Teufelskreuz - Joesi Prokopetz - E-Book

Teufelskreuz E-Book

Joesi Prokopetz

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Beschreibung

Brennende Stadl, heulende Wölfe: Krimi-Spannung im Dunkelsteiner Wald Nach dem Ableben des Dorfpfarrers hält ein neuer Pater Einzug in der Gemeinde Ursprung. Doch Mano Urian ist nicht das, was die 69 Dorfbewohner als Nachfolger des alten Seelsorgers erwartet hätten. Auch sonst geht es neuerdings mehr als seltsam in der kleinen Ortschaft zu: Es häufen sich unglückliche Unfälle. Die Totengräber haben viel zu tun. Ob das alles mit rechten Dingen zugeht? Oder hat etwa gar der Teufel seine Finger im Spiel? Joesi Prokopetz prägte den Austro-Pop wie kaum ein anderer, jetzt macht er sich als österreichischer Krimiautor einen Namen! - Der erste Roman von Liedermacher, Autor und Kabarettist Joesi Prokopetz - Tatort Dunkelsteiner Wald: Österreich-Krimi mit viel Lokalkolorit - Menschliche Abgründe in der Provinz: Ein Kriminalroman voll schwarzem Humor - Alte Werte auf dem Prüfstand: Ein schräger Heimatkrimi für Prokopetz-Fans Zweifelhafte Dorfidylle: Was hat es mit dem neuen Pfarrer auf sich? Pflicht, Moral und Tradition - in Ursprung ist es damit nicht mehr weit her. Seit der Ankunft von Pater Mano Urian kommen ständig weitere Intrigen ans Tageslicht. Von untreuen Eheleuten bis zu unerwünschten Kindern: Sie alle scheint der Teufel zu holen. Doch was steckt hinter dieser Zunahme grausiger Ereignisse? Ist der Dorfpfarrer am Ende kein Gesandter Gottes, sondern des Beelzebubs? Joesi Prokopetz beweist in seinem schaurigen Debüt ein Gespür für die Nuancen menschlicher Abgründe – ein Lesevergnügen für alle Krimi-Fans, die an der Idylle des Dorflebens zweifeln!

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Seitenzahl: 288

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JOESI PROKOPETZ

Teufelskreuz

EIN JOESI-PROKOPETZ-KRIMI

Diese Geschichte ist frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen und Firmen wurden verändert und/oder vom Autor ausgedacht, Geschehnisse anderen und/oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger

Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.

Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2022

Copyright © 2022 by Joesi Prokopetz

Copyright Deutsche Erstausgabe © 2022 by Red Bull Media House GmbH

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagmotive: © FinePic®, München

ISBN: 978-3-7104-0329-3

eISBN: 978-3-7104-5073-0

Inhalt

Vorbemerkung

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Vierter Teil

Fünfter Teil

Nachtrag

Als es dem Teufel gelungen war, sich aus dem Detail,in dem er seit Äonen steckte, zu befreien,wandte er sich – wenn auch ein wenig missmutig –wieder den universellen Zusammenhängen zu.Den Anfang machte er in Ursprung.

Vorbemerkung

Ursprung ist eine Ortschaft und Katastralgemeinde der Marktgemeinde Dunkelsteinerwald in Niederösterreich. Das Dorf befindet sich zwei Kilometer westlich von Mauer bei Melk und ist über die Landesstraße L5353 erreichbar. Am 1. Jänner 2019 gab es in Ursprung 69 Einwohner. Im Franziszeischen Kataster von 1822 ist das Dorf mit zahlreichen Gehöften verzeichnet.

Für die Römer war die Region um den Dunkelsteinerwald von großer Bedeutung. Als Nordgrenze des Römischen Reiches erfuhr die Donau, die durch den Dunkelsteinerwald fließt, mit dem Donaulimes eine gewichtige Rolle. Zahlreiche Römerwege führten damals durch die Region. Auch heute noch ist ein Relikt aus der damaligen Zeit erhalten, das die verkehrstechnische Bedeutung des Dunkelsteinerwaldes verdeutlicht. Die Römerbrücke, die vermutlich im 3. oder 4. Jahrhundert nach Christus errichtet wurde, kann über Wanderwege leicht erreicht werden.

Vom ältesten Kirchenbau aus dem 11. Jahrhundert, einem Holzbau, ist heute nichts mehr erhalten. Im 14. und 15. Jahrhundert wurde die Kirche erneuert. Nahe der Kirche fand man außerdem 1973 bei einer Ausgrabung einen Keltenstein. Für die Kelten galten einst viele Stellen im Dunkelsteinerwald als Kraftplätze.

Alles andere ist frei erfunden.

Erster Teil

In der Dämmerstunde eines unverhältnismäßig kalten Spätsommertages ritt ein Mann auf einem schmutzig weißen Pferd langsam, aber unbeirrt aus der Finsternis des Dunkelsteinerwaldes durch den fein gesponnenen Nebelschleier auf das alte Bauernhaus zu. Lässig saß er auf dem ungesattelten fahlen Pferd, das aus seinen Nüstern Atemluft ausstieß. Die Szene wirkte wie aus einem Schwarz-Weiß-Film, denn zwischen dem schweigenden Schwarz des Waldes und dem schmutzigen Weiß des Pferdes waren nur Grauwerte und keinerlei Farben zu erkennen.

Das Tier schnaubte, als der Mann von seinem Rücken glitt, und ging äpfelnd, in gemächlichem Schritt in den Wald zurück, bis seine Konturen mit der Dunkelheit eins wurden.

Der Mann schritt über den Vorplatz auf das Bauernhaus zu. Es sah grob vernachlässigt aus, so abgewohnt und verwittert, dass die meisten daran vorbeigingen, ohne es als Haus wahrzunehmen, sondern vielmehr als Teil der herben Landschaft. Bemerkte es jemand und nahm sich Zeit zu verweilen, so war doch mühelos zu erkennen, dass die Bretter, aus denen es errichtet worden war, nicht nur von Fäulnis heimgesucht waren, sondern sich geradezu in einer Art Verwesungszustand befanden. Die beiden Steinstufen, die zu einer schweren, abweisenden Holztür führten, waren unter starkem Moos- und Unkrautbewuchs nicht mehr zu sehen. Drüben im Dorf hielt sich die Mär, dass hier vor fast hundert Jahren einer gelebt haben soll, der nicht wie alle anderen Ackerbau und Viehzucht betrieb. Einer, den man engagieren konnte, wenn es galt, entweder eine neue Scheune zu errichten oder größere bauliche Veränderungen an Haus und Hof vorzunehmen. Sie nannten ihn schlicht den Baumeister. Er stand dann mit Rat und Tat zur Seite, brachte schon einmal – niemand wusste genau, woher – grobschlächtige, finster blickende Männer herbei, die nach Erledigung ihres Auftrags wieder genauso verschwanden, wie sie gekommen waren. Nämlich grußlos ins Nichts. Aber niemanden scherte es, woher die Männer kamen oder wohin sie gingen; alle waren froh, dass sie da waren und wohlfeil gute Arbeit verrichteten. All das war aber bloß mündlich überliefert, stahl sich langsam ins Reich der Legenden und begann allmählich in Vergessenheit zu geraten. Auch die rätselhaften Todesfälle, die sich in dieser Zeit häuften, hielten sich nur lückenhaft in den Köpfen der Älteren. Zusammen mit dem Verfall des Hauses verschwanden die Erinnerungen aus dem kollektiven Bewusstsein der Bewohner von Ursprung. Nichts von alldem war in den ohnehin recht kargen Dorfchroniken auch nur mit einem Wort erwähnt.

Noch bevor der schlanke, fast hagere Mittvierziger an die Tür klopfen konnte, öffnete ein korpulenter, gedunsener Mann. Die spärlich verbliebenen dünnen Haare auf seiner Beinahe-Glatze waren vom linken Ohr akkurat nach rechts gekämmt, und man konnte erkennen, dass sie einst kupferrot gewesen waren. Er wollte sprechen, aber was er sah, war seinen Erwartungen so gegenläufig, dass er nur »Gel…« herausbrachte. Er strich sich unsicher, aber vor allem ratlos mit der flachen Hand über das Gesicht, als wollte er das, was er sah, wegwischen.

»…obt sei Jesus Christus, Pater Urian«, vollendete er hastig seinen Satz und meinte besorgt: »Hochwürden, ist Ihnen nicht kalt, nur mit Hemd und Hose …«, und ergänzte missbilligend: »… Bluejeans?«

Der Habitus Pater Urians erschien dem Mesner Adalbert Eibl unzulässig weltlich. Nicht nur die Jeans und das hellblaue Hemd, das ihm für einen Geistlichen um mindestens zwei Knöpfe zu weit offen stand, auch seine Uhr, eine Baume & Mercier aus Edelstahl und das hellgrüne Kunststoffarmband an seinem rechten Handgelenk, in das die Großbuchstaben »ENJOY« eingestanzt waren. Beunruhigt schloss Eibl die Inspektion des neuen Herrn Pfarrers mit einem Blick auf dessen Schuhe ab – es waren, soweit er beurteilen konnte – sogenannte Budapester in dunklem Braun, handgemacht und sicher sauteuer.

Am meisten aber beunruhigten ihn die Augen des Geistlichen. Noch nie hatte ihn jemand so angesehen, und er vermeinte den Blick bis in den Enddarm zu spüren.

»Sie sind sicher der Mesner, Herr …?«, fragte der Ankömmling mit zwingender Stimme, »haben Sie meine Nachricht also erhalten, Herr …«

»Eibl, Hochwürden«, er verbeugte sich unwillkürlich, »Adalbert Eibl. Ja, ich hab Sie schon erwartet.«

»Ich bin Mano Urian, der neue Pfarrer. Und hochwürdig, ein Pater oder ein Herr Pfarrer bin ich nur in der Kirche. Ansonsten bin ich der Mano, hallo, Bertl.«

Er reichte dem verwunderten Mesner die Hand, der sie ergriff und sich anschickte, sie zu küssen. Als sich die Hand Mano Urians jedoch um die seine schloss, durchströmte den Mesner ein entsetzlicher Schmerz, der sich fast augenblicklich in ein Wohlgefühl verwandelte, das dem Mesner ein seliges Lächeln ins Gesicht zauberte: »Danke, Mano!«

Eibl blickte ihn mit der Gewissheit an, einen Pfarrer mit direktem Kontakt zu unserem Herrgott vor sich zu haben. Ungewohnt gestärkt und euphorisch wie nie zuvor, traute Eibl dem neuen Pfarrer zu, seiner kranken Frau zu helfen. Es ging eine unfassbare Kraft von ihm aus. Ja, er wäre imstande, Elfriedes Parkinson-Zittern zu mildern und auf ein gesellschaftsfähiges Niveau zu reduzieren oder gar zu heilen! Er empfand Furcht, aber vor allem Vertrauen: Eibl hatte bereits in diesen ersten Minuten Zuneigung zu Mano Urian gefasst.

Die Krankheit seiner Frau hatte sich vor Jahren schleichend genähert und verschlimmerte sich zusehends. Doktor Matthias Allinger, der ortsansässige Kreisarzt, sprach von Schüben unterschiedlicher Heftigkeit. Seit Jahren sah Eibl in Elfriedes Krankheit ein unüberwindbares Hindernis in seinem Leben. Und es wurde ihm nach und nach unmöglich, Anteilnahme für ihr Leiden oder gar Liebe für sie zu empfinden. Als er Elfriede vor mittlerweile einundzwanzig Jahren kennengelernt hatte, war er ihren erotischen Reizen verfallen. Weil Elfriedes Reize aber nicht das waren, was man landläufig unter erotisch versteht, konnten seine Nebenmenschen es nicht recht verstehen, meinten sie doch, nicht landläufig wäre bald etwas erotisch. Was jedoch alle gelten ließen, waren ihre vollen, kirschroten, geradezu provokanten Lippen.

Anfangs hatten ihn ihre Religiosität und ihre für den Zeitgeist sperrige Sexualmoral geärgert, die sich seinen fordernden Zärtlichkeiten, all seinen Bemühungen entgegenstellten. Es dauerte jedoch nicht lange, dass er sie als aufregend zu erleben begann, denn nachdem jeglicher Widerstand gebrochen war, schleuderte sie ihre Moral vollständig von sich.

Selbst er, der wahrlich kein Kostverächter war, errötete zutiefst, wenn die sonst so anständige Elfriede in den ersten Jahren, wenn sie sich denn hingab, jegliche Scham von sich warf. Und so schloss er jedes Mal, wenn er sich ihr – oder die seltenen Male, wo sie sich ihm – näherte, die Fenster, damit ihr hysterisches Schreien nicht nach draußen drang. Die Ursprunger wussten aber ohnehin Bescheid über Elfriedes fatale Neigung, während des Beischlafs zu schreien, als würde sie gefoltert werden. Denn als anfänglich noch hie und da gar spontane Annäherungen vorkamen, war keine Zeit geblieben, die Fenster zu schließen.

Als Adalbert Eibl anfangs seine Elfriede beglückte und sie, kaum fanden die ersten gemeinsamen Bewegungen statt, geradezu panische Schreie auszustoßen begann, war einmal Resi Haslinger, die frischgebackene Pfarrersköchin, nahe am Haus vorbeigegangen. Erschrocken war sie stehen geblieben und hatte an die Tür geklopft. Als das Schreien nicht aufhörte, stieß sie die Haustür auf und trat ein. Beim Anblick der Eibls entfuhr ihr ein Jessasmarandjosef. Als Resi sich abwandte, um buchstäblich die Flucht zu ergreifen, sah sie aus dem Augenwinkel, wie Eibl sie kurz mit dem Ausdruck eines angeschossenen, geistesgestörten Hirsches ansah. Resi konnte das Erlebte nicht für sich behalten. Sie leitete ihre Erzählung bei den Frauen des Dorfes (die sie naturgemäß ihren Männern weitererzählten) mit den Worten »Ich hab g’laubt, ich werd blind …« ein.

»Na, das war eine schöne Blamage«, warf Eibl post coitum seiner Frau vor, die sich sogleich anschickte, irgendwelche Handgriffe zur Haushaltsbewältigung zu verrichten.

Als sie ahnungslos fragte, wie das zu verstehen sei, dachte er bei sich, dass mit Elfriede etwas nicht stimmte.

»Die neue Pfarrersköchin ist auf einmal in der Tür gestanden«, sagte er.

»Wirklich? Gott steh uns bei!«, entfuhr es Elfriede.

Oft erinnerte er sich daran, wie ihn ihr Geschrei anfangs nicht nur überrascht, sondern regelrecht erschreckt hatte. Mitten im Moment der Lust stieß er beklommen »Is was?« hervor. Elfriede gestand ihm, dass sie – würde sie ihr Schreien unterdrücken – nichts davon hätte. Eibl schrieb ihre sexuelle Echauffiertheit zunächst seiner Liebeskunst zu, fand sich aber nach einiger Zeit damit ab, dass ihre Gewohnheit rein gar nichts mit ihm und seiner ars amandi zu tun hatte.

Das erotische Moment zog sich (wie in jeder Ehe) nach den ersten Jahren zurück, und es blieben nur Einsilbigkeit, Gleichgültigkeit und vertraute Entfremdung über. Umso mehr, als Elfriedes Zügellosigkeit bei den ehelichen Pflichten, mangels Ausübung dieser, kein Gegengewicht mehr zu ihrer verklemmten Frömmigkeit herstellte.

Das Ausbrechen der Krankheit und ihr Fortschreiten verstärkten seltsamerweise ihren Glauben und ihre Liebe zu unserem Herrn Jesus, was Eibl, obwohl Mesner und durchaus gottesfürchtig, nicht recht verstand. Denn je unbarmherziger die Krankheitsschübe wurden, umso inbrünstiger flehte seine Frau den Verursacher ihres Leidens um Hilfe an. Geradezu trotzig küsste sie mehrmals täglich eines der Kruzifixe im Haus und wisperte unverständliche, zweifellos fromme Formeln vor sich hin, die sie mit einem kräftigen Amen abschloss.

»Unser alter Herr Pfarrer«, besann sich Eibl, »unser alter Herr Pfarrer, Hochwürden Absenger, liegt im Sterben und er hat einen Wunsch geäußert, demgemäß der neue Pfarrer, also Sie, Hochwü…«

»Bertl«, ermahnte ihn Urian, »ich bin der Mano.«

»Also, dass Sie, Mano …«

»Du, Mano …«

»… dass du, Mano, ihm die Sterbesakramente spendest. Du solltest also als Allererstes zu ihm gehen. Wo ist denn eigentlich dein Gepäck, kommt das extra? Das Mobiliar für das Haus wird noch heute von der Pfarrerswohnung teilweise hierher ins Haus geschafft, denn Sie …ich meine, du … wolltest ja ausdrücklich in diesem alten Haus wohnen, hat man mir gesagt. Darf ich fragen, warum? Die Räumlichkeiten für den Pfarrer über der Sakristei sind weitaus komfortabler.«

»Das hier«, und Mano machte eine allumfassende Bewegung, »das hier war das Haus des Baumeisters, nicht wahr?«

»Ja, Herr Pfa… Mano. Ich habe so etwas gehört. Aber woher …? Hier in Ursprung weiß das – außer vielleicht der alten Hildgard – fast niemand mehr.«

»Lieber Bertl«, sagte Mano Urian und lächelte andeutungsweise, »wir Geistlichen wissen alles. Und warum tun wir das, Bertl?«

Adalbert Eibl stand die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben.

»Weil wir gott am nächsten sind.«

Mano Urian sprach das Wort Gott aus, als schriebe er es mit einem kleinem g.

Sie gingen den vom feuchten Wetter nass-erdigen Weg ins Dorf. Eibl überschüttete den neuen Pfarrer teils katzbuckelnd, teils händereibend mit allen möglichen Fragen und einer Vielzahl an vorwiegend nutzlosen Informationen. Je weiter sie sich vom Wald und dem Haus des Baumeisters entfernten, desto mehr lichtete sich der Nebel und gab den Blick auf sumpfig-grüne Hügel und knorrige Obstbäume frei. Auf den Hügeln ließen sich da und dort ein paar Kühe ausmachen, und alles sah aus, dass man sagen konnte, man war auf dem Land. Die Gegend, die üblicherweise zu dieser Jahreszeit in sattem Grün erstrahlte, wirkte grau, abweisend und unfruchtbar. Sie strahlte geradezu eine ausweglose Melancholie aus, und das lag schwer auf den Gemütern der Ursprunger. Auch in den Sommermonaten kam in diesem Ambiente so gut wie nie Leichtigkeit oder Fröhlichkeit auf. Viele waren aufgrund dieser Hoffnungslosigkeit atmenden Gegend weggezogen, einige hatten sich im Laufe der Zeit umgebracht.

Endlich kamen sie bei der armseligen Dorfkirche an. Nach kurzem Zögern an der Schwelle trat Mano Urian mit energischen Schritten ein und ließ sich von Eibl in die Sakristei führen, wo der alte Pfarrer Franz Borromäus Absenger blass und komplett in Schwarz gekleidet auf einer mit weißen Leinentüchern ausgeschlagenen Bahre lag.

Vor ihm kniete eine mehr als vollschlanke Matrone mit wirrem grau-blondem Haar und einer schief sitzenden Brille, deren Gläser ihre Augen ins Groteske vergrößerten. Sie betete leise und murmelte stetig etwas von der Heiligen Jungfrau, der Muttergottes, die ihrerseits wieder für uns arme Sünder beten (wörtlich sagte sie bitten) möge. Ihre Augen huschten wie zwei schwarze Billardkugeln umher und kamen erst zum Stillstand, als sie Mano Urians gewahr wurden. Sie wischte sich mit einem Zipfel ihres rural gemusterten Schürzenkleides den Schweiß von der Stirn und ein paar Tränen aus den Augen.

»Das ist die Pfarrersköchin Resi Haslinger, und daneben sitzt die Altpfarrersköchin Hildgard«, flüsterte Adalbert Eibl dienstbeflissen dem neuen Pfarrer zu.

Auf einem Schemel direkt neben der Pfarrersköchin hockte eine uralte Frau in einer abgewetzten Tracht, starrte mit lichten Augen vor sich hin und bekreuzigte sich in einem Tempo, als gelte es, einen Rekord aufzustellen. Die erlöschende Helle in ihren Augen verlieh ihrem Blick eine Entrücktheit, trotzdem strahlte sie aber etwas Festes, Unerschütterliches aus.

Als Urian näher kam, hob sie ihren Kopf ein wenig und schaute ihn an. Sie begann heftig zu atmen und stellte das Kreuzschlagen augenblicklich ein. Urian lächelte sie milde an, und sie wäre von ihrem Hocker gekippt, hätte Resi Haslinger sie nicht aufgefangen. Die Alte, die im Pfarrhaus im Ausgedinge gewissermaßen ihr Gnadenbrot erhielt, wandte ihren Blick nicht von Urian ab, sie begann so schlimm zu röcheln, dass man hätte meinen können, ein Rabenvogel erliege seinem Todeskampf. Erschrocken sah Resi den neuen Pfarrer an. Beschwichtigend legte Mano seine Hand auf ihre Schulter. Ein Schmerz durchzuckte ihren Körper, und sie zog zischend die Luft ein, um im nächsten Moment vor Geilheit durch ihre Brillengläser zu schielen. Als er das Gleiche bei der sich diszipliniert gerade haltenden Hildgard versuchte, zuckte sie, kaum merklich, aber deutlich genug weg, dass Mano Urian es unterließ, ihr die Hand aufzulegen.

Er beugte sich zu dem sterbenden Absenger hinunter. Für einen Moment umspielte ein seliges Lächeln dessen Mund. Als er jedoch das Antlitz des künftigen Pfarrers erblickte, weiteten sich seine Augen voller Furcht, und er begann zu hyperventilieren und zu husten. Blut floss aus seinen Mundwinkeln. Mit einer sanften, nichtsdestoweniger entschlossenen Bewegung schloss Urian ihm die Augen, und Absenger starb wortlos. Ob friedlich, wusste niemand zu sagen, seine Züge verrieten jedenfalls nichts von Trost und Erlösung im Tode, wie man es von einem aufrechten Christenmenschen, noch dazu von einem Herrn Pfarrer, hätte erwarten können.

Als Mano Urian die feuchte, beschämend spartanisch ausgestattete Sakristei verließ, warf er Hildgard ein schmales Lächeln zu, das sie mit starrem Blick und kühn, ja, unerschrocken mit hochgerecktem Kinn in Empfang nahm. Adalbert Eibl verweilte noch ein wenig an der Bahre des Toten und eilte Mano dann liebdienerisch hinterher.

»Wie geht es deiner Frau, Bertl?«, fragte Mano unvermutet, als Eibl ihn eingeholt hatte. Er blieb abrupt stehen, starrte Mano an und antwortete verstört: »Schlecht …zunehmend schlechter.«

»Sag ihr, dass ich sie grüße, Bertl. Und versichere sie der Liebe unseres Herrn«, sagte Mano Urian und ließ den Mesner stehen.

Wenig später öffnete Eibl die Tür zu seinem mit stark strapazierten Eternit-Platten verkleideten Haus. Bereits im Flur, wo ihm der Geruch von Krankheit, Hinfälligkeit und Lebensende entgegenschlug, vernahm er Elfriedes verwischte Stimme.

»Bertl, wo bist du denn?«

»Ich habe den neuen Pfarrer in Empfang genommen und war mit ihm in der Kirche, als er dem alten Absenger die Augen geschlossen hat.«

»Neuer Pfarrer?«, fragte Elfriede misstrauisch. »Woher hast du denn das? Hat gar Pfarrer Absenger so etwas gesagt?«

Eibl stutzte. Er erinnerte sich nicht, aber er glaubte mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit, dass für heute der neue Pfarrer angekündigt gewesen war.

»Und?«, Elfriede bemühte sich, möglichst unbeeinträchtigt zu wirken. »Wie ist er so?«

»Er lässt dich grüßen.«

Elfriede wiederholte ungerührt: »Wie ist er so?«

»Und ich soll dich der Liebe unseres Herrn versichern.«

»Amen«, seufzte Elfriede, ließ aber nicht locker. »Wie ist er so?«

»Jung … und mächtig, irgendwie ungewohnt. Auf jeden Fall sehr modern.«

»Mächtig, modern? Gott steh uns bei!« Elfriede bekreuzigte sich und verlieh ihrer Missbilligung durch ein schleimiges Gurgeln Ausdruck, das ein Austreten von zähflüssigem Speichel zur Folge hatte.

Der Mesner dachte, dieser neue Pfarrer, der Mano, hätte sicher die Macht, Elfriede zu erlösen – auch gegen ihren Willen.

»Bertl, wisch mich ab«, krähte Elfriede in einem Ton, der ihr, wie Eibl fand, nicht zustand und der die schlimmsten Gedanken in ihm weckte. Er nahm eines der unschön verklebten Tücher, die überall im Haus herumlagen, und wischte gereizt Sputum von Elfriedes Kinn.

»Er wohnt übrigens nicht über der Sakristei«, rief Eibl aus der Küche, als er das Tuch in der Abwasch beiläufig mit Wasser ausspülte. »Er wohnt in dem alten, verkommenen Haus oben am Waldrand. Er hat gewusst, dass seinerzeit der Baumeister darin gewohnt hat!«

Elfriede zitterte: »Gott steh uns bei.«

Der Leichenzug war enttäuschend kurz. Zwar folgten mehr Trauernde als sonst dem hölzernen Sarg. Für den alten Absenger, der sich jahrzehntelang um die Ursprunger Seelen gesorgt hatte, hätte man sich, trotz des ungünstigen Wetters, doch mehr erwarten können.

Gespenstisch tot wirkte der kleine Friedhof, dessen schmucklose Gräber mit ihren schmiedeeisernen Kreuzen einander fast glichen bis aufs Haar. Der braunschwarze Sarg wurde von den beiden Totengräbern, Klaus und Karl Floricz, die offiziell als Gemeindearbeiter geführt und als solche zu allen möglichen Handlangerdiensten herangezogen wurden, über den Friedhof getragen. Unter verhaltenem Ächzen ließen die zwei Brüder den Altpfarrer in sein Grab hinunter. Die beiden waren im Umkreis von vielen Kilometern die einzigen Totengräber und Friedhofsbetreuer, weshalb sie – ohne mehr als bloß eine Überstundenpauschale dazuzuverdienen – von Bürgermeister Schwenk an einige umliegende Weiler ausgeliehen wurden. Aber die meisten Toten wurden ohnehin am Ursprunger Friedhof bestattet. Immer wieder wurde der Gedanke laut, wie eigenartig es doch sei, dass ein Dorf Namens Ursprung für viele das genaue Gegenteil, nämlich die Endstation, war.

Der neue Pfarrer warf dem alten Absenger die erste Schaufel Erde hinterher, und niemand bemerkte, dass sie, kaum hatte sie den Sarg berührt, wie von einem Windstoß bewegt, in die feuchte Erde links neben den Sarg geweht wurde.

»Der Herr hat ihn zu sich gerufen. In seiner umfassenden Gnade und übergroßen Liebe.«

»Amen«, murmelten die Trauergäste beiläufig.

Viel mehr wusste Mano Urian über den alten Pfarrer nicht zu sagen und wollte es auch gar nicht, denn es nieselte, und feuchte Kälte drang der Trauergemeinde in die Knochen. Der Wunsch, endlich ins Dorfwirtshaus einzukehren, lag derb in der Luft. Nur die alte Hildgard protestierte mit matt glänzenden Augen, als die Pfarrersköchin sie zum Aufbruch drängte. Sich stramm gerade haltend und anklagend auf Urian blickend sagte sie halblaut: »Demiurg!«⸸

Nicht zuletzt, weil Eibl ihr gesagt hatte, dass dieser Mano Urian auf eigenen Wunsch hin das verwunschene Baumeisterhaus bezogen hatte, und sie obendrein von der Entsendung eines Nachfolgers für Absenger nichts wusste.

Der neue Pfarrer sah sie scharf an, wendete sich aber dann unaufgeregt ab. Niemand sonst scherte sich um Hildgard, ging doch das Gesagte im Klang des kleinen Bläserensembles unter. Ein fast flotter Marsch schürte gewissermaßen die Vorfreude auf Gesottenes und Gebratenes im einzigen Ursprunger Wirtshaus, dem Holzinger.

»Redest schon wieder in deiner schwarzen Sprach?«, fragte Resi Hildgard.

»Demiurg!« wiederholte Hildgard besorgt.

Resi nannte es schwarze Sprache, wenn Hildgard in Momenten, in denen man meinen könnte, sie wäre mehr drüben als hüben, fremdartige Worte und verschrobene Sätze vor sich hin murmelte. Sie erschienen der resoluten Pfarrersköchin eindeutig als Ausgeburt von Altersblödsinn, und insgeheim fragte sie sich, warum unser Herrgott sie nicht längst zu sich genommen hatte. Als sie dem Hochwürden Absenger von diesen Gedanken erzählte, rügte er milde, der liebe Gott wisse schon, was er täte, und sie möge sich nur ja nicht versündigen. Er war es auch gewesen, der Resi in die Christenpflicht nahm und ihr, im Namen unseres Herrn Jesus Christus, die Pflicht auferlegt hatte, sich um Hildgard zu kümmern.

Über die Jahre wurde aus dem Kümmern ein Pflegen. Hildgard schaffte es zwar noch selbstständig auf die Toilette, aber mehr schon nicht. Diese degoutanten Handgriffe, die Resi vornehmen musste, schufen eine Art Mutter-Kind-Verhältnis zwischen den beiden, überwiegend aber eine Herr-Knecht-Situation. Was Hildgard empfand, wenn sie denn überhaupt etwas empfand, hinter ihrem entrückten Stolz, konnte keiner sagen. Auf jeden Fall geschah es in diesen Momenten öfter, dass sich Hildgard der »schwarzen Sprache« bediente. Wie im Selbstgespräch wiederholte sie gebetsmühlenartig einzelne Worte oder Zahlen, manchmal auch ganze Sätze, die Resi weder akustisch, geschweige denn inhaltlich verstand.

Resi Haslinger war die Tochter eines Schnapsbrenners, der – vermutlich an den Folgen seines Berufes – recht jung verstorben war. Man fand ihn mit zufriedener Miene und einem Schlauch mit noch lauwarmem Vorlauf eines Destillates im Mund.

»Er war sein bester Kunde«, hieß es denn auch hinter vorgehaltener Hand auf der Beerdigung.

Die Mutter, naturgemäß auch eine Schnapsdrossel und dementsprechend alltagsuntauglich, gab Resi dann weg, wie man sagt. Sie landete in einer Einrichtung der katholischen Kirche für unerwünschte Kinder, wo sie, Resi, das Dienende vermittelt bekam und eine Art Pflichtgefühl zur Barmherzigkeit entwickelte. Dem Drängen der geistlichen Schwestern, ebenfalls den Schleier zu nehmen, widersetzte sie sich aber von Anfang an, denn tief in ihrem Herzen konnte sie an Liebe, Gnade und Erlösung nicht glauben und wollte daher keine Braut Christi werden. Ihr Leben bestand – unbedankt – aus Kochen, Putzen, Waschen und Bedienen, und sie schuldete es dem allmächtigen Gott an, dass sie das »wirkliche Leben« nur vage aus dem Fernsehen kannte. Dennoch war sie das, was man als fromm bezeichnen würde, aber ihr Misstrauen gegen das Religiöse bewahrte sie in ihrem Herzen, nicht zuletzt auch deswegen, weil sie zeit ihres Lebens immer von geistlichen Herren und ebensolchen Frauen abhängig gewesen war.

Woher Hildgard kam, wusste niemand zu sagen. In Ursprung wurde gemunkelt, sie wäre Mitglied einer suspekten geheimen Gesellschaft von Mystikern, dem Orden der Rosenkreuzer, gewesen oder sei es gar noch immer.

Diese Spekulationen hatte Elfriede Eibl in die Welt gesetzt. Als sie noch bei guter Gesundheit war, hatte sie sich intensiv mit konfessioneller Mystik befasst. Nicht zur Erbauung, sondern vielmehr zur Entrüstung, hatte sie gnostische Texte gelesen – waren die Gnostiker doch die ersten Kritiker des Katholizismus, namentlich des Christentums, und galten nach wie vor als Häretiker.

Wenn sie mit Hildgard über diese Dinge, oft im Flüstertone, redete, staunte Elfriede immer wieder, wie überaus informiert, wie eingeweiht sich Hildgard zeigte. Bis heute lieferten die Gnostiker einen Gegenentwurf zur Erschaffung der Welt durch den lieben Gott, indem sie einen Dämon – letztlich den Teufel, den gefallenen Engel – bemühten. So hatte es ihr zumindest Hildgard erklärt. Der Demiurg, der deus malignus, war gewissermaßen im Auftrag des verborgenen und schweigenden Gottes für die Erschaffung von Himmel und Erde verantwortlich. Gott als der reine Geist machte sich die Hände nicht schmutzig. Die Schöpfung – so Hildgard – sei daher ein dämonischer Akt gewesen, was ihre Fehlerhaftigkeit erkläre, ohne Gott selbst in die Pflicht nehmen zu müssen.

Die gnostische Interpretation uferte dann in teils hanebüchene Spekulationen aus, in denen sie dem Demiurgen ein ganzes Heer an Archonten (die Gesamtheit der verstoßenen Engel) zur Seite stellte, Wesen mit menschlichem Körper, jedoch mit an Saurier gemahnenden Reptilienköpfen. So wurden in der Gnosis Jesus und Johannes der Täufer als Archonten beziehungsweise Reptiloide bezeichnet und dargestellt. (Bis heute hält sich ja in bestimmten Kreisen die Meinung, es gäbe auf der Erde – besonders in hohen politischen Ämtern und wirtschaftlichen Top-Positionen – reptilienartige Wesen, die in menschlicher Gestalt auftreten, die Macht an sich reißen und sich in bestimmten Momenten entlarven, indem ihre Augen schlitz- oder balkenförmige Pupillen aufweisen.)

Solche Geschichten verliehen dem Leben in der Ödnis etwas Zauber – zumindest eine Zeit lang, denn die Leute vergaßen oder verwarfen sie nach einiger Zeit wieder.

Wie alt Hildgard wirklich war, konnte niemand mit Bestimmtheit sagen, ihre Papiere waren in den Kriegswirren verloren gegangen und wurden während der Besatzungszeit von den Russen neu ausgestellt. Man kann sich ausmalen, dass damals auf Genauigkeit und Dokumentenwahrheit nicht übermäßig großer Wert gelegt wurde. Alle meinten, sie müsse tatsächlich über hundert Jahre alt sein, aber sie gab nur 91 zu.

Sie war nicht nur die Köchin, sondern vielmehr eine Vertraute des Altpfarrers gewesen, und an so manchem Abend hatte sie mit Absenger über das Dogma der Trinität, das Ruhegebet, den Stand der Gnade und ähnliche religiöse Spitzfindigkeiten gesprochen. Er hatte sie wie eine Heilige behandelt, so sagte man, nannte sie schon mal Schwester und betete des Öfteren allein mit ihr in der Kirche. Wenn Hildgard im Beichtstuhl war, gingen alle Sünder, die darum wussten, nach Hause oder ins Gasthaus Holzinger, denn, wenn die heilige Hilde beichtete, kam sie nicht vor einer guten Stunde aus dem Beichtstuhl heraus.

Als Hildgards beginnende Hinfälligkeit Resi in die Köchinnen-Rolle bugsierte, war sie höchst pikiert, denn der alte Absenger behandelte sie unaufmerksam, herablassend und schwärmte meist davon, wie Hildgard damals gekocht hätte. Erst als sich Hildgard mehr und mehr in sich zurückzog, entwickelte Absenger ein wenig spürbare Zuneigung für Resi.

Gleich nach dem Begräbnis Absengers verschwand Hildgard in ihrem Ausgedinge über der Sakristei, in das sie niemanden einließ. Selbst Resi, die direkt nebenan wohnte, musste vor der Tür kehrtmachen, außer sie hatte bei Hildgard pflegerisch tätig zu werden. Sie setzte sich an das Möbel, das in ihrer winzigen Kammer als Tisch fungierte, und schrieb in altmodischer Schrift einen kurzen Brief, den sie an ihre Freunde und Freundinnen nach Linz schicken wollte. Denn sie fühlte sich verpflichtet, ihren Freunden im Orden der Rosenkreuzer kundzutun – deren Mitglied sie tatsächlich noch war, obwohl sie an deren Zeremonien schon lange nicht mehr teilnahm –, dass sie zu wissen glaubte, der Archont sei in Ursprung als neuer Pfarrer erschienen.

Bevor Mano Urian den anderen ins Gasthaus Holzinger folgte, entledigte er sich in der Sakristei des Ritualgewandes, putzte seine teuren Schuhe, von denen nur der eine, der linke, mit einem sogenannten Eisel am Absatz beschlagen war. Das hatte zur Folge, dass bei jedem zweiten Schritt ein metallisches Klackern zu vernehmen war: Schritt-tack, Schritt-tack … Dazu kam, dass bei jedem Schritt der Bretterboden der Sakristei erbärmlich knarzte, was selbst bei geschlossener Tür bis in die Kirche hinein zu hören war.

Die Sakristei war ärmlich eingerichtet. Ein wuchtiger, vermutlich altdeutscher Kasten stand links neben der ohne jegliche Sorgfalt geschnitzten Holztür.

An der anderen Seite der Sakristei prangte ein wuchtiger Holztisch, alt, mittelschwer beschädigt, mit vier Sesseln, auf deren Sitzfläche durchgewetzte, dünne Polster, mittlerweile eher Fetzen, lagen, aus denen vergilbter Schaumstoff hervorquoll. Auf einem schmutzigen, runden Tischtuch, durchwirkt von devastierten, drahtigen Goldfäden, stand ein metallenes Kruzifix mit einem lieblos gegossenen Christus, dessen Gesichtszüge mangels jeglicher Struktur nicht mehr zu erkennen waren. Vielleicht hatte sie Pfarrer Absenger in seiner Hingabe ehrfurchtsvoll weggeküsst. Auf dem Tisch lagen, unordentlich gestapelt, etliche verblasste Heiligenbilder, verjährte religiöse Broschüren, daneben standen eine Flasche mit Schnaps und einige schlecht ausgewaschene Stamperln sowie eine altmodische Maschine für Filterkaffee und – nachdem Mano Urian die Sakristei bezogen hatte – ein Aschenbecher, ein Werbeartikel der lokalen Biermarke.

Auf der gegenüberliegenden Seite flankierten drei unterschiedlich große und in schrillen Farben gehaltene Plastikkörbe eine Waschmaschine, auf der eine von der Feuchtigkeit bereits labbrig gewordene Waschpulverschachtel lümmelte. Der Abflussschlauch des Automaten hing in ein abgenutztes, verkalktes Emailwaschbecken. Ein löchrig gefülltes Bücherregal lehnte neben diesem unheiligen Ensemble.

An der linken Seitenwand hing in einem goldenen, abgeplatteten Barockrahmen ein großes Bild, das linkisch, schlampig gemalt und vor allem in ausgeblichenen Farben den Sturz der gefallenen Engel zeigte. Links darunter hatte, wer auch immer, einen hellgrünen Mistkübel platziert, und es sah aus, als stürzten die fallenden Engel alle in diesen hinein.

Ein vorsintflutlicher Heizlüfter, der keinen fixen Platz hatte, sondern nach Bedarf so aufgestellt wurde, dass man in den Genuss seiner wenig effektiven Bemühungen kam, kämpfte mehr schlecht als recht gegen die Feuchtigkeit und die klamme Kälte in der Sakristei an.

Im verrauchten Gasthaus von Friedrich Holzinger saßen die Ursprunger, aßen Gulasch oder Würstel mit Saft, tranken Bier und immer wieder einen Schnaps. Die Gaststube sah aus wie Tausende andere Wirtshausstuben auch: braune Holzsessel mit abgesessenen, da und dort löchrigen Polstern in einem nicht mehr nachvollziehbaren Design, übersät mit Flecken von verschüttetem Bier, Gulasch- und Bratensaft und wahrscheinlich auch Erbrochenem. Über der Schank hing eine rostige Reklametafel der lokalen Biermarke, die vor Jahren noch von hinten beleuchtet wurde. Heute leuchtete sie nicht mehr, und selbst wenn, würde kein Schimmer mehr durch den Fett- und Lurchfilm, der sie überzog, hindurchkommen. Durch jahrzehntelanges Rauchen hatten die einst in hellem Ocker gehaltenen Wände ein stumpfes Durchfallbeige angenommen und gaben hier und da den Blick auf die Ziegelmauer frei. In einer der hinteren Ecken hing ein unverhältnismäßig großes, industriell hergestelltes Kruzifix, das mehr oder weniger die Farbe der Wände angenommen hatte und deshalb beinahe unsichtbar geworden war. Ein mittelgroßes Hirschgeweih neigte sich an der Längsseite ob diverser locker gewordener oder gar fehlender Befestigungsschrauben bedrohlich in den Raum. Gästen, die zum ersten Mal beim Holzinger einkehrten, schossen Überschriften wie Wartezimmer zum Sterben oder Umstandswörter wie hoffnungslos durch den Kopf. Die Gäste waren durch das Fehlen eines zweiten Dorfgasthauses gezwungen, ausschließlich das Holzinger zu besuchen, und hatten jede Sensibilität gegenüber dem Genius Loci verloren, ja, hatten vielmehr die Abgrundtiefe des Raumes verinnerlicht, waren mit ihr eins geworden.

Die spukhafte Atmosphäre im Holzinger ließ heute wie gewohnt keine Stimmung aufkommen. Da, wo sonst die eng beieinandersitzenden Gäste geräuschvolle Konversation betrieben und gutturales Lachen die Gaststube füllte, wurde nur stumm dagesessen. Gelegentlich erhob einer die Stimme. Vielsagende Blicke wurden gewechselt oder mit dem Kinn mal auf diesen oder jene gedeutet. Die Männer schauten mit begehrlichen und dennoch feindseligen Blicken auf Mirli Egger, die junge hübsche Kellnerin mit ihrer zarten, blond gelockten Kurzhaarfrisur. Wenn sie zum Tisch kam, starrten sie auf ihren kleinen, festen Arsch. In einen Ausschnitt konnten sie ihr nicht mehr glotzen, denn Mirli hatte sich abgewöhnt, bei der Arbeit auch nur annähernd freizügige Tops zu tragen. Walter Horvath schaute oft zu Ilse Schwenk, der Frau des Bürgermeisters, der seinerseits hasserfüllte Blicke in Richtung Horvath warf. Die meisten aber saßen einfach nur wortlos da, blickten aneinander vorbei ins Leere – oder besser ins Nichts. Denn die Leere ist an den Rändern begrenzt, das Nichts aber ist grenzenlos.

Der Mesner Adalbert Eibl spürte fast körperlich, dass jeden Moment die Tür zur Gaststube auffliegen würde. Das ihm schon vertraute Schritt-tack, Schritt-tack war deutlich zu vernehmen. Einen Augenblick lang stand Mano in der Tür, und für eine knappe Sekunde erstarb jedes geknirschte Wort und jedes beiläufige Lachen.

»Der neue Pfarrer, Gott zum Gruße, Hochwürden«, erklang es wie auf Befehl fast synchron.

Ohne den Eindruck plumper Vertraulichkeit entstehen zu lassen, nickte Mano in die Runde. So, dass man meinen konnte, er kenne sie alle schon seit Jahren, sagte er: »Ich heiße Mano Urian. Hochwürdig bin ich nur in der Kirche, wenn ich meines Amtes walte. Ansonsten bin ich für euch der Mano. Eine Runde für alle, Mirli!«, rief er der erstaunten Kellnerin zu. Woher kannte der neue Herr Pfarrer ihren Namen?

Die Ursprunger, die sich nur zu gut daran erinnerten, dass der verstorbene Pfarrer Absenger bei jeder Gelegenheit das Gasthaus Holzinger als Tor zur Hölle verunglimpft hatte, applaudierten dem gut aussehenden neuen Pfarrer. Teufel auch.

Mano Urian hob sein Glas mit einem »Prosit omnes!« und leerte seinen Vogelbeer auf ex.

Nachdem es ihm alle anderen gleichgetan hatten, erhob sich der Bürgermeister Herr Gewerke Manfred Schwenk und sagte: »Liebe Freunde, sehr geehrter Herr Pfar… geschätzter Mano! Als Bürgermeister dieser Perle am Rande des Dunkelsteinerwaldes lass ich mich nicht lumpen und darf meinerseits eine Runde Vogelbeer spendieren. Mirli, noch einmal für alle einen Doppelten!«

Mirli lachte Mano an, goss verschwenderisch weitere Gläser voll und servierte eilends. Sie war mit Abstand die hübscheste junge Frau in Ursprung. In ihre Züge hatte sich das Perspektivlose, das Verfluchte, wie Elfriede Eibl einmal gesagt hatte, das Aussichtslose und Endzeitige nicht oder noch nicht eingegraben. Im Gegenteil, sie strahlte Lebensfreude aus, etwas, was für die Ursprunger genügte, um sie als »verdächtig« einzustufen. Zugleich erlebten sie die junge Frau als elfengleiches Wesen, was wohl der Grund für die natürliche Distanz zu den rotgesichtigen jungen Männern des Ortes war. Ihr helles Wesen, das bei aller Sauberkeit etwas Melancholisch-Frivoles hatte, erweckte eine dumpf empfundene Scheu bei ihnen. Aber auch mit den überwiegend feisten, vom Schweinernen aufgedunsenen jungen Frauen hatte Mirli nichts gemein. Weder den Hang, sich in billige Trendmode aus Provinzboutiquen oder dem Versandhandel zu kleiden oder mit minderwertigsten Accessoires aus der örtlichen BILLA-Filiale zu schmücken, noch die Gewohnheit, sich bis ins Skurrile zu überschminken und zu versuchen, das Stumpfsinnige, das Abgefeimte und das Verlorene in den Augen zu übertünchen. Alle jungen Frauen und Mädchen in Ursprung hatten eine beste Freundin, Mirli hatte keine. Sie wurde zwar von den Jungmatronen insgeheim neidvoll beäugt, aber keine wollte ihre Freundin sein – aber das beruhte auf solider Gegenseitigkeit. Mirli war ein hochstrapazierter Gesprächsstoff bei der weiblichen Dorfjugend, und es machte boshafte Freude, über sie zu lästern und sie mieszumachen. Heimlich beneidet und begehrt, war sie in hohem Maße unbeliebt. Mit einer aus welcher Quelle auch immer sprudelnden Lebenslust wischte sie mit innerer Unbekümmertheit ihre Einsamkeit weg. Es war wahrscheinlich dieses latente Lächeln in ihrem Gesicht, das die Ursprunger, männlich wie weiblich, am meisten irritierte.