller die CDU sponsert. Und die hat im Stadtrat die Mehrheit.

Wir haben natürlich unsere Informanten. Auch wenn die Öffentlichkeit von den Sitzungen ausgeschlossen wird, erfahren wir alles, was wir wissen wollen. Allerdings ist Adamkowitsch auch in der CDU. Und deshalb wird in den Stinkelfurter Heimatnachrichten nur gewettert, wenn die Gegenseite etwas verbockt hat.

Es schellt. Ich drücke auf den Türöffner. Eine junge Frau – für Stinkelfurt reichlich exotisch angezogen – kommt die Treppe herauf. Schwarze Pumphosen, eine nachtblaue Pannesamtjacke, Cowboystiefel und eine hellblaue Riesenschärpe um den Bauch. Rote Haare und Sommersprossen. Ich habe sie noch nie vorher gesehen. Eigentlich kenne ich Hinz und Kunz in Stinkelfurt.

»Womit kann ich dienen?« frage ich mit höflicher Distanz.

»Ich heiße Ulle Lund, bin Diplompsychologin und möchte eine Meldung in die Zeitung setzen.«

»Mit welchem Inhalt?«

»Wir möchten eine Frauengruppe ins Leben rufen.«

»Was für eine Frauengruppe? Hausfrauengruppe, Müttergruppe, Mutter-Kind-Gruppe, konfessionelle Frauengruppe oder was?« gehe ich die in Frage kommenden Möglichkeiten durch. »Sie müssen das schon etwas konkretisieren.«

»Eine Selbsthilfegruppe.«

Mir fällt unsere Tinnitus-Selbsthilfegruppe für Hörgeschädigte ein. Und eine Mukoviszidose-Selbsthilfegruppe. Für die haben wir gerade mit großem Erfolg eine Spendenaktion für ein Schleimabsauggerät gestartet. Diese Selbsthilfegruppen sind allerdings für Frauen und Männer. Ich überlege, welche frauenspezifischen Behinderungen es gibt, und frage: »Eine Behindertenselbsthilfegruppe?«

»Eine Selbsthilfegruppe für schwiegermuttergeschädigte Frauen.«

»Schwiegermuttergeschädigt? Bei uns in Stinkelfurt? Ich bezweifle, daß so was hier ankommt.«

»Wir wollen Schwiegertöchtern den Rücken stärken, das Selbstwertgefühl unterstützen und Hilfestellung geben beim Verhalten dem Mann gegenüber. Wir haben in zwei Wochen unsere Auftaktversammlung, und da haben wir eine Referentin eingeladen. Ihr Vortrag heißt: ›Seine Mutter – meine größte Rivalin.‹«

»Ist das denn heutzutage noch ein Thema?«

»Oh, Sie glauben gar nicht, wieviel Frauen unter ihrer Schwiegermutter leiden.«

»Tatsächlich?« frage ich ungläubig.

»Gerade in ländlichen Gebieten wie diesem«, fährt sie fort.

»Wie kommt das denn?« will ich wissen.

»Ich sage nur das Stichwort ›Muttersöhnchen‹. Wenn Sie Interesse haben, kommen Sie zu meiner Veranstaltung.«

Das werde ich mir nicht entgehen lassen. Schon um zu sehen, wer da hingeht. Hier erzählen sich beste Freundinnen nicht einmal untereinander, daß sie eine böse Schwiegermutter haben.

Da sagt Ulle Lund: »Ich habe noch eine zweite Bitte. Ich bin Psychotherapeutin, komme aus Frankfurt und habe das kleine leerstehende Ladenlokal in der Hauptstraße gemietet. Ich will dort eine psychotherapeutische Praxis eröffnen. Die Schwiegermutter-Selbsthilfegruppe ist nur eines meiner Angebote.«

Für eine Psychotherapiepraxis in Stinkelfurt sehe ich allerdings ganz schwarz.

»Ganz schön mutig. Ich glaube nicht, daß Stinkelfurter Männer ihre Frauen in eine psychotherapeutische Praxis an der Hauptstraße gehen lassen«, wende ich ein. »Da sieht doch jeder, wer bei Ihnen ein und aus geht. Außerdem setzt man hier psychische Störungen mit geistiger Umnachtung gleich.«

Verständnislos sieht sie mich an. »Es kommt auf einen Versuch an. Gerade Frauen in solch unterversorgten, rückständigen Regionen wie dieser benötigen dringend eine unabhängige Lebensberatungsstelle. Und Männer ja vielleicht auch. Depressionen beispielsweise sind in diesen sogenannten Heile-Welt-Gegenden sehr verbreitet.«

Womit sie sicher recht hat. Unterversorgt und rückständig will ich jedoch überhört haben. Schließlich gibt es hier auch Frauen wie mich. Aber das müssen wir jetzt nicht diskutieren. Trotzdem lege ich Wert darauf, mein kritisches Bewußtsein zu demonstrieren: »Sie haben insofern recht, als sich Frauen hier eher vom Hausarzt oder Frauenarzt mit Antidepressiva und Tranquilizern vollstopfen lassen und schweigen, als in der Hauptstraße in aller Öffentlichkeit eine Psychologin aufzusuchen. Na, vielleicht bekommen Sie Kundschaft aus den Nachbargemeinden. Jedenfalls haben Sie sich viel vorgenommen.«

Ich könnte ja einen Artikel über ihre Praxis schreiben und in dem Zusammenhang ihre Schwiegermutter-Selbsthilfegruppe erwähnen. Ich bin echt gespannt, wieviel Stinkelfurterinnen sich da hintrauen werden. Ulle Lund hat gleich den Saal im Stinkelfurter Ratskeller angemietet. Die hat Illusionen.

 

Am Sonntagmorgen bin ich schon um 9 Uhr hellwach und rechne aus, wann ich mit dem Kochen anfangen muß, damit wir um 13 Uhr essen können. Natürlich habe ich klein beigegeben – um des lieben Friedens willen. Entsprechend ist meine Laune.

»Rüdiger.«

»Was ist?«

»Du hast immer noch nicht mit mir über meinen Traum geredet.«

»Muß das gerade heute sein?«

»Ja.«

»Ich sagte doch schon, das darf man nicht wörtlich nehmen.«

»Meine Mutter ist nicht halb so oft bei uns wie deine.«

Jetzt beschließt Rüdiger, meine schlechte Stimmung einfach zu übergehen. Er hört die neue CD von Celine Dion. »Tolle Stimme. Und die Frau sieht super aus«, wechselt er ignorant das Thema. Das macht meine Laune nicht besser.

Punkt 12.30 Uhr schellt es Sturm. Erna ist zwar aufdringlich, aber nicht unsensibel. Immer bringt sie mir Blumen mit, wenn ich koche. Sie drückt mir sieben Moosröschen mit Schleierkraut in die Hand. Eigentlich verabscheue ich Moosröschen mit Schleierkraut. Da hätte sie mir gleich ein Alpenveilchen schenken können. Gräßlich. Aber dazu sage ich nichts, sonst gelte ich wieder als undankbar.

Rüdiger überreicht sie ein viereckiges flaches Paket. Erna bringt uns dauernd irgendwelchen Kram mit. Sie ist begeisterte Schnäppchenjägerin. Ich habe den Eindruck, die Zeit, die sie nicht bei uns verbringt oder in der sie nicht mit uns telefoniert, verbringt sie an irgendwelchen Wühltischen mit Supersonderangeboten. Sie ist immer mächtig stolz, wenn sie wieder ganz billig irgend etwas ergattert hat, was keiner brauchen kann.

»Pack doch mal aus, Rüdiger«, drängelt sie.

Rüdiger tut ihr den Gefallen. Zum Vorschein kommt Bettwäsche. Knallbunt und aus Feinbiber. Mit Motiven aus dem Dschungelbuch. Vom Kopfkissen grinst uns Bär Balu an, über die Bettbezüge springt Mogli und hangelt sich von Liane zu Liane. Die Schlange Ka schaut gierig hinter ihm her. Erna blickt uns erwartungsvoll an.

»Ist die nicht toll?« drängelt sie, da wir beide betreten schweigen. »Also, das war ein Supersonderangebot. Die letzten Bezüge mit diesem Motiv. Und Rüdiger liebt den Film doch so sehr. Er war mindestens fünfmal im Kino. Als kleiner Junge wollte er nur in Dschungelbuchbettwäsche schlafen.«

Ja, und die Videokassette haben wir auch. Aber Rüdiger ist inzwischen dreiunddreißig. Und den Dschungelbuchfilm hat er sich schon lange nicht mehr angesehen. Von Rüdigers Kinderwünschen mal abgesehen, habe ich nicht die geringste Lust, meinen Kopf auf Balu in Feinbiber zu betten und mich von Ka angiften zu lassen. Und überhaupt soll Erna endlich aufhören, so zu tun, als wäre Rüdiger noch im Kindergartenalter. Das behalte ich aber für mich.

»Ihr freut euch ja gar nicht«, stellt Erna sichtlich enttäuscht fest.

Rüdiger beeilt sich gequält zu sagen: »Eine originelle Idee, Mutti. Wir sind nur ganz überrascht.«

Ich pendele zwischen meiner guten Erziehung und meiner Empörung hin und her. Schließlich entscheide ich mich für Nachgeben und bestätige lasch: »Auf jeden Fall ungewöhnlich, Mutti.«

Ich beschließe, es dabei zu belassen und die Wäsche in die nächste Rotkreuzsammlung zu geben. Dann landet sie vielleicht in einem Waisenhaus in der Ukraine und erfüllt da wenigstens einen sinnvollen Zweck. Uns erspart es eine sinnlose Diskussion.

»Victoria, nach dem Essen kannst du mir Rüdigers Hemden geben. Wahrscheinlich liegen sie ungebügelt irgendwo herum? Der Bub muß doch ordentlich im Amt erscheinen.«

Erna findet, daß ich, als voll berufstätige Frau, für Rüdigers Wäsche zu sorgen habe. Ich finde, seine Hemden kann er allein bügeln, wenn ihm das zusätzliche Geld für die Putzhilfe zuviel ist. Und wenn er das nicht tut, geht er ungebügelt. Seine Entscheidung. Er kann froh sein, daß ich seine dreckigen Sachen mit in die Maschine werfe und aufhänge. Erna findet, Bügeln ist Frauensache. Noch während seines Mathematikstudiums konnte Rüdiger immer mit Wäschesäcken nach Hause kommen.

»Guck nicht so grimmig, Victoria. Männer können das nicht«, maßregelt sie mich.

»Ich finde, Rüdiger ist erwachsen, und als Erwachsener sollte er in der Lage sein, sich selbst um seine Hemden zu kümmern.« Ich ärgere mich darüber, daß ich mich vor Erna rechtfertige.

»Das hat doch nichts mit Erwachsensein zu tun. Schließlich ist Rüdiger ein hart arbeitender Mann mit Verantwortung. Da kann man ihm als Frau doch dies bißchen abnehmen. Das ist eine Frage des guten Willens und der inneren Einstellung.«

»Ich arbeite genauso hart«, sage ich und finde, es klingt wie eine Entschuldigung.

»Aber du bist eine Frau.«

Zwecklos, Erna überzeugen zu wollen. Die Frauenbewegung ist glatt an ihr vorbeigegangen. Wenn ich sie ließe, würde sie noch unsere Bettwäsche und Handtücher bügeln. Aber da setze ich mich durch. Wenigstens da.

Ich habe Hähnchenbrust süß-sauer gemacht. Erna und Rüdiger sitzen wie immer schon am Tisch und warten, daß ich sie bediene. Ich rufe: »Rüdiger, mach doch bitte eine Flasche Wein auf und trag schon mal den Reis rein.« Aber wenn Mutti da ist, ist er auf dem Ohr taub.

Da kommt Erna in die Küche und sagt mit sanftem Tadel: »Laß Rüdiger mal sitzen. Das können wir zwei doch machen.«

Sie schnappt sich die dampfende Reisschüssel, verschwindet im Eßzimmer und setzt sich wieder an den Tisch. Als ich mit der Hähnchenbrust und dem Wein komme, ruft sie: »Oh, wie schön, Victoria hat Gulasch gemacht. Wie kommt's? Du kochst doch sonst immer exotisch.«

Ich schweige.

Erna füllt Rüdiger Reis und Fleisch auf den Teller. Dann bedient sie sich, und danach schiebt sie mir die Schüsseln hin. Nach der ersten Gabel verzieht sie das Gesicht. »Doch kein Gulasch. Wieder dieses fremdländische Zeugs. Und scharf ist das«, sie holt tief Luft.

»Das ist nicht scharf, das ist süß-sauer«, sage ich patzig.

»Wann hörst du endlich auf mich, Victoria? Ich kenne Rüdiger länger als du. Er mag kein exotisches Essen. Koch nach meinem Rezept, und du wirst sehen.«

Ich sehe Rüdiger an. »Sag deiner Mutter bitte, daß du gerne süßsauer ißt.«

Rüdiger zieht den Kopf in den Nacken und sagt mit belegter Stimme: »Stimmt, Mutti, da muß ich Victoria recht geben. Ich esse das gerne.«

Er hat zu mir gehalten und Erna widersprochen! Dankbar und liebevoll sehe ich ihn an. Da sagt Erna: »Es ist lieb, daß du Victoria den Rücken stärkst. Aber mir kannst du nichts vormachen. Ich bin schließlich deine Mutter.« Muß sie immer das letzte Wort haben?

Exotisch hin, scharf her, die Teller sind jedenfalls leer. Ich räume das Geschirr ab. Erna macht sich im Wohnzimmer mit der Bügelwäsche breit. Rüdiger hockt bei Mami. Hoffentlich geht sie bald. Wir wollen abends ins Kino. Ich freue mich schon die ganze Woche drauf. Filmpalast Stinkelfurt heißt unser hiesiges Kino und besteht aus einem großen Saal mit einer veralteten Leinwand. In der Regel laufen Filme mit Arnold Schwarzenegger oder Sylvester Stallone, die gehen hier am besten. Heute wird ausnahmsweise mal ein Film mit Glenn Close gezeigt.

Ich höre nur Wortfetzen. Überwiegend spricht Erna. Rüdiger sagt nur ab und zu: »So ist es, Mutti.« Ich verstehe etwas von »Reise« und »nicht allein« und »fühle mich immer so einsam«. Und dann kommt: »Ja, Mutti.« Soll sie doch jemanden mitnehmen, wenn sie nicht allein fahren will. Endlich steht sie auf.

»So, Kinder, ich will euch nicht länger stören. Jetzt hat Rüdiger wieder Hemden für die ganze Woche. Was würdet ihr nur ohne mich tun?« Dabei lächelt sie süßlich. Ich atme auf. Endlich. Im Aufbruch fällt ihr Blick plötzlich auf meine Vitrine und bleibt darauf haften. Sie stutzt. »Victoria, die ist ja voller Staub.« Ihr Zeigefinger fährt vorwurfsvoll über das Holz und schiebt ein Staubhäufchen vor sich her. »Sieh dir das an!«

Das hat unsere Putzhilfe wohl vergessen. Ich kann nichts dagegen tun, ich fühle mich ertappt. Geradezu schuldig. Das hat mir noch gefehlt. Es ist der krönende Abschluß des Sonntags mit Erna. Das I-Tüpfelchen. Mir kommt aber nichts Schlagfertiges über die Lippen. Ich ärgere mich schwarz über mich.

Rüdiger, der meine zornige Verlegenheit bemerkt und eine weitere Eskalation fürchtet, lenkt ab: »Soll ich dich schnell fahren, Mutti?«

»Ach, das ist nicht nötig, Rüdiger.« Das sagt sie nur. In Wirklichkeit erwartet sie geradezu, daß ihr Sohn sie fährt.

Rüdiger sagt brav: »Kommt nicht in Frage, Mutti, ich fahre dich.«

Ich gehe in die Küche. Das Staubhäufchen lasse ich so liegen, wie Ernas rechthaberischer Finger es aufgetürmt hat. Als Rüdiger zwanzig Minuten später zurückkommt, schäume ich: »Erna soll aufhören, mich zu bevormunden.«

»Aber Victoria. Du bist ja außer dir. Beruhige dich wieder. Sie meint es doch nicht so. Sei vernünftig. Sie ist eine andere Generation. Sie will dich bestimmt nicht verletzen.«

»Tut sie aber.«

»Das ist nicht ihre Absicht. Nimm dich zusammen. Sie ist schließlich meine Mutter.«

 

Vor unserer täglichen Redaktionskonferenz gehe ich noch schnell bei Horst und Hermine Husemann in der Lämmertwiete 28 vorbei. Die beiden feiern goldene Hochzeit. Wir bringen zu diesem Anlaß immer ein nettes Foto mit unserem Bürgermeister, der zum Gratulieren kommt, und schreiben ein paar Zeilen.

In der dunklen Zweizimmerwohnung schlägt mir beißender Alteleutegeruch entgegen. Wahrscheinlich wird nur selten gelüftet. Unser Fotograf, Rolf Rasemeyer, genannt der schöne Rolfi, ist schon da. Er versucht gerade, das Jubelpaar um den Bürgermeister zu gruppieren. Horst Husemann hat die Achtzig weit überschritten und ist schon arg tatterig. Deshalb lehnt Rasemeyer ihn an die Wand und stützt ihn von rechts mit einem Sessel. Husemanns rechte Gesichtshälfte ist seit einem Schlaganfall gelähmt, und deshalb dreht Rasemeyer ihn geschickt so, daß die linke Gesichtshälfte zu sehen ist.

Hermine, die zehn Jahre jünger und wesentlich rüstiger als ihr Gatte ist, hat ihrem Horst eine Krawatte aus den fünfziger Jahren umgebunden.

Rolf fordert jetzt Bügermeister Haverkamp auf, die Havanna beiseite zu legen und Hermine Husemann den Blumenstrauß und den Bronzeteller mit dem Stinkelfurter Stadtwappen zu überreichen.

»Alle mal herschauen und lächeln«, ruft Rasemeyer. Horst Husemann blickt verwirrt in die falsche Richtung.

»Und noch einmal, zur Sicherheit«, ruft Rolfi.

»Aber jetzt habe ich den Teller und den Strauß ja schon, was soll ich denn nun machen?« fragt Hermine Husemann irritiert.

»Na, geben Sie beides unserm Bürgermeister zurück, und dann bekommen Sie es noch mal.«

»Ach so«, sagt sie erleichtert.

Nachdem Rolfi das zweite Mal abgedrückt hat, plumpst Horst Husemann erschöpft in den Sessel.

»So sitzt der den ganzen Tag«, sagt Hermine.

»Jetzt noch ein kleines Interview«, sage ich aufmunternd. Von der Konkurrenz ist Hans-Wilhelm Stöpsel, der stellvertretende Redaktionsleiter, da und schreibt auch mit.

»Also, wo haben Sie sich kennengelernt?«

»Wir mochten uns sofort«, sagt Hermine.

»Ja, und wo haben Sie sich das erste Mal gesehen?«

»Es war sehr schön«, erinnert sich Hermine.

»Und wo hat es stattgefunden?«

»Beim Schuster.« Endlich.

»Sie gaben also beide Schuhe beim Schuhmacher ab?«

»Nein, falsch.«

»Wie denn?«

»Ich habe Schuhe hingebracht, und Horst lieferte Kohlen an.«

»Beim Schuster?«

»Ja.«

»Und da hat es gefunkt?«

»Ein Jahr später war Hochzeit. Es war sehr schön. Dreißig Kriegskameraden haben ein Spalier gebildet.«

Nach einer halben Stunde haben wir genug Informationen für zwanzig Zeilen zusammen. Ich bin froh, an der frischen Luft zu sein, und atme tief durch.

 

Ich komme gerade pünktlich zur Redaktionskonferenz. Lauter nebensächliche Nachrichten. Die Freiwillige Feuerwehr hat Tag der offenen Tür. Am Wochenende ist Stinkelfurter Flohmarkt rund um den Alten Markt, und der Hausfrauenbund veranstaltet buntes Osterkörbchenbasteln für den Osterbasar.

Jeden Morgen das gleiche: »Uns fehlt ein geiler Aufmacher. Ist heute nacht irgendeine schöne Sauerei passiert?« Adamkowitschs Gedanken kreisen nur um Mord, Totschlag und Vergewaltigung.

»Nichts passiert.«

»Nicht gut. Die Leute wollen Sensationen. Dann müssen wir eben welche machen.«

Eine günstige Gelegenheit, die Schwiegermutter-Selbsthilfegruppe anzubieten. Und diese Psychopraxis. Ich habe beschlossen, daß man der Frau eine Chance geben sollte, und überlege, wie ich meine Themen möglichst gut verkaufen kann. Adamkowitsch muß begeistert sein. »Ich habe ein Superthema.«

Pneusemüller blickt mich vorbeugend skeptisch an. Das tut er immer, um mich zu verunsichern. »Komm bloß nicht mit so 'nem Frauenscheiß«, macht er meinen Vorschlag schon mal vorsorglich mies. Typisch. Aber ich bin vorbereitet.

»Man glaubt es kaum, doch jede dritte Ehe kriselt wegen der Schwiegermutter. Ich habe mir Zahlen kommen lassen. 14 Prozent aller Beziehungen gehen ihretwegen auseinander. Die böse Schwiegermutter lebt. Und hier bei uns in Stinkelfurt wird nächste Woche eine Schwiegermutter-Selbsthilfegruppe gegründet.« Triumphierend blicke ich in die Runde.

Adamkowitsch kramt konzentriert in dem Schuhkarton, auf den er »Allerlei-Kästchen« geschrieben hat. Darin landen Nägel, Glühbirnen, Kugelschreiber ohne Minen. Er schmeißt nichts weg. Pneusemüller gähnt.

Rolf Rasemeyer kratzt sich am Kopf und fragt lustlos: »Wie soll man das denn bebildern? Soll ich 'ne Alte mit 'ner Nudelrolle fotografieren?«

»Wen interessiert das?« fällt Pneusemüller ein. »Was haben wir überhaupt damit zu tun?«

»Das interessiert alle Schwiegertöchter«, sage ich zu meinem Kollegen. »Sieh doch mal hinter die Fassaden. Gerade hier in Stinkelfurt. Hier wird nach außen der Schein gewahrt. Und wenn du mal etwas daran kratzt, hast du einen Haufen frustrierter Frauen. Ihr Männer macht doch sowieso, was ihr wollt.«

»Ach, aus der Richtung weht der Wind«, stänkert Pneusemüller. »Jetzt sind wir Männer wieder dran. Könnt ihr Weiber euch nicht mal was Neues ausdenken?«

Ich lasse mich nicht aus dem Konzept bringen. »Der Unterschied zwischen Männern und Frauen ist: Die Frau vergräbt sich zu Hause und bekommt Depressionen, ihr Männer sauft und schüttet euch mit Arbeit und ach so wichtigen Terminen zu. Was glaubt ihr wohl, warum die Depressionsrate bei Frauen gerade in Kleinstädten so hoch ist? Ich wette, hier nimmt jede dritte Psychopharmaka. Und genau deshalb ist hier auch eine psychotherapeutische Praxis dringend notwendig. In der Hauptstraße macht am nächsten Ersten eine auf.«

Rasemeyer fragt: »Hast du das heute nacht auswendig gelernt?«

Pneusemüller blickt begriffsstutzig. »Wie? Was? Ein Seelenklempner läßt sich hier auch noch nieder? Was will der denn hier?« fragt er blöde.

»Du solltest der erste sein, der sich da mal auf die Couch legt«, kontere ich. »Ist übrigens eine Sie. Dieselbe, die auch die Schwiegermutter-Selbsthilfegruppe ins Leben ruft. Eine Diplompsychologin mit Doktortitel. Ulle Lund.«

Frauen mit Doktortitel kann Pneusemüller nicht verknusen. Da melden sich seine Minderwertigkeitskomplexe.

»Hoho, mit Doktortitel. Dann mußte sie ihren Doktor wohl selber machen. Im übrigen soll deine Psychologin eine Anzeige aufgeben und die auch bezahlen. Wo kommen wir hin, wenn wir für jeden Scheiß gleich einen Artikel schreiben. Wir sind eine Redaktion und keine kostenlose Werbezeitung.« Die Diskussion nimmt die übliche Wende.

Adamkowitsch sagt lahm: »Sind zwei Meldungen. Oder fassen Sie beides in einer zusammen.« Jetzt hat er gefunden, wonach er gesucht hat. Einen rostigen Teelöffel. Damit versucht er einen Bleistiftstummel aus einer Heizungsritze zu stoßen. »Der Aufmacher fehlt immer noch. Zur Not ziehen wir die Feuerwehr groß.Die haben zwei Dienstjubiläen. Ein zehn- und ein fünfzehnjähriges. Außerdem haben wir die Husemanns. Die knalle ich auch auf Seite eins.«

»Löst euch doch mal von euren überholten männlichen Vorstellungen. Mindestens die Hälfte unserer Leser ist weiblich. Für die müßt ihr auch was bringen. Die interessiert das!« sage ich.

»Die wollen auch Lokalkolorit. Die Jubilare kennt jeder.«

»Eine Schwiegermutter-Selbsthilfegruppe hat Lokalkolorit, weil sie in Stinkelfurt stattfindet«, starte ich einen letzten Versuch. »Und eine psychotherapeutische Praxis auch.«

Pneusemüller sagt: »Nur wenn auch wirklich Stinkelfurterinnen hingehen. Das bleibt abzuwarten. Wenn diese Frau Doktor passabel aussieht, kann Rasemeyer ja ein Pin-up von ihr machen.« Dabei schlägt er sich mit seinen Pranken auf seine gedrungenen Schenkel und lacht dreckig. »Und ich geh sie dann vernaschen.«