The April Story – Ein wirklich erstaunliches Ding - Hank Green - E-Book

The April Story – Ein wirklich erstaunliches Ding E-Book

Hank Green

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Beschreibung

Wer bist du, wenn die ganze Welt dir zusieht? Als April ein Video von einer mysteriösen Skulptur auf YouTube hochlädt, steht sie schlagartig im Zentrum der globalen Aufmerksamkeit. Denn weltweit sind identische Statuen aufgetaucht und sie scheinen nicht von der Erde zu stammen. April verschreibt sich dem Ziel, das Geheimnis um jeden Preis zu lösen. Sie teilt all ihre Erlebnisse auf Social Media, wird Dauergast in Talkshows und sogar die Regierung nimmt Kontakt mit ihr auf. Schon bald ist April kein Mensch mehr, sondern eine Marke, ein Symbol – und sie wird im kompromisslosen Kampf um Berühmtheit Opfer und Täterin zugleich. Denn als sie merkt, wie sehr die mediale Aufmerksamkeit sie verändert hat, ist es zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Währenddessen entwickelt sich die Lösung des Rätsels zu einem Wettlauf gegen radikale Verschwörungstheoretiker – und deren Angriffe beschränken sich nicht nur auf die virtuelle Welt. »Einfach brillant – das beste Buch, das ich über die Frage, wie sich unser ›Hier und Heute‹ anfühlt, gelesen habe.« John Green »Popularität als Droge: Hank Greens Debütroman handelt von den unseligen Nebenwirkungen des Ruhms. […] Die Lektüre entwickelt einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann.« Frankfurter Allgemeine Zeitung  »Das [...] Spannende sind die Beobachtungen, die der Roman zu Viralität, sozialen Medien und Popularität macht.« Süddeutsche Zeitung  »Ein rasanter und zutiefst menschelnder Roman am Puls der Zeit, der direkt die Bestsellerliste der ›New York Times‹ stürmte.« Kulturnews »Green sprengt die Grenzen des Genres.« Spiegel Online  »Hank Greens Buch ist auf den Fiction-Starts direkt auf Platz Eins gestiegen – und das zurecht.« jetzt.de  »Blockbuster-verdächtig! Originell, hochaktuell, schnell.« SRF 1

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Über das Buch

Als April ein Video von einer mysteriösen Skulptur auf YouTube hochlädt, steht sie schlagartig im Zentrum der globalen Aufmerksamkeit. Denn weltweit sind identische Statuen aufgetaucht und sie scheinen nicht von der Erde zu stammen. April verschreibt sich dem Ziel, das Geheimnis um jeden Preis zu lösen. Sie teilt all ihre Erlebnisse auf Social Media, wird Dauergast in Talkshows und sogar die Regierung nimmt Kontakt mit ihr auf. Schon bald ist April kein Mensch mehr, sondern eine Marke, ein Symbol – und sie wird im kompromisslosen Kampf um Berühmtheit Opfer und Täterin zugleich. Denn als sie merkt, wie sehr die mediale Aufmerksamkeit sie verändert hat, ist es zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Währenddessen entwickelt sich die Lösung des Rätsels zu einem Wettlauf gegen radikale Verschwörungstheoretiker – und deren Angriffe beschränken sich nicht nur auf die virtuelle Welt.

Hank Green

The April Story – Ein wirklich erstaunliches Ding

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Katarina Ganslandt

 

 

 

Danke, Mom!

Kapitel eins

Ja, ja, ich weiß – ihr erwartet hier ein Abenteuer-Epos voller Intrigen, Geheimnisse, Nahtod und echtem Tod, aber vorher (wobei ihr natürlich jederzeit zu Kapitel dreizehn vorblättern dürft, ich kann euch keine Vorschriften machen) werdet ihr euch damit auseinandersetzen müssen, dass ich, April May, nicht nur die Schlüsselfigur eines der bedeutsamsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte bin, sondern auch eine Anfang Zwanzigjährige, die nicht immer alles richtig gemacht hat. Da ich als Einzige die ganze Story kenne, bin ich in der wundervollen Lage, am längeren Hebel zu sitzen, und kann bestimmen, wie ich sie euch erzähle. Und das heißt, dass ihr nicht nur meine Sicht der Geschichte zu hören bekommt, sondern auch etwas über mich erfahrt. Also macht euch auf eine Portion Extra-Drama gefasst. Ich werde versuchen, so ehrlich wie möglich zu berichten, gebe aber zu, dass ich in der Beurteilung meiner selbst extrem gnädig bin. Falls ihr am Ende aus alldem irgendwas mitnehmt, sollte das idealerweise nicht darin bestehen, dass ihr euch eher dem einen oder dem anderen Lager zurechnet, sondern verstanden habt, was ich in erster Linie bin (oder zumindest war) – nämlich ein Mensch.

 

Ich war zweifellos nur ein Mensch, und noch dazu ein sehr müder, als ich mich in einer Januarnacht um Viertel vor drei die 23. Straße entlangschleppte, nachdem ich einen Sechzehnstundentag in einem Start-up hinter mich gebracht hatte, das hier (dank des aggressiven Knebelvertrags, den ich unterschrieben hatte) namenlos bleiben soll. Man könnte behaupten, dass es finanziell gesehen ziemlich bescheuert ist, an einer privaten Kunsthochschule zu studieren, aber das gilt nur, wenn man einen Kredit nach dem anderen aufnehmen muss, um sich eine so elitäre Ausbildung leisten zu können. Was in meinem Fall natürlich zutraf. Meine Eltern hatten einen Handel für Melkbedarf, zu dessen Kunden kleinere bis mittelgroße milcherzeugende Betriebe gehörten. Sie verkauften die Dinger, die man Kühen auf die Euter pfropft, um ihre Milch abzuzapfen. Das Geschäft lief gut, gut genug, um mich mit einem überschaubaren Schuldenberg dastehen zu lassen, wenn ich an einem staatlichen College studiert hätte. Aber das hatte ich nicht, also waren Kredite abzubezahlen. Ein ganzer Haufen davon. Nachdem ich im Laufe meines Studiums von einem Hauptfach zum anderen gewechselt war (erst bildende Kunst, dann nacheinander Kommunikationsdesign, Fotografie und Illustration) und zuletzt mit einem lahmen (aber zumindest nützlichen) Bachelor in Produktdesign abschloss, hatte ich den ersten Job angenommen, der es mir ermöglichte, in New York zu bleiben und nicht wieder zurück nach Nordkalifornien in mein Jugendzimmer ziehen zu müssen.

Das dem Untergang geweihte Start-up, für das ich arbeitete, wurde von dem unerschöpflichen Quell reicher Leute finanziert, die den langweiligsten Traum träumen, den Reiche träumen können: nämlich noch reicher zu werden. In so einem Start-up gehören natürlich alle zur »family«, was wiederum bedeutet, dass man öfter – wenn irgendwas schiefläuft, wenn Deadlines drängen, wenn einer der Investoren einen hysterischen Anfall hat oder auch einfach nur so – nicht vor drei Uhr morgens aus dem Laden rauskommt. Mir machte das extrem schlechte Laune. Es machte mir schlechte Laune, weil die Time-Management-App, die unser Unternehmen entwickelte, total dämlich und überflüssig war. Und es machte mir schlechte Laune, weil von uns Mitarbeitern erwartet wurde, so zu tun, als wäre diese Arbeit unser Leben und nicht bloß ein öder Brotjob, was bedeutete, dass ich keine Zeit für eigene Projekte hatte.

ABER!

Immerhin arbeitete ich schon im ersten Jahr nach meinem Abschluss in meinem erlernten Beruf und verdiente genug, um meine Miete zu bezahlen. Zwar waren die Arbeitsbedingungen nahezu kriminell, und die Hälfte meines Einkommens ging für einen Schlafplatz im Wohnbereich eines winzigen Zwei-Zimmer-Apartments drauf, aber ich befand mich auf einem guten Weg.

Das eben war übrigens geschwindelt. Meine Matratze lag zwar im Wohnzimmer, aber ich schlief trotzdem meistens im Schlafzimmer – bei Maya. Wir lebten nicht zusammen, wir teilten uns nur die Wohnung. Das zu betonen wäre der April von früher sehr wichtig gewesen. Worin der Unterschied besteht? Hauptsächlich darin, dass Maya und ich noch nicht zusammen waren, als wir in die Wohnung zogen. Es ist ziemlich bequem, etwas mit seiner Mitbewohnerin anzufangen, aber umso komplizierter, den Beziehungsstatus zu definieren, wenn man fast die gesamte Studienzeit über eine Wohnung geteilt und erst im letzten Studienjahr etwas miteinander angefangen hat, was zu dem Zeitpunkt, von dem ich erzähle, schon seit über einem Jahr lief.

Die Frage »Sollen wir zusammenziehen?« erübrigt sich, wenn man sowieso schon in derselben Wohnung wohnt. Bei Maya und mir lautete sie deswegen: »Können wir die gebraucht gekaufte Matratze nicht vielleicht entsorgen, damit wir im Wohnzimmer genug Platz für eine Couch haben, um Netflix zu schauen?« Bis dahin war meine Antwort immer gewesen: »Auf gar keinen Fall. Wir sind nur Mitbewohnerinnen, die miteinander ins Bett gehen.« Also blieb die Matratze im Wohnzimmer.

Hey, ich hatte euch vor Drama-Content gewarnt.

Aber zurück zu jener schicksalsträchtigen Januarnacht. In der darauffolgenden Woche sollte ein neues Update der komplett nutzlosen App rauskommen, und ich hatte endlos lang auf die letzte Abnahme einiger kleinerer Änderungen an der Benutzeroberfläche gewartet, die … ach, egal, ich will euch nicht mit stupidem Arbeitsblabla langweilen. Mir war es eigentlich grundsätzlich lieber, abends länger zu bleiben, als morgens früher zu kommen. Aber nachdem ich stundenlang versucht hatte, kryptische Anweisungen meiner Chefs zu entschlüsseln, die ein Raster nicht von einem Vektor unterscheiden konnten, war mein Gehirn komplett trocken gesaugt, als ich das Büro schließlich verließ (das in einem Co-Working-Space untergebracht war, nicht mal in eigens angemieteten Räumen) und drei Minuten später am Drehkreuz der Subway-Station stand.

Und dann wollte der Automat OHNEJEDENGRUND meine MetroCard nicht annehmen! Weil eine zweite Karte auf meinem Schreibtisch lag und ich nicht sicher war, wie viel Geld ich noch auf dem Konto hatte, hielt ich es für besser, die drei Blocks zurückzugehen und sie zu holen.

Die Ampel zeigte Walk, ich überquerte die 23. und wurde von einem Taxi angehupt, als hätte ich kein Recht, über die Straße zu gehen. Reg dich ab, Alter, schau lieber auf die Ampel! Drüben angekommen drehte ich mich in Richtung unseres Büros und da sah ich ihn. Und je näher ich ihm kam, desto offensichtlicher wurde es. Dass er eine wirklich … WIRKLICH erstaunliche Skulptur war.

Ich meine, das Ding war UNGLAUBLICH.

Andererseits sieht man in New York ja so einiges, was unglaublich ist.

Wie soll ich das erklären? Also … in New York leben viele Leute, die teilweise Jahre darauf verwenden, erstaunliche Dinge zu erschaffen; Dinge, in denen die Essenz einer Idee so absolut perfekt auf den Punkt gebracht wird, dass man meint, die Welt plötzlich zehnmal klarer zu sehen. Unfassbar schöne und beeindruckende Dinge, in die sehr viel Lebenszeit investiert wurde. Die Lokalnachrichten bringen eine Story darüber, alle sagen »Echt nice!« und einen Tag später haben wir sie zugunsten des nächsten WIRKLICHABSOLUTPERFEKTENUNDERSTAUNLICHEN Dings schon wieder vergessen. Das macht diese Dinge nicht weniger schöner und nimmt ihnen nichts von ihrer Einzigartigkeit … es ist nur so, dass es hier eine Menge Leute gibt, die unglaublich tolle Sachen machen, weshalb man mit der Zeit ein bisschen abstumpft.

Und genau so habe auch ich reagiert, als ich ihn sah – diesen über drei Meter großen Transformer in Samurai-Rüstung, dessen gewaltiger Brustkorb über mir in den Himmel ragte. Er war einfach da. Stand vor Energie und Kraft strotzend mitten auf dem Gehweg und sah aus, als würde er jeden Moment den Kopf senken und seinen leeren, majestätischen Blick auf mich richten. Stattdessen regte er sich nicht und starrte stumm und beinahe verächtlich ins Irgendwo, als hätte diese Welt seine Aufmerksamkeit nicht verdient. Im Licht der Straßenlampen sah ich, dass seine Rüstung aus Platten in mattem Nachtschwarz und reflektierendem Silber zusammengesetzt war. Und das war eindeutig Metall … keine Cosplay-Bastelarbeit aus besprühter Pappe. Unglaublich gut gemacht. Etwa fünf Sekunden lang blieb ich stehen, erschauerte angesichts seines Blicks und auch vor Kälte, dann hastete ich weiter.

Und kam mir gleich darauf vor. Wie. Das. Größte. Arschloch.

Ich meine, ich war selbst Künstlerin, die viel zu viel Zeit und Energie in einen deprimierend langweiligen Job steckte, um ihre viel zu hohe Miete zahlen zu können und hierbleiben zu dürfen – in einer der kreativsten und wegweisendsten Kulturlandschaften der Erde. Jetzt stand vor mir auf dem Gehweg ein Kunstwerk, in dessen Gestaltung jemand unfassbar viel Mühe investiert hatte; eine Installation, an der unter Umständen mehrere Jahre getüftelt worden war, damit die Leute stehen blieben, sie betrachteten und sich Gedanken machten. Und dann komme ich vorbei und bin vom Großstadtleben so verhärtet und vom stundenlangen Pixelschubsen mental so erschöpft, dass ich einer solchen Großartigkeit noch nicht mal einen zweiten Blick schenke?

Ich erwähne das deswegen, weil ich mich sehr deutlich an diesen Moment erinnere. Jedenfalls machte ich daraufhin kehrt, ging zu der Skulptur zurück, stellte mich auf die Zehenspitzen und sah zu ihr auf.

»Was meinst du? Soll ich Andy anrufen?«

Die Skulptur sagte natürlich nichts.

»Okay, bleib einfach hier stehen, wenn das für dich klargeht.«

Also rief ich Andy an.

Vielleicht erst mal ein bisschen Hintergrundinfo zu Andy:

Kennt ihr das, wenn man eine Lebensphase abschließt und denkt: Ganz bestimmt werde ich mit diesen coolen Menschen, mit denen ich so viele Jahre verbracht, die ich wertschätze und liebgewonnen habe, weiterhin in Kontakt bleiben, selbst wenn sich unsere Wege jetzt erst mal trennen? Dabei könnte man sie eigentlich genauso gut gleich bei Facebook entfreunden, weil man die meisten von diesen Nasen in seinem ganzen Leben garantiert nie mehr wiedersehen wird. Tja, Andy, Maya und ich hatten es (bis dahin) irgendwie geschafft, diesem Schicksal zu entrinnen. In Mayas und meinem Fall lag das daran, dass wir nach wie vor dieselben siebenunddreißig Quadratmeter bewohnten. Was Andy anging, war es etwas anderes. Er wohnte am entgegengesetzten Ende der Stadt und wir hatten ihn eigentlich erst im vorletzten Studienjahr so richtig kennengelernt. Damals belegten Maya und ich in fast allen Fächern dieselben Kurse, weil wir uns … na ja, wirklich sehr gut verstanden. Deswegen taten wir uns auch immer zusammen, wenn wir Projekte mit einem Partner erarbeiten sollten. Professor Kennedy teilte den Kurs aber gern in Dreiergruppen auf, wodurch sich unser Team um ein Zufallsmitglied erweiterte. Und so blieb Andy schließlich bei uns hängen (oder wir bei ihm – das ist eine Frage der Perspektive).

Ich kannte Andy vom Sehen und hatte nur eine vage Vorstellung von ihm, die hauptsächlich darauf beruhte, dass ich mich fragte, woher dieser dürre, linkische Typ mit der druckerpapierblassen Haut eigentlich sein Selbstbewusstsein nahm. Seine Haare sahen aus, als hätte er seinem Frisör gesagt, dass er auf gar keinen Fall aussehen wollte, als wäre er jemals beim Frisör gewesen. Allerdings hatte er zu allem immer eine Meinung und seine Kommentare waren meistens witzig oder geistreich.

Bei unserem ersten gemeinsamen Projekt bestand die Aufgabe darin, ein komplettes Branding für ein fiktives Produkt zu entwickeln. Die Verpackung war optional, aber wir sollten eine Auswahl von Logos und einen Styleguide erarbeiten (ein kleines Booklet mit Gestaltungsrichtlinien für ein einheitliches Erscheinungsbild der Marke, in denen Schriften und Farben für die verschiedenen Zwecke festgelegt sind). Man konnte davon ausgehen, dass alle sich dafür irgendein hippes, zeitgeistiges Produkt ausdenken würden, so was wie eine politisch korrekte Fair-Trade-Jeans mit allerhand sinnfreien Zusatztaschen. Wobei sich die meisten letzten Endes dann doch immer für ein fiktives Craft Beer entscheiden. Studenten geben eine Menge Geld aus, um ihren Biergeschmack zu kultivieren und sich was darauf einzubilden.

Maya und ich hätten sicher auch irgendwas in dieser Richtung gemacht, wenn Andy uns nicht mit unerträglicher Hartnäckigkeit dazu überredet hätte, eine visuelle Identität für »Bubble Bum« – Kaugummi mit Arschgeschmack – zu entwickeln. Anfangs war das Ganze kaum mehr als eine kindische Idee. Nach unserem Abschluss würden wir doch sowieso keine Aufträge für wirklich heißen Scheiß bekommen, argumentierte er, weshalb es reine Energieverschwendung wäre, die Aufgabe zu ernst zu nehmen. Doch dann sagte er etwas, was uns überzeugte.

»Es ist total einfach, irgendwas Cooles cool aussehen zu lassen, deswegen überlegen sich alle coole Produkte. Logisch. Aber wie langweilig ist das? Stellt euch vor, wir würden es schaffen, etwas Bescheuertes cool aussehen zu lassen. Ein Produkt, das eigentlich gar nicht vermarktbar ist, zu etwas zu machen, das alle haben wollen. Das ist eine wahre Herausforderung. Dazu braucht man echtes Talent. Lasst uns echtes Talent beweisen!«

Ich erinnere mich so gut daran, weil ich in diesem Moment begriff, wie viel Andy wirklich draufhatte.

Als wir unser fertiges Projekt präsentierten, konnte ich nicht umhin, mich den anderen aus dem Kurs, die auf ihre Skinny Jeans und ihr Craft Beer so stolz waren, ein bisschen überlegen zu fühlen. Unser Entwurf sah aber auch wirklich cool aus. Andy war ein extrem talentierter Illustrator – was ich zwar gewusst, bis dahin aber nicht als wichtig eingestuft hatte – und zusammen mit Mayas genialem Handlettering und meiner Farbpalette legte Bubble Bum einen ziemlich geilen Auftritt hin.

So haben wir Andy also kennengelernt. Und seine Bekanntschaft stellte sich für Maya und mich in mehr als einer Hinsicht als Segen heraus. Offen gestanden war unsere junge Beziehung so intensiv, dass wir einen Dritten im Bunde brauchten, der etwas Druck rausnahm. Nach dem Bubble-Bum-Projekt, mit dem wir Professor Kennedy so beeindruckten, dass er es auf die Kurswebsite stellte, waren wir öfter als Trio unterwegs. Wir arbeiteten sogar zusammen an ein paar freien Jobs und Andy kam gelegentlich zu uns nach Hause und zwang uns, Brettspiele zu spielen. Meistens mündeten solche Abende in lange Gespräche über Politik oder unsere Träume oder Ängste. Dass er offensichtlich ein bisschen verliebt in mich war, störte niemanden; er wusste ja, dass ich in festen Händen war. Ich glaube nicht, dass Maya in ihm eine Bedrohung sah. Aus irgendwelchen Gründen nahm die Dynamik unserer Freundschaft durch den Abschluss unseres Studiums keinen Schaden und so hingen wir auch weiterhin mit diesem witzigen, schrägen, schlauen, bescheuerten Typen namens Andy Skampt ab.

Dem Andy, den ich jetzt um drei Uhr nachts anrief.

»Scheiße, April, es ist drei Uhr nachts.«

»Ich stehe hier vor einem Ding, das du dir vielleicht anschauen willst.«

»Ich könnte mir vorstellen, dass das Ding bis morgen warten kann.«

»Nein. Es ist wirklich ziemlich cool. Bring deine Kamera mit und … Scheinwerfer. Hat Jason welche?« Jason war Andys Mitbewohner. Die beiden arbeiteten daran, im Internet berühmt zu werden, streamten sich für ein winziges Publikum beim Videospielen und produzierten einen Podcast über die genialsten Sterbeszenen der TV-Geschichte, den sie auch als Video auf ihren YouTube-Channel stellten. In meinen Augen litten sie an dieser unheilbaren Krankheit, an der viele Söhne wohlhabender Eltern leiden, die sich trotz einer erdrückenden Menge von Gegenbeweisen einbilden, die Welt bräuchte unbedingt noch einen lustigen Podcast von irgendwelchen weißen Nerds. Das klingt hart, aber so habe ich das damals gesehen. Mittlerweile weiß ich natürlich, wie leicht man sich unbedeutend fühlt, wenn einem niemand zuschaut. Außerdem habe ich mir ein paar Folgen von Slainspotting angehört und muss zugeben, dass das Format wirklich ziemlich witzig ist.

»Moment mal … Worum geht es hier überhaupt? Was soll ich machen?«, fragte er.

»Ich sag dir, was du machst: Du kommst zum Gramercy Theatre und bringst so viel von Jasons Videoausrüstung mit, wie du tragen kannst. Du wirst es nicht bereuen, also denk noch nicht mal daran, das Virtual Reality Hentai weiterzuspielen, aus dem ich dich gerade rausgerissen habe … das hier ist besser. Versprochen.«

»Das sagst du so einfach, aber hast du jemals Cherry Blossom Fairy Five gespielt, April May?«

»Ich lege jetzt auf und du bist in fünf Minuten hier.«

Ich legte auf.

Mehrere Leute, die nicht Andy waren, gingen an mir vorbei, während ich auf ihn wartete. New York ist nicht mehr das, was es mal war, keine Frage, aber es ist immer noch die Stadt, die niemals schläft. Allerdings leben die Leute in dieser Stadt nach dem Prinzip: »Das hier ist der Acker, auf dem ich den Scheiß anbaue, den ich auf das gebe, was du machst. Siehst du da irgendwas wachsen? Nein? Eben.« Sie bedachten die Skulptur mit einem kurzen Blick und gingen dann genauso ungerührt weiter, wie ich es eben um ein Haar getan hätte. Ich versuchte beschäftigt auszusehen. Manhattan ist ein ziemlich sicheres Pflaster, aber das heißt nicht, dass eine Dreiundzwanzigjährige, die nachts um drei allein auf einer Straße rumsteht, nicht über kurz oder lang von irgendwem belästigt wird.

Die nächsten Minuten verbrachte ich also damit, mir dieses Ding etwas genauer anzuschauen. In Manhattan ist es nie wirklich dunkel, und um mich herum gab es diverse Lichtquellen, aber die Schatten und die schiere Größe der Figur machten es schwierig, sie in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Sie war massiv, vermutlich wog sie mehrere Hundert Kilo. Ich zog einen Handschuh aus und strich über das Metall, das sich überraschenderweise nicht kalt anfühlte, wobei es auch nicht direkt warm war … dafür aber sehr hart. Als ich auf die Hüfte klopfte, ertönte kein hohler, hallender Klang, wie ich erwartet hatte, sondern ein dumpfes Klonk gefolgt von einem leisen Summen. Mir kam der Gedanke, dass womöglich genau das die Absicht des Künstlers oder der Künstlerin gewesen war: die New Yorker dazu zu bringen, mit diesem Objekt Kontakt aufzunehmen und damit zu interagieren … es zu erforschen. Kunststudenten denken viel über Ziele und Intentionen nach. Das ist so was wie ein voreingestelltes Grundprogramm, das ganz automatisch abläuft: KUNSTSEHEN —> KUNSTANALYSIEREN.

Irgendwann hörte ich auf zu analysieren und begann das Kunstwerk auf mich wirken zu lassen. Ich fand es umwerfend. Nicht nur als schöpferische Leistung, sondern auf die Art, wie gute Kunst funktioniert, indem man sie eben auch einfach nur genießen kann. Diese Skulptur war anders als alles, was ich bis dahin gesehen hatte, und dabei sehr mutig in ihrer »Transformerhaftigkeit«. Ich selbst hätte mich niemals getraut, Kunst zu machen, die optisch an einen Mecha Robot erinnert. Wer möchte sich schon dem Vorwurf aussetzen, sich am Mainstream orientiert zu haben? Das ist aus künstlerischer Sicht das schlimmstmögliche Schicksal.

Diese Skulptur war allerdings noch in anderer Hinsicht bemerkenswert. Sie hatte etwas schwer fassbar Andersartiges, das ich so noch in keinem Kontext erlebt hatte. Ich war völlig in ihren Anblick vertieft, als Andy mich aus meinen Gedanken riss.

»Scheiße … was …?« Er schleppte einen Rucksack, hatte drei Kameragurte umhängen und trug zwei Stative unter dem Arm.

»Jep«, sagte ich gelassen.

»Das. Ist. Richtig. GEIL.«

»Ich weiß. Das Tragische ist, dass ich fast daran vorbeigegangen wäre. Ich hab wie eine echte New Yorkerin gedacht: ›Hey, cooles Teil‹ und bin weitergehetzt. Aber dann ist mir aufgefallen, dass ich bisher nirgendwo irgendwas darüber gehört oder gelesen habe. Und da ich weiß, dass du immer auf der Suche nach dem ultimativen viralen Hit bist, musste ich an dich denken. Deswegen hab ich für dich darauf aufgepasst.«

»Verstehe. Du hast also dieses riesengroße, attraktive, muskelbepackte Meisterwerk gesehen und an wen musstest du sofort denken? An ANDY Skampt!« Er bohrte sich die Daumen in seine knochige Brust.

»LOL«, sagte ich sarkastisch. »Ich hab vor allem gedacht, ich tu dir einen Gefallen, also wie wär’s mit ein bisschen Dankbarkeit?«

Ohne sich seine Enttäuschung zu sehr anmerken zu lassen, hielt er mir eines der Stative hin. »Na gut, dann lass uns schnell aufbauen, damit wir loslegen können, bevor jemand von Channel 6 besoffen vorbeistolpert und uns die Story wegschnappt.«

Innerhalb von ein paar Minuten strahlte ein akkubetriebener LED-Scheinwerfer, die Kamera war einsatzbereit und Andy befestigte sich ein kleines Ansteck-Mikro am Kragen. Er sah nicht mehr so bescheuert aus wie zu unseren Unizeiten, hatte seine albernen Basecaps entsorgt und seine zottelige (oder einfach nur ungewöhnliche) Frisur zugunsten eines kurzen, gewellten Schnitts aufgegeben, der gut zu seinem Gesicht passte. Aber obwohl wir praktisch gleich alt waren und er mich um zwanzig Zentimeter überragte, sah er immer noch fünf Jahre jünger aus als ich.

»April?«, sagte er.

»Ja.«

»Meinst du nicht, es wäre besser, wenn du das machst?«

Ich könnte mir vorstellen, dass ich darauf mit einem verwirrten Grunzen reagiert habe.

»Vor der Kamera, meine ich.«

»Alter, das ist dein Traum, nicht meiner. Ich kenne mich mit diesem ganzen YouTube-Kram nicht aus.«

»Es ist nur …« Ich habe ihn später nie darauf angesprochen, aber rückblickend halte ich es für möglich, dass er damals schon eine Ahnung gehabt haben könnte, dass das ein wirklich großes Ding werden würde. Natürlich nicht so groß, wie es dann tatsächlich wurde, aber doch groß.

»Glaub bloß nicht, dass du dich bei mir irgendwie beliebt machen kannst, indem du mir zu Internet-Ruhm verhilfst. Danke nein, null Interesse.«

»Kann sein, aber du hast vor allem null Ahnung, wie man eine Kamera bedient.« Ich merkte ihm an, dass das nicht der wahre Grund war, verstand aber nicht, warum er nach einer Ausrede suchte.

»Ich weiß vielleicht nicht, was man hinter der Kamera macht, aber genauso wenig weiß ich, was man davor macht. Du und Jason, ihr filmt euch die ganze Zeit für eure Netzgemeinde. Ich bin noch nicht mal richtig bei Facebook.«

»Du bist bei Instagram.«

»Das ist was anderes.« Ich grinste schief.

»Ist es nicht. Ich merke doch, wie viel Mühe du dir mit deinen Posts gibst. Mir machst du nichts vor, April. You’re a digital Girl in a digital World. Wir sind alle geborene Selbstdarsteller.«

Gott segne Andy für seine Offenheit. Natürlich hatte er recht. Ich redete mir zwar ein, dass mir die sozialen Medien nicht wichtig wären, und schaute mir tatsächlich lieber Ausstellungen an als einen Twitter-Feed, aber ich lebte nicht so netzfern, wie ich es mir vielleicht gewünscht hätte. Meine demonstrativ zur Schau getragene Verachtung gegenüber sorgfältig ausgefeilten Internet-Profilen war Bestandteil meines eigenen sorgfältig ausgefeilten Internet-Profils. Trotzdem spürte ich, dass das nicht wirklich der Punkt war.

»Worum geht es hier wirklich, Andy?«

»Na ja, ich …« Er holte tief Luft. »Ehrlich gesagt glaube ich, dass es für denjenigen, der dieses Kunstwerk geschaffen hat, besser wäre, wenn du es vorstellst. Ich bin eine Witzfigur. Ich weiß doch, wie ich aussehe. Mich nimmt niemand ernst. Bei dir ist das was anderes. Mit deinem Outfit und deinen Wangenknochen wirkst du wie eine Künstlerin. Du wirkst, als wüsstest du, wovon du redest. Du weißt, wovon du redest, und du machst das echt gut. Bei mir würden alle denken, das Ganze wäre ein Gag. Abgesehen davon hast du dieses Ding entdeckt. Ich hab einfach das Gefühl, dass es korrekter wäre, wenn du vor der Kamera stehst.«

Er hatte insofern recht, als ich im Gegensatz zu den meisten Leuten, mit denen ich den Abschluss in Design gemacht hatte, wirklich viel über Kunst nachdachte. Falls ihr euch fragt, was der Unterschied zwischen beidem ist, würde ich sagen, dass wahre Kunst ausschließlich um ihrer selbst willen existiert. Design ist Mittel zum Zweck. Als Designerin ist man weniger Künstlerin als Ingenieurin für visuelle Konstruktionen. Zu Beginn meines Studiums habe ich mich ganz auf die Kunst konzentriert, aber nach dem ersten Semester wurde mir klar, dass ich eines Tages vielleicht doch einen Job haben wollte. Also wechselte ich zu Kommunikationsdesign, stellte aber schnell fest, dass ich alles, was mit Werbung zusammenhing, hasste, weshalb ich noch ein paarmal wechselte, bis ich schließlich einknickte und mich für Produktdesign entschied. Trotzdem verwendete ich weitaus mehr Zeit und Energie darauf, über die New Yorker Kunstszene auf dem Laufenden zu bleiben, als meine Kollegen aus den Designkursen. Die Kunst war der Grund, warum ich unbedingt in dieser Stadt bleiben wollte. Das hört sich jetzt vielleicht dumm an, aber allein die Tatsache, dass ich mit Anfang zwanzig in New York lebte, gab mir das Gefühl, nicht mehr ganz so unbedeutend zu sein. Wenn ich auch keine echte Kunst machte, schaffte ich es zumindest, hier in New York als Kreative zu überleben, und hatte es damit im Vergleich zu meinen Eltern mit ihrem Melkzubehörhandel schon recht weit gebracht.

Nachdem Andy nicht lockerließ, entschied ich irgendwann, dass es albern war, mich so anzustellen. Also fädelte ich mir das Mikro, dessen Kabel warm war von Andys Haut, unter meinen Pulli. Der Scheinwerfer leuchtete mir so grell in die Augen, dass ich die Kameralinse kaum sah. Es war eiskalt, ein leichter Wind wehte, wir standen allein auf dem Gehweg.

»Bist du so weit?«, fragte er.

»Gibst du mir noch das Mikro?« Ich zeigte auf den offenen Rucksack am Boden.

»Brauchst du nicht. Das Lav ist echt der Hammer.«

Ich ahnte, dass er das Ansteckmikrofon meinte, auch wenn ich den Begriff noch nie gehört hatte. »Nein, nur als Requisit, um … ihn … zu interviewen?«

»Ah … Verstehe. Cool.« Er bückte sich und reichte es mir.

»Okay«, sagte ich.

»’kay. Läuft.«

Kapitel zwei

»’kay. Läuft.«

Ihr alle habt Andy diese Worte sagen hören … Falls ihr ein Mensch seid, der irgendwann Zugang zum Internet gehabt hat, werdet ihr sie ihn sagen gehört haben. Ob ihr Englisch sprecht oder nicht. Ob ihr selbst ein internetfähiges Gerät besitzt oder nicht. Egal, ob ihr ein chinesischer Milliardär seid oder ein neuseeländischer Schafzüchter, ihr habt sie gehört. Militante Rebellen in Nepal haben sie gehört. Dieses Video ist das meistgesehene Video aller Zeiten. Es ist öfter geklickt worden, als Menschen auf der Erde leben. Google schätzt, dass »New York Carl« von 94 Prozent aller derzeit lebenden Menschen gesehen wurde. Und vermutlich von vielen, die mittlerweile gestorben sind.

Nachdem Andy das Video bearbeitet hatte, war das Ergebnis ungefähr Folgendes:

Ich bin ein Wrack, seit zweiundzwanzig Stunden auf den Beinen, kaum geschminkt, und weil der Start-up-Dress-Code lautet: »Äußerlichkeiten sind uns egal«, habe ich mir eine Jeansjacke über mein weißes Hoodie gezogen und trage eine Jeans mit zerlöcherten Knien, was nicht gerade dazu beiträgt, mich warm zu halten. Meine schwarzen Haare hängen mir offen auf die Schultern, das Licht blendet, und ich muss mich zusammenreißen, um nicht zu sehr zu zwinkern. Trotzdem sehe ich gar nicht mal so übel aus. Vielleicht habe ich das Video auch einfach nur schon so oft gesehen, dass ich mir selbst nicht mehr peinlich bin. Meine Augen sind so dunkel, dass es sogar tagsüber wirkt, als hätte ich riesige Pupillen. Meine Zähne strahlen im Licht von Jasons Scheinwerfer. Erstaunlicherweise wirke ich trotz allem total fit. Ihr kennt das – Schlafmangel putscht auf. Meine Stimme ist heiser.

»Hallo! Ich bin April May und stehe an der Ecke 23. Straße und Lexington mit einem eigentümlichen Besucher, der unangemeldet in der Stadt aufgetaucht ist. Er muss irgendwann heute Nacht kurz vor drei hier eingetroffen sein und hütet seitdem wie der Wächter einer uralten unbekannten Zivilisation den Eingang zum Chipotle Mexican Grill neben dem Gramercy Theatre. Sein eisig starrender Blick hat etwas merkwürdig Tröstliches, weil – geben wir es ruhig zu – von uns doch keiner wirklich weiß, was wir mit unserem Leben anfangen sollen … anscheinend noch nicht mal dieser über drei Meter große Metallkrieger. Zieht euch das Leben auch manchmal runter? Macht euch deswegen keinen Stress … ihr seid sowieso bedeutungslos! Ich überlege gerade, ob ich mich sicherer fühle, weil er über mich wacht. Kann ich nicht behaupten, nein! Aber vielleicht geht es ja auch gar nicht darum, dass irgendwer sich sicher fühlen soll.«

Ein Paar, das nach einer langen Nacht heimwärts trottete, kam an mir vorbei, während ich das sagte. Beide schauten über die Schulter zurück, achteten aber mehr auf die Kamera als auf den gigantischen ROBOTER.

Plötzlich ändert sich der Kamerawinkel abrupt (was daran liegt, dass ich ein paar Sekunden wie eine Idiotin rumgestammelt habe, weil ich keine Ahnung hatte, was ich noch sagen sollte. Andy hat das später rausgeschnitten).

»Er heißt Carl! Hallo, Carl.« An dieser Stelle recke ich mich auf Zehenspitzen zu ihm hoch und halte ihm das Mikro hin. Ich bin klein, gerade mal eins achtundfünfzig, was Carl noch größer erscheinen lässt. Carl schweigt.

»Verstehe. Du bist kein Roboter der vielen Worte, dafür spricht deine Erscheinung Bände.«

Noch ein Schnitt, jetzt blicke ich wieder in die Kamera. »Carl, bewegungslos, massiv und bei Berührung merkwürdig warm. Ein drei Meter großer Roboter, den die New Yorker offenbar nicht sonderlich spannend finden.«

Schnitt.

»Wofür halten sie ihn wohl? Eine Kunstinstallation? Ein Hobby-Modellbauprojekt, das zusammen mit seinem Schöpfer auf die Straße gesetzt wurde, weil der mit der Miete im Rückstand war? Das vergessene Requisit irgendwelcher Dreharbeiten? Hat sich die Stadt, die niemals schläft, zu einer Stadt entwickelt, deren Bewohner zu cool sind, um selbst für die irrsten Dinge noch Interesse aufzubringen? Ah, Moment. Gerade sehe ich einen jungen Mann, der stehen geblieben ist. Fragen wir ihn doch, was er von Carl hält.«

Schnitt zu Andy, dem ich das Fake-Mikro jetzt entgegenstrecke.

»Hi. Du bist …?«

»Andy Skampt.« Aus irgendeinem Grund wirkt Andy nervöser als ich.

»Und du kannst bestätigen, dass hier ein über drei Meter großer Roboter vor dem Chipotle steht?«

»Kann ich, ja.«

»Und kannst du auch bestätigen, dass das, was du siehst, ganz und gar nicht normal ist?«

»Mhm-mhm, ja.«

»Was glaubst du, was das zu bedeuten hat?«

»Ich hab keine Ahnung, aber irgendwie macht Carl mir Angst.«

»Danke, Andy.«

Schnitt.

»Tja, so ist das, liebe Weltbürger. Da steht plötzlich ein angsteinflößender und sich leicht warm anfühlender, gigantischer Robotermann mitten in New York und erweist sich aufgrund seiner Untätigkeit doch höchstens als interessant genug für ein einminütiges Video.« Während ich das sage, sieht man in Nahaufnahme den Roboter, der trotz seiner Starrheit unter der Oberfläche zu vibrieren und vor Energie zu knistern scheint.

Die ganze Zeit vor der Kamera dachte ich an den Künstler oder die Künstlerin, die ihn erschaffen hatte. Eine verwandte Seele, die ihr ganzes Herzblut für ein wirklich erstaunliches Kunstwerk hingegeben hatte, das – wie es aussah – von der Welt vollkommen ignoriert wurde. Ich versuchte mich in sie hineinzuversetzen. Fragte mich, wie sie oder er auf die Idee gekommen war, dieses Ding zu bauen, und stellte im gleichen Atemzug die Welt wegen ihrer rücksichtslosen Ignoranz von Schönheit und Form zur Rede. HALLO, NEW YORKER?! WÜRDET IHR GEFÄLLIGST MAL WÜRDIGEN, WAS FÜR EIN SCHEISSCOOLES TEIL DAS IST! Ich wollte, dass die Leute aufwachten und wenigstens ein paar Momente damit verbrachten, sich dieses außergewöhnliche Produkt menschlicher Schöpfungskraft anzusehen. Was im Rückblick natürlich zum Schreien komisch ist.

»Meinst du, das war gut so?«

»Das war super! Absolut genial. Du bist klug und umwerfend und das Netz wird dich lieben.«

»Genau, was ich mir immer gewünscht habe«, sagte ich trocken. »Ich bin plötzlich wahnsinnig müde.«

»Ja, das glaub ich dir. Warum bist du um die Zeit überhaupt noch wach?«

»Abgesehen von dem da?« Ich zeigte auf den Roboter. »Ach, na ja, du weißt schon. Mal wieder große Krise und alle Mann mussten an Deck.«

»Wenigstens hast du einen Job.«

Andy versuchte sich als Freelancer, was man machen konnte, wenn man keine Studienkredite abzahlen musste, weil man der Sohn eines stinkreichen Medienrechtsanwalts aus Hollywood war.

Das Thema Carl war jedenfalls erst mal erledigt. Andy schoss noch ein paar Close-ups, während ich über meine Arbeit jammerte und er mir von einem neuen Auftraggeber erzählte, der ein Logo wollte, das »irgendwie computermäßiger« aussah. Ich kletterte sogar noch auf Andys Schultern, um die Kamera so nah wie möglich und ohne zu wackeln an das Gesicht des Roboters zu halten, damit Andy kostbares »B-Roll-Material« bekam. Aber wir redeten bloß über unsere Arbeit und das Leben und als wir auf die Uhr schauten, war es fast vier.

»Tja, das war eine echt verdammt merkwürdige Aktion, April May. Danke, dass du mich in die Eiseskälte der Nacht rausgescheucht hast, um ein Robotervideo mit dir zu drehen.«

»Danke, dass du gekommen bist. Und nein, ich gehe nicht mehr mit zu dir, um dir beim Schneiden zuzuschauen. Ich gehe ins Bett. Wenn du mich vor morgen Mittag anrufst, werde ich dich auf dem spitzen Stachel pfählen, den Carl auf dem Kopf trägt.«

»Es war mir wie immer ein Vergnügen.«

»Wir sehen uns morgen.«

Auf der Fahrt nach Hause schaltete ich mein Handy in den Nicht-Stören-Modus. So gut wie in dieser Nacht habe ich danach wahrscheinlich bis zu meinem Tod nicht mehr geschlafen.

Kapitel drei

Ich wachte gegen zwei Uhr nachmittags auf, nachdem ich so tief geschlafen hatte, dass ich nicht mal mitbekommen hatte, wie Maya aufgestanden war. Sie zog die Sanft-anklopfen-und-dabei-die-Tür-öffnen-Nummer ab, was mich nervte und gleichzeitig irgendwie auch rührte, und brachte mir einen Becher Kaffee. Das Zimmer war angenehm unordentlich, genau wie ich es mag. Auf dem Boden lagen ein paar Klamotten, auf dem Schreibtisch standen etwas zu viele benutzte Tassen und auf dem Nachttisch stapelten sich viel zu viele Bücher.

Ich verstehe diese Leute nicht, die um sich herum ständig Ordnung brauchen. Eine in regelmäßigen Abständen durchgeführte Grundreinigung ist weitaus effektiver als andauerndes Aufräumen. Außerdem arbeitet mein Gehirn im Chaos besser. Es ist mir fast ein Bedürfnis, die Welt um mich herum durcheinanderzubringen, um klare Ideen zu entwickeln. Schlichtheit im Design, komplettes Desaster auf allen anderen Gebieten. Quasi mein Arbeitsethos. Wobei mich Maya natürlich davor bewahrte, vollkommen aus dem Ruder zu laufen.

Maya war von ihrer Persönlichkeit her weitaus aufgeräumter als ich, aber Ordnungsfanatikerinnen waren wir beide nicht, was unser Zusammenwohnen vereinfachte. Offensichtlich war sie schon seit Stunden wach, denn sie hatte sich eine aufwendige Steckfrisur gezaubert, deren Aufbau für mich nicht nachvollziehbar war. Geschminkt war sie auch. Das bedeutete, dass sie nachher vermutlich noch irgendwas Wichtiges vorhatte. Höchstwahrscheinlich hatte sie mir sogar davon erzählt, aber wenn, dann erinnerte ich mich nicht mehr daran. Vielleicht ein Meeting mit einem Kunden? Maya war die Einzige von uns, die einen Job in einer echten Designagentur gefunden hatte. Zwar verdiente sie nicht viel, hatte aber zumindest schon mal den Fuß in der Tür.

Abgesehen davon, dass Maya in Haushaltsdingen organisierter war als ich, hatte sie auch das Beziehungsding besser drauf. Alles, was unser Verhältnis verkrampft und kompliziert machte, kam von mir. Sobald es mir zu ernst wurde, lenkte ich schleunigst vom Thema ab. Wenn ich nicht so schwierig gewesen wäre, hätten wir schon längst »zusammengelebt«.

»Ich hab dir einen Kaffee gemacht«, sagte sie leise, um mich nicht zu wecken, sollte ich doch noch schlafen.

»Und obwohl wir schon jahrelang im selben Apartment wohnen, ist dir nicht aufgefallen, dass ich nie Kaffee trinke?«

»Nie stimmt nicht.« Sie stellte den Becher auf den Nachttisch. »An sehr, sehr beschissenen Tagen schon.«

Ich drehte mich mit einem großen Fragezeichen im Gesicht zu ihr um, als sie sich aufs Bett setzte.

»April, diese Robotergeschichte ist ein bisschen ausgeartet.«

»Du weißt von Carl?«

Sie verdrehte die Augen. »Warum hast du ihm so einen dämlichen Namen gegeben?«

»Du weißt von Carl.« Diesmal war es eine Feststellung.

»Ich weiß von Carl …«

»Nervt Andy etwa?«, unterbrach ich sie gereizt. Es ärgerte mich, dass er noch nicht mal bis zum Mittag … oder eben Nachmittag hatte warten können.

»Unterbrich mich nicht. Ich hab dich schlafen lassen, also lass du mich reden. Andy flippt aus und ruft jede halbe Stunde hier an. Du sollst dir deine Mails anschauen. Er meint, du hättest mehrere wichtige Nachrichten, darunter auch welche von lokalen Nachrichtensendern und diversen Redakteuren und Agenten. Ich bin zwar auch der Meinung, dass du dich damit auseinandersetzen solltest, denke aber, dass es keinen Grund gibt, irgendwas zu überstürzen.«

Maya ist die effizienteste Rednerin, der ich je begegnet bin. Es kam mir immer so vor, als würde sie alles druckreif im Kopf aufschreiben und dann ablesen. Ihrer Meinung nach hing das mit ihrem Schwarzsein in Amerika zusammen.

»Jeder Schwarze, der viel mit Weißen zu tun hat, wird früher oder später in die Rolle des Sprachrohrs für sämtliche Schwarzen gedrängt«, hat sie mir mal eines Nachts gesagt, als es eigentlich schon zu spät zum Reden war. »Das nervt, weil es scheiße ist, aber man muss darauf natürlich irgendwie reagieren. Mich macht es so nervös, dass ich mit allem, was ich von mir gebe, wahnsinnig vorsichtig bin. Ich weiß, dass ich nicht jeden schwarzen Menschen dieses Landes repräsentiere, aber weil viele Leute das denken, spüre ich trotzdem eine Riesenverantwortung.«

Ich wusste damals noch nicht, wie ich mit diesem Thema umgehen sollte. Ich bin weiß und in einer extrem weißen Umgebung aufgewachsen, weshalb ich das sagte, von dem ich gehört hatte, dass man es in solchen Situationen sagt: »Das klingt ganz schön hart.«

»Ja«, antwortete sie. »Irgendeine Härte hat jeder. Danke.«

»Gott. Hoffentlich hast du nicht das Gefühl, dass du bei mir alle Schwarzen repräsentieren musst«, sagte ich. »Ich hoffe, du überlegst dir nicht immer zweimal, was du zu mir sagst.«

»Nein, April.« Sie war lange still, bevor sie weiterredete. »Bei dir hat es andere Gründe, warum ich mir immer zweimal überlege, was ich sage.«

Ich hatte zu viel Angst zu fragen, wie sie das genau meinte, also küsste ich sie und dann schliefen wir.

Ihre Fähigkeit, Dinge auf den Punkt zu bringen, war jedenfalls enorm hilfreich für den Erhalt unserer Beziehung, die ich unterbewusst immer in einem Schwebezustand zwischen durchaus ernsthaft und zugleich doch unverbindlich hielt. Maya war in der Lage, mit ihren Augen und ihrem Körper zu kommunizieren, tat es aber meistens mit dem Mund. Ich hatte nichts dagegen.

»Maya«, war alles, was ich herausbekam, bevor sie mir sanft den Zeigefinger auf die Lippen legte.

»Ähm …«, sagte ich an ihrem Finger. »Ist das jetzt eine Einladung zum Sex?«

»Nein. Du trinkst jetzt deinen Kaffee und liest deine Mails und redest nicht mit mir oder irgendjemand anderem, bevor du dir nicht die Zähne geputzt hast. Man kann nämlich die Trillionen von Mikroorganismen riechen, die sich in deiner Mundhöhle breitgemacht haben. Ich hab dir dein Handy weggenommen, du kriegst es wieder, wenn du deine Mails gelesen hast.«

Und mit diesen Worten stand sie vom Bett auf, ohne mir auch nur einen Kuss gegeben zu haben.

»Aber ich …«

»Nicht reden. Lesen!«, schnitt sie mir das Wort ab, als sie aus dem Zimmer ging und die Tür schloss.

Zehn Minuten später saß ich etwas aufgefrischter mit dem Laptop im Bett. Gelesene Mails waren blau, ungelesene weiß – ich scrollte fünf Bildschirme voll ungelesener Nachrichten mit höchster Priorität runter, bis wieder blaue kamen. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, also tippte ich erst mal [email protected] in die Suchzeile, danach sah alles ein bisschen übersichtlicher aus. Eine der fünfzehn Mails von Andy hatte den Betreff »DIEHIERZUERSTLESEN«, eine andere »DIEHIERERSTNACHDERERSTENMAILLESEN«. Bei einer dritten Mail, die er danach abgeschickt hatte, lautete er: »NEIN! DIEHIER! LIESDIEHIERZUERST!«

Hier sind sie, direkt aus meinem Mailprogramm kopiert.

Betreff: NEIN! DIE HIER! LIES DIE HIER ZUERST!

 

Es tut mir total leid, dass alle Mails, die ich dir heute schicke, so klingen, als wären sie panisch in einem Anfall geistiger Umnachtung geschrieben worden. Mir ist unsere Freundschaft wirklich sehr wichtig. Lass uns versuchen, das nicht zu vergessen.

 

Andy

 

 

Betreff: DIE HIER ZUERST LESEN

 

Okay, oh Mann. Wow. Ich fasse mal schnell zusammen, was in den letzten sechs Stunden passiert ist. Also alles, was nicht Spekulation ist. Carl ist nicht nur in New York gesichtet worden. In ungefähr jeder größeren Stadt der Welt steht einer. Insgesamt sind von Peking bis Buenos Aires bis jetzt vierundsechzig Carls gezählt worden. Alle standen ohne Vorankündigung plötzlich da. Das Internet ist voll mit Fotos und Videos aus allen möglichen Ländern, aber aus irgendeinem Grund geht vor allem unser Video bei YouTube ab wie eine Rakete. Das Ganze scheint so was wie ein internationales Street-Art-Projekt zu sein, und du/wir (?) waren die Ersten, die darüber berichtet haben. Niemand hat gesehen, wie die Carls aufgestellt wurden, und anscheinend gibt es auch nirgendwo Material von irgendwelchen Überwachungskameras. Es wird bestimmt nicht lang dauern, bis wir was zu sehen bekommen, aber im Moment gibt es in der Richtung noch nichts.

Alle bezeichnen sie als »Carls«, weil keiner weiß, wie man sie sonst nennen soll. Ist ja nicht so, als gäbe es irgendwo eine Tafel mit einer Erklärung der Künstler zu ihrem Werk. Unser Video läuft ständig auf sämtlichen Nachrichtenkanälen (übrigens ohne Genehmigung). Mehrere Sender haben mich wegen der Ausstrahlungsrechte kontaktiert. Das Video ist bei YouTube jetzt schon ÜBEREINEMILLIONMAL gesehen worden! Die Leute lieben dich!

 

Lies nicht die Kommentare.

 

Ich war ganz früh morgens noch mal bei unserem Carl, um ihn mit einer besseren Kamera bei Tageslicht zu filmen, bevor der Wirbel so richtig losgeht. Jetzt ist da draußen die Hölle los. Carl ist die volle Touristenattraktion!

Ich hab nicht geschlafen, seit du mich angerufen hast, und es fühlt sich an, als würde ein kleiner Hund von innen an meinen Augäpfeln nagen.

 

Andy

 

 

Betreff: DIE HIER ERST NACH DER ERSTEN MAIL LESEN

 

Also … du weißt ja, dass mein Vater Anwalt ist? Das kommt jetzt vielleicht ein bisschen komisch, aber … »unser« Video hat schon über eine Million Aufrufe, was bedeutet, dass Geld fließt und wir uns irgendwie darüber unterhalten müssen, wie wir es aufteilen.

Da es schwierig ist, exakt festzustellen, wer jetzt genau was zu dem Video beigetragen hat, und es mit ziemlicher Sicherheit keiner von uns ohne den anderen gedreht hätte, schlage ich dir vor, dass wir die mit dem Video erzielten Einkünfte 50/50 teilen. Dieselbe Verteilung schlage ich für die Besitzrechte an meinem YouTube-Channel »Skamper2001« vor, den ich als Elfjähriger so genannt habe, was ich für den Rest meines Lebens bereuen werde. Außerdem schlage ich vor, dass wir künftige Videos über den/die Carl(s) immer zusammen produzieren sollten, aber darüber können wir noch mal in Ruhe reden.

 

Ich habe meinen Vater gebeten, einen Vertrag aufzusetzen, in dem festgelegt ist, dass wir jeweils 50% an den Videorechten besitzen, weshalb uns jeweils 50% der damit erzielten Einkünfte zustehen. Das bedeutet dann automatisch auch, dass ich nicht ohne deine Einwilligung darüber verfügen kann und umgekehrt. Ich weiß, dass das irgendwie doof ist, aber er ist der Anwalt, und anscheinend muss das so sein. Ich soll dir ausrichten, dass du dich gerne von ihm juristisch vertreten lassen kannst, falls wir uns entschließen, die ganzen großen Networks zu verklagen, weil sie unser Video ohne Genehmigung ausgestrahlt haben. Ich hab ihm gesagt, er soll nicht gleich Vollgas geben, also fährt er momentan noch mit angezogener Handbremse.

 

Zu deiner Info: Bis jetzt haben wir mit dem Video ungefähr zweitausend Dollar verdient. Wir sind also praktisch … reich!

 

Andy

Als ich die restlichen Nachrichten in meinem Posteingang überflog, bereute ich es, dass ich auf der Website mit meinem Portfolio auch meine Mail-Adresse angegeben hatte. Ziemlich viele kamen tatsächlich von Agenten aus der Medienbranche. Ein paar Leute schrieben, wie toll ihnen das Video gefallen hätte. Andere zählten auf, was ich bezüglich meines Aussehens und meines Auftretens in einem YouTube-Video anders und besser hätte machen können, und fragten, warum ich das nicht getan hatte.

Eine Mail war darunter, die weitaus gruseliger war als nur normal gruselig wie die anderen. Es ist echt erstaunlich, wie sehr ein einzelner bösartiger, manipulativer Mensch einen verunsichern kann, selbst wenn man ihn gar nicht kennt und (hoffentlich) nie kennenlernen wird. Wahnsinn, welche Macht wir alle – jeder von uns – theoretisch über vollkommen Fremde haben, wie mühelos wir dafür sorgen können, dass sich jemand verdammt mies, ohnmächtig und bedroht fühlt. Es war zwar nicht das erste Mal, dass jemand versucht hat, mich fertigzumachen, aber es war das erste Mal, dass es im Internet passierte. Das Ganze war so hässlich, dass es ausreichte, mich einen kurzen Moment lang überlegen zu lassen, ob ich mich nicht aus der Geschichte ausklinken sollte. Aber der Moment war wirklich nur ganz kurz.

Von meinem Vater hatte ich auch Post (genauer gesagt von meinen beiden Eltern, die niedlicherweise immer im Team schreiben. Ich schwöre, die beiden sitzen nebeneinander auf der Couch und tippen abwechselnd, als wäre das so eine Art Gruppenchat. Eigentlich müsste man extra für sie Tablets mit zwei Tastaturen erfinden). Es war eine lange Nachricht mit dem Inhalt, dass sie das Video großartig fänden, dass ich ganz schön müde aussähe, dass sie es nicht erwarten könnten, mich auf Toms Hochzeit zu sehen, und ob ich auch genug Schlaf bekäme.

Die einzige Mail, die für diese Geschichte längerfristig wichtig ist, trug den Betreff: »Habe ich das richtig verstanden, dass er sich warm angefühlt hat?« Ich kopiere sie direkt mal hier rein.

Betreff: Habe ich das richtig verstanden, dass er sich warm angefühlt hat?

 

Hallo April May,

 

ich heiße Miranda Beckwith und schreibe gerade meine Masterarbeit in Materialwissenschaften an der UC Berkeley. Heute Morgen habe ich dein sehr unterhaltsames, aber auch sehr interessantes Video gesehen. Besonders faszinierend fand ich, dass du erwähnt hast, Carl würde sich »warm« anfühlen. Ich kann mir vorstellen, dass in deinem Leben gerade irrsinnig viel los ist, aber da ich mich mit Werkstoffen ziemlich gut auskenne und Carl im Video gesehen habe, wollte ich dir schreiben, wie ungewöhnlich es ist, dass du ihn als warm beschrieben hast.

Carls glänzende, harte Rüstung sieht aus, als würde sie aus Metall bestehen, das aber grundsätzlich eine hohe Wärmeleitfähigkeit aufweist. Nachdem es im Januar in New York in der Regel ziemlich kalt ist, müsste man also normalerweise davon ausgehen, dass sich seine Außenhülle entsprechend der Umgebungstemperatur eiskalt anfühlen würde. Ich entnehme den Berichten über die Carls, dass sie extrem schwer sind, weshalb ich mir nicht vorstellen kann, dass sie aus beschichtetem Kunststoff hergestellt sind. Allerdings kenne ich kein glänzendes, schweres Material, das nicht Metall ist und damit nicht auch wärmeleitfähig.

Falls Carl sich wirklich warm angefühlt hat, ist es wahrscheinlich, dass sich in seinem Inneren irgendeine Art von Energiequelle befindet, die ihn erwärmt.

Hier in der Bay Area steht zwar auch ein Carl, aber ich halte es für zunehmend unwahrscheinlicher, dass ich Gelegenheit bekommen werde, ihn näher zu untersuchen, weshalb ich dich gerne bitten würde, mir eine neugierige Frage zu beantworten. Hat sich Carl auf die Art warm angefühlt, wie sich Styropor warm anfühlt? Oder eher wie ein heißer Kaffeebecher?

Ist dir sonst noch etwas aufgefallen, das diese mysteriöse Unstimmigkeit erklären könnte?

 

Ich danke dir für deine Mühe und habe vollstes Verständnis, falls du keine Zeit findest, mir zu antworten.

 

Miranda

Das war die einzige Mail, auf die ich an diesem ersten Tag reagiert habe.

Betreff: AW: Habe ich das richtig verstanden, dass er sich warm angefühlt hat?

 

Hallo Miranda,

 

danke für deine Mail! Es gibt so viel an Carl, was ungewöhnlich ist, dass mir dieser Punkt gar nicht so aufgefallen ist, aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, muss ich sagen, dass das wirklich total merkwürdig ist. Also: Er hat sich nicht wirklich warm angefühlt, jedenfalls nicht im Sinne einer messbaren Temperatur. Ich hätte das selbst gar nicht in Worte fassen können, aber das Stichwort Styropor trifft es genau. Obwohl die Oberfläche sehr hart und glatt war, hat sie sich verhalten wie Styropor. Damit meine ich, dass sich das Material nicht angefühlt hat, als würde es Wärme ausstrahlen, sondern eher so, als würde es meiner Hand keine Wärme entziehen. Als ich dagegengeklopft habe, gab es ein dumpfes Geräusch und danach ein leises Summen, aber es hat sich angefühlt, als hätte ich gegen eine verputzte Ziegelmauer geschlagen.

Ich könnte mir vorstellen, dass es für mich auch schwierig wird, in nächster Zeit noch mal in die Nähe des New Yorker Carls zu kommen, weshalb ich dir wahrscheinlich keine weiteren Informationen liefern kann. Auf jeden Fall sieht es aus, als hätte derjenige, der die Carls erschaffen hat, in Sachen Merkwürdigkeit ganz neue Standards gesetzt.

 

April

Ich fand, damit hatte ich mich erst mal genug mit der Sache beschäftigt.

»MAYA! Mein Handy bitte!«

»Total wahnsinnig das alles, oder?«, rief sie von Weitem, bevor sie mit meinem Telefon ins Zimmer kam.

»Was habe ich verpasst?« Ich deutete auf das Handy.

»Du bist plötzlich extrem gefragt. Vor allem Andy möchte mit dir reden. Er möchte über tausend Sachen mit dir reden. Am liebsten wahrscheinlich vier Jahre lang. Deine Eltern haben auch angerufen.«

Ich rief meine Eltern zurück, die leicht gestresst klangen, auch wenn sie behaupteten, es ginge ihnen gut. Mein etwas älterer, beruflich sehr erfolgreicher und extrem normaler Bruder Tom plante in ein paar Monaten in Nordkalifornien zu heiraten und sie halfen ihm bei der Organisation der Feier. Tom hat Mathematik studiert und arbeitet für eine Investmentbank in San Francisco. Eigentlich hatte ich immer damit gerechnet, dass er irgendwann auch nach New York ziehen würde wie alle Investment Banker, aber bis jetzt hat er widerstanden.

Es ist mir wichtig zu betonen, dass sämtliche Neurosen, die ich möglicherweise habe, zu hundert Prozent auf mich selbst zurückzuführen sind. Ich habe eine sehr glückliche Kindheit gehabt, ich war nur kein sehr glückliches Kind. Meine Eltern haben mich immer unterstützt und nie mit irgendwelchen Erwartungen unter Druck gesetzt – mehr kann man sich eigentlich nicht wünschen.

Wir redeten über Carl und über Tom und was für ein tolles Mädchen seine Freundin sei und wie gut die Hochzeitsvorbereitungen liefen, obwohl es natürlich viel Arbeit sei. Sie fragten mich nach Carl, also erzählte ich ihnen ein paar Sachen, die sie aber fast alle schon wussten. Sie erkundigten sich nach meinem Job und deuteten wie immer an, mir gern jederzeit finanziell unter die Arme zu greifen, was ich wie immer ignorierte. Sie fanden das Video toll und waren stolz auf mich. Warum? Tja, wer weiß. Eltern eben.

Danach rief ich Andy an, der klang, als wäre er … ziemlich aus dem Gleichgewicht.

»JETZTWIRDESLANGSAMRICHTIG, RICHTIGKRASS, APRILMAY!«

Ich hielt das Telefon vom Ohr weg. »Du musst bitte ganz behutsam mit mir umgehen.«

»Das Video ist schon drei Millionen Mal gesehen worden, die Leute lieben dich! Du hast die Kommentare nicht gelesen, oder?«

»Ich hab mir noch nicht mal das Video angeschaut.«

»Dann bist du so ungefähr der einzige Mensch auf der Welt, der es noch nicht gesehen hat. Die Sache wird immer merkwürdiger. Es konnte nach wie vor kein Filmmaterial von einer Überwachungskamera gesichert werden. Es gibt eine in New York, die praktisch genau auf ihn gerichtet ist, aber um 2:43 Uhr bricht die Aufnahme ab … Fünf Minuten lang nichts als weißes Rauschen, und als wieder was zu sehen ist, steht Carl plötzlich da. Irgendwelche Militärexperten sagen, es wäre möglich, dass ein elektromagnetischer Impuls im Umfeld von SÄMTLICHENCARLS die örtliche Stromversorgung unterbrochen hat, während sie aufgestellt wurden. Übrigens alle weltweit im exakt selben Moment. Was das Ganze noch merkwürdiger macht, ist, dass das Rauschen nicht bloß ein Rauschen ist. Bei den Kameras, die auch Audiosignale aufnehmen – also jedenfalls bei allen, die von den verschiedenen Nachrichtensendern sichergestellt werden konnten –, kann man, wenn man den Ton aufdreht, im unteren Frequenzbereich des Rauschens ganz deutlich ›Don’t stop me now‹ von Queen hören.«

»Den Song liebe ich.«

»Echt?«

»Ja, warum?«

»Nur so. Ich kannte den gar nicht. Aber es ist eindeutig dieser Song. Keiner weiß, wie das sein kann … vielleicht irgendein hochenergetischer Radioimpuls?«

»Ja, das ist echt total merkwürdig, Andy, aber es hat nicht wirklich viel mit uns zu tun, oder? Ich meine, wir haben das Video gedreht. Ich freue mich, dass wir den New Yorker Carl entdeckt haben …«

»Einfach nur ›New York Carl‹«, unterbrach er mich.

»Was?«

»New York Carl, so heißt der Carl in New York. Nicht ›der New Yorker Carl‹. Alle nennen ihn nur ›New York Carl‹. Der in Mumbay heißt ›Mumbay Carl‹ und dann gibt es noch ›Hong Kong Carl‹ und ›São Paolo Carl‹. Sogar in Ländern, in denen kein Englisch gesprochen wird, nennen die Leute ihre Carls Carl.«

»Deine Haarspalterei ändert nichts an dem, was ich sagen wollte … Wir haben Carl nicht erschaffen, wir haben ihn nur gefunden. Nicht mal das … wir haben sogar nur ein Vierundsechzigstel von ihm gefunden.«

»Genau das habe ich meinem Vater auch gesagt. Er hat mich zehn Minuten lang vollgeschwallt und irgendwas von Narrativen und memetischer Verbreitung und kulturellen Mythen erzählt, was ich nicht ganz verstanden habe, aber dann hat er ein Argument gebracht, das ich jetzt zwar schon nicht mehr wörtlich wiedergeben kann, das mich aber total davon überzeugt hat, dass wir unsere Rolle in der Geschichte nicht unterschätzen sollten. Und das bringt mich zur wichtigsten Neuigkeit … Ich habe gerade zehntausend Dollar verdient.«

Danach gab es eine längere Pause, bis ich schließlich sagte: »Okay … toll?«

»Diverse TV-Magazine und Nachrichtensendungen wollen dich unbedingt interviewen, aber du warst nicht verfügbar, also haben sie sich mit mir begnügt. Ständig präsentieren sie irgendwelche angeblichen Experten im Studio, die dann fünf Minuten lang irgendwas über Carl erzählen, nur dass es im Moment noch nicht besonders viel über ihn zu erzählen gibt. Mit Carl kann niemand sprechen, mit dir schon. Mein Vater sagt, er kann uns einen Zehntausend-Dollar-Deal bei den großen Sendern aushandeln, falls du dich bereit erklärst, dich interviewen zu lassen.«

»Moment mal … wie? Insgesamt? Oder pro Sender?«

»Pro Sender! Die drehen alle total am Rad, weil sie das Video ohne Genehmigung gesendet haben. Dad hat sie an den Eiern.«

Mein Gehirn arbeitet nicht besonders schnell, aber mir war klar, dass die Summe von zehntausend Dollar multipliziert mit der Anzahl aller mir bekannten Nachrichtensender einen Betrag ergab, der mir helfen würde, meine Schulden beträchtlich zu vermindern. Ich könnte meinen beschissenen Job kündigen. Ich hätte Zeit, an eigenen Sachen zu arbeiten.

»Müsste ich dafür ins Fernsehen?«

»Du dürftest ins Fernsehen!«

»Und was soll ich da sagen?«

»Du beantwortest einfach nur Fragen!«

»Muss ich mir dafür die Haare machen?«

»April May, es geht um ungefähr fünfzigtausend Dollar.«

»Okay. Gut. Ich bin dabei.«

 

Es dauerte keine dreißig Minuten und wir hatten noch für denselben Tag Interviews mit zwei Sendern vereinbart. Damit ich auch etwas halbwegs Fundiertes zu sagen hatte, recherchierten Maya und ich die restliche Zeit, bevor ich mich Richtung Downtown aufmachen musste, im Netz sämtliche Informationen zu Carl, die wir finden konnten. Viel war das nicht – Andy hatte mich schon gründlich gebrieft. Dass ich keine Ahnung hatte, was ich im Fernsehen erzählen sollte, machte mich ziemlich nervös. »Ich habe diese Skulptur gesehen, ich fand sie cool, mein guter Freund Andy und ich haben ein Video darüber gedreht.« Das waren höchstens zehn Sekunden Redezeit. Bisschen wenig für zehntausend Dollar. Aber was wusste ich schon von den Gagen beim Fernsehen? Wie sich herausstellte, wollten sich die Sender vor allem die Möglichkeit offen halten, das Video, das sie uns geklaut hatten, auch weiterhin auszustrahlen, ohne verklagt zu werden.

Irgendwann landete ich beim Wikipedia-Eintrag für »Don’t stop me now«, dem Song, der bizarrerweise auf sämtlichen Tonspuren der mit statischem Rauschen gefüllten Überwachungskameras an den Orten, an denen Carls aufgetaucht waren, zu hören war.

 

Don’t Stop Me Now ist ein 1978 auf dem Album Jazz veröffentlchtes Lied der britischen Rockband Queen, das 1979 als Single ausgekoppelt wurde. Text und Musik stammen aus der Feder des Sängers Freddie Mercury. Produziert wurde der Titel im August 1978 im Super Bear Studio in Berre-les-Alpes (Departement Alpes Maritimes), Frankreich. Es ist der zwölfte Track auf dem Album.

 

Komisch, dachte ich. Tippfehler wie »veröffentlchtes« blieben bei Wikipedia normalerweise nicht lange stehen. Ich erfüllte meine Sorgfaltspflicht als brave Wikipedia-Nutzerin, klickte auf »Bearbeiten«, korrigierte den Fehler und lud die Seite neu.

 

Don’t Stop Me Now ist ein 1978 auf dem Album Jazz veröffentlchtes Lied der britischen Rockband Queen, das 1979 als Single ausgekoppelt wurde. Text und Musik stmmen aus der Feder des Sängers Freddie Mercury. Produziert wurde der Titel im August 1978 im Super Bear Studio in Berre-les-Alpes (Departement Alpes Maritimes), Frankreich. Es ist der zwölfte Track auf dem Album.

 

»Hey, Maya? Kannst du bei Wikipedia mal die Seite für ›Don’t stop me now‹ aufrufen?«

»Okay.«

»Siehst du irgendwelche Tippfehler?«

»Mhm … ja. Da sind zwei im ersten Absatz.«

»Zwei?«

»›Veröffentlicht‹ und ›stammen‹. In beiden Wörtern fehlt jeweils ein Buchstabe.«

»Korrigier sie.«

»Äh. Ja. Sofort, Massa!«

Sie korrigierte sie und wir luden die Seite beide neu.

 

Don’t Stop Me Now ist ein 1978 auf dem Albu Jazz veröffentlchtes Lied der britischen Rockband Queen, das 1979 als Single ausgekoppelt wurde. Text und Musik stmmen aus der Feder des Sängers Freddie Mercury. Produziert wurde der Titel im August 1978 im Super Bear Studio in Berre-les-Alpes (Departement Alpes Maritimes), Frankreich. Es ist der zwölfte Track auf dem Album.

 

»Okay …«, sagte Maya. »Wenn das ›m‹ bei ›Album‹ vorhin schon gefehlt hätte, wäre mir das hundertprozentig aufgefallen. Du hattest mich ja sogar extra noch gefragt, ob ich Tippfehler sehe. Ich bin superakribisch bei so was.«

Das war sie.

»Ich korrigiere noch mal«, sagte ich.

Nachdem ich alle fehlenden Buchstaben eingesetzt hatte, lud ich die Seite neu.

 

Don’t Stop Me Now ist ein 1978 auf dem Albu Jazz veröffentlchtes Lied der britischen Rockband Queen, das 1979 als Single ausgekoppelt wurde. Text und Musik stmmen aus der Feder des Sängers Freddie Mercury. Produziert wurde der Titel im Agust 1978 im Super Bear Studio in Berre-les-Alpes (Departement Alpes Maritimes), Frankreich. Es ist der zwölfte Track auf dem Album.

 

»Jetzt fehlt ein ›u‹ in ›August‹!«, sagte ich fassungslos.

Ich rief Andy an.

»Hey Yo!«, meldete er sich, ganz eindeutig immer noch im Freudenwahn.

»Kannst du dir schnell mal bei Wikipedia den Eintrag für ›Don’t stop me now‹ anschauen?«, sagte ich ohne irgendwelche einleitenden Worte.

»Klar!« Ich hörte, wie er seine Tastatur bearbeitete.

»Okay … lädt … lädt … uuuuunnd …« Die Tastatur hörte auf zu klappern.

»Fallen dir im ersten Absatz irgendwelche Tippfehler auf?«

»Hm … ja. Da wurde das ›i‹ in ›veröffentlicht‹ vergessen.«

»Das ist alles?«

»Ist das ein Test?«

»Was ist mit ›stammen‹, ›Album‹ und ›August‹?«

»Ich hatte einen sehr merkwürdigen Tag, April, aber du sorgst dafür, dass er noch wesentlich merkwürdiger wird.«

»Beantworte meine Frage.«

»Nein, die sind alle richtig geschrieben. Du weißt, dass bei Wikipedia jeder Seiten bearbeiten kann, oder? Wahrscheinlich hat jemand die anderen Wörter gerade korrigiert.«

Ich lud die Seite bei mir neu. Die Buchstaben fehlten immer noch, aber andere Fehler waren nicht dazugekommen.

»Setz das fehlende ›i‹ ein und ruf die Seite dann noch mal auf.«

»Wir müssen in zwei Stunden im Studio von ABC News sein. Es gibt sicher eine Menge Tippfehler bei Wikipedia, wir werden es nicht schaffen, die heute alle noch zu korrigieren.«

»MEINGOTT, ANDY, JETZTMACHSCHON!«, stöhnte ich genervt.

»Ja, ja. Ich hab den Absatz gerade schon verbessert, während ich rumgenölt habe. Der Tippfehler ist immer noch da. Moment mal, das ist komisch. Jetzt fehlt das ›a‹ in ›stammen‹. Hey, war das nicht eins von den Wörtern, die du gerade aufgezählt hast? Woher wusstet du …?«

»Stell ihn auf Lautsprecher«, sagte Maya. Ich tat es.

»Andy? Hi, hier ist Maya. Bei uns ist genau das Gleiche passiert, aber ich hatte von vornherein zwei Fehler, als ich die Seite geöffnet habe, ohne dass ich etwas korrigiert hätte. Wahrscheinlich liegt das daran, dass April und ich dieselbe IP-Adresse benutzen. Jedes Mal, wenn man einen Tippfehler korrigiert und die Seite dann wieder lädt, kommt einer dazu und der alte ist immer noch da. In der Versionsgeschichte der Seite ist nicht verzeichnet, dass irgendjemand kürzlich irgendwelche Sachen editiert hätte – auch unsere Korrekturen nicht. Die letzte dokumentierte Änderung ist von vor drei Stunden und bezieht sich auf die Info, dass der Song von diversen Überwachungskameras aufgezeichnet wurde. Während du mit April geredet hast, habe ich versucht, den letzten Fehler zu korrigieren. Diesmal ist kein neuer dazugekommen, als ich die Seite neu geladen habe. Anscheinend sind wir in einer Sackgasse gelandet. Wir werden jetzt erst mal nicht weiterkommen, weil April sich die Haare machen und ich sie in einer halben Stunde in die Subway Richtung Manhattan setzen muss.«

»Müssen wir wirklich zu diesem Interview?«, jammerte ich.

»Ja«, sagten Maya und Andy gleichzeitig.

»Aber findet ihr nicht, dass das hier viel spannender ist?«

Das fanden die beiden zwar auch, aber da war ja noch die Sache mit den zehntausend Dollar.

Nachdem ich schnell geduscht hatte und gerade dabei war, meine Haare zu glätten, rief ich Maya vom Badezimmer aus zu: »Was waren das noch mal für Wörter, in denen Buchstaben gefehlt haben?«

»›Veröffentlicht‹, ›stammen‹ … äh …« Einen Moment lang herrschte Stille, bevor sie den Kopf zur Badezimmertür hereinsteckte. »›Album‹ und ›August‹.«

»I.A.M.U.«, sagte ich.