TEXT + KRITIK 239 - Mela Hartwig -  - E-Book

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Beschreibung

In Graz ist eine Gasse und in Wien eine Straße nach ihr benannt: die Österreicherin Mela Spira debütierte erst als Schauspielerin in Berlin, ging nach der Heirat mit dem jüdischen Rechtsanwalt Robert Spira nach Graz und London – als Mela Hartwig schrieb sie Literaturgeschichte. Die schriftstellerische Karriere Mela Hartwigs (1893–1967) begann fulminant: Ihr Novellenband "Ekstasen" (1928) und der Debütroman "Das Weib ist ein Nichts" (1929) sorgten gegen Ende der Weimarer Republik für Aufsehen. Allerdings konnte ihr zweiter Roman "Bin ich ein überflüssiger Mensch?" Anfang der 1930er Jahre aus politischen Gründen schon nicht mehr erscheinen. Die Beiträge erschließen Hartwigs verfügbares literarisches Werk: von den ersten Prosawerken über die Lyrik bis hin zum 2018 erstveröffentlichten Roman "Inferno ". Sie beleuchten vor dem Hintergrund der Zäsuren von 1933 und 1945 sowohl thematische Verschiebungen als auch ästhetische Kontinuitäten und Veränderungen und liefern so den ersten Überblick über die von Brisanz und Drastik geprägte schriftstellerische Produktion der lange vergessenen Autorin. Vor dem nationalsozialistischen Antisemitismus warnte Hartwig noch mit ihrer 1936 im Pariser Emigrantenverlag Éditions du Phoénix erschienenen Novelle "Das Wunder von Ulm". Zwei Jahre später floh sie aus Österreich nach London, wo sie bis zu ihrem Tod lebte.

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Seitenzahl: 182

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TEXT+KRITIK.

Zeitschrift für Literatur

 

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

 

Redaktion:

Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Peer Trilcke

Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus

Am Reinsgraben 3, 37085 Göttingen

 

Telefon: (0551) 54 76 643

 

Print ISBN 978-3-96707-865-7 E-ISBN 978-3-96707-867-1

 

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: April 1948 (Fotograf unbekannt)

Greta Hartwig Manschinger and Kurt Manschinger (Ashley Vernon) Papers, 1912–1995.

German and Jewish Intellectual Émigré Collections, University of Albany, SUNY.

 

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2023 Levelingstraße 6a, 81673 Münchenwww.etk-muenchen.de

Inhalt

Gisela von Wysocki Mit weiblicher Wissbegier nach dem Unbekannten greifen. Das aufsässige Instrumentarium der Mela Hartwig

Walter Erhart / Heinz-Peter Schmiedebach Hysterie, Blut und »Das Verbrechen«. Rätselhafte Verflechtungen von Literatur und Psychiatrie

Hartmut Vollmer Erzählerische ›Fallstudien‹ weiblicher psychischer Grenzzustände. Mela Hartwigs Buchdebüt »Ekstasen«

Eldi Grubišić Pulišelić (Un)schön, (un)weiblich, (un)geliebt. Die Frau im verzerrten Spiegel in Mela Hartwigs »Aufzeichnungen einer Häßlichen«

Markus Reitzenstein »Mein Gesicht ist abenteuerlich vielfältig«. Scheiternde weibliche Identitätsentwürfe in Mela Hartwigs Roman »Das Weib ist ein Nichts«

Marijke Box Unzeitgemäßes aus dem Exil. Zu Mela Hartwigs Nachkriegsroman »Inferno«

Mirjam Springer Der letzte Versuch. Mela Hartwigs Lyrikband »Spiegelungen« (1953)

Vojin Saša Vukadinović Der kommende Scheiterhaufen. Mela Hartwig als politische Schriftstellerin

Mela Hartwig Die andere Wirklichkeit

Marijke Box / Vojin Saša Vukadinović Auswahlbibliografie

Marijke Box / Vojin Saša Vukadinović Biografische Skizze

Notizen

Gisela von Wysocki

Mit weiblicher Wissbegier nach dem Unbekannten greifenDas aufsässige Instrumentarium der Mela Hartwig

Freuds »Dora«, zum Sprechen gebracht

Der Schöpfungsakt der »Neuen Frau« ist in vollem Gange, als Mela Hartwig 1927 mit ihrer ersten Erzählung »Das Verbrechen« in die Öffentlichkeit tritt. Man hat die Frau als Sportlerin, Autofahrerin, als Angestellte großstädtischer Bürosilos mit neuer Bedeutung ausgestattet. Sie ist Teil der schnelllebigen »Forderungen des Tages« geworden, eine hautnahe Zeitgenossin des Jahrzehnts. In Walter Ruttmanns Film »Berlin – Die Sinfonie der Großstadt« von 1927 sieht man ihr dabei zu, wie sie sich einen Weg bahnt, mitten durch das Getriebe der Fahrzeuge, der Stadtbahnen, Automobile und Lastkraftwagen. Und wie ihr abends als Besucherin der Tanzpaläste und Varietés eine neue Variante von Ich und Leben zuwächst. Eine Wirklichkeit tut sich vor ihr auf, die dem unproduktiven Refugium der Gefühlswelt, der Mystik des »inneren Reichtums« den Kampf ansagt. Frauenmagazine listen die in ihren Veröffentlichungen am häufigsten verwendeten Begriffe auf, sie lauten »Komfort«, »Ressort« und »Format«. Es tun sich Resonanzräume auf, die den historischen Engpässen des weiblichen Lebens und seinen ungedeuteten, desorganisierten Anteilen eine Richtung, einen neuen Umriss geben.

Unüberhörbar die Aufgebrachtheit, die Rage, mit der Hartwigs erste Veröffentlichung dem betriebsamen Drive dieser Jahre entgegentritt. Sie ist 34 Jahre alt, hat nach Matura, Pädagogikstudium, Gesang- und Schauspielunterricht die Hedda Gabler, die Lulu, die Jüdin von Toledo am Berliner Schillertheater gespielt. Ihre Erzählung »Das Verbrechen«, 1927 bei Zsolnay veröffentlicht, trägt in die allgemeine »City Girl«-Euphorie einen irritierenden Misston. Hartwigs kämpferische Diagnose: so, wie man die weibliche Psyche gerne hätte, nämlich »zeitgenössisch«, eine ins soziale Gefüge einsortierte Rangiermasse, ist sie jedenfalls nicht. Sie ist vieldeutig, unverlässlich und zerstörerisch aufbegehrend. »Das Verbrechen« paraphrasiert die 20 Jahre zuvor von Sigmund Freud herausgebrachte Studie »Bruchstück einer Hysterie-Analyse«. Schon der Titel der Erzählung weist darauf hin, dass hier nicht nur beobachtet, nicht nur zugeschaut wird. Es geht um etwas Unzulässiges, um Straffälliges. Ohne die Patientin »Dora« selbst zu Wort kommen zu lassen, veröffentlichte Sigmund Freud ihre Geschichte als methodologisch in Form gebrachtes »pathogenes Material«, wie es bei ihm heißt. Verwertbarer, an die Öffentlichkeit weitergereichter klinischer Rohstoff; ein in Kauf genommener Tabubruch.

Freuds Vorlage folgend, steht auch Hartwigs junge Agnes Zuba einem Mann vom Fach gegenüber; dem eigenen Vater, einem Psychoanalytiker. »Anfälle von Stimmlosigkeit« hatte Freud seiner berühmt gewordenen Klientin in der »Hysterie«-Untersuchung attestiert. Mela Hartwig stellt dieses Versagen »Doras« ins Zentrum ihrer Erzählung, indem sie es ins Gegenteil verkehrt. Sie stattet nämlich ihre Agnes mit Kampfgeist und stürmischer, hochfahrender Beredsamkeit aus. Dem Vater gibt sie Paroli und trotzt ihm mit Sätzen wie diesen, »gib mir den Weg frei, der in mein eigenes Leben führt«. Aber es hilft alles nichts. Zwei sich unversöhnlich gegenüberstehende Systeme treffen aufeinander. Exaltiertheit reibt sich an Exaktheit, unbegradigtes Gebiet stößt auf patriarchale Kartografie. Schritt für Schritt von Mela Hartwig in Szene gesetzt, schaut man zu, wie die gewaltstreichartige Rhetorik des Vaters die Tochter ins Krankheitsbild der Hysterie-Patientin treibt. Agnes Zuba, eine der großen Dramenfiguren der österreichischen Literatur, wird am Ende im Zustand der Besinnungslosigkeit den Vater niederschießen. Und die Worte sagen, »mein Leben beginnt«. Der Umriss einer Ausbrecherin wird sichtbar. Eine Flüchtige hat hinter sich die Zelte abgebrochen; auf eine Zukunft setzend, die weniger verwunden wird als die von ihr verlassene Gefahrenzone.

Alfred Döblin spricht dem Text als Juror eines von der Zeitschrift »Die literarische Welt« veranstalteten Wettbewerbs den ersten Preis in der Rubrik »Erzählung« zu. Möglicherweise galt die Ehrung auch dem Weitblick der Autorin, ihrem eminenten Spürsinn für die Bedeutung, die tiefgreifende Substanz des Themas. Dass nämlich hier ein Nerv getroffen wurde, zeigt sich bis in die jüngste Gegenwart hinein. Wieder und wieder ist »Dora« zum Sprechen gebracht worden. Etwa von der französischen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Hélène Cixous, die sie in ihrem vielstimmigen Poem »Portrait de Dora« in Paris auf die Bühne gestellt hat. »Dreaming for Freud«, so nannte Sheila Kohler ihren in New York 1915 erschienenen Roman, hier lässt eine listig gewordene Dora den Analytiker Freud durch lauter frei erfundene Träume in die Irre laufen. Drei Jahre später veröffentliche Katharina Adler ihren Roman »Ida«, die Geschichte ihrer Urgroßmutter Ida Bauer; Freuds originäre Hysterie-Patientin.

Wie die Fleißer, wie Baum oder Keun hat sich auch Mela Hartwig als eine Auskundschafterin gesehen, die das Wachstum großstädtischen Lebens zu ihrem literarischen Revier erklärte. Eine wachsame Zeugin, für die die progressive Zugkraft des Zeitgemäßen, der Modernisierungsprozess zum Erfahrungsraum geworden ist: ein Ort, der neue Lesarten der Wirklichkeit auf den Weg brachte. Zugleich aber lotete sie die Unberechenbarkeit der Verhältnisse aus. Ihr Schreiben ergründet die vom Sozialkörper ausgeschiedenen, auf der Strecke gebliebenen Kräfte der Realität. Sie schält heraus, wie sich dessen unbereinigtes Leben in die gesellschaftliche Vorwärtsbewegung einquartiert.

Man begreift, warum sich nach den Weltkriegsjahren im deutschen Sprachraum eine andere Art von Literatur behaupten konnte. Man wollte sich die Versprechungen der modern times nicht wegschnappen lassen, wollte ihnen Tribut zollen, Beute mit ihnen machen. Irmgard Keuns »Kunstseidenes Mädchen«, Doris, tastet die glitzernden Oberflächen einer nicht enden wollenden Gegenstandswelt ab, süchtig nach dem Geruch der großen Welt. Kaum zehn Jahre nach Kriegsende sieht die Welt schon wieder so aus, als käme sie aus einem Filmdrehbuch. Doris sitzt im Fond eines Taxis und redet sich ein, einen Chauffeur zu beschäftigen. Eine fortschrittsliebende, um nicht zu sagen, fabrikneue »Alice in Wonderland« lässt sich durch die Gegend fahren und bestaunt Zigarettenläden, Schuhmodelle, Kinos und die Blondheit von Lilian Harvey. Eine Zeit für Fantasien, die nach den Sternen greifen möchten. Beispielhaft die scharfsinnigen, von poetischer power geprägten Worte Marieluise Fleißers, die sie über den »neuzeitlichen Menschentypus«, den »Spurter« schreibt. »Sportgeist und Zeitkunst« heißt ihr 1927 veröffentlichter Essay. »Ein Körper«, so stellt sie sich vor, »der alles aus sich herausholt«, könnte buchstäblich in der Lage sein, Blitze, elektrostatische Ladungen zu erzeugen; der menschlichen Leistungskraft ein für unmöglich gehaltenes surplus abzuringen.

Ein metaphernreiches Sprechen lenkt den Blick auf Wunschbilder und Ideen der Vervollkommnung. »Ich will ein Glanz werden«, sagt Doris, Keuns Kurfürstendamm-Fan. Mela Hartwig folgt einer anderen Spur, sie führt in den Binnenraum der Psyche, in die Abgründigkeit eines Geschlechts, dessen Realität nichts anderes als den Ausnahmezustand zu kennen scheint. Sie untersucht die Verlaufsformen von Ursache und Wirkung, ergründet die strapaziösen Vorrunden, die Strategien eines erhofften Neubeginns und die Logik des Scheiterns. Bis tief hinein in den Unterbau des Sensorischen, das in der Sprache hörbar wird. Im »Vibrato« eines Tons, der auf Dringlichkeit pocht.

Figuren einer Nebengeschichte

Vom Vater der Autorin, dem Kulturphilosophen und Soziologen Theodor Hartwig, erscheinen Ende der 1920er Jahre wegweisende Veröffentlichungen über Themen der Sexualität und der »Frauenfrage«. Die »Revolutionierung der Frau«, so lautete der Titel einer seiner Publikationen, ein anderer »Die Tragödie des Schlafzimmers. Beiträge zur Psychologie der Ehe«. Nicht nur die aufklärerische Stoßrichtung im Schreiben Mela Hartwigs führt zurück auf die väterliche Inspirationsquelle. Programmatisch wird für sie das Vorwort einer Studie »Soziologie und Sozialismus« gewesen sein; dort schreibt der Vater, »der seelischen Entwicklung des Menschen immer ein besonderes Augenmerk zugewendet« zu haben.

Im ›Deutschen Reich‹ hat mit dem Blick für die seelischen Umstrukturierungen des Großstädters etwa Rudolf Braune den »City«-Mythos und die malerische Formel der »Neuen Sachlichkeit« in Zweifel gezogen; KPD-Mitglied und Publizist der »Weltbühne« und der »Frankfurter Zeitung«. Sein 1930 erschienener Angestelltenroman »Das Mädchen an der Orga privat« bringt, ohne den Ton des Pathos zu scheuen, zum Ausdruck, welche atmosphärischen Veränderungen die fortgeschrittene Kapitalisierung der Lebensumstände mit sich bringt. »Straßenbahnen fahren vorbei, sie klingeln laut durch die Nacht; schrill, dürr und verbiestert klingt das, fröstelnd kalt sehen die Häuser aus, an jedem Haus hundert Schilder und Firmennamen und Reklametafeln, nirgends Zuflucht, nirgends Heimat.« Der Sirenengesang des Zwanziger-Jahre-Imaginariums wird hörbar als Dissonanz. Und im Milieu von Aufschwung und Glücksspiel zeigt sich die Gefahr der Verlorenheit und Verelendung.

Die Hartwig’schen Protagonistinnen trifft der Widerspruch der beiden Welten schmerzhaft. Der Magnetismus eines maßlosen Konsums trifft auf die Entbehrungen, die Tristesse einer irritierten, jäh ins gesellschaftliche Leben katapultierten Frauengeneration; beispielhaft in den beiden frühen Romanen »Das Weib ist ein Nichts« (1929) und »Bin ich ein überflüssiger Mensch?« (1931, erschienen 2001), aber auch in der Erzählung »Aufzeichnungen einer Häßlichen« (1928). Der rücksichtslose industrielle Aufschwung, die Weltwirtschaftskrise und der sich anbahnende Erfolg der Hitlerdiktatur fallen in ihre Zeit. Mela Hartwig hätte im Hinblick auf die »soziale Frage« Stoff genug gehabt. Sie hätte im Rahmen der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift »Die Unzufriedene« Beiträge über das rückständige österreichische Eherecht, über den Alkoholismus der Männer schreiben können. Ihre Literatur lenkt so oder so die Aufmerksamkeit auf Themen wie diese, stellt sie aber großräumig in den Kontext der europäischen Geschichte. Hartwig erschließt sie als Phänomene, die den prekären Werdegang des weiblichen Ich dokumentieren. Ein Prozess, der mit Ausbürgerung zu tun hat, mit rechtlichen Übergriffen, mit den im historischen Abseits sich vollziehenden Biografien. Das Ich als Gestalt einer Nebengeschichte wird drastisch ins Licht gesetzt. Welchen Anteil hat es denn überhaupt an der Welt? Wie sichtbar, wie formulierbar hat sich alles in allem seine Bedeutung im Fortgang der Geschichte kenntlich machen können?

Virginia Woolf hat in ihren Figuren die gleiche Frage verankert. In meinem Essay über sie, »Weiblichkeit und Modernität«, werden die Leerstellen benannt. Dort bezeichne ich sie als Gesprächskünstlerin, die die Sprache derer protokolliert, die in den Hauptwerken der Geschichte nicht zu Wort gekommen sind. Es fügte sich, geradezu drehbuchreif, dass sie, wie schon erwähnt, in London mit Mela Hartwig zusammentraf und der Kollegin sogar behilflich sein konnte, ihren Ehemann Robert Spira aus einem englischen Internierungslager herauszuholen. Beide Autorinnen gehen von der Erkenntnis aus, dass »die Frau« vom zivilisatorischen Prozess mit den formelhaften Umrissen, mit der Unschärfe einer Kunstfigur ausgestattet wurde. Ihre Versuche, sich auf gesellschaftlich unbetretenem Boden eine Gestalt zu geben, sich durchzubeißen, macht sie für Virginia Woolf zu einem unausschöpflichen Studienobjekt, zu einem beständigen Ort der Entdeckungen. Es sind die Ablagerungen der Wirklichkeit, die sie im Leben der Frauen erforscht: die Handlungen des Augenblicks, die Eigenart von Redefiguren, das unruhige Nebeneinander der Details, die widerspruchslose gleitende Fülle von Objekten und Bewegungen im Raum.

Für Hartwigs Frauen dagegen ist der Aufbruch ins gesellschaftliche Leben von dramatischen Vorfällen, von Verstrickungen und Verstößen begleitet. Bibiana, die aus dem »Nichts«, das sie glaubt zu sein, ein Alles machen will; Aloisia, die sich fragt, ob sie »ein überflüssiger Mensch« ist, und die Arzthelferin, die in der Erzählung über die »Häßliche« eine zermürbende amour fou zu bewerkstelligen hat. Sie alle sind angezogen und aufgerieben von fremdem Leben, auf der Suche nach einer wahnhaften Form der Identität. Experimentierfreudig lassen sie sich auf halsbrecherische Schummeleien und Täuschungsmanöver ein. Damit beschäftigt, ihr Leben in eine passable Richtung zu schieben. Und um nicht mitansehen zu müssen, wie es ins Wasser fällt.

Verwandlungskünste

Dreh- und Angelpunkt für den erfolgreichen Auftritt in der Daseinsmanege ist bei Hartwig der weibliche Körper; sowohl für die Erfolgsaussichten auf dem Arbeitsmarkt, wie auch im Tauziehen um den geeigneten Liebhaber. Dem Körper wird der Status eines Zauberstabs übertragen, im mühevollen Ringen um seine Magie wird er in Stellung gebracht, in den Zustand eines Erscheinungsbildes versetzt. Schrittweise angepeilt, ausgekundschaftet, hinterfragt, wird er belauert wie eine eigene, fernstehende Wesensart, deren Aufgabe es ist, sich in einen unübersehbaren, bahnbrechenden look zu verwandeln; eine Bildfläche des Begehrens zu werden. Ein Austragungsort, an dem die Eintrittskarten in die begehrte Welt der Arbeitsplätze und der abendlichen Unternehmungen in Begleitung eines Kavaliers verhandelt werden. In Wirklichkeit eine Kampfzone, die auf eine Wunde zeigt: auf die Erfahrung der Abgeschiedenheit und Vereinsamung, die den Frauen Mela Hartwigs wie ein Kainszeichen eingebrannt zu sein scheint.

Vor Antritt ihrer neuen Stellung als Kontoristin in einer Holzhandelsgesellschaft steckt sich Aloisia zum ersten Mal die Zöpfe hoch und erkennt im Spiegel ein älter gewordenes, »ganz fremdes Gesicht«. Besorgt stellt sie ihrem Körper die Frage, »warum er nicht die Aufmerksamkeit der Männer erregt«. Warum, so fragt sie sich, hatten andere Frauen alle möglichen Kniffe und Schliche zur Verfügung, die ihr selber unbekannt waren? »Nach welchem Rezept mischten sie ihr unverschämtes Lächeln, nach welcher unhörbaren Melodie wiegten sie ihren Körper?« Kurzen Prozess macht dagegen die »Häßliche«, wie man aus ihren »Aufzeichnungen« erfährt. Zur medizinischen Untersuchung bei ihrem Chef erscheint sie ungehemmt in einer rauschenden Abendrobe, einem wahren Prunkkleid, das sich festlich um ihren Körper bauscht. So hofft sie, ihren chronischen Augenkatarrh, ihre zu großen Hände und alles mögliche andere zum Verschwinden zu bringen.

Bibiana, das »Weib«, das ein »Nichts« ist, geht mit ihren Verwandlungen am weitesten, fast könnte man von Mutationen sprechen. Hier wird das Know-how der Inszenierung bis zum Äußersten ausgereizt: Körper und Kleid reichen tief ins weibliche Unbewusste hinein. Bibiana zeigt sich entschlossen, sich mit dem kleinsten Hindernis, das er ihrem Ehrgeiz bereiten konnte, ein für alle Mal auseinanderzusetzen. Ihr Befund: Die Brust habe etwas Verkümmertes an sich, der Körper insgesamt etwas Gebrechliches und unschön Abgemagertes. Nur die Hände sind vorzeigbar, »hochmütig und ehrgeizig; königliche Hände«, flüstert sie sich zu. »Als sie angekleidet vor dem Spiegel stand, erkannte sie, dass ihr Körper seine Glieder recht gut und verheißend zu gebrauchen wusste.« Einer zwanghaften Logik folgend, klinkt sie sich in das Leben außergewöhnlicher Männer ein; eine Reihe tiefgreifender Metamorphosen durchlaufend. Als Geliebte eines Hochstaplers, eines Komponisten, Bankers und eines Sozialrebellen wird sie Teilnehmerin vier verschiedener Wirklichkeiten, vier verschiedener Existenzformen. Hohlformen einer rotierenden Identität. In ihnen verankert Mela Hartwig eine eher »Wienerische«, eher prekäre Variante des »Orlando«, Woolfs Roman, der zeitgleich in London erscheint.

Bibiana wächst nicht ohne Bravour in ihre wechselnden Rollen hinein. Die Gaunereien des Hochstaplers, die exzessive Tonkunst des Komponisten, die Virtuosität des Börsenhändlers und die Eloquenz des Revolutionärs rufen in ihr neue, sie selbst überraschende Fähigkeiten und Begabungen ab. Eine Wirklichkeit mit Sprengkörperqualität kommt ins Bild, sie erschien den Studiobossen von Metro-Goldwyn-Mayer vorübergehend so verlockend, dass man eine Verfilmung ins Auge fasste; die Rolle der ruhelosen Protagonistin war der Schauspielerin Greta Garbo zugedacht. Mela Hartwig lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass die Reise ihrer verwegenen Draufgängerin in ein Krisengebiet führt. Während eines Straßenkampfes wird sie unter Pferdehufen verenden. Ihr Tod zeigt auf das mürbe Gewebe, die baufällige Konstruktion der »Neuen Frau«.

Ecriture féminine

Julya Rabinowich bezeichnet in ihrer Studie »In zerbrochenen Spiegeln« die Frauen Mela Hartwigs als »taumelnden Kontinent«. Die einstige Bühnenkünstlerin hat die ganze grelle Zauberwelt des zeitgenössischen Stummfilms in ihr Schreiben hineingeholt, um der »unterbestimmten« weiblichen Wirklichkeit, wie sie es nennt, eine Fasson zu geben. Häufig weit über das expressionistische setting hinaus, umkreist sie die Sehweise einer Spezies, die nicht so richtig hat Fuß fassen können in der Welt. Unvergleichlich die Inständigkeit, die Emphase, mit der diese Autorin ihre Figuren im Auge behält. Szenenreich faltet sie die Erfindungen und Tragödien, die Irrfahrten ihrer Geschöpfe auf: eine Crew von Gelegenheitsheldinnen, von Meisterinnen des Scheiterns, von Spezialistinnen der Niedergeschlagenheit und des Sichzusammenreißens.

Die Sprache, die sich das alles zugetraut hat, »ist uns heute fremd«, vermeldete der »Vorarlberger Bote« aus Österreich. Sie ist es schon immer gewesen. Ihre Versuche, eingespielte Sichtweisen aus den Angeln zu heben, erstrecken sich über das gesamte Werk. Hier geht es um den direkten Draht, um ein Vorwärtsdrängen, eine Getriebenheit, die das Zerlegen der Syntax zur Folge hat. Varietéhaft zugespitzt, grell überzeichnet, macht die Sprache häufig von einer aufrührerischen Beschleunigung Gebrauch. Stellenweise wird in der Eile rhetorisches Reglement geschreddert, die Logik von Verknüpfungen missachtet. Mit der Hektik einer Depesche werden weit entfernte Wirklichkeiten zusammengezwungen. Oftmals »schäumt« etwas, ist »fiebrig« oder »überwältigt«. Die Zeiger einer Uhr gleichen gebleichten Knochen. Und ein satanisches Gelächter wird zu einer aus kahlen, getünchten Wänden bestehenden Zelle: Laute aus einer Enklave. Von einem Ort, der noch nirgendwo erfasst wurde, noch niemals von sich hören ließ. Revoltierend, mit expressiver Schärfe macht er sich hier bemerkbar.

Mela Hartwig hat nicht nur der in den 1980er Jahren in Frankreich heiß umkämpften Idee einer écriture féminine ein frühes Gesicht gegeben. Sie hat einer feministischen Avantgarde Nimbus verliehen: ohne auf einen Resonanzraum hoffen zu können, ohne den Begleitschutz öffentlich geführter Diskussionen. Für sie sind die Sprengkräfte der Psyche die eigentlichen Gebieter im Leben der Frauen. Was heute für uns die Sozialtherapeuten erledigen, zeigt uns diese Autorin in Form von Dramen und Manien. Etwas Un-erhörtes liegt darin, etwas archaisch Bildhaftes. Ihre Bücher nehmen sich deplatziert aus im derzeitigen Betriebsklima eines neoliberal modernisierten Patriarchats. Man möchte ungern an »die hässliche Schwester des Fortschritts« erinnert werden, von der Georges Bataille sprach. Möchte nicht an das Befremdliche, Verfemte, Verworfene rühren, das in der zukunftsgerichteten Struktur des Kapitalismus ein verborgenes Leben führt.

»Inferno«

Kurz nach dem sogenannten »Anschluss«, flankiert von Hitlergruß und Fackelträgerei, lernt Mela Hartwigs Akteurin Ursula die Vorhölle Dantes kennen: Wien ist zum Tatort geworden. Der in der Londoner Emigration entstandene Roman »Inferno« lässt die österreichische Autorin zur engagierten Ermittlerin werden. Ihrer jungen Protagonistin überträgt sie es, Österreich als Nazireich zu demaskieren; in Haltung und Mimik der Menschen, in ihren Kleidungsstücken, ihren Wohnräumen, Redeweisen und Umgangsformen. »Inferno«, so schreibt Vojin Saša Vukadinović in seinem Nachwort, »inspiziert das innere Erleben des äußeren Schreckens«. Der Roman stellt den im Werk Mela Hartwigs unerbittlichsten, rigorosesten Zugriff auf den patriarchalen »Führer«-Anspruch dar. Unschuldig sind die Frauen dabei nicht. Immer wieder zeigt uns Mela Hartwig die Töchter und Ehefrauen, die von Kündigung bedrohten Angestellten in einem Störfeld angesiedelt: überfüttert mit mythischen Bildvorlagen der »Frau«, gegängelt von Fantasien zwischen Luftschloss und Traumfabrik, in dem der »Mann« die Rolle des Erfüllungsgehilfen übernimmt.

Seinem Faszinosum entkommt auch Ursula nicht, die scharfsinnige Augenzeugin der Wiener »Inferno«-Verhältnisse, an diesem Punkt gerät sie ins Straucheln. Wie von Scheinwerfern ausgeleuchtet, werden die unheilvollen Kapazitäten des weiblichen Narzissmus erkennbar. Er kreist um den Wunsch, vom Mann wie von einer »höheren« Instanz, wie von einem Heiligtum berührt, angefallen, bezwungen zu werden. Kurzfristig gehört auch sie, die kluge Studentin, zu den vom »Führer« in Bann geschlagenen Mitläuferinnen. Nachdem sie in der Wiener Kunstakademie der feurigen Rede des dortigen Direktors lauschte, steht sie unter der Wirkung einer ihr unbekannten Magie. »Eine solche Stimme, fühlte sie, konnte nicht lügen. Die Stimme sagte, ›wir sind zu klein, um Hitlers Größe zu verstehen. An uns ist es zu glauben, dass er uns das Tausendjährige Reich schenken will‹.« Der Akademiedirektor »stand auf dem Podium wie auf der Kanzel, ein blonder Savonarola. Sein Arm, den er vorstreckte, schien eine flammende Fackel zu halten.«

Noch einmal ergibt sich nun eine Parallele zu dem Schriftsteller und Philosophen Georges Bataille. In seiner Studie »Die psychologische Struktur des Faschismus« hatte er, 1933, vom »ansteckenden erotischen Wert« ereignisreicher Geschehnisse geschrieben. So unverzichtbar sie seien, die demokratischen Rechtsstaatsprinzipien, so zwanghaft aber auch wären sie an das Bild einer »homogenen Welt« gekettet; an eine »friedliche, aber langweilige« Wirklichkeit. Dieses offensichtliche Manko würde den Wunsch, den »normalen Lauf der Dinge« außer Kraft zu setzen, geradezu heraufbeschwören. »Ohne Zweifel«, so schreibt Bataille, sind es »die faschistischen Führer«, die dazu in der Lage sind. Man kann Mela Hartwig nur staunend dabei zusehen, wie präzise sie in ihrem Roman, der zwischen 1946 und 1948 entsteht, diese Problematik verfolgt. Mit welcher Plastizität sie Details einer Zeit in Szene setzt, die historisch noch kaum dokumentiert war.

Vergeblich sucht man in den Texten Hartwigs nach Modellfiguren feministischer Selbstvergewisserung. »Lieber King Kong sein als Kate Moss«, diese kürzlich von der französischen Schriftstellerin Virginie Despentes geäußerte Devise, hätte Mela Hartwig fraglos zugestimmt. Ihr Schreiben nimmt nicht das Für und Wider des gerechten Ausgleichs ins Visier, sondern die Zwangslagen der Frauen, das explosive Gemisch ihrer seelischen Gestimmtheit. Der aufgeraute Ton zielt auf die scheiternde Rebellin. Auf die Ekstatikerin; die Hysterikerin vor allem. Die ihr geltende Diskussion um 1900 kennt noch die Dynamik einer rumorenden widerständigen Potenz. Sigmund Freud fand dafür einleuchtende Paraphrasen, wie etwa die von der »Krankheit des Gegenwillens«. An anderer Stelle ist von »einer Art von Fremdkörper« im Zentrum der weiblichen Existenz die Rede.

Mela Hartwig hat sich auf das Abenteuer eingelassen, über ein Land zu schreiben, dessen Vergangenheit liquidiert, dessen Zukunft unvorstellbar und dessen Gegenwart wie ein unbekanntes Schriftzeichensystem neu zu entschlüsseln war. Wissen und Wissbegier haben es dieser Autorin ermöglicht, beispiellos und geheimnisvoll wie sie ist, diese Aufgabe zu bewerkstelligen. Aus allen nur erdenklichen Blickwinkeln lässt sie ihre Protagonistin die neuen Verhältnisse erkunden; als Geliebte eines Widerstandskämpfers, als Schwester eines Nazi-Mitläufers, als Fluchthelferin einer früheren Freundin und als Spionin in einer Dienststelle der Partei: einig mit ihrer Freundin Virginia Woolf, in deren Essay »Ein Zimmer für sich allein«, es heißt, »die Frau ist das am meisten diskutierte Lebewesen«.

Walter Erhart / Heinz-Peter Schmiedebach

Hysterie, Blut und »Das Verbrechen«Rätselhafte Verflechtungen von Literatur und Psychiatrie

»Diese merkwürdige Mela Hartwig