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Selbstbestimmung und Teilhabe als zentrale Bestimmungsmomente einer umfassenden Kultur des Zusammenlebens sind work in progress: Sie realisieren sich durch Bildung, Beratung und Begleitung und richten sich auf die Entwicklung der individuellen Personen, der institutionellen Bedingungen und gesellschaftlichen Zusammenhänge. Das Fachkonzept Teilhabe-Dialog nimmt die dafür relevanten anthropologischen, sozialwissenschaftlichen und sozialrechtlichen Perspektiven in den Blick. Diese führen zu einer sozialen Diagnostik und Agogik, die Menschen mit Assistenzbedarf die zentrale und aktive Rolle in der Behandlung ihrer eigenen Angelegenheiten ermöglicht und die Voraussetzungen für die grundlegende Erfahrung von Selbstwirksamkeit bildet
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Seitenzahl: 251
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Cover
Titelei
Vorwort
Einführung
1 Fachkonzept Teilhabe-Dialog
1.1 Selbstbestimmung und Teilhabe als Schlüsselbegriffe des Teilhabe-Dialogs
Selbstbestimmung
Teilhabe
1.2 Bildung, Beratung und Begleitung: Wege zu Selbstbestimmung und Teilhabe
Bildung als lebenslanges Lernen
Beratung im Horizont von Selbstbestimmung
Beratungsanlässe und Beratungsformen
Begleitung zu eigenständigem Handeln
1.3 Individuelle, professionelle und institutionelle Autonomie
2 Teilhabe-Dialog im Prozess
2.1 Leitgesichtspunkte für den Teilhabe-Dialog
2.2 Perspektiven im Teilhabe-Dialog
2.3 Prozessschritte im Teilhabe-Dialog
2.4 Unterstützung im Gesamtplanverfahren der Eingliederungshilfe
Die Rollen im Gesamtplanverfahren
Das Gesamtplanverfahren und sein Verlauf
3 Fachliche Grundlagen und Fragestellungen
3.1 Entwicklungen der rechtlichen Rahmenbedingungen
3.1.1 Work in progress? UN-BRK und ICF: Entwicklungs- und Diskussionslinien
3.1.2 Das BTHG/SGB als neues Rehabilitations- und Teilhaberecht
3.1.3 Sozialrechtliches Dreiecksverhältnis: Entwicklungen und Probleme
3.2 Selbstbestimmung
3.2.1 Selbstbestimmung als Menschenrecht und Entwicklungsbegriff
3.2.2 Selbstbestimmung als Rechtsbegriff
3.2.3 Akte von Selbstbestimmung
3.3 Teilhabe am sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben
3.3.1 Die anthropologische Perspektive
3.3.2 Die gesellschaftliche Perspektive
3.4 Teilhabefelder persönliches Leben, Bildung, Arbeit und Kultur
3.4.1 Persönliches Leben
3.4.2 Bildung
3.4.3 Arbeit
3.4.4 Kulturelles Leben
3.4.5 Digitale Teilhabe
3.5 Bildung, Beratung, Begleitung: Selbstbestimmt Handeln in aktiver Teilhabe
3.5.1 Behinderte Entwicklung
3.5.2 Bildung als lebenslanges Lernen
3.5.3 Beratung als Entwicklungsprozess im Horizont von Selbstbestimmung
3.5.4 Begleitung zu eigenständigem Handeln
3.5.5 Individuelle, professionelle und institutionelle Autonomie
3.6 Wirkung und Wirksamkeit als Handlungsperspektiven
3.6.1 Wirkung und Wirksamkeit als individuelle Erfahrung
3.6.2 Handlungsbogen: Wirkungsvolles Handeln, sozialagogische Begleitung und Wirkungskontrolle
3.6.3 Das Wirkungsproblem in der pädagogischen und sozialagogischen Forschung
3.6.4 Wirkungskontrolle im Gesamtplanverfahren
3.6.5 Partizipative Wirkungsbeurteilung und Teilhabe-Dialog
4 Perspektiven des Wandels
4.1 Wandel von Lebensformen
4.2 Implementation des Teilhabe-Dialogs als System-Element
4.3 Teilhabe-Dialog: realitätsfernes Ideal oder gelebte Praxis?
Literaturverzeichnis
Praxis Heilpädagogik – Konzepte und Methoden
Herausgegeben von Heinrich Greving
Der Autor
Dr. Rüdiger Grimm war Professor für Heilpädagogik an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter.
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1. Auflage 2025
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Heßbrühlstr. 69, 70565 [email protected]
Print:ISBN 978-3-17-045475-0
E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-045476-7epub:ISBN 978-3-17-045477-4
Mit dieser Publikation des Fachkonzepts Teilhabe-Dialog, der Beschreibung seiner Prozess-Gestalt und seinen fachwissenschaftlichen Grundlagen steht ein umfassender Beitrag für eine qualifizierte und nachhaltige Unterstützung der selbstbestimmten sozialen Teilhabe von Menschen mit Assistenzbedarf zur Verfügung.
Menschen mit Assistenzbedarf verstehen wir hier, im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention, als »Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können«.
Es ist eine komplexe Aufgabe, Menschen mit Behinderung gewünschte und passende Assistenz zur Verfügung zu stellen. Dem können standardisierte und formalisierte Verfahren der Ermittlung des Hilfebedarfs, der Hilfeplanung, der Begleitung und Dokumentation nicht ausreichend gerecht werden. Der Teilhabe-Dialog baut deshalb auf der individuellen biografischen Perspektive und einem mehrdimensionalen Verständnis des Menschenseins auf. Er möchte in komprimierter Form fachliche Grundlagen und Orientierung bieten. Er wird seine Wirkung nur in einem intensiven Austausch von Praxis und Theorie entfalten können. Es gilt, das Fachkonzept und seine fachwissenschaftlichen Grundlagen mit den vielfältigen Instrumenten der Bedarfsermittlung und Teilhabe-Planung, persönlicher Zukunftsplanung und anderen Formen biografischer Reflexion in der Begleitung von Menschen mit Assistenzbedarf zu verbinden.
Anthropoi Bundesverband wird als Herausgeber dieser Publikation gerne mit Foren für den fachlichen Austausch und Fortbildungsangeboten dazu beitragen. Dabei gilt es, auf die bestehenden Fragen, Herausforderungen und Problemstellungen der Praktiker*innen einzugehen.
Der Vorstand, die Geschäftsführung und die Leitung von Anthropoi Bundesverband danken Prof. Dr. Rüdiger Grimm für seine gründliche Aufarbeitung und Ausgestaltung der komplexen Thematik.
Wir wünschen dem Teilhabe-Dialog ein breites Interesse und vielfältige Anwendung in allen Bereichen der Teilhabe-Förderung.
Ich möchte an dieser Stelle Rüdiger Grimm auch ganz persönlich danken, für die Nachhaltigkeit und Sorgfalt, mit der er dieses Projekt engagiert verfolgt und zum Abschluss gebracht hat – insbesondere aber für die freundschaftliche Verbundenheit!
Manfred Trautwein
Geschäftsführer Bundesverband Anthropoi.de
Teilhabe-Dialog bedeutet das Ende von Einbahnstraßen und den Beginn einer Sozialkultur, die dem Menschen ein Leben in Selbstbestimmtheit und Teilhabe am gesellschaftlichen Ganzen ermöglicht. Das ist durch die epochalen Entwicklungen der letzten Jahre auch für Menschen mit Behinderungen als menschenrechtlicher Ausgangspunkt vorgezeichnet, der freilich seine Erfüllung im vollständigen Umfang erst noch finden muss.
Das Fachkonzept Teilhabe-Dialog bezieht sich auf drei Ebenen:
1.
Sein Hauptanliegen richtet sich auf das Leben der einzelnen Menschen, in ihrem Zusammensein mit anderen Menschen, aber auch das Leben in institutionellen Zusammenhängen und als Leistungsberechtigte im gesellschaftlichen Gemeinwesen. Mit dem Fachkonzept Teilhabe-Dialog können sie in ihrer jeweiligen Lebenssituation und zu einem gelingenden Leben unterstützt werden.
2.
Das Fachkonzept Teilhabe-Dialog richtet sich auch auf die institutionellen Felder, in denen Menschen mit Assistenzbedarf leben, arbeiten und ihre persönliche Lebenskultur entwickeln wollen. Das Fachkonzept kann sie darin unterstützen, Arbeits- und Lebensformen in einer Weise weiterzuentwickeln, die den Bedürfnissen der einzelnen Menschen am besten gerecht werden können.
3.
Schließlich richtet sich der Begriff des Teilhabe-Dialogs auf den gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem Menschen mit Behinderungen als leistungsberechtigte Personen, Leistungsträger als Repräsentanten und Vermittler des staatlichen Auftrags der Solidarität und Leistungserbringer mit ihren Einrichtungen und Diensten zusammenwirken. Im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis geht es ebenfalls um ein dialogisches (oder trialogisches) Geschehen, das der Bedeutung der Akteure für- und miteinander entspricht.
Zum Aufbau dieses Buches:
Das Kapitel 1 Fachkonzept Teilhabe-Dialog enthält in knapper Form die grundlegenden Gesichtspunkte und Überlegungen zu einer aktuellen Sozialkultur und -agogik. Sein Fokus ist auf die praktische Umsetzung gerichtet und kommt ohne Verweise und Zitationen aus.
Das Kapitel 2 Teilhabe-Dialog im Prozess beschreibt in Hinblick auf die gewandelten Grundlagen der Sozialen Diagnostik einen Weg der dialogischen Beratung, der den in diesem Fachkonzept beschriebenen Grundlagen entspricht. Auch hier geht es vordergründig um den praktischen Bezug.
Diese beiden ersten Abschnitte sind Zusammenfassungen des 3. Kapitels Fachliche Grundlagen und Fragestellungen, das sich ausführlich mit den anthropologischen, historischen und sozialwissenschaftlichen wie auch sozialrechtlichen Aspekten einer komplexen Thematik befasst, deren Horizont in einer langfristigen Zukunftsentwicklung liegt. Sie versucht, diese überschaubar darzustellen, ohne die Komplexität von Mensch und Sozialwesen und deren Zusammenhang unzulässig zu vereinfachen.
Kapitel 4 Perspektiven des Wandels unterstreicht (noch einmal), dass die Entwicklungen zu einem Leben in Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen mit komplexen Prozessen verbunden sind, in denen alle Akteure eingebunden sein müssen. Teilhabe-Dialog ist neben seinen inhaltlichen Aspekten auch als Systemelement zu implementieren, um dem einzelnen Menschen die Perspektive auf ein gelingendes Leben zu bieten.
Die Überschau der verschiedenen Themenstränge soll auch außerhalb des expliziten Unterkapitels »Soziale Diagnostik« einen Blick auf die Entwicklung von individuellen Menschen und Einrichtungen und Diensten ermöglichen, z. B. wie Bildung, Beratung und Begleitung als grundlegende Gesten der Realisierung von Selbstbestimmung und Teilhabe verwirklicht werden. Oder auf die unterschiedlichen Perspektiven, unter denen die beteiligten Akteure gemeinsam aktiv werden, nicht zuletzt auf einen agogischen Handlungsbegriff, mit dem die Frage der Wirkungsorientierung differenziert und effektiv bearbeitet werden kann.
Das Fachkonzept Teilhabe-Dialog wurde im Kontext des Projekts »Wirksamkeitsevaluation« des Bundesverbandes anthroposophisches Sozialwesen konzipiert und in der Anfangsphase gemeinsam entwickelt. Hans-Ulrich Kretschmer, Dr. Michael Ross und Holger Wilms als Mitgliedern dieser Arbeitsgruppe verdanke ich viele interessante und wegleitende Gespräche, was insbesondere für die so kompetente und inspirierende Unterstützung durch deren Leiter Manfred Trautwein, Geschäftsführer des Bundesverbandes Anthropoi, gilt. Dafür mein allerherzlichster Dank! Auch an Prof. Dr. Bernhard Schmalenbach und Sören Roters-Möller für ihre kritisch-konstruktive Lektüre, wie auch an Dr. Andreas Fischer sowie an Prof. Dr. Volker Frielingsdorf für sein sorgfältiges Lektorat und an Claudia Christ für die akribische Kontrolle der Rechtschreibung. Dank auch an Holger Wilms für einen letzten gemeinsamen Blick auf die Textstruktur.
Rüdiger Grimm
Teilhabe-Dialog und AlltagskulturDas Fachkonzept Teilhabe-Dialog ist ein Beitrag zu einer Alltagskultur, in der Menschen mit Assistenzbedarf unter den Zeichen von Selbstbestimmung und Teilhabe die notwendige Unterstützung erhalten, um ihr Leben so weit wie möglich selbst zu gestalten.
Mit dem Teilhabe-Dialog können Organisationen, Einrichtungen und Dienste der Eingliederungshilfe ihre Stärken noch besser sichtbar machen, ihren eigenen Entwicklungsbedarf besser erkennen, Veränderungen bewirken und damit zu einem gelingenden Leben von Menschen mit Assistenzbedarf beitragen. Das Fachkonzept trifft keine Aussagen darüber, was konkret zu tun ist, sondern worauf es in der Gestaltung inklusiver Lebensverhältnisse ankommt. Es vermittelt dafür grundlegende und praktische Gesichtspunkte sowie methodische Hinweise.
FortgesetzterTeilhabe-DialogTeilhabe-Dialog ist eine Prozessgestalt, die bedarfs- und situationsgerecht in unterschiedlicher Weise angewendet werden kann. Er trägt dazu bei, dass Menschen mit Assistenzbedarf ein gelingendes und perspektivreiches Leben führen und die sie betreffenden Lebensereignisse in ihre eigene Biografie integrieren können. Ein fortgesetzter Teilhabe-Dialog verhindert, dass ihre Bedürfnisse und Selbstbestimmung in institutionellen Bedingungen, in kritischen oder schwer überschaubaren sozialen Situationen aus dem Blick geraten.
Der Teilhabe-Dialog ist ein Beitrag, um die Selbstvertretung und Selbstwirksamkeit von Menschen mit Assistenzbedarf zu stärken. Dies gilt ebenso in Alltagsangelegenheiten wie auch in besonderen Lebenssituationen, nicht zuletzt auch zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Gesamtplanverfahren nach SGB IX.
GrundlagenDie Grundlagen dieses Fachkonzepts sind zum einen die epochalen Entwicklungen, die unter den Begriffen Selbstbestimmung und Teilhabe (Partizipation) in den großen Menschenrechtsdokumenten wie der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und in der Sozialgesetzgebung der Länder, in Deutschland vor allem im SGB IX, niedergelegt sind. Sie bilden den Maßstab, an dem sich die Weiterentwicklung der Lebenssituation von Menschen mit Assistenzbedarf messen muss. Als Rechtssubjekte genießen Menschen mit Behinderung die gleichen Freiheitsrechte wie alle Menschen; in ihrer besonderen Situation verfügen sie zugleich über Schutzrechte, die sie vor Benachteiligung, Exklusion und Marginalisierung bewahren sollen.
Handeln im sozialrechtlichen DreieckIm sozialrechtlichen Dreieck von Leistungsberechtigten, Leistungsträgern und Leistungserbringern wurde im neuen SGB IX die Rolle der Leistungsberechtigten gestärkt. Die Beteiligten handeln jeweils in ihrer eigenen Domäne: Die Leistungsberechtigten in ihrer Rolle als Rechtssubjekte in einem solidarischen Gemeinwesen, die Leistungsträger als Repräsentanten der Gesellschaft und ihres Rechtswesens, die Leistungserbringer aus ihrem eigeninitiativen, professionellen Mandat, das von der Gesellschaft subsidiär mitgetragen wird.
Selbstbestimmung und Teilhabe sind die Schlüsselbegriffe einer personzentrierten Begleitung von Menschen mit Assistenzbedarf. Sie bilden den Ausgangspunkt für die Formulierung der weiteren Elemente des Teilhabe-Dialogs.
Selbstbestimmung und EntwicklungDas Recht auf Selbstbestimmung ist ein garantiertes Grundrecht jedes Menschen. Das gilt für Menschen mit Behinderung ebenso wie für jeden anderen Menschen. Zugleich weiß man, dass Selbstbestimmung eine Fähigkeit in Entwicklung ist, und deren Entwicklung einen Evolutionsweg des Menschen darstellt. Dies gilt nicht nur für Kinder und Jugendliche, die allmählich in den Status der Mündigkeit hineinwachsen, sondern kennzeichnet die Situation eines jeden einzelnen Menschen. Auch als selbstbestimmte Wesen bleiben Menschen immer abhängig von anderen Menschen und haben die Aufgabe, mit ihnen eine gemeinsame Kultur menschlicher Gemeinschaft und gegenseitiger Sorge zu entwickeln.
Ohne das Recht auf Selbstbestimmung kann sich die Individualität des Menschen nicht voll entfalten. Selbstbestimmung führt nicht nur zu Urteils- und Entscheidungskompetenz, sondern auch zu Verantwortungsfähigkeit und moralischer Autonomie. Damit nehmen Menschen auch die Risiken ihrer eigenen Existenz viel stärker auf sich, als wenn andere für sie entscheiden. Gerade in Zeiten, in denen sich soziale Bindungen und Formen schnell verändern oder gar auflösen, kann dies zur Belastung werden und mit Überforderung und kritischen Lebensereignissen einhergehen. Erst in selbstbestimmtem Handeln kommt der Mensch ganz zu sich und gewinnt die Erfahrung von Präsenz, Wirksamkeit und Authentizität.
Das Recht auf SelbstbestimmungGesetzlich ist Selbstbestimmung als Privatautonomie für jeden Menschen, der das Volljährigkeitsalter erreicht hat, garantiert. Innerhalb der geltenden Rechtsordnung kann jeder Mensch seine Angelegenheiten in freier Weise gestalten, und zwar im Recht auf körperliche Unversehrtheit, in Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit, Freiheit der Wissenschaft, als informationelle Selbstbestimmung, in der freien Wahl der Wohnung und deren Unverletzlichkeit. Das unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung gilt auch für Menschen mit kognitiven Behinderungen, und auch dann, wenn sie unter rechtlicher Betreuung nach Art. 1814 BGB stehen.
Sich Ziele setzenEin wesentliches Element selbstbestimmten Handelns besteht in der Freiheit, sich Ziele zu setzen: Die großen Ziele im Leben, deren Umsetzung erst in Zukunft ansteht; mittelfristige Ziele, zu deren Erreichung mehrere, oft viele Schritte und längere Zeit notwendig sind und die als Feinziele differenziert im täglichen Leben verwirklicht werden müssen.
Urteilen und EntscheidenÄhnliches gilt für den Bereich von Urteilen und Entscheidungen. Wer über seine eigenen Angelegenheiten nicht entscheiden darf, wird dem Leben entfremdet und fühlt sich anderen ausgeliefert. Urteile durchziehen das tägliche Leben: Der Alltag würde nicht gelingen, wenn nicht beständig Entscheidungen getroffen würden, auch wenn sie als solche kaum ins Bewusstsein treten. Wie Menschen sich entscheiden, hängt nicht nur von kognitiven Prozessen ab, sondern auch von ihrer Gefühlslage und davon, wie sie sich im rhythmischen Prozess des Gefühlslebens in das Verhältnis zwischen Innen- und Außenwelt einleben können.
Verantwortung tragenEin weiteres Element von Selbstbestimmung besteht darin, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortungsprozesse zielen auf die zukünftige Realisierung dessen, was zunächst nur als Idee und Ziel vorliegt. Wer Verantwortung trägt, muss sich um die kleinteiligen Schritte kümmern, die notwendig sind, um eine Aufgabe zu erfüllen. Schließlich ist Verantwortung immer auch mit Rechenschaft über das Geleistete vor sich selbst und anderen verbunden.
Wie alle Menschen sind Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen in der Lage, sich Ziele zu setzen, Urteile zu bilden, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung für deren Realisierung zu übernehmen. Je nachdem benötigen sie dabei mehr oder weniger Beratung und Begleitung.
Teilhabe als reziproke InteraktionTeilhabe oder Partizipation bedeutet die aktive Teilnahme von Menschen am sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben. Teilhabe bedeutet ein grundlegendes Austauschverhältnis, in dem die beteiligten Personen oder Gruppen in einem Prozess des Gebens und Nehmens sind. Exklusion beraubt sie der Möglichkeit, am vielfältigen Leben von Gemeinschaft und Gesellschaft teilzuhaben. Umgekehrt führt der Ausschluss dieser Menschen und ihres wesentlichen Beitrags zu einer Verarmung des sozialen, kommunalen und gesellschaftlichen Lebens. Teilhabe ist für die individuelle Person nicht beliebig, sondern bezieht sich auf subjektiv bedeutsame und biografisch relevante Prozesse.
Handeln in sozialen RäumenWährend der Begriff der Teilhabe auf die gesellschaftliche und soziale Dimension allgemein gerichtet ist, wird der Begriff der Partizipation meist mit einer stärkeren politischen Ausrichtung verwendet, vor allem in menschenrechtlicher Zielsetzung und im Hinblick auf die Veränderung von Strukturen und Gesetzen. Für die unmittelbare Entwicklung von Teilhabe im kommunalen Nahraum hat das Fachkonzept Sozialraumorientierung Leitbildcharakter gewonnen. Dabei geht es um die Unterstützung der Autonomie von Menschen in schwierigen Lebenssituationen, in einer Weise, in der sie ihre Probleme selbst in die Hand nehmen und dafür die entsprechenden Hilfen sozialer Dienste in Anspruch nehmen können. Die dabei gewonnenen theoretischen und praxisorientierten Gesichtspunkte bilden für die Entwicklung von Einrichtungen und Diensten und deren inklusionsorientierter Arbeit in Quartieren, Stadtteilen, ländlichen und urbanen Feldern eine wichtige Grundlage.
Individuelle TeilhabeFür die Realisierung einer inklusiven Gesellschaft gibt es allgemeine anthropologische, ethische, rechtliche und soziale Gesichtspunkte. Individuell unterscheiden sich die Vorstellungen und Erfahrungen, was als relevante und wünschbare Teilhabeprozesse erlebt wird. Teilhabe ist nur zum Teil territorial auf den sozialen Nahraum beschränkt, da Leben, Arbeiten, soziale Beziehungen, Sport, Kultur und spirituelle wie religiöse Bindungen immer weniger Orts-beschränkt sind. Vielmehr haben die heutige Mobilität des Menschen und die digitale Verfügbarkeit für praktisch alle früher nur analog-physisch und lokal dargebotenen Möglichkeiten neue Dimensionen von Teilhabe erschlossen. Verbundenheit und Einsamkeit können sich paradoxerweise gleichzeitig im Hinblick auf unterschiedliche Teilhaberäume ereignen.
Teilhabe und soziale RollenJeder Mensch nimmt gleichzeitig verschiedene soziale Rollen ein. Das gesellschaftlich vorherrschende Rollenbild über Menschen mit Assistenzbedarf bestand lange Zeit lediglich in einem einzigen Bild, nämlich dem des »Behinderten«. Erst allmählich werden Menschen mit Behinderung im öffentlichen Leben in den gleichen Rollenbildern erlebt, wie andere Menschen auch: Als Partnerin und Partner, als Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen, Mitglieder im selben Verein, als Engagierte in Kultur und im gesellschaftlichen Leben.
Soziale Rollen sind immer auch mit jeweils unterschiedlichen Beziehungsformen verbunden, ganz anders in mehr formalen Zusammenhängen wie im Berufsleben oder in der intimen Nähe und Vertrautheit von Partnerschaft und Familie. Was für den einen Menschen an Beziehungsformen und Rollen wünschenswert und hinreichend ist, kann für einen anderen Menschen gänzlich anders sein. Entscheidend bleibt, dass grundsätzlich alle Menschen Zugang zum Spektrum gesellschaftlicher Prozesse erhalten.
TeilhabefelderPersönliches Leben, Arbeit und Kultur sind wesentliche Felder, in denen sich gesellschaftliche Teilhabe realisiert. Immer mehr Menschen mit Behinderung leben in unterschiedlichen Wohnformen, in denen sie die ihnen entsprechende Unterstützung erhalten. Auch Teilhabe fördernde Gemeinschaften, Einrichtungen und Dienste haben sich so differenziert, dass sie verschiedene Wohn- und Lebensformen anbieten: Wohnen in Partnerschaft und Familie, im Einzelappartement oder in Gruppen, so wie es den Bedürfnissen des jeweiligen Menschen entspricht. Die Entwicklungen in diese Richtung sind im Gange, aber noch keineswegs abgeschlossen, angesichts von Beharrungstendenzen in Organisationen und Gesellschaft oder der begrenzten Ressourcen von staatlicher Seite.
Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen arbeiten zum kleineren Teil auf dem ersten Arbeitsmarkt, zum größeren in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM) oder im Fall von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen in einer Förderstätte. Die Entwicklung von Arbeitsmöglichkeiten, in denen alle eine befriedigende Situation finden können, ist noch im Gange und stellt eine der großen Herausforderungen inklusiver Lebensverhältnisse dar.
Arbeit in ManufakturenEine Reihe von Arbeitsstätten haben sich als Manufakturen etabliert: Sie arbeiten mit überschaubaren Produktionsprozessen bei mittlerer Arbeitsteiligkeit, stellen qualitativ hochwertige Produkte her und können Arbeitsprozesse entwickeln, in denen der einzelne Mensch, die dort tätige Arbeitsgemeinschaft und die gesellschaftlichen Bedürfnisse hinsichtlich der Warenproduktion in einem organischen Zusammenhang stehen. Alle Beteiligten haben mit ihren Fähigkeiten Anteil an einem einander ergänzenden Zusammenwirken, das aus dem Können der Einzelnen und gegenseitiger Unterstützung entsteht. Sie bilden einen sozialen Zusammenhang mit Rechten und Pflichten und tragen durch ihre Produktionsprozesse zur Entwicklung gesellschaftlicher Kultur bei.
Kultur undSpiritualitätKunst, Kultur und Spiritualität gehören zu den wesentlichen Teilhabebereichen und Teilhabebedürfnissen. Bildende Kunst, Musik, Sprache und Theater bilden tragende Säulen für gelingende Teilhabe. Die künstlerischen Beiträge von Menschen mit Behinderungen haben bereits eine weitreichende gesellschaftliche Wirkung entfaltet. Auch von der Teilhabe an der Welt der Ideen und Gedanken, an den existenziellen Fragen des menschlichen Daseins sind Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen nicht ausgeschlossen, wenn sie Unterstützung erhalten, diese in ihren eigenen Verstehenshorizont aufzunehmen. Ähnliches gilt für das Bedürfnis nach Religionsausübung, Sakralität und Spiritualität.
Leben in derdigitalen WeltWie alle anderen sind Menschen mit Behinderung Bürgerinnen und Bürger einer zunehmend digitalisierten Welt. Um digitale Kompetenz zu erwerben, benötigen sie adäquaten Zugang zu den Angeboten, Unterstützung in der Auswahl von Inhalten, angepasste Bedienungsumgebungen und Präsentationen von Inhalten, z. B. in Leichter Sprache.
Alle Menschen können lebenslang lernen. Bildung ist kein Status oder Besitz, sondern die Fähigkeit, sich mit der Welt in Beziehung zu setzen, sie immer besser zu verstehen und in ihr handlungsfähig zu sein. An diesen Erfahrungen bildet sich die Persönlichkeit eines Menschen lebenslang weiter. Ein bildungsorientiertes Lebensverständnis sieht den Menschen in einem niemals abgeschlossenen Prozess des Lernens und seine Selbstbestimmungsfähigkeit in beständiger Entwicklung.
Die biografische Bedeutung von BildungDenn Bildung ist keineswegs auf kognitive Aspekte beschränkt, sondern beinhaltet ebenso die Entwicklung der Wahrnehmungstätigkeit, von Beziehungsfähigkeit, des Aufbaus einer inneren Gefühlswelt und nicht zuletzt die Entwicklung der Willenstätigkeit, durch die Menschen gestaltend und verändernd in ihre Lebenswelt eingreifen können. Bildung ermöglicht, das eigene Leben immer wieder unter neuen Perspektiven zu sehen, sich Herausforderungen zu stellen, und Aufbrüche aus allzu gewohnten Bahnen zu wagen. Dies macht das Leben interessant und Menschen resilienter. Durch Bildungsprozesse im Sinne von Selbstentwicklung lernen Menschen, sich selbst zu reflektieren und ihr Handeln im Umgang mit sich selbst und ihrer Umgebung zu gestalten. So trägt Bildung dazu bei, inneres Erleben und Umwelterfahrung in einem aktiven Gleichgewicht zu halten.
Lebenslanges Lernen und BildungsangeboteFür den Menschen in einer beständig sich verändernden Welt ist lebenslanges Lernen nicht nur möglich, sondern notwendig, wenn er sein aktives, mitgestaltendes Verhältnis nicht verlieren will.
Auch für die Weiterbildung von Menschen mit Behinderungen gibt es viele Formen und Möglichkeiten. Hierzu gehören:
Weiterbildung im Alltag: als formale oder informelle Weiterbildung an konkret auftretenden Aufgaben, an Veränderungen der Alltagswelt, der Arbeitsabläufe und -techniken.
Formale Angebote als externe Maßnahmen oder Inhouse-Schulungen, z. B. im Arbeitsbereich zur Qualifizierung für neue Aufgaben und Horizonte.
Allgemeinbildende Angebote, die der Entwicklung von Schlüsselkompetenzen (z. B. Umgang mit Medien) dienen.
Angebote zur persönlichen Entwicklung, zur Lebensberatung, zu den Fragen des Woher, Warum und Wohin des Lebens. Und nicht zuletzt
Unterstützung zu eigener Initiative im Erkunden und Gestalten der eigenen Umwelt und der Wahl eigener Mittel und Wege.
Bildung ist kein Add-on, sondern unabdingbares Mittel gegen unangemessene Gewöhnung an das Bestehende und für die Aufbrüche, die das Leben interessant und herausfordernd machen. Es gehört zu den Verpflichtungen sowohl der Leistungsträger, die dafür notwendigen Mittel bereitzustellen, als auch der Leistungserbringer, den Zugang zu entsprechenden Angeboten zu ermöglichen.
Jeder Mensch benötigt in bestimmten Situationen seines Lebens Beratung und damit die Erfahrung und Kompetenz seiner Mitmenschen. Beratung auf Augenhöhe respektiert den anderen Menschen in dessen eigener Urteilsbildung und eigenen Entschlüssen. Gelingende Beratung ist uneigennützig und dient dem Wohl der Beratung suchenden Person.
Beratungsbedarf und UnterstützungMenschen mit kognitiven Beeinträchtigungen haben die gleichen Fragen und Beratungsbedürfnisse wie andere Menschen. In den meisten Fällen ist nicht die sogenannte Behinderung Grund oder Anlass einer Beratung, sondern es sind Gedanken, Fragen, Probleme und Sehnsüchte, mit denen alle Menschen zu tun haben.
Menschen mit Assistenzbedarf benötigen häufig Unterstützung darin, sich auszudrücken, adäquat zu erinnern, manche Fragestellungen zu erfassen und die möglichen und passenden Schritte für Veränderung zu wählen.
Für Beratung gibt es sehr unterschiedliche Anlässe und Bedürfnisse, für die jeweils das richtige Setting und eine geeignete Beratungsperson zu finden sind.
Spektrum von BeratungsformenDie Aufgabe, Menschen mit Assistenzbedarf darin zu unterstützen, ihr Leben so eigenständig wie möglich zu gestalten und die sie betreffenden Ereignisse und Handlungen in ihre Lebensgeschichte zu integrieren, kann durch eine Vielzahl von Angeboten realisiert werden. Das Spektrum reicht von alltagsnahen Beratungsformen über Unterstützung bei auftretenden Problemen hin zur Inanspruchnahme von Ombudsstellen, zu Standort- und Zukunftsgesprächen in den Formen der sozialen Diagnostik und im Weiteren zur Beratung in biografischen Ausnahmesituationen. Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Fachpersonen in den Einrichtungen und Diensten, Menschen mit Assistenzbedarf darin zu unterstützen, Beratungsbedarf zu erkennen und sie zur Wahrnehmung entsprechender Angebote zu ermutigen, vor allem bei Menschen, die das eigene Befinden und entstandene Problemsituationen nicht selbst verbalisieren können. Die Einrichtungen und Dienste haben die Aufgabe, den Zugang zu entsprechenden Möglichkeiten und Angeboten zu gewährleisten. Beratungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen stehen allerdings nicht überall in ausreichender Weise zur Verfügung und sind noch weiter auszubauen.
Beispiele sind:
Beratung für einen gelingenden Alltag, zur Orientierung im täglichen Leben, Bewältigung auftretender Schwierigkeiten, zur Vorbereitung auf kommende Ereignisse, um diese meistern zu können.
Beratung oder Coaching aus gegebenen Anlässen, z. B. die Vorbereitung auf neue Aufgaben, Probleme im sozialen Miteinander u. ä.
Biografiearbeit zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und in der Suche nach neuen Perspektiven.
Psychotherapeutische Beratung, psychiatrische Behandlung, z. B. bei Traumafolgen, seelischen Erkrankungen.
Inanspruchnahme von Ombudsstellen bei Mobbing, ungerechter Behandlung, Übergriffen oder sexueller Nötigung.
Unterstützte KommunikationBei Menschen mit schweren Behinderungen und Einschränkungen der Kommunikationsfähigkeit, deren Situation nicht verbal erkundet werden kann, können unterstützte, augmentative und alternative Kommunikationsmöglichkeiten eingesetzt werden. Es kann auch der Schwerpunkt auf advokatorischen Prozessen liegen, die im Sinne des betreffenden Menschen zu gestalten sind.
Zu den zentralen Anliegen von Beratung gehört, Menschen mit Assistenzbedarf bei Entscheidungen zu unterstützen, d. h. ihnen zu helfen, Gesichtspunkte für Entscheidungen zu finden und abzuwägen und die Folgen von Urteilen und Entscheidungen abzuschätzen. Unterstützte Entscheidungsfindung (supported decision making) im engeren Sinn kann in bestimmten Situationen in formeller Weise nach BGB § 1896 ff. im Rahmen eines rechtlichen Betreuungsverhältnisses eingerichtet werden.
Beratungsaufgaben werden von Fachpersonen wahrgenommen, die über eine entsprechende Aus- oder Weiterbildung verfügen. Je nachdem kommen dafür Fachkräfte aus den Bereichen Heilerziehungspflege, Heilpädagogik, Sozialpädagogik, Sonderpädagogik, Rechtswissenschaft, Psychologie sowie Allgemein- und Fachmedizin infrage.
Prävention und InterventionBeratungen und therapeutische Interventionen haben einerseits unterstützenden und präventiven Charakter, andererseits werden sie besonders in kritischen Situationen relevant. Innerhalb von Beratungsprozessen werden sichere Räume gebildet, in denen sich die Klientinnen und Klienten aufgehoben und geschützt erleben können. Entscheidend ist dabei, ein neues, proaktives Verhältnis zum eigenen Erleben und Handeln zu gewinnen, Ressourcen zu mobilisieren und neue Perspektiven vor sich zu sehen. Beratungen sollen in ein Geschehen von Beziehungsbildung und unmittelbarer Begegnung eingebunden sein, die ein höheres Maß an Wirksamkeit erreichen als unpersönliche Prozeduren und Strukturen.
Für Beratung gibt es klare qualitative Vorgaben: Auszuschließen sind Bevormundung, Verbote, Ermahnungen oder gar Bestrafung, Demütigung, Belehrung, Überredung oder Mobbing. Richtig und notwendig sind die Wertschätzung des gleichberechtigten Gegenübers, eine authentische Begegnung im Dialog, Unvoreingenommenheit, Empathie und Mut zu unkonventionellen Lösungen, die sich gegebenenfalls gegen gewohnte Verhältnisse stellen.
AssistenzverständnisBegleitung zu eigenständigem Handeln bedeutet, Menschen mit Assistenzbedarf die Unterstützung zu geben, die sie zur Ausführung ihrer Handlungsintentionen im täglichen Leben benötigen. Der Begriff der Begleitung enthält einen Paradigmawechsel von einem überkommenen Betreuungsverständnis hin zu einem Assistenzverständnis, das den Menschen als Urheber seiner Intentionen und Handlungen versteht. Assistenz beruht auf einem partnerschaftlich-dialogischen Geschehen. Fachliche Begleitung kennt die Situation des begleiteten Menschen und kann im gegebenen Fall moderierend eingreifen, ohne ihm das Recht auf eigene Entscheidungs- und Handlungskompetenz zu nehmen. Leben und Alltag werden nicht für, sondern mit der Person mit Assistenzbedarf gestaltet.
Veränderte BerufsrollenDamit geht eine Veränderung des Berufsverständnisses von paternalen, fürsorgeorientierten Haltungen hin zu einem dialogischen Verständnis einher. Die Fachpersonen müssen ihre eigenen Vorstellungen relativieren können, die Wünsche und Willensäußerungen der von ihnen begleiteten Menschen respektieren und nach deren Handlungsintentionen vorgehen.
Begleitung als dialogisches Geschehen ist beziehungs- und begegnungsgetragen. Für viele Menschen bedeuten stabile und dauerhafte Beziehungsstrukturen eine wichtige Form der Rückendeckung für ihr eigenes Befinden und Handeln.
Zu den veränderten Beziehungsverhältnissen zwischen Klientinnen und Klienten einerseits und Fachpersonen andererseits gehört der Umgang mit den grundlegenden Antinomien ihres Berufs. Der unauflösliche Widerspruch zwischen gegensätzlichen Qualitäten stellt die Herausforderung, diese in Balance zu halten und in individueller und empathischer Weise damit umzugehen. Dies gilt z. B. für den Zusammenhang von Nähe und Distanz oder von Symmetrie und Asymmetrie in der Beziehungsgestaltung, die einerseits durch die Echtheit wesensgleicher Mitmenschlichkeit und zugleich durch den Abstand des professionellen Verstehens gekennzeichnet sind.
Autonomie und Sorge für den anderen MenschenIn der Begleitung von Menschen mit Assistenzbedarf geht es darum, deren Selbstbestimmung zu respektieren und ihren Freiheitsrechten Raum zu geben. Bildung, Beratung und Begleitung sind dafür maßgebliche Hilfen. Einem unreflektierten, adialektischen oder bloß funktionalen Verständnis von Selbstbestimmung steht die Sorgepflicht für den anderen Menschen gegenüber, die ihn vor Vereinsamung oder Abgleiten in materielle und seelische Verwahrlosung bewahren will. Sorge um den anderen Menschen – nicht unter dem überkommenen Fürsorgebegriff des Besser-Wissens und Vor-Schreibens – geht von der grundlegenden und existenziellen Interdependenz der Menschen aus und der Verantwortung gegenseitiger Wahrnehmung und Achtsamkeit.
Die Unterstützung von Selbstbestimmung und Autonomie bei Menschen mit Assistenzbedarf schließt die Frage nach der Autonomie der Fachkräfte und Organisationen ein.
Fachliche AutonomieDie Begleitung von Menschen mit Behinderung bleibt gerade unter den Gesichtspunkten von Assistenz und Autonomie eine komplexe Aufgabe. Damit Menschen mit Behinderung in ihrem Alltag nicht scheitern, sondern ein glückliches und erfülltes Leben führen können, braucht es mehr als nur helfende Hände und mehr als ein bloßes Kunden- und Dienstleistungsverhältnis. Denn es handelt sich dabei um die Integration mehrerer Qualitäten: Um professionelles Wissen, zwischenmenschliche Beziehungsfähigkeit, um Respekt und Empathie, die Fähigkeit zu kreativen Lösungen einfacher und komplexer Probleme und nicht zuletzt um eine übergreifende Perspektive, in der sich die Episoden des Alltags einbetten und verstehen lassen. Eine solche Fachaufgabe muss im Rahmen der beschriebenen ethischen Paradigmen und fachlichen Kompetenzen erfüllt werden. Sie kann im Kern aber nicht weisungsgebunden, sondern nur in einem freien Verhältnis zwischen den beteiligten Menschen angesichts der gegebenen Aufgabe geleistet werden.
Institutionelle AutonomieEinrichtungen für Menschen mit Behinderungen verstehen sich aus ihren historischen Impulsen und ihrem aktuellen Selbstverständnis als zivilgesellschaftliche Akteure. Sie erfüllen subsidiär Aufgaben, die der Staat nicht übernehmen muss und auch nicht darf, solange diese aus bürgerschaftlichem Engagement getragen werden. Institutionelle Autonomie stellt im Rahmen grundlegender gesetzlicher Vorgaben einen hohen Wert für als Leistungserbringer tätige Organisationen dar, deren Arbeitsweise von humanistischen Leitbildern und Werten, offenen Strukturen und hoher Transparenz, von dynamischen Umgebungen und lebensvollen Gestaltungsformen durchzogen sind. Zunehmende Steuerungstendenzen und wachsende Einflussnahme der Leistungsträger bis in die Mikroebenen hinein könnten die auf Wissenschafts-, Handlungs- und Sozialkompetenz gegründete Autonomie der Organisationen empfindlich beeinträchtigen.
DiagnostischePerspektiveTeilhabe-Dialog ist, wie beschrieben, nicht eine spezifische Form, sondern ein Prinzip zur Unterstützung der Selbstbestimmung von Menschen mit Assistenzbedarf und ihrer Teilhabe am Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft. Er kann als fortgesetzter Beratungs- und Begleitungsprozess in unterschiedlichen Formaten verstanden werden. Diese können formellen und informellen Charakter haben (vgl. Beratung und Begleitung), regelmäßig oder einmalig stattfinden, mehr oder weniger Personen einbeziehen und unterschiedliche Zeitdauer in Anspruch nehmen – so wie es der gegebenen Aufgabe und den gegebenen Möglichkeiten entspricht.
Die Idee der Sozialen Diagnostik, einer wichtigen Grundlage des Teilhabe-Dialogs, beruht auf der Umkehrung diagnostischer Verfahren, die vorwiegend auf einer Merkmalsfeststellung beruhen. Sie stellt den betreffenden Menschen nicht in das abwägende und objektivierende Blickfeld der Expertise anderer, sondern sieht ihn als Co-Akteur in einem gemeinsamen Prozess des Sich-Selbst-Verstehens und des Verstanden-Werdens. Sie ist der Versuch des (Selbst-)Verstehens des Individuums vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte, seiner somatischen, seelischen und geistigen Lebenslage und seiner materialen und sozialen Welt im Hinblick auf sein persönliches Erleben und Handeln und die damit verbundenen biografischen Erfahrungen.
Offener Charakter