Terrorballade - Alexander Pfeiffer - E-Book

Terrorballade E-Book

Alexander Pfeiffer

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Beschreibung

Sänger ist arbeitslos. Filmvorführer war er mal, Privatdetektiv will er nicht sein. Und doch halten ihn manche für genau das. So auch die Frau, die ihn bittet, ihren einstigen Geliebten Robert „Robby“ Zimmermann aufzuspüren. Ein Auftrag mit reichlich Sprengkraft, denn Robby hat als V-Mann einst Zugang zur Roten Armee Fraktion (RAF) gefunden und für den entscheidenden Schlag des Verfassungsschutzes gegen die führenden Mitglieder der dritten Generation der „antiimperialistischen Stadtguerilla“ gesorgt. Seit 1993 ist er im Zeugenschutz abgetaucht. Die Suche nach Robby führt Sänger von Wiesbaden nach Hamburg und wieder zurück – und nicht zuletzt tief in die eigene Vergangenheit. Seine unkonventionellen Ermittlungsmethoden und die hochprozentige Ehe mit seiner frisch angetrauten Frau, der Journalistin Marlene, halten ihn dabei auf Kurs. „Als Kurstadt ist die Landeshauptstadt Wiesbaden schon lange bekannt, zum Krimischauplatz ist sie erst in den vergangenen Jahren geworden. Entscheidenden Anteil daran hat Alexander Pfeiffer.“ (Rhein-Zeitung)

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Alexander Pfeiffer

Terrorballade

Roman

Impressum

1. Auflage: 15. März 2024

© Edition Outbird, Gera

www.edition-outbird.de

Covergrafik: Jussi Jääskeläinen

Covergestaltung + Buchsatz: Danilo Schreiter / Telescope Verlag

Lektorat: Vanessa-Marie Starker, Tristan Rosenkranz

eBook-Formatierung/-konvertierung: Hannah Rafalski

ISBN: 978-3-948887-68-1

Preis: 6,99 €

Alle Rechte vorbehalten.

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Danksagung

Für Willie

„Because something is happening here

But you don’t know what it is

Do you, Mister Jones?“

(Bob Dylan – Ballad of a Thin Man)

1

Sänger lehnte am Tresen eines Cafés in der Neugasse und wartete darauf, dass Marlene ihre Urlaubseinkäufe beendete, als eine Frau, die mit drei anderen Leuten an einem Tisch gesessen hatte, aufstand und zu ihm herüberkam. Sie war ein bisschen älter als er selbst, mager, mit breiten Hüften und strähnigen Haaren.

„Du bist doch Sänger?“, fragte sie.

Sänger nickte.

Sie lächelte entschuldigend. „Ich dachte gerade, der dünne Mann da an der Bar, den kenne ich doch.“

Sänger nahm einen Schluck aus seinem Glas und musterte sie. Er nahm noch einen Schluck und musterte sie noch ein bisschen mehr. Dann sagte er: „Bettina?“

„Dein Gedächtnis funktioniert noch ganz gut“, grinste sie. „Auch wenn du dir vormittags schon Whisky reinkippst. Oder ist das Apfelsaft?“

Sänger fletschte die Zähne zu einem Lächeln, das ihn wie den Wolf aussehen ließ, der gerade das Rotkäppchen verspeist hatte. Er wischte nach einer dunklen Strähne, die in seine Stirn hing. Sie wippte nach oben und direkt wieder in Richtung seiner rechten Augenbraue, wie ein loses Drahtende.

Bettina hob den Blick, schaute zu ihm auf. „Du hast letzte Woche geheiratet, richtig?“

Jetzt bewegten Sängers Haare sich alle auf einmal nach oben, seine Pupillen hinterher.

Bettina lachte. „Ich hab’s in der Zeitung gesehen. Ihr wart das ‚Brautpaar der Woche‘: die Journalistin und der Detektiv.“

„Ich bin kein Detektiv.“

„Die Zeitung sagt was anderes.“

„Du weißt ja, was sie über die Zeitungen sagen.“

„Was denn?“

„Es fängt mit L an. Und geht mit Ügenpresse weiter.“

Ihre Augen verzogen sich zu schmalen Schlitzen. „Hältst du’s jetzt etwa mit denen?“

Sänger schüttelte den Kopf. „Ich konnte damals mit eurem linken Quark nichts anfangen. Aber der war mir im Rückblick dann doch sehr viel lieber als der rechte Quark, den heute manche für Widerstand halten.“

Sie nickte. „Erinnerst du dich an Robby?“

Sänger legte den Kopf schief. „Der einzige Robby, der mir einfällt, ist vor mehr als zwanzig Jahren spurlos verschwunden. Letzter bekannter Aufenthaltsort: Bad Kleinen. Die Zeitungen nannten ihn, glaube ich, den Mann, der die RAF besiegte.“

„Den meine ich.“

„Ja, ich erinnere mich.“ Sänger hob sein Glas, nippte daran. „Robert Zimmermann. Du hattest was für ihn übrig, damals. Bevor bekannt wurde, dass er ein V-Mann des Verfassungsschutz war.“

„Niemand von uns wusste das.“

„Klar. Sonst hättet ihr ihn sofort exkommuniziert. Bevor er die antiimperialistische Stadtguerilla auf den Komposthaufen der Geschichte befördern konnte.“

Ihre Augen verdunkelten sich. „Vielleicht hast du nie daran geglaubt, dass sich der Kampf lohnt. Viele andere haben daran geglaubt. Sogar Robby.“

„Meinst du?“ Sängers rechter Mundwinkel zuckte leicht. „Bestimmt hat er geglaubt, dass er der Welt einen Gefallen tut. Vielleicht hat er das sogar getan.“

„Ich habe einen Brief von ihm bekommen“, sagte Bettina.

Sänger machte große Augen. „Was? Einen Brief? Von einem untergetauchten Spitzel des Verfassungsschutz? Ich dachte, den hätten sie mit einer neuen Identität ans andere Ende der Welt verfrachtet.“

„Nicht ganz so weit anscheinend. Auf dem Brief ist ein Poststempel aus Deutschland. Ich würde gerne in Erfahrung bringen, ob Robby tatsächlich da lebt, wo der Brief aufgegeben wurde. Was er heute macht, wie es ihm geht.“

„Hat er nichts darüber geschrieben?“

„Doch, natürlich. Aber ... ich habe mich so oft gefragt, ob wir jemals Gelegenheit haben würden, über alles zu sprechen. Über das, was da war. Und jetzt gibt es die Gelegenheit vielleicht.“

Sänger machte sein Glas leer, nickte. „Ich drück euch die Daumen.“

„Du könntest mehr tun als das.“ Ihr Blick war unsicher, scheu. „Ich meine, könntest du vielleicht nach ihm suchen? Ich würde dich dafür bezahlen.“

„Wie ich schon sagte: Ich bin kein Detektiv.“

„Es tut mir leid“, sagte sie. „Es war nur so eine Idee. Ich habe dich da stehen sehen, und da dachte ich ...“

Sänger winkte nach der Bedienung. „Schon okay. Was trinkst du?“

„Nichts von dem, was du dir da reinkippst. Kann ich dir meine Telefonnummer geben? Vielleicht überlegst du’s dir ja noch mal.“

„Was ich mir als nächstes reinkippe? Da gibt’s nichts zu überlegen.“

Bettinas Lächeln war dünn, ihr Gesicht blass mit roten Flecken. „Tut mir leid, wenn ich dich gestört habe.“

„Schon okay“, wiederholte Sänger, während die Bedienung sein Glas auffüllte. „Ich warte hier bloß auf meine Frau. Sie macht Besorgungen für die Flitterwochen.“

„Wohin geht’s denn?“

„Keine Ahnung. Irgendwohin, wo das Wetter zu den Klamotten passt, die meine Frau gerade kauft, nehme ich an.“

Wie aufs Stichwort kam Marlene in das Café gewankt, an jeder Hand eine Traube aus vielfarbigen Tüten. Sie war eine große Blonde mit sehr blauen Augen, die den Oberkörper über ihren langen Beinen so aufrecht hielt wie eine Stute bei einer Dressurnummer. Bettina musste auch bei ihr den Kopf heben, um sie anzuschauen.

Sänger machte die beiden Frauen bekannt. „Meine Gattin, die Journalistin – Bettina Holz. Wir haben uns mal in denselben Kreisen rumgetrieben, irgendwann im letzten Jahrhundert.“

Bettina gab Marlene die Hand. Sie nickte in Richtung des Tischs, an dem sie gesessen hatte. „Ich muss zurück zu meinem Mann.“

Sänger prostete ihr zu, Marlene schaute ihr hinterher. „Wer war das? Eine von den Grazien, mit denen du dich früher abgegeben hast?“

Sänger schüttelte den Kopf. „Diese Grazie stand mehr auf Überzeugungstäter.“

Marlene griff nach Sängers Glas. Ihre Hand war schmal, lang, wie etwas, das ein Bildhauer in langen Sitzungen in einem einsamen Atelier geformt hatte. Sie schnüffelte an der goldbraunen Flüssigkeit. „Wie viele davon hattest du, während ich einkaufen war?“

Sänger zog die Schultern Richtung Ohrläppchen. „Drei ... nehme ich an. Oder waren es vier?“

Sie nahm einen Schluck, nickte. „Scotch.“

Sänger nickte ebenfalls.

„Okay.“ Sie winkte nach der Bedienung, klopfte auf den Tresen. „Bringen Sie mir vier Scotch.“

Der junge Mann hinter dem Tresen schaute zu ihr auf. Seine Augenbrauen wanderten in Richtung seines Haaransatzes. „Sie meinen einen Vierfachen? Ich meine … zwei Doppelte?“

„Ich meine vier Gläser mit genau dem Inhalt, den dieses hier hat“, sagte Marlene. „Alle vier in einer Reihe vor mir auf dem Tresen. Direkt hier, wo ich sie in Reichweite habe.“

Der junge Mann zuckte mit den Schultern und begann damit, die Gläser vor Sängers Frau aufzubauen. Nachdem sie sich alle vier reingekippt hatte, griff sie nach der Serviette, die neben den Gläsern lag.

„Ist die für dich?“, fragte sie ihren Mann.

„Was? Die Serviette?“

„Ja. Und die Telefonnummer, die draufsteht.“

„Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.“

„Ich rede von der Grazie, die auf Überzeugungstäter steht. Sieht so aus, als würde sie auf einen Anruf von dir hoffen.“

2

Auf ihrem Weg durch die Fußgängerzone kamen Sänger und Marlene an dem Haus vorbei, in dem Sänger fast fünf Jahre lang gelebt hatte. Direkt neben dem Hauseingang blitzte das Schaufenster einer Apotheke, in dem vor den Gefahren der Sommergrippe gewarnt wurde.

Marlenes Blick ging an der Hausfassade hinauf, zu den Fenstern, hinter denen Sänger mit seiner Tochter gehaust hatte. „Weißt du noch, wie ich das erste Mal da oben bei dir unterm Dach war?“

Sänger legte den Kopf schief. „Du hast dich nach einer Lesung im Polizeipräsidium an mich drangehängt.“

„Du alter Schmierlappen!“ Sie schlug ihm auf den Arm. „Du hast mich eingewickelt und abgeschleppt! So war das.“

„Und womit habe ich dich gefügig gemacht?“

„Mit der Aussicht auf Dosenbier und Fünfunddreißig-Millimeter-Filme.“

Sänger nickte. „Zumindest damit konnte ich tatsächlich aufwarten. Alles andere muss eher eine Enttäuschung gewesen sein.“

„Pfft“, machte sie. „An dem Abend ist keiner enttäuscht ins Bett gegangen.“

„Vermutlich habe ich mich besonders ins Zeug gelegt, um das Szenario aufzuwiegen. Die Wohnung war zu klein für alles, was darin war: die Filme, den Projektor, die Leinwand, den Breitbildmonitor, die Schallplatten, die Plakate. Nicht zu vergessen Lisa und ich.“

„Ich fand dich mindestens so sexy wie Jeff Bridges.“

„Du meinst, in Die fabelhaften Baker Boys? Wenn er Michelle Pfeiffer aus dem Kleid hilft?“

„Ich dachte mehr an The Big Lebowski. Wenn er mit dem Gesicht in der Kloschüssel hängt.“

Sänger lachte, nahm ihre Hand, küsste sie. „Besten Dank, Frau Sänger.“

„Wofür?“

„Für deine Geduld und deine Mildtätigkeit. Und dafür, dass du nie in den Giftschrank meiner Filmsammlung geschaut hast.“

„Gibt es da etwa Material, das ich nicht kenne?“

Sänger nickte. „Aber du würdest deinen Ehemann nicht in einem ungünstigen Licht sehen wollen, oder?“

„Du meinst, mit dem Gesicht in der Kloschüssel?“

„So ähnlich.“

Auch an Marlenes Arbeitsplatz kamen sie vorbei. Das Pressehaus war der Sitz des Wiesbadener Kuriers, dessen Lokalredaktion in den nächsten vierzehn Tagen ohne ihre Chefin würde auskommen müssen.

„Leg ’nen Schritt zu, Lebowski“, zischte Marlene. „Nicht, dass ich im Urlaub noch irgendwelchen Kollegen begegne.“

Aber sie waren nicht schnell genug. Die Kollegin, die gerade das Gebäude verließ, steuerte direkt auf Marlene zu, um sich nach dem Status des jungen Glücks zu erkundigen.

„Ihr habt eingekauft“, stellte sie fest. Sänger lachte ihr ins Gesicht. „Und getrunken“, ergänzte sie. „Und was habt ihr jetzt vor?“

„Flitterwochen“, sagte Sänger.

„Wohin geht’s denn?“

„Keine Ahnung“, sagte Marlene. „Irgendwohin, wo sie unsere Sprache sprechen, nehme ich an.“

„Deutsch?“

Marlene schüttelte den Kopf. „Film.“

Die Kollegin musterte ihre Chefin, entschied sich schließlich für ein mildes Lächeln und verabschiedete sich. Sie hätte da ein Interview mit dem Ordnungsdezernenten zu führen, und Marlene wisse ja, was der von Unpünktlichkeit halte.

Sänger sah der davoneilenden Journalistin hinterher, nickte seiner Frau zu. „Du stachelst selbst im Urlaub noch den Diensteifer deiner Untergebenen an.“

„Pfft“, machte sie und drückte ihm ihre Einkaufstüten in die Hand. Sie hakte sich bei ihm unter und dirigierte ihn vorbei an Cafétischen und Sonnenschirmen, an sprudelnden Wasserfontänen im Straßenpflaster und in der Sonne glänzenden Schaufenstern.

„Wie macht ihr Journalisten das eigentlich“, fragte Sänger unvermittelt, „wenn ihr in alten Presseartikeln stöbern wollt? Sagen wir, zwanzig Jahre und älter.“

„Journalisten wie ich gehen dafür in die Landesbibliothek“, sagte Marlene. „Da gibt es ein digitales Pressearchiv, das dürfen alle benutzen. Auch Detektive wie du.“

„Ich bin kein Detektiv.“

„Du hast zwei Fälle gelöst, bevor die Polizei sie lösen könnte. Du hast denen zwei Mörder frei Haus geliefert.“

Sänger schnaubte. „Das Polizeipräsidium war nicht wirklich glücklich, dass ich in ihren Ermittlungen rumgespukt habe. Außerdem waren das immer nur Nebenjobs.“

„Neben deinem Job als Filmvorführer.“

„Genau.“

„Den du gekündigt hast. Vor fast einem Jahr.“

„Das Digitalzeitalter hat ihn gekillt“, verbesserte Sänger sie. „Um einen Film von der Festplatte zu starten, braucht es keine Filmvorführer mehr. Das kann jeder Hausmeister genauso gut. Und Hausmeister ist kein Job für mich.“

„Und was wäre ein Job für dich?“

Sänger grinste. „Ich glaube, ich mache mich ganz gut als Ehemann. Immerhin bringe ich für den Job sechzehn Jahre Berufserfahrung mit.“

„Ich kann dir nur leider kein Gehalt zahlen.“

„Darum kümmert sich die Agentur für Arbeit.“

„Noch. Aber nicht mehr lange.“

„Hast du Angst, mich aushalten zu müssen?“

„Noch nicht. Was willst du denn im Zeitungsarchiv?“

„Meine Erinnerungen auffrischen.“

„Erinnerungen? Woran?“

„An eine Bewegung, die hier in Wiesbaden mal ein echtes Zentrum hatte. Eine Szene, die für mich immer sehr viel mehr Verwendung zu haben schien als ich für sie.“

„Was – das Rotlichtmilieu?“

Sänger lachte schallend. „Nein, die so genannte Linke. Die Autonomen, die Antiimperialisten und so weiter und so fort. Das sagt dir nichts mehr, war aber mal eine große Sache im letzten Jahrhundert.“

Sie waren am Ende der Fußgängerzone angekommen. Vor ihnen lag der Kranzplatz mit dem Hotel Schwarzer Bock, dem dampfenden Kochbrunnen und den wartenden Taxis am Straßenrand.

„Also“, sagte Marlene. „Ich nehme ab hier wieder die Tüten. Du weißt, wo die Landesbibliothek ist. Wie sehen uns später zu Hause.“

Sängers Augenbrauen vollführten ganze Zirkusnummern, drückten eine Reihe von Wülsten in seine Stirn. Marlene lachte ihm ihre vier Scotch ins Gesicht. Dabei bildeten sich tiefe Grübchen in ihren Wangen. „Sag jetzt bloß nichts. Ich weiß, wen ich geheiratet habe. Bis später.“

Rheinstraße, Ecke Kirchgasse, dort befand sich die Hessische Landesbibliothek, schon so lange Sänger denken konnte. Er streifte eine Weile unschlüssig durch den Lesesaal. Das dunkle Holz der Tische und Karteischränke schien alle Geräusche und Bewegungen zu dämpfen. Selbst die jungen Studenten wirkten wie aus einer anderen Zeit. Oder wie aus einem Harry-Potter-Film.

Von einer Bibliotheksmitarbeiterin ließ er sich erklären, was er wissen musste, dann setzte er sich an einen der Computer, die auf dem Rechteck von dunklen Holztischen in der Mitte des Raumes platziert waren.

Beim ersten Versuch tippte Sänger den Namen ‚Robert Zimmermann‘ aus Versehen mit einem ‚n‘ zu wenig in die Suchspalte des digitalen Zeitungsarchivs. Das Ergebnis war eine lange Liste von Artikeln zum jüngst gekürten Nobelpreisträger Bob Dylan. Die korrekte Schreibweise plus ‚RAF‘ plus ‚Verfassungsschutz‘ plus ‚V-Mann‘ lieferte schließlich, wonach Sänger suchte. Er fand mehr, als ihm lieb war. Viel mehr, als er hatte wissen wollen.

Robert Zimmermann war 1959 im rheinland-pfälzischen Boppard geboren worden. Spielte Tischtennis, interessierte sich schon früh für die ersten PCs von Apple und IBM, machte den Motorradführerschein. Physikstudium in Kaiserslautern. Er saß im Allgemeinen Studentenausschuss, wurde 1983 sogar Geschäftsführer der Landes-Asta-Konferenz, vertrat die Aktion Alternative Liste und kandidierte als Grüner für den Kreistag. Er mischte beim Volkszählungsboykott mit, beim Protest gegen die US-Airbase in Ramstein und anderen Aktionen der linken Szene. Ein Technikfreak mit Anarchotendenzen.

1984 gewann ihn ein Kommilitone, der ins Visier des rheinland-pfälzischen Landesamts für Verfassungsschutz geraten war, für eine gewagte Mission: Robby sollte die Treffen des Kommilitonen mit den Verfassungsschützern observieren und Fotos von den Staatsbeamten machen. ‚Enttarnung‘ war der Titel der Mission. Man wollte die Geheimdienstler, die die Szene aushorchten, genauso kenntlich machen, wie es die Dienste seit Jahren umgekehrt mit ihren Fahndungsfotos und Steckbriefen von illegalen Linken machten. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Aber die Rechnung ging nicht auf. Robby war derjenige, der enttarnt wurde. Die Verfassungsschützer registrierten ihn bei einem ihrer Treffen mit seinem Kommilitonen. Ihn und seine Kamera. Wenig später besuchten sie Robby in dem Schreibwarengeschäft, in dem er als studentische Aushilfe jobbte. Sie beschuldigten ihn des ‚Geheimnisverrats‘ und warben ihn an, wie sie zuvor bereits seinen Kommilitonen angeworben hatten: Erzähl uns was, und wir klagen dich nicht an.

Von da an traf sich Robby regelmäßig mit seinem V-Mann-Führer aus Mainz und erzählte, wer was mit wem in der Szene so trieb. Eigentlich hätte er immer noch vorgehabt, den Verfassungsschutz auszuspitzeln, so würde er später erklären: „Von mir stammt kein einziger Bericht. Ich habe mit denen immer nur diskutiert.“ So stand es in dem spektakulären Interview, das Robby 1994 dem Spiegel gegeben hatte – damals schon aus dem Exil des ehemaligen V-Manns, der den Verfassungsschutz und das BKA zu den entscheidenden Figuren der dritten Generation der Roten Armee Fraktion geführt und so das Ende der terroristischen Aktionen von links herbeigeführt hatte.

1989 zog Robby nach Wiesbaden. Hier engagierte er sich bei der Roten Hilfe, die ihren Sitz im „Infoladen linker Projekte“ in der Werderstraße hatte, sich mit den Haftbedingungen von inhaftierten RAF-Mitgliedern beschäftigte und diese auch regelmäßig im Gefängnis besuchte. Einer der Mitbegründer dieser Initiative war Gregor Wolf, der 1984 zusammen mit seiner Freundin Hanna Birger in den Untergrund gegangen war, um das zu initiieren, was man später die dritte Generation der RAF nennen sollte. Eine Art Schattenarmee, auf deren Konto zehn politisch motivierte, bis heute weitgehend unaufgeklärte Morde gingen. Nur in einem Fall war ein Täter bekannt, bei allen anderen würde wohl niemand je erfahren, wer den Finger am Abzug gehabt, wer die Bombe scharf gemacht oder das Tatfahrzeug gefahren hatte. Als gesichert annehmen konnte man, dass Wolf und Birger irgendwie dazu beigetragen hatten. Beide stammten aus Wiesbaden, waren in der Stadt geboren und hatten bis zu ihrem Abtauchen hier gelebt und in der linken Szene gewirkt.

Robby jobbte im CaféKlatsch, das von einem Kollektiv betrieben wurde, spielte für einen Tischtennis-Verein in Wiesbaden-Bierstadt und half etlichen Szenefreunden bei Soft- und Hardwareproblemen. Seinen V-Mann-Führer traf er weiter regelmäßig in Mainz.

1991 kam Robby auf Vermittlung der Wiesbadener RAF-Unterstützerszene erstmals mit aktiven RAF-Mitgliedern in Kontakt. 1992 fand eine konspirative Zusammenkunft mit Hanna Birger in Paris statt. In der Folge wurde er zu einer Art Kurier zwischen RAF und linker Szene. Auch den immer noch in Wiesbaden ansässigen Familien von Birger und Wolf diente er wohl als Bote. Er überbrachte Briefe oder auch mal selbstgemachte Marmelade, wie ein Artikel der taz aus dem Jahr 1994 offenbarte.

1992 veröffentlichten die selbsternannten Guerilla-Kämpfer auch ein Papier, in dem sie einen Strategiewechsel verkündeten: eine „Rücknahme der Eskalation“, ein Ende des bewaffneten Kampfes und der Mordanschläge gegen führende Repräsentanten von Wirtschaft und Staat. Man wollte andere Mittel und Wege im „Kampf für eine menschliche Gesellschaft finden“, zusammen mit der legalen Linken eine „Gegenmacht von unten“ aufbauen.

Sänger erinnerte sich an die wenigen Demonstrationen, bei denen er selbst damals mitgelaufen war. Gegen die Startbahn West. Gegen den Krieg im Irak. Nie ohne Schwarzen Block zwischen all den bärtigen Lehrern und Kindergärtnerinnen in Latzhosen. Der Schwarze Block, das war die „Nouvelle Vague“ im Bildungsbürgerkino des Protests. Keine großen Erklärungen, stattdessen handfeste Störfeuer. Wer dazugehörte, der hatte einen guten Stand in der Szene. Bei den Frauen sowieso. Ein bisschen Gewalt gehörte dazu, das Flair von Krawall und Gefahr. Ein paar Schaufenster entlang der Straße einschlagen, die „Konsummeilen entglasen“, den Widerstand auf die Straße tragen. Sänger hatte all das nur als Beobachter verfolgt, aber er wusste, dass Robby mittendrin gewesen war. Der perfekte Weg für einen Tischtennis spielenden Computerfuzzi, ein bisschen Revolution zu betreiben.

1993 war dann das Jahr, das alles ändern sollte. Für Robby, für Hanna Birger, für Gregor Wolf. Für die linke Szene. Für die RAF ohnehin. Für die meisten davon war es ein Endpunkt.

Ende März fand die erste Aktion der RAF nach dem Strategiewechsel statt: Gewalt nicht mehr gegen Menschen, sondern nur noch gegen Dinge. Es sollte zugleich die letzte Aktion der RAF sein. In Darmstadt-Weiterstadt sprengten sie ein noch im Bau befindliches Hochsicherheitsgefängnis in seine Einzelteile. Niemand wurde verletzt, niemand starb. Nur ein Gefängnis war unbrauchbar geworden.

Drei Monate später traf sich Robby, der Gregor Wolf und Hanna Birger vermutlich sein Motorrad für den Transport des in Weiterstadt verwendeten Sprengstoffs geliehen hatte, mit den beiden in einem mecklenburgischen Provinznest, dessen Name bald jeder in Deutschland kannte und der zum Synonym für das Ende der RAF wurde: Bad Kleinen.

Kurz vor diesem Treffen hielt das rheinland-pfälzische Landesamt für Verfassungsschutz den Zeitpunkt für gekommen, um das Bundeskriminalamt über seinen V-Mann zu informieren, der seit knapp zwei Jahren bei den meistgesuchten Terroristen des Landes ein- und ausging und darüber regelmäßig Bericht erstattete. Die Folge war hektische Betriebsamkeit: Robby wurde mit Signalsender und Mikrofon am Körper nach Bad Kleinen geschickt, die BKA-Beamten ständig in seinem Schlepptau, ein Hubschrauber als Relaisstation oben drüber.

Am Bahnhof von Bad Kleinen erfolgte schließlich der Zugriff, über den man Robby vorsorglich nicht informiert hatte. Die GSG-9 als Spezialtruppe des Bundesgrenzschutzes sollte alle drei festnehmen. Birger und Wolf ganz real, Robby nur zum Schein. Den wollte man als V-Mann weiterhin nutzen, um noch mehr RAF-Kader abfischen zu können.

Aber es kam anders. Hanna Birger ließ sich widerstandslos festnehmen, Gregor Wolf nicht. Er zog eine Waffe, erschoss einen der GSG-9-Männer, landete schließlich von mehreren Kugeln getroffen auf den Bahnschienen. Die letzte Kugel kam aus seiner eigenen Pistole. „Aufgesetzter Kopfschuss“ lautete später die erkennungsdienstliche Analyse.

Der 27. Juni 1993 war in die Geschichtsbücher der BRD eingegangen. Und der Name Robert Zimmermann gehörte untrennbar zu diesem Datum und dieser Geschichte. Er war „Der Mann, der die RAF besiegte“. Diese Überschrift zierte einen Artikel des Focus, der zwanzig Jahre später die Ereignisse noch einmal zusammenfasste.

Vor allem die Artikel des Spiegel aus den Wochen und Monaten nach dem 27. Juni 1993 boten einen Haufen von Superlativen und Schmutz. Was in Bad Kleinen passiert war, war eine „Bahnhofsballerei“, bei der Gregor Wolf „regelrecht hingerichtet“ worden sei. Robby war der „Superspitzel“, der das alles in Gang gesetzt hatte. Im Februar 1994 konnte das Magazin dann sein großes Interview mit dem längst im Rahmen des Zeugenschutzprogramms abgetauchten Spitzel präsentieren: „Ich verstand meine Rolle als Mittler“, ließ er da wissen. „Mein Interesse war, den Behörden einen Einblick in die Szene zu ermöglichen und dort für die Verständnis zu entwickeln. Die haben doch gar keine Ahnung gehabt, wie wir dachten.“

3

Sänger war noch immer in das denkwürdige Spiegel-Interview vertieft, das sich über mehrere Seiten erstreckte und mit dem Robert Zimmermann seinerzeit öffentlich um Verständnis für sich geworben hatte, als die Buchstaben vor seinen Augen zu tanzen begannen. „Die haben mich gelinkt“, stand da als Überschrift, doch für Sänger las es sich wie: „Die haben mich geliket“ – als hätte der Verfassungsschutz Robby eine positive Bewertung seiner Aktivitäten via Facebook hinterlassen.

Sänger schüttelte sich, rieb seine Augen, sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. Er musste drei Stunden vor diesem Computerbildschirm verbracht haben.

Er streckte seine Beine aus, legte den Kopf in den Nacken. Schloss die Augen, bis die tanzenden Buchstaben endlich verschwanden. Stattdessen tauchten Bilder einer Party vor seinem inneren Auge auf. Gesichter, die er seit etlichen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Eine Einweihungsparty war das gewesen. Für eine WG in der Waldstraße, am südwestlichen Ende der Innenstadt. Einer von denen, die da ihren Einzug feierten, war Robby.

Sänger versuchte das Ereignis in die Chronologie dessen einzusortieren, was er gerade gelesen hatte. Der Sprengstoffanschlag der RAF gegen die JVA Darmstadt-Weiterstadt hatte gerade erst stattgefunden und war an diesem Abend ein großes Partythema gewesen. Das Datum dieser letzten RAF-Aktion, von der damals noch niemand wusste, dass es die letzte sein würde, war der 27. März 1993. Robbys Einzugsparty musste also Anfang April 1993 stattgefunden haben.

Nach später gewonnenen Erkenntnissen musste man davon ausgehen, dass Robby an der Vorbereitung des Anschlags im Darmstadt beteiligt gewesen war. Und dass es Teil seines Jobs als Kurier zwischen RAF und linker Szene gewesen war, die Resonanz auf die Aktion in der Szene auszuloten. War also auch diese Party Teil eines größeren Plans gewesen? Und was hatte Sänger dort zu suchen gehabt? Er wusste es nicht mehr. Aber er konnte sich deutlich erinnern, dass einer von Robbys Kumpels sich neben ihn gesetzt und gefragt hatte: „Na, was hältst du von der Aktion unserer Genossen?“

Sänger überlegte, was er darauf geantwortet hatte. Vermutlich so etwas wie vage Zustimmung. Einen Anschlag auf ein leeres Gefängnis hatte er jedenfalls deutlich sympathischer gefunden als das Ermorden von Menschen.

Woran er sich ganz genau erinnerte, war, dass diese Party mit einer großen Schlägerei geendet hatte. Um Politik war es dabei nicht gegangen. Eine Frau hatte sich beim Tanzen von einem Mann begrapscht gefühlt. Seine Antwort auf ihre Beschwerde: „Wovon träumst du denn nachts?“ Ihre Erwiderung eine feministische Tirade. Dann waren ziemlich schnell die Fäuste geflogen. Viele Fäuste. Wer sich raushielt, hatte keinen guten Stand in dieser Szene. Sänger hatte sich rausgehalten.

Nur ein paar Monate später hatten Robbys Mitbewohner die WG schon wieder räumen müssen. Der Vermieter sprach nach den Ereignissen von Bad Kleinen und Robbys öffentlicher Enttarnung als RAF-Kontakt eine fristlose Kündigung aus. Er habe ja nicht ahnen können, wen er sich da ins Haus geholt hatte.

Sänger glaubte sich zu erinnern, dass die beiden Mitbewohner gegen die Kündigung geklagt hatten. Sie versicherten, von Robbys Doppelleben nichts gewusst zu haben. Für sie war er der nette Computerfreak gewesen, den sie als Barmann aus dem Café Klatsch kannten. Glauben wollte das niemand.

Sänger schüttelte den Kopf. Vierundzwanzig Jahre war das alles her, aber je mehr er mit den Bildern in seinem Kopf spielte, desto mehr davon stellten sich ein. Als würde jeweils eines das nächste nach sich ziehen. Wie auf einer Filmspule, die durch einen Projektor ratterte. Da war Vera Angermann. Sie war mit Robby zusammen in die Waldstraße gezogen. Möglicherweise war sie ein Grund gewesen, warum Sänger sich auf diese Einweihungsparty verirrt hatte.

Und da war Holger Martin. Der dritte Mitbewohner der WG. Er hatte zusammen mit Robby im CaféKlatsch gearbeitet. Heute betrieb er eine Kneipe am Sedanplatz und stand dort regelmäßig hinter dem Tresen, so wie Robby einst hinter dem Tresen gestanden und einer Armee von Ahnungslosen ihr Bier eingeschenkt hatte.

Sänger wandte sich wieder dem Computer zu und gab jetzt den Namen ‚Vera Angermann‘ in die Suchspalte des digitalen Zeitungsarchivs ein. Was er fand, war nicht viel. Und doch mehr, als ihm lieb war.

Ein Artikel des Wiesbadener Kuriers, der vor knapp zwei Wochen erschienen war, meldete, dass die Wiesbadenerin Vera Angermann, angestellt als Redakteurin beim ZDF in Mainz, unverheiratet und kinderlos, spurlos verschwunden sei. Die Polizei bitte um sachdienliche Hinweise. Ein Foto zum Artikel bot das digitale Zeitungsarchiv nicht an. Das Geburtsjahr der Vermissten wurde mit 1958 angegeben. Damit war sie ein Jahr älter als Robert Zimmermann, musste mittlerweile 59 sein.

Sänger schloss das digitale Zeitungsarchiv, rief die Homepage des Wiesbadener Kuriers auf und ließ sich hier den Artikel über das Verschwinden von Vera Angermann anzeigen – mit Foto. Darauf war eine Frau zu sehen, die nicht mehr ganz so aussah wie die, an die Sänger sich erinnerte. Aber doch noch genug, um sicher zu sein, dass es dieselbe war.

Sänger schüttelte sich wieder, schloss den Browser, erhob sich. Er nickte der Bibliotheksmitarbeiterin hinter ihrem Pult zu und verließ den Lesesaal.

Auf den Treppenstufen vor der Bibliothek blieb er stehen und schaute zum Himmel. Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten, befand sich auf dem Weg zu dem Punkt, an dem sie untergehen musste. Ihre Strahlen kitzelten den letzten Rest an Alkohol, der durch Sängers Hirnwindungen schwappte.

Er griff in die Gesäßtasche seiner Jeans und zog eine Serviette heraus. Die Nummer, die darauf stand, tippte er in sein Handy. Das „Hallo“, mit dem Bettina Holz sich meldete, war mehr eine Frage als eine Begrüßung.

„Ich hab ein bisschen Zeitung gelesen“, sagte Sänger. „Also, nicht wirklich Zeitung, aber das, was die Zeitungen in den letzten vierundzwanzig Jahren so geschrieben haben.“

Eine kurze Stille am anderen Ende. Dann: „Wer ist denn da?“

„Sänger. Die eine Hälfte des ‚Brautpaars der Woche‘.“

„Wow. Das ging ja schnell. Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, von dir zu hören.“

Sänger fuhr sich über die Stirn. „Erinnerst du dich an Vera?“

„An wen?“

„An Vera. Vera Angermann.“

Wieder eine kurze Stille. „Klar, an die erinnere ich mich. Habe aber schon ewig keinen Kontakt mehr zu ihr.“

„Genauso lange wie zu Robby?“

„Eher kürzer. Robby war damals von einem auf den anderen Tag von der Bildfläche verschwunden. Vera war ja noch da.“

„Ja“, bestätigte Sänger. „Bis vor Kurzem jedenfalls.“

„Was soll das heißen? Glaubst du, dass Vera etwas über Robby wissen könnte?“

„Keine Ahnung. Sag du’s mir.“

„Ich habe dir doch gerade gesagt, dass ich schon ewig keinen Kontakt mehr zu ihr habe.“

„Und du hast auch nichts über sie gehört? So in den letzten zwei Wochen?“

„Nein. Wieso? Sollte ich? Und wieso fragst du mich das? Heißt das, du nimmst meinen Auftrag an?“

Sänger lachte auf. „Ich nehme überhaupt keine Aufträge an. Ich bin offiziell arbeitslos.“

„Wieso rufst du mich dann an?“

„Um ein bisschen über alte Zeiten zu plaudern, schätze ich. Vielleicht könnten wir unser Gespräch von heute Vormittag bei Gelegenheit mal fortsetzen.“

„Jederzeit. Wann passt es dir denn?“

„Wie wäre es morgen? Selbe Zeit, selber Ort.“

„Okay. Ich werde da sein.“

„Eins noch“, sagte Sänger. „Du sagst, du hast einen Brief von Robby bekommen. Wann war das?“

„Vor einer Woche etwa.“

„Und wo wurde er abgestempelt?“

„In Hamburg“, sagte Bettina. „Das hat mich total gewundert. Ich habe immer geglaubt, dass sie Robby ins Ausland gebracht haben. Hältst du es für möglich, dass er tatsächlich in Hamburg lebt?“

„Ich halte prinzipiell fast alles für möglich.“ Sänger zeigte ein schiefes Grinsen. „Mein Großvater war der Meinung, das liege daran, dass ich zu viel Zeit im Kino verbracht habe.“

4

Die Küche der Sängers war groß genug, um darin Symposien abzuhalten. An dem massiven Esstisch in der Mitte des Raumes hätten noch wesentlich mehr Menschen als Sänger, seine Frau und seine Tochter Platz gefunden. Über der Küchenzeile aus dunklem Holz hing ein Filmplakat, das schon einige Umzüge mitgemacht hatte und im letzten Jahr erstmals gerahmt worden waren: Jean-Paul Belmondo und Anna Karina schauten von der Wand auf die drei Personen am Tisch hinab. Das Plakat hatte 1965 für Jean-Luc Godards Pierrot le fou geworben und gehörte zu den Dingen, die Sänger aus der Wohnung in der Fußgängerzone mit hierher gebracht hatte. Im Rahmen daneben befanden sich die Silhouetten von Theresa Russell, Harvey Keitel und Art Garfunkel auf einem Plakat, das 1980 für Nicolas Roegs Bad Timing geworben und bereits in Marlenes alter Wohnung gehangen hatte.

Durch die geöffnete Balkontür fiel das letzte Licht des Tages herein und breitete sich über den leeren Tellern und Schüsseln auf dem Tisch aus. Lisa erhob sich und begann damit, abzuräumen.

„Habt ihr euch denn mittlerweile Gedanken über eure Flitterwochen gemacht?“

Sänger und Marlene sahen sich an.

„Gedanken“, murmelte Sänger. „Klar, jede Menge.“

„Und? Wohin soll’s gehen?“

„Keine Ahnung“, sagte Sänger. „Irgendwohin, wo wir dir aus dem Weg sind, nehme ich an.“

„Ihr seid jetzt seit drei Tagen verheiratet und habt noch immer keine Pläne?“

„Na ja. Dafür hast du seit einem Tag Ferien und kannst es anscheinend gar nicht abwarten, hier die Partymeile zu eröffnen.“

„Meine letzten richtigen Sommerferien“, grinste Lisa. „Die will ich voll auskosten. Außerdem weißt du ja, dass Mama noch in den Urlaub mit mir fahren will. Ich muss also ein bisschen planen.“

„Ich habe zwei Wochen Urlaub“, schaltete Marlene sich ein. „Bedeutet, bis spätestens Ende nächster Woche müsstest du die Wohnung wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt haben. Egal, was du bis dahin hier anstellst.“

„Okay. Und ab wann kann ich was anstellen?“

„Gib uns noch ein paar Tage, um die Hochzeitsgeschenke zu sortieren“, sagte Sänger.

Lisa hatte das Geschirr in der Spülmaschine verstaut, schüttelte die dunklen Locken aus ihrem Gesicht und drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Bartstoppeln.

„Alles klar, Pops. Dann lass ich euch mal alleine. Da ist noch jemand, mit dem ich chatten will.“ Im Vorbeigehen hauchte sie auch Marlene einen Kuss auf die Haare. „Schönen Abend noch, Stiefie.“

„Stiefie?“

„Du bist doch jetzt offiziell meine Stiefmutter, oder nicht?“

„Oh je, tatsächlich? Du meinst, so wie in ‚die böse Stiefmutter‘?“