Tessa Jones (Band 1) - Wie zum Hades beschützt man eine Göttin? - Lovis Meyer - E-Book

Tessa Jones (Band 1) - Wie zum Hades beschützt man eine Göttin? E-Book

Lovis Meyer

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Beschreibung

Irgendwie schafft es Tessa Jones nie, im richtigen Moment den Mund zu halten. Muss sie deshalb im Olympos hinten in der Küche stehen? Sie traut ihren Augen nicht, als sie dort beobachtet, wie die schöne Helena einfach in einem Kühlschrank verschwindet. Tessa folgt ihr und findet sich inmitten einem Haufen alter Tempel wieder: im antiken Olymp. Als ihre Mutter endlich mit einem gut gehüteten Familiengeheimnis herausrückt, kann es Tessa kaum fassen. Sie erfährt, dass es nicht nur um ihr eigenes Schicksal geht, sondern gleich das der ganzen mythologischen Götter. Was in aller Unterwelt soll sie jetzt tun?

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Für meine wundervollen starken Mädchen

 

 

Das Schicksal ist unheilvoll.Keiner, der geboren wurde, entrinnt ihm.

Kapitel 1

Tod und Verwesung, Thunfisch und Ei

Ich bin tot, so was von tot.

»He, pass doch auf!«, ruft ein Typ im Anzug mir nach, als ich an ihm vorbei die Stufen der Broadway Station hinabspringe. Bestimmt ein Anwalt auf dem Weg zu einem Termin. Dass er genervt ist, überrascht mich nicht. Der herbstliche Oktoberhimmel spannt sich nach einem Regenschauer am Morgen so blau über die Stadt, als wolle er dem Sommer etwas beweisen. Außerdem ist heute Sonntag. Da haben sogar in New York Anwälte Besseres zu tun, als in ihren Büros zu hocken.

Der Mann wirft mir Unfreundlichkeiten hinterher, obwohl ich ihn nicht einmal berührt habe. Geschweige denn angerempelt, wie er lautstark behauptet.

Zumindest nicht, dass ich davon wüsste. Was, ehrlich gesagt, nicht viel bedeutet. Ich bekomme meistens erst mit, dass ich gegen etwas gestoßen bin, wenn es zu Bruch geht. Gut möglich also, dass ich den Brüllaffen aus Versehen gestreift habe.

Tja, willkommen in meinem Leben. Tessa Jones, Königin der Katastrophen, sagt Mom gerne.

Wobei sich das mit dem Leben schnell erledigt hat, wenn ich noch länger hier herumtrödele. Dann fährt meine Seele direkt in die Unterwelt. Das ist die Hölle der alten Griechen, wenn man der Mythologie glaubt.

Ewige Verdammnis ist genau das, was Mom Anwälten wie dem gerade an den Hals wünscht, wenn sie Verbrecher mit juristischen Tricks aus dem Gefängnis holen, obwohl die Cops sie mit den Fingern im Tresor erwischt haben.

Ich verzichte ausnahmsweise auf einen Kommentar, greife nach dem Handlauf und schwinge mich um hundertachtzig Grad herum. Nicht zum Broadway am Times Square in Manhattan, sondern zur namensgleichen Straße in Astoria, dem Viertel von Queens, in dem ich seit meiner Geburt wohne.

Ich ernte schräge Blicke und weiß, was die Leute denken: eine Vierzehnjährige in Tanktop, kurzer Jeans und Stiefeln, die rennt, als wäre der Teufel hinter ihr her? Sie muss etwas ausgefressen haben!

Zum Glück kümmert es keinen, ob die gerechte Strafe mich einholt oder nicht. Die schwebt mit jeder weiteren Sekunde wie ein am Seil baumelnder Amboss über mir. Kracht der herunter, bin ich Brei. Ich sollte mich sputen, um nicht noch mehr gottgleichen Zorn auf mich zu ziehen, als mir ohnehin schon droht.

Warum mussten sich die Türen der U-Bahn auch vor meiner Nase schließen! Zehn Minuten hat es mich gekostet, auf den nächsten Zug zu warten.

Im Laufen werfe ich einen Blick auf mein Smartphone. Viertel nach zwölf. Wie gesagt: Ich bin tot, so was von …

»Achtung!«, stoße ich aus.

Eine Frau, die aus einem Waschsalon tritt, springt zurück wie von der Tarantel gestochen. Ich stoße mit der Schulter gegen ihren Korb, rieche die sommerliche Frische ihrer Wäsche, dann hebt das Ding ab wie ein Urlaubsflieger vom La Guardia Airport. Einen Meter über uns erinnert sich der Korb an die Sache mit der Schwerkraft. Er fällt enttäuscht auf den Bürgersteig zurück. Die Landung kriegt er halbwegs hin, nur ein Shirt und zwei Unterhosen verlassen ihre Plätze frühzeitig, bevor ihr Transportmittel auf dem provisorischen Rollfeld vor dem Schnapsladen nebenan ausschlittert.

Normalerweise würde ich beim Aufheben helfen. Heute geht es nicht. Im Sprint rufe ich ein »Tut mir leid!« über die Schulter. Hoffentlich glaubt die Frau mir, dass ich es ernst meine.

In der Ferne zeichnet sich die Robert F. Kennedy Bridge über dem East River ab. Ich laufe darauf zu, bis ich den Verkehr höre, biege aber in eine Gasse ab, bevor ich das Wasser sehe. Ich halte mich eng an der Ziegelsteinmauer eines dreistöckigen Mietshauses, drücke mich unter den Feuerleitern an müffelnden Müllcontainern vorbei und werfe einen weiteren Blick auf mein Smartphone. Zwanzig Minuten zu spät! Mit der freien Hand greife ich nach dem Regenrohr am Ende der Gasse, um mich erneut aus vollem Tempo um die Ecke zu schwingen und … RUMS!

Von hundert auf null in einem Moment. Als wäre ich gegen eine Betonwand gelaufen.

Die Wand stellt sich als ein Mann heraus. Im Gegensatz zu ihm falle ich zu Boden. Er ragt über mir auf wie ein Riese. Ehrlich, der Typ ist gewaltig! Wenn der Kerl an der Broadway ein Anwalt war, habe ich jetzt einen Berufskiller vor mir. Der erdrückt seine Opfer, indem er zu ihnen in den Fahrstuhl steigt.

Nur das übergroße Footballshirt der Giants passt nicht ins Bild. Dazu die schräg sitzende Basecap und die Schlackerhose. Der Mann ist mit dicken Ketten behangen, als trüge er den Goldschmuck seiner Oma spazieren.

»Yo, kannst du nicht aufpassen! Was rennst du wie eine Irre durch die Gegend? Und schön aufs Handy glotzen, das hab ich gern. Scheiße, Mann, wo habt ihr eure Augen?«

Mit »ihr« meint er Leute in meinem Alter. Bei näherer Betrachtung würde ich ihn auch nicht als steinalt bezeichnen. Mitte zwanzig. Höchstens. Und worüber regt er sich auf? Er steht ja da wie ein Berg, gegen den ein Hamster gelaufen ist. Wo waren seine Augen denn? Hat er nach dem nächsten Fitnessstudio Ausschau gehalten?

Ich sehe an seiner Miene, was passiert ist.

Ich habe es getan, wieder einmal. Ich habe meine Gedanken ausgesprochen, ohne es zu wollen. Neben der Tollpatschigkeit der zweite Punkt, an dem ich laut Mom arbeiten muss.

Das sieht mein Gegenüber genauso. »Und dann auch noch frech werden, die Kleine!« Er tastet sich ab, als könnte er sich beim Zusammenprall verletzt haben.

»So habe ich das nicht gemeint.« Ich beiße mir auf die Zunge. Verhindern kann ich damit nicht, dass ich auf »die Kleine« anspringe. »Großer,« erwidere ich.

»Okay, das reicht, yo! Wissen deine Eltern eigentlich, wo du dich rumtreibst? Denen sollte mal einer erzählen, wie sie dich richtig erziehen!«

Das lasse ich nicht auf mir sitzen. Beziehungsweise auf Mom. »Meine Mutter hat mir alles beigebracht, was nötig ist.« Ich höre selbst, wie angriffslustig ich klinge. »Wenn deine da Tipps braucht, kann sie meine gerne mal anrufen.«

Dem Mann klappt der Mund auf. Erwachsene fordern gern Respekt, vergessen aber oft, dass das keine Einbahnstraße ist. Wer mir blöd kommt, muss mit Gegenwehr rechnen.

Während ich mich aufrappele, wische ich mir den Schmutz von der Jeans. Der Hosenboden ist nass, das Top hat auch etwas abbekommen. Wunderbar. Mir liegt der nächste Spruch auf den Lippen, aber in meinem Kopf meldet sich die Stimme meiner Mom. Beziehungsweise schreit mich an: In stressigen Situationen erst einmal tief ein- und ausatmen, Tessa!

Vielleicht kann ich die Wogen tatsächlich schnell glätten und dann nach schräg gegenüber laufen? Der Footballfan hat mich ja kurz vor dem Ziel aufgehalten.

»Mal ehrlich.« Ich nicke mit einem einnehmenden Lächeln auf sein Shirt der Giants. »Als könnte ein Mädchen wie ich einen Giganten wie dich verletzen.«

Im ersten Moment denke ich, dass ich ihn damit auf meiner Seite habe. Dann wird sein Grinsen unheimlich, und ich merke, dass es nicht mir gilt. Bevor ich mich umdrehen kann, legt sich mir von hinten eine Hand auf die Schulter.

»Officer!« Der Mann beachtet mich nicht mehr. Oder doch. Er sieht mich an wie die Hinterlassenschaft eines Straßenköters, über die er sich bei einem Gesetzeshüter beschwert. »Erst rennt die Kleine voll in mich rein! Dann entschuldigt sie sich nicht mal! Stattdessen beleidigt sie mich und meine Mutter!«

Ich brauche einen Moment, bis mir ein Licht aufgeht. »Großer habe ich gesagt, weil du mich Kleine genannt hast. Und du bist doch ein echter Gigant.« Ich nicke auf sein Footballshirt, aber das bekommt er nicht mehr mit, weil er sich schon wieder aufregen will.

»Yo, da hören Sie es, Officer! Verhaften, sage ich! Eine Nacht im Gefängnis bewirkt Wunder!«

Die Hand auf meiner Schulter dreht mich mit sanfter Gewalt um. Mein Blick fällt auf den Gürtel mit den Handschellen, dem klobigen Funkgerät und der Dienstwaffe. Ich sehe die Jacke mit dem Abzeichen des New York Police Departement auf dem Ärmel. Ich schaue in das Gesicht, und das Herz sackt mir in die Hose.

»Verhaften.« Die weibliche Officer mustert mich mit ihren tiefbraunen Augen. Die dicken, schwarzen Haare hat sie zu einem Zopf geflochten. Einzelne Locken brechen aus und winden sich unter dem Polizeihut hervor. »Ja, das wäre eine Möglichkeit. Aber wieso nur eine Nacht? Hört sich eine Woche nicht besser an?«

Mit solcher Zustimmung hat der Mann nicht gerechnet. Er zögert. »Also, yo, vielleicht reicht es, sie von der Wache abholen zu lassen. Dann können Sie den Eltern sagen, dass sie besser auf sie aufpassen sollen.«

Die Officer nickt. »Eine Erziehungsberechtigte wird ein Wörtchen mit ihr reden, darauf können Sie sich verlassen. Vielen Dank für Ihre Mithilfe. Einen schönen Tag noch.« Ihre Hand drückt mir in den Rücken und gibt die Richtung vor, in die wir gehen. Wir überqueren die Straße und steuern auf einen parkenden Streifenwagen zu.

»Die Giants«, möchte ich die Sache aufklären. »Das Footballteam? Er hatte eins ihrer Shirts an. Deshalb habe ich ihn Gigant genannt.«

»Willst du nicht deinen Anwalt anrufen, bevor du eine Aussage machst? Dir deine Rechte vorlesen lassen?«

Ich werfe einen Blick zurück. Der Mann läuft weiter. Wenn der Vorfall ihm den Glauben an die New Yorker Polizei schenkt, schön und gut. Aber wie blind kann er sein, dass ihm die Ähnlichkeit entgeht?

Wie aus dem Gesicht geschnitten, höre ich oft. Die Locken, die Nase, der Mund. Ich schüttele die Hand auf meinem Rücken ab. »Komm schon, Mom! Du weißt, dass ich niemanden einfach so beleidige.«

»Weiß ich das?« Mom schiebt mich an ihrem Dienstfahrzeug vorbei zur Tür, durch die ich sowieso wollte. Ein verwittertes Schild weist auf das Olympos und griechische Speisen hin. Die Scheibe rechts davon ist mit einer Balustrade bemalt, die mal weiß gewesen sein muss. Jetzt heben sich die hüfthohen Säulen kaum noch vom schmutzigen Glas ab. Dahinter erahne ich Statuen, die das billigste Möbelhaus abgelehnt hätte. Die Proportionen sind falsch. Was das Idealbild von Männern und Frauen in der Antike darstellen soll, wirkt, wie von einem Kleinkind aus Pappmaschee fabriziert. Was wahrscheinlich sogar der Fall ist.

Mom öffnet die Tür. »Ich habe auch angenommen, dass ich mich nach unserem letzten Gespräch auf dich verlassen kann, Penthesilea Jones. Dass du die Arbeit hier ernst nimmst. Und jetzt bist du zu spät.«

Die Erwähnung meines vollen Namens ist eine Warnung: Mund halten! Lass alles über dich ergehen. Auch wenn es ungerecht ist.

Heute fällt mir das schwerer als sonst. Erstens kann ich nichts dafür, dass mir ein Möchtegernrapper im Weg stand, zweitens müssen wir uns dringend über die Arbeit unterhalten. Deshalb bin ich ja so spät.

Wirklich angestellt bin ich im Olympos nämlich nicht. Mom nennt es einen Freundschaftsdienst, den ich leiste, weil wir den Besitzer kennen. Das Taschengeld dafür drückt Henry Papadopoulos dann auch ihr in die Hand, nicht mir. Mom fischt zwei Scheine für mich aus dem Umschlag, der Rest wandert auf mein College-Konto.

Dass ausgerechnet sie mich aufgegriffen hat, kommt nicht überraschend. Das Olympos ist unser zweites Wohnzimmer. Selbst während ihrer Schichten sieht Mom dort so oft nach dem Rechten, als gäbe es in dem schäbigen Lokal mit seinen immer gleichen Gästen etwas Besonderes.

»Hallo, junge Dame«, begrüßt mich Ms Dimitriou von ihrem Tisch aus. Ihr Lächeln und der Blick über die randlose Brille werden begleitet vom Klappern ihrer Häkelnadeln. Sie hält inne, als sie meine schmutzigen Klamotten bemerkt, rümpft die Nase über meine Lieblingsstiefel und klappert weiter. Ich weiß, dass ich in ihren Augen wenig mädchenhaft wirke. Was immer das sein soll.

Mr und Ms Nikolaidis hocken in ihrer Nische, als hätten sie sich gerade erst unter dem missratenen Diskuswerfer kennengelernt. Der sieht aus, als schleuderte er gleich eine leere Salatplatte quer durch den Raum. Wer nicht aufpasst, wird geköpft. Wahrscheinlich will das Rentnerpärchen unter ihm begraben werden, wenn sie das Zeitliche segnet.

Das kann noch dauern. Die beiden sind ziemlich rüstig. Da kommt ihnen Ms Christou mit ihrer ungesunden Lebensweise zuvor. Die Gesetze der Schwerkraft sind ihr schnuppe. Sie hängt schief über der Sitzfläche des Barhockers und hält sich trotz der halb leeren Flasche Ouzo tapfer oben.

Ansonsten ist niemand da. Mal abgesehen von der strengen Knoblauchnote in der stickigen Luft.

Manchmal kommt es mir vor, als wollte Henry gar keine anderen Gäste. Einmal verirrte sich eine Gruppe asiatischer Touristen ins Olympos. Sie ließen sich nicht von den vertrockneten Pflanzen und den vergilbten Fotos griechischer Sonnenuntergänge abschrecken. Nicht einmal die schleppende Musik voller Sehnsucht, die blechern aus dem Lautsprecher im Gastraum dudelte, vertrieb sie! Das schaffte erst Henry, indem er in aller Seelenruhe in der Nase popelte. Dann fragte er, ob sie etwas essen möchten, während er die Ausbeute seiner Bohrarbeiten begutachtete. Die Touris erinnerten sich urplötzlich an einen Bus, den sie erwischen mussten, und stürmten auf die Straße.

Heute lässt Henry seinen Zeigefinger, wo er hingehört. »Anastasia!«, begrüßt er meine Mom. »Und Tessa! Wie schön, dass ihr da seid!«

»Es wäre schöner, wenn sie pünktlich gewesen wäre«, merkt Mom an.

Henry winkt ab. »Ach, die paar Minuten sind doch nicht der Rede …«

Mom hebt eine Augenbraue. Henry wird so weiß wie seine Statuen, zieht das fleckige Geschirrtuch von der Schulter und knetet es in den Händen. »Genau, ja. Ich, äh, kann niemanden gebrauchen, auf den ich mich nicht verlassen kann?« Er schaut meine Mom fragend an. Die nickt zustimmend. Henry kommt in Fahrt. Er knallt das Tuch auf die Theke, dass Ms Christou jetzt doch fast vom Hocker fällt.

»Wenn das noch einmal vorkommt«, überlegt Henry laut und sieht immer noch meine Mom an, »muss … muss ich dir kündigen, Tessa. Das hast du dann davon!« Mom macht wieder das mit ihrer Augenbraue, und Henry schüttelt den Kopf. »Wenigstens vom Lohn ziehe ich dir das Zuspätkommen ab? Jede Minute. So wahr ich Papadopoulos heiße!«

Erstens käme mir mit Blick auf das, was sich am Mittwoch hoffentlich ergibt, eine Kündigung ganz recht. Wie auch immer die bei einem Freundschaftsdienst aussieht. Zweitens stellt sich die Frage, ob er der zweiten Hilfskraft auch das Taschengeld kürzt, wenn sie ihre Schicht vertrödelt? Oder früher Schluss macht. Heute sollte sie bis halb eins arbeiten, aber ich sehe keine Spur von ihr.

»Ist Helena noch da?«, frage ich so freundlich, dass man darauf ausrutschen könnte.

Ich habe mein siegessicheres Grinsen nicht einmal halb aufgesetzt, da schwingt die Tür zur Küche auf. »Habe ich meinen Namen gehört?« Helena entdeckt mich, das Lächeln wird kalt. »Oh. Tess. Hi.«

Dass ich Tessa heiße, habe ich ihr schon hundertmal gesagt. Für sie bin ich weiter Tess. Als würde ein fünfter Buchstabe sie umbringen. Ich wünsche ihr, dass sie bei ihrer nächsten Shoppingtour in einem Aufzug Besuch von jemand Bestimmtem bekommt. Yo!

Das ist aber gerade mein kleinstes Problem. Mit meiner Frage habe ich mir ein Eigentor geschossen, wie die Augenbrauen meiner Mom deutlich zeigen. Dabei kennt Mom Helena so gut wie ich. Der Elan, mit dem die sich einen Lappen schnappt und die klebrige Theke rund um Ms Christous Kopf wischt, ist gespielt. Normalerweise reagiert sie allergisch auf Arbeit.

Als Tochter des Chefs hat sie ihre Freiheiten.

Für Mom ist das kein Grund, dass ich es ihr nachmache.

Helena und ich sind keine Feindinnen oder so! Aber an der Jakob McGhee High School, die wir seit diesem Sommer besuchen, bewegen wir uns in unterschiedlichen Sphären.

Während Helena schnell Anschluss fand, tue ich mich schwer. Finde mal neue Freundinnen und Freunde, wenn deine Mom ein Cop ist! Ich habe drei, vier Leute, mit denen ich mich am Anfang in der Schule gut verstanden habe, zu mir eingeladen. Im Handumdrehen steckten sie in einem Verhör über ihre familiären Hintergründe. Mom meint es nicht böse, aber ihre Neugier wirkt auf andere mitunter etwas einschüchternd. Dass sie dabei ihre Pistole polierte, spielt vielleicht auch eine Rolle.

Ein anderer Grund könnte sein, dass ich selten ein Blatt vor den Mund nehme. Auf manche wirkt das abschreckend, sagt Mom. Ich finde, andere müssen damit leben, wenn sie meine Freundinnen sein wollen.

Selbst in den Kursen, die Helena und ich beide gewählt haben, sprechen wir kaum miteinander. Das liegt daran, dass ich mich für normale Dinge interessiere. Hin und wieder sogar für den Unterricht. Dafür weiß ich wenig über Lockenstäbe und Glätteisen, Rundbürsten, Wimperntusche und Nagellackfinisher. Vor allem könnte ich niemals die Augen verdrehen wie Helena, wenn es darum geht, wer wem wie hinterhergestarrt hat.

Nötig hätte Helena das Make-up nicht. Sie könnte aus ihrem Bett auf einen Laufsteg springen und würde alle begeistern. Auch heute schimmert nur ein zartes Hellrosa auf ihren Lippen, die Lidränder ihrer strahlend blauen Augen hat sie mit einem Kajal betont. Ihr seidiges Top bringt ihre Figur perfekt zur Geltung.

Mit spitzen Fingern befördert sie den Lappen ins Spülbecken. Sie schwebt so elegant nach vorn, dass jeder Kolibri sich in ihrer Gegenwart wie ein Elefant mit Flügeln fühlt. »Ich bin dann weg.« Ihre Stimme ist plötzlich so süß, dass sogar ich sie dafür umarmen möchte.

Bis ich den widerlichen Impuls zurückdränge, erreicht sie die Tür zu den Lagerräumen und dem Hinterausgang. Dabei muss ich sie dringend etwas fragen!

»Helena, warte!«

Den Blick meiner Mom ignoriere ich. Sie steht mit in den Gürtel gehakten Daumen vor dem Tresen. Für sie ist die Angelegenheit noch nicht ausdiskutiert. Aber ich muss wissen, ob Helena meine Schicht in drei Tagen übernimmt.

Ich fasse es immer noch nicht, welche Möglichkeit mir da in den Schoss gefallen ist! Aber jetzt ist nicht die Zeit, darüber nachzudenken.

Ich eile Helena nach – und bleibe im spärlich beleuchteten Gang stehen. Der Hinterausgang ist geschlossen. Dafür rumpelt es in der letzten Kammer rechts. Der Raum ist Mr Papadopoulos’ persönlicher Schrottplatz, in dem alle Küchengeräte vor sich hin gammeln, die im Laufe der Jahre kaputtgegangen sind. Eigentlich ist er tabu für mich. Henry und Mom schwafeln von Verletzungsgefahr. Bisher habe ich mich an das Verbot gehalten, aber heute kann ich keine Rücksicht darauf nehmen.

»Helena?«, frage ich beim Eintreten. »Du musst mir einen Gefallen tun und für mich …« Den Rest des Satzes verschlucke ich, weil mir meine Augen einen Streich spielen.

Gerade stand Helena noch da, jetzt ist sie in einen uralten Kühlschrank im letzten Eck gestiegen. Der Lichtkegel auf dem blanken Boden davor wird schmaler. Die Tür hinter ihr schließt sich mit einem saugenden Geräusch. Dann ist nur noch das elektrische Brummen der Antiquität zu hören.

Ich starre das Ding drei Sekunden an – und lache über mich. Der Kühlschrank aus dem vorigen Jahrhundert steht weiter von der Wand weg als angenommen. Helena sucht dahinter nach was auch immer. Das sehe ich bloß von hier aus nicht.

Ich bahne mir einen Weg an noch vor Fett glänzenden Fritteusen und einem Berg rostiger Töpfe vorbei. »Helena? Also, ich habe am Mittwoch einen Termin und wollte dich bitten, für mich zu arbeiten. Dafür übernehme ich ein andermal für dich.« Als würde ich das nicht oft genug tun.

Ich mache den letzten Schritt und blicke auf den Spalt zwischen Kühlschrank und Mauerwerk. Sogar die Küchenschabe, die sich vor mir verkriechen will, tut sich schwer. Sie zwängt ihren Insektenkörper mühsam in den Schlitz.

Nur langsam sickert in mein Bewusstsein, was das heißt. Helena ist wirklich in den Kühlschrank geklettert!

Warum um Himmels willen tut man so was? Handelt es sich um eine abgefahrene Beautygeschichte? Wirkt sich die Kälte positiv auf den Teint aus? Nicht einmal die Arktis könnte Helenas Haut noch glatter und makelloser machen, als sie ist! Oder hemmt die Dunkelheit die Zellalterung? Ziemlich übertrieben, sich mit vierzehn Sorgen um Falten zu machen.

Eine innere Stimme sagt mir, dass ich es bei meinen wilden Vermutungen belassen soll. Dass ich besser gehe.

Aber ich mache einen Schritt nach vorn.

Auf einmal schießen mir Gedanken an Pest, Tod und Verwesung durch den Kopf. Ich schmecke sie sogar! Und wer sich fragt, wie Pest, Tod und Verwesung schmecken: wie ein vier Wochen altes Thunfischsandwich mit Ei, Gorgonzola und einem angebrannten Marshmallow obendrauf.

Alles in mir schreit danach, umzukehren. Zu vergessen, was ich gesehen habe. Das ist so untypisch für mich, dass ich genauer hinhöre.

Es ist, als stammten die Gefühle nicht von mir. Als strömten sie von außen auf mich ein. Als wollte etwas oder jemand meine Neugier darunter begraben.

Ich stemme mich dagegen. Der eklige Geschmack wird unerträglich. Zum Thunfisch, dem Ei, dem Gorgonzola und dem Marshmallow gesellt sich das Aroma von ranziger Butter. Der Widerwille, den Kühlschrank überhaupt zu berühren, wird übermächtig. Dann ziehe ich mit einem Ruck am Griff, das Licht im Inneren springt mit einem KLACK an und blendet mich.

Meine Augen gewöhnen sich an die Helligkeit, und ich erkenne jedes Detail.

Viel ist das nicht.

Der Kühlschrank ist leer.

Kapitel 2

Halt die Klappe, Kitschfigur!

Ein leerer Kühlschrank? Nicht ganz.

Im einzigen Fach entdecke ich ein schimmeliges Etwas auf einem Holzbrett, das von einer blaugrünen Schicht überzogen ist. Dem Geruch nach zu urteilen, habe ich die Überreste eines Ziegenkäses vor mir. Das Glas Oliven daneben sieht fast appetitlich aus – bis ich das handschriftlich hingekritzelte Ablaufdatum lese: Haltbar bis zum 21. Elaphebolion im Jahr des Diognetos als Herrscher von Athen.

Keine Ahnung, welcher Monat das bei den alten Griechen war. Für mich klingt es eher nach einer ansteckenden Krankheit. Diognetos sagt mir auch nichts. Klar ist nur, dass ich auf eine Seite von Helena gestoßen bin, die mir neu ist.

Bisher dachte ich, sie will zum Fernsehen. Henry hat meiner Mom gegenüber mal erwähnt, dass sie sich mit Mikrofon in der Hand vor einer Kamera sieht. Nah dran am Geschehen. Offenbar plant sie schon ihre Zweitkarriere, falls daraus nichts wird: Magierin in Las Vegas! Ihr Dad lagert die Requisiten für die Bühnenshow in seiner Abstellkammer.

Wie jede Magierin arbeitet Helena mit Tricks. Die Rückwand schwingt in einen geheimen Raum auf. Bestimmt! Am besten schiebe ich das Teil komplett weg, um Helenas überraschtes Gesicht zu sehen. Und sie mit einem unschuldigen Lächeln zu bitten, am Mittwoch für mich einzuspringen. Als Dank verkneife ich mir morgen in der Schule vor ihren Freundinnen einen Kommentar über ihr nerdiges Hobby.

Mein Blick bleibt am Käse und den Oliven hängen. So eklig beides ist, plötzlich möchte ich den schimmeligen Block und das Glas berühren. Der Drang fühlt sich ähnlich an wie der Widerwille zuvor. Als wollte mir jemand oder etwas sagen, was ich tun soll, wenn ich schon so weit gekommen bin.

Diesmal muss ich mich nicht dagegenstemmen, sondern ihm einfach nachgeben. Ich beuge mich vor und … Die Tür knallt mir in den Rücken. Ich falle nach vorn. Das Licht erlischt, ich stürze in die Dunkelheit. Wo meine Hände die Wand berühren sollten, ist nichts. Wo ich längst hätte aufkommen müssen, ist nur weitere bodenlose Leere. Ich überschlage mich, trudele, ein Schrei bahnt sich seinen Weg aus meiner Kehle. Ich fuchtele mit den Armen, um meinen Sturzflug halbwegs zu stabilisieren … und schlage auf.

Im selben Moment wird es hell. Meine Mom muss mir gefolgt sein und hat den Kühlschrank wieder geöffnet. Das KLACK, mit dem die Glühbirne ansprang, habe ich nur überhört. »Mom?«

Als Antwort erhalte ich ein meckerndes Geräusch. Lacht Mom? Ist sie in den Scherz eingeweiht, den Helena mit mir treibt? Keine Ahnung, wieso sie bei dem Quatsch mitmischt. Als Erziehungsmaßnahme taugt das Ganze eher weniger. Welche logische Konsequenz soll es sein, mich hinterrücks in einen Kühlschrank ohne Boden zu schubsen, nur weil ich in ihren Augen zu spät zur Arbeit erschienen bin?

Ich will sie anfahren.

Nur dass es nicht meine Mom ist, die vor mir steht und ein Büschel Gras kaut.

»Määäh!«, wiederholt die Ziege an ihrem Essen vorbei. Das Tier schluckt die Halme, reckt sich hoch am Olivenbaum, an dem es mit einem Strick angebunden ist, und zupft sich als Nachtisch ein Blatt von den untersten Ästen.

Schon klar, was passiert ist, oder? Die Tür hat mich nicht bloß am Allerwertesten erwischt. Mein Kopf hat auch was abbekommen. Jetzt halluziniere ich. Das macht die Sache leichter, fast schon spannend. Ich schaue mich um. Der Baum mit der Ziege steht in einer langen Reihe von Olivenbäumen. Auch hinter mir wachsen knorrige Stämme mit spitzen Blättern an den Zweigen. Winzige Früchte hängen daran. Nur das Exemplar vor mir ist so schwer bepackt mit prallen Oliven, als hätte der Bauer sämtlichen Dünger zu seinen Wurzeln vergraben. Die anderen gingen leer aus.

Dass sich ein Traum so realistisch anfühlen kann! Ich spüre jede Einzelheit. Mein Gehirn macht mir weis, dass ich auf einem staubigen, mit Steinchen übersäten Boden sitze. Dazu die Wärme der Sonne auf meinem Gesicht. Sie hängt eine Handbreit über dem Meer, das ich in der Ferne erblicke. Offenbar geht es in meiner Halluzination auf den Abend zu. Ein sanfter Wind trägt das salzige Aroma der Küste heran, vermischt es mit dem des Olivenhains und der Zypressen und Kiefern. Ich lausche und glaube, das Rauschen der Wellen zu hören.

Klarer sind die anderen Geräusche, die von oberhalb des Hains zu mir herunterhallen. Stimmen! Ich stehe auf, gehe ein paar Schritte und erblicke die ersten Häuser. Nein, Tempel. Ein jeder Eingang ist mit mehreren Säulen versehen. Mein Unterbewusstsein hängt wohl noch an der ausgeblichenen Balustrade im Schaufenster des Olympos und gestaltet meine Halluzination entsprechend.

Zwischen den Gebäuden tummeln sich Mädchen und junge Frauen, von denen keine älter als Mitte zwanzig ist. Die meisten tragen Jeans und Shirts, andere stecken in fließenden weißen Gewändern. Inmitten des Trubels entdecke ich Helena. Sie umarmt ihre Freundinnen aus der McGhee: Kate Jablonski, Demmy Miller und Eirene Edwards.

Die vier stehen zusammen wie vor Homer Plates’ Geschichtsstunde. Schräg. Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, dass ich nicht mehr in Queens bin. Ich befinde mich nicht einmal mehr in den Vereinigten Staaten.

»Blödsinn«, sage ich und erstarre, als eine junge Frau auf mich aufmerksam wird, die mir vage bekannt vorkommt. Natürlich, schließlich handelt es sich ja um meine Halluzination. Mein Kopf bedient sich an Gesichtern aus dem echten Leben.

»Du da!«, fährt sie mich an, als ich nahe genug heran bin. »Wer bist du?«

Ihre Aufmachung unterscheidet sich von der der anderen. Ich komme aber nicht dazu, ihr Kostüm näher zu betrachten. Mein Blick richtet sich aus verständlichen Gründen auf das Schwert, das sie in einer fließenden Bewegung aus seiner Scheide zieht. »Sprich schnell, oder du hast keine Zunge mehr, mit der du antworten kannst.«

Das nenne ich mal eine logische Konsequenz! Aber obwohl ich mir alles nur einbilde – das ungute Gefühl ist verdammt real. Herausfinden, ob sich der angedrohte chirurgische Eingriff daran anschließt, will ich nicht.

»Bleib stehen«, knurrt die Frau, als ich mich rückwärts wieder von ihr fortbewege.

Klar doch. Sonst noch was?

Ich renne los.

»Ein Eindringling!«

Das kann man so nicht sagen. Eher bin ich jemand, der sich im Kühlschrank geirrt hat. »Ich … bin nur … wegen Helena hier«, stoße ich im Laufen aus.

»Ergreift sie!«, fällt der Verrückten dazu nur ein.

Die Halluzination verwandelt sich vollends in einen Albtraum, als zwischen den Gebäuden weitere Frauen wie die erste auftauchen. In allen Augen lodert das gleiche Feuer. Gleich mehrere richten ihre Schwerter auf mich. Andere rennen mit erhobenen Äxten herbei. Ich komme mir vor wie Frankenstein oder Graf Dracula. Gleich werde ich vom aufgebrachten Mob gelyncht. Fehlen nur die Fackeln und Mistgabeln, mit denen sie Jagd auf mich machen.

Dabei habe ich niemandem was zuleide getan. Noch nicht. Aber sobald ich aufwache, bringe ich Helena um! Ich habe keinen Schimmer, wie sie im oder hinter dem Kühlschrank verschwunden ist. Aber es ist ihre Schuld, dass ich mir hier die wildesten Sachen zusammenfantasiere.

»Schützt Helena!«, unterbricht die Anführerin des Trupps meine Rachegelüste, die ich wohl wieder einmal laut ausgesprochen habe. »Tötet die Angreiferin!«

Ich fand das mit der herausgeschnittenen Zunge schon nicht sonderlich prickelnd. Jetzt übertreibt mein Gehirn gewaltig. Wenn ich nicht gleich das Bewusstsein wiedererlange, sterbe ich an einem Herzinfarkt.

»Speere!«, ruft die Irre. Rechts und links von ihr tauchen zwei Mädchen in meinem Alter auf und holen mit ihren übergroßen Zahnstochern aus. Jeden Moment bin ich ein Schaschlikspieß und lande auf der Speisekarte des Olympos.

Das Restaurant! Der Drang, den Schimmelkäse und die Oliven zu berühren. Danach war ich in diesem Traum. Vielleicht hilft mir eine ähnliche Vorstellung, um aufzuwachen? Nur dass es hier keinen Käse und kein Einmachglas voll Oliven gibt. Dafür aber die Vorstufen von beidem.

Ich stürze in den Hain und sprinte auf den Baum mit der Ziege zu. Ich springe, als ich das Zischen der Speere hinter mir höre. Ich spüre das Fell des Tiers in der einen und einen Zweig in der anderen Hand, als der erste mich haarscharf verfehlt.

Um mich herum wird es dunkel.

Im nächsten Augenblick klackt es, der Kühlschrank spuckt mich aus, und ich lande auf dem schmutzigen Boden in der Abstellkammer des Olympos.

Ich krieche rückwärts weg, bis ich mit dem Rücken gegen einen ausrangierten Backofen stoße. Dabei ertasten meine Hände etwas Rundes, das neben mir aus dem Kühlschrank rollt. Ich hebe es auf – und bin schneller auf den Beinen, als ich mir einen passenden Fluch ausdenken kann.

Nein, nein, nein.

Nie und nimmer.

Ich taumele in den Flur. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, ich schmecke saure Galle. Ich halte mich nicht damit auf, noch einmal nach Helena zu suchen, und torkele in den Gastraum, wo sich Mom mit Henry und Ms Christou unterhält. Die hatte wohl einen wachen Moment, pennt aber sofort wieder ein, als sie mich sieht. Ihr Kopf sinkt auf die Theke.

»Tessa.« Mom klingt überrascht. Als hätte ich sie mit einer Süßigkeit in der Hand erwischt, obwohl sie dieses Laster eindämmen wollte. »Hast du Helena noch eingeholt? Wahrscheinlich war sie schon weg, nicht wahr? Na, du kennst sie. Schnell wie der Blitz, sobald sie Feierabend hat, haha.«

So viel quasselt sie sonst in einer Woche nicht. Außerdem ist gelogen, was sie sagt. Das weiß sie so gut wie ich. Helena rennt grundsätzlich nicht. Der Begriff Dauerlauf ist ihr unbekannt. Selbst im Sportunterricht flaniert sie nur über die Tartanbahn. Ms Harper hat schon wenige Wochen nach dem Start des Schuljahrs aufgegeben, sie zu mehr motivieren zu wollen.

Das ist mir gerade alles völlig egal. Ich wende mich an Henry. »Mir ist etwas flau im Magen. Ich glaube, ich schaffe es heute nicht.« Nicht nur in meinem Kopf geht es zu wie in einem Wespennest. Auch eine Etage tiefer herrscht Aufruhr. Als müsste ich etwas Schweres verdauen. Gut möglich, dass mir das nicht gelingt und ich es gleich wieder loswerden muss.

»Ich bringe dich nach Hause.« Mom stützt mich, als könnte ich jeden Moment zusammenklappen. Abwegig ist das nicht. Ich gebe ein so jämmerliches Bild ab, dass sogar Mr und Ms Nikolaidis aufsehen. Ms Dimitriou schielt über den Rand ihrer Brille.

Mom wirft einen nachdenklichen Blick an mir vorbei durch den Gastraum. »Tessa? Wo genau warst du da hinten? Ist dort … etwas passiert?«

Ich könnte ihr erzählen, was ich erlebt habe. Korrektur: was ich mir eingebildet habe, zu erleben. Mache ich aber nicht. Der Titel Katastrophenkönigin reicht mir. Ich will nicht noch als verrückt gelten.

Ich fahre mir unauffällig über den Hinterkopf. Keine Beule. Wahrscheinlich wächst sie über Nacht, und ich wache morgen mit einem Ei in der Größe einer Grapefruit auf.

»Können wir gehen?«, weiche ich einer Antwort aus.

»Gute Besserung, junge Dame«, ruft Ms Dimitriou mir nach, dann klappert sie wieder mit ihren Nadeln.

Draußen atme ich frische Luft. Oder das, was wir in New York stattdessen haben: Abgase und den Fettgeruch einer Fast-Food-Filiale aus der Nebenstraße. Statt rollender Meeresbrandung rauscht der Verkehr.

Wir lassen den Streifenwagen stehen und laufen die paar Meter zu unserer Wohnung im zweiten Stock eines schmalen Backsteinhauses. Mom zieht den Schlüssel aus der Tasche, wir steigen die Stufen hoch. Ich hatte gehofft, dass die vertraute Umgebung mir hilft, aber ich bin immer noch verwirrt. Drinnen sperrt Mom die Wohnungstür auf, ich gehe an ihr vorbei.

Wie immer streicht sie der kleinen Büste auf der Anrichte neben der Tür zur Begrüßung über die Wange. Wer die hübsche Frau mit der herzförmig geschwungenen Oberlippe sein soll, weiß ich nicht. Momentan ist mir das so gleich wie Helenas Verbleib.

Mom wirft den Schlüsselbund klirrend in die Schüssel daneben. »Ich hole dir ein Wasser.« Ich sehe sie ein Glas aus dem Küchenschrank nehmen und unter den Wasserhahn halten.