The Chaos Chasers MC: Jayce - C.M. Marin - E-Book

The Chaos Chasers MC: Jayce E-Book

C.M. Marin

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Beschreibung

JAYCE Das einzige Mädchen, dem jemals mein Herz gehörte, ist zurück in der Stadt. Die Nachricht trifft mich wie ein Hammerschlag und verhindert jeden klaren Gedanken. Alles, was ich sehen kann, ist sie. Aber ich muss sie auf Abstand halten, um sie zu beschützen. Vor den Gefahren, die dem Club nach wie vor drohen, und vor … mir. Vor der Dunkelheit, die in mir steckt, seitdem meine ganze Familie ermordet wurde. Die Grenzen, die ich gezogen habe, verschwimmen schnell, als der Spiders MC Alexia bedroht. War es mein größter Fehler, sie von mir zu stoßen? Vielleicht. Aber spielt das jetzt wirklich noch eine Rolle, wo sie ihr Herz unwiderruflich vor mir verschlossen hat? ALEXIA Twican. Heimat. Ich hätte schon vor Monaten zurückkehren sollen. Aber jetzt bin ich zurück, und meine widersprüchlichen Gefühle erinnern mich daran, warum ich meine Rückkehr verschoben habe. Warum ich überhaupt daran gedacht habe, gar nicht mehr zurückzukommen. Ihn zu sehen tut weh. Ihn nicht berühren zu können, wenn er so nah ist, ist reine Folter. Jayce. Meine erste Liebe. Mein erster Kuss. Mein erster Herzschmerz. Liebe ich ihn noch? Nichts könnte mich je davon abhalten. Obwohl ich weiß, dass er mich gar nicht mehr will. Teil 2 der spannungsgeladenen Reihe rund um den Chaos Chasers Motorcycle Club.

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C.M. Marin

The Chaos Chasers MC Teil 2: Jayce

Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Franziska Dinkelacker

© 2018 by C.M. Marin unter dem Originaltitel „Jayce (The Chaos Chasers MC Book 2)“

© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg

(www.art-for-your-book.de)

ISBN Print: 978-3-86495-582-2

ISBN eBook: 978-3-86495-583-9

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Buch oder Ausschnitte davon dürfen ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers nicht vervielfältigt oder in irgendeiner Weise verwendet werden, außer für kurze Zitate in einer Buchbesprechung.

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Autorin

Kapitel 1

Alexia

Thanksgiving. Dieses Jahr bringe ich es nicht einmal übers Herz, darüber nachzudenken, wofür ich dankbar bin. Ich bin einfach nur froh, dass dieser Tag bald vorbei ist. In spätestens einer Stunde wird es endlich eine annehmbare Uhrzeit sein, um mich unter meine Bettdecke zu verkrümeln. Genauer gesagt, unter der Bettdecke meines Bruders. Liam hat mir seit gestern sein Bett überlassen und ist selbst auf das unbequeme Sofa gezogen, das vermutlich schon vor seiner Geburt im Zimmer stand. Der einzige Grund, warum ich kurz vor Mitternacht immer noch hier unten herumsitze und so tue, als wäre alles gut – als ginge es mir gut –, ist jedenfalls, dass ich Liam versprochen habe, wenigstens ein bisschen Spaß auf der Party zu haben. Und er hat Glück, dass Camryn und Fiona da sind. Sonst hätte ich mich schon lange in Liams Zimmer zurückgezogen und würde versuchen, einzuschlafen, was erst spät, wenn überhaupt, glücken würde. Er hat außerdem Glück, dass die wenigen Tropfen Alkohol, die ich getrunken habe, mich ruhig gehalten haben, wenn irgendeine Schlampe mit ihrer Hand – oder einem anderen Körperteil – in lächerlicher Offensichtlichkeit Jayce’ Körper gestreift hat. Der Alkohol ist eindeutig der einzige Grund, aus dem ich den Abend unbeschadet überstanden habe. Zwar nicht besonders gut, aber immerhin überstanden.

Das einzig Gute an diesem Abend ist, dass es schön war, alle wiederzusehen. Ich war schon seit Monaten nicht mehr daheim und habe es vermisst, hier zu sein. Sie sind vielleicht etwas laut und ungehobelt und manchmal weinerlich, aber sie sind schon lange meine Familie und ich habe sie alle vermisst. Ich habe es vermisst, zu Hause zu sein.

Zu Hause. Ich bin wieder zu Hause. Egal, wie lange ich nicht in Twican war, dieser Ort fühlt sich immer noch wie meine Heimat an. Vielleicht, weil mein Bruder hier ist, oder vielleicht, weil es bis vor fünfzehn Monaten nicht den geringsten Zweifel daran gegeben hat, dass ich nach der Krankenpflegeschule wieder herkommen würde. Aber eigentlich macht es keinen Unterschied. Es fühlt sich wie zu Hause an, das ist das Wichtigste. Und darum habe ich fünf Monate nach meinem Abschluss beschlossen, wieder hierher zu ziehen. Diese fünf Monate habe ich mit einem Aushilfsjob und der Frage verbracht, ob ich in Dallas bleiben oder wieder zurückkommen soll. Und hier bin ich also. Ein neuer Job wartet auf mich und morgen werde ich in eine neue Wohnung ziehen. Ich habe die Neuigkeiten Liam erst vorhin verkündet, und es ist mir ganz warm ums Herz geworden, als ich sein Lächeln gesehen habe. Ich wünschte nur, der einzige Mann, den ich je geliebt habe, hätte mich auch gern hier.

Aber was das angeht, gibt es nicht einmal einen Funken Hoffnung, wenn man bedenkt, dass Jayce mich während der vierundzwanzig Stunden seit meiner Rückkehr nicht eines Blickes gewürdigt hat. Gestern nicht, den Tag über bei Cam und Nate nicht und heute Abend auch nicht. Fairerweise muss man sagen, dass er auch die vorhin erwähnten Schlampen keines Blickes gewürdigt hat, aber das hat ja nichts zu bedeuten. Ich darf jetzt bloß nicht anfangen, in alles etwas hineinzuinterpretieren. Würde ich alles analysieren, was Jayce sagt oder tut, würde ich in genau dem Krankenhaus landen, in dem ich bald arbeiten werde, aber in der Psychiatrie und nicht als Krankenpflegerin in der Gastroenterologie. Ich sollte nur eines verinnerlichen, und zwar, dass Jayce mit mir durch ist. Punkt.

Neben mir auf der Couch unterhalten sich Lilly und Fiona über Bio-Obst. Und obwohl ich stundenlang über gesunde Ernährung quatschen könnte, bin ich merkwürdigerweise eher von den anderen Leuten im Raum gefesselt.

Sie sehen glücklich aus. Nicht mit strahlenden, euphorischen Gesichtern, aber dennoch glücklich. Ich spüre einen Stich der Eifersucht im Herzen, weil ich mich nicht einmal daran erinnern kann, wie es sich anfühlt, glücklich zu sein.

Nein, das stimmt so nicht. Ich kann mich schon an das Gefühl erinnern. Vielleicht wird die Erinnerung jedoch blasser, wenn man es nicht täglich erlebt. Eines ist sicher, ich hätte damals dankbarer für mein Glück sein sollen. Stattdessen habe ich so getan, als wäre es selbstverständlich. Ich habe es eigentlich kaum wahrgenommen. Bis ich meinen Partner und meinen besten Freund gleichzeitig verloren habe. Denn Jayce war beides für mich. Er war mein Ein und Alles.

„Geht’s dir gut, kleine Schwester?“

Das Sofa wackelt, als Liam sich darauf fallen lässt.

„Wie ich sehe, hast du immer noch nicht gelernt, dich ordentlich hinzusetzen.“

Er mustert mich prüfend mit seinen dunkelbraunen Augen, als ich mich zu einem Lächeln zwinge, das mein Gesicht heiter wirken lassen soll. Darin habe ich Übung. Lächeln, um den Schein zu wahren. Aber der Seufzer, den Liam ausstößt, beweist, dass mein falsches Lächeln ihn nicht täuschen konnte und er immer noch auf eine Antwort wartet. Er war schon immer gut darin, mich zu durchschauen.

Gut ist nicht das Wort, das ich verwenden würde, um meinen gegenwärtigen Gefühlszustand zu beschreiben, aber es ist sicher einfacher, bejahend auf seine Frage zu antworten, als ihm zu erklären, dass ich verloren, verwirrt, traurig und wütend bin, um nur ein paar meiner Gefühle zu nennen.

„Ja, es geht mir gut, Liam.“

Aber auch diese Lüge durchschaut er sofort.

„Ich weiß, dass es nicht einfach für dich ist, hier zu sein, aber ich freue mich, dass du wieder da bist. Ich freue mich, dass du beschlossen hast, wieder nach Hause zu kommen.“

„Und ich freue mich, dich wieder öfter als ein paarmal im Jahr zu sehen.“

Das ist wahr. Ich habe ihn sehr vermisst. Wir haben uns immer nahgestanden, nach dem Tod unseres Vaters noch viel mehr. Noch größer ist Liams Fürsorge geworden, als die Jungs ihn in den Motorradclub aufgenommen haben. Das war etwa ein Jahr nachdem unser Vater gestorben war. Er hatte begonnen, mit Cody und Connor in der Werkstatt zu arbeiten. Damals war er gerade achtzehn, aber alt genug, um das Sorgerecht für seine dreizehnjährige Schwester zu bekommen. Gut, dass unser Vater uns das Haus und genügend Geld hinterlassen hatte, um sicherzustellen, dass Liam für mich sorgen konnte. Und das hat er auch getan. Er war gerade mit der Schule fertig, und obwohl er noch trauerte, begann er, in der Werkstatt zu arbeiten. Der Rest ist Geschichte.

„Willst du wirklich in die neue Wohnung ziehen?“, fragt er mich erneut, obwohl er die Frage seit gestern schon mehrmals gestellt hat.

Er hat versucht, mich zu überzeugen, zumindest vorübergehend zu ihm ins Haus unserer Kindheit zu ziehen.

Seit dem Sommer ist es hier wegen der Spiders, einem rivalisierenden Club in der Gegend, drunter und drüber gegangen. Nachdem ihr Präsident, Rod, gedroht hatte, Camryn – die Freundin unseres Präsidenten und Jayce’ Schwester – umzubringen, haben die Jungs ihn und seinen engsten Kreis kaltgemacht, einschließlich Camryns früherem Verlobten. Seitdem ist wieder Ruhe eingekehrt, aber manche der Jungs meinen, dass das nicht unbedingt gut ist.

„Ich bin nicht mehr achtzehn, Liam. Es ist wichtig, dass ich meine eigenen vier Wände habe, genau wie du deine hast. Du übernachtest ja sowieso mehr hier im Club als zu Hause, was wäre also der Unterschied? Jetzt genieß den Abend. Ich hole mir noch ein paar Kekse und dann reicht es mir für heute. Morgen will ich in die Wohnung und den ganzen Tag dort arbeiten. Putzen, auspacken, ein bisschen streichen … Ich will, dass alles so bald wie möglich fertig ist.“

Er nickt. „Ich komme mit.“

„Ich will gegen sieben los, Liam.“ Ich lächle.

Bei dem Gedanken daran, so früh aufzustehen, muss er stöhnen. „Ich komme um zehn Uhr nach.“

„Danke.“ Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange, stemme mich aus dem Sofa hoch und mache mich auf den Weg in die Küche.

Ich werde mir nur ein paar Kekse schnappen, kurz unter die Dusche springen und mich dann endlich in mein Bett kuscheln und bis morgen früh die Ruhe genießen.

Es stehen etwa ein Dutzend Leute in der Küche herum. Manche werfen mir einen kurzen Blick zu, wenden sich aber schnell zurück zu der Person, mit der sie sich unterhalten oder mit der sie rummachen. Ben zwinkert mir zu und ich lächle zurück, aber als ob meine Augen Magnete wären und Jayce aus Eisen, wird mein Blick sofort wie von unkontrollierbarer Kraft von ihm angezogen, was ich sofort bereue.

Natürlich habe ich es gehasst, über ein Jahr von zu Hause fort zu sein, aber ich bin dankbar, dass ich nicht hier war und mitansehen musste, was ich jetzt gerade beobachte. Denn wenn es nach so langer Zeit noch schmerzt, Jayce mit einer Frau zu sehen, will ich mir nicht einmal vorstellen, wie sich das angefühlt hätte, nachdem er mit mir Schluss gemacht hat. Es hätte mich fertiggemacht. Vielleicht sogar umgebracht. Und obwohl ihre Körper sich nicht berühren – abgesehen von ihrem Finger, mit dem sie anzüglich auf seine Brust trommelt –, zieht sich mein Herz allein wegen ihrer Nähe vor Schmerz zusammen. Ich habe ihn noch nie so nah bei einer anderen Frau gesehen. Nicht einmal früher, als wir noch jung waren und keiner von uns ahnte, dass wir einmal zusammenkommen würden. Mir war schon klar, dass er seine männlichen Bedürfnisse mit anderen Frauen stillte, aber weil er sich von den Schlampen im Club immer ferngehalten hat, habe ich ihn nie mit jemandem gesehen. Es scheint, als hätte sich das auch geändert. Er hat offensichtlich kein Problem mehr damit, die Mädels aus dem Club mit seinen Brüdern zu teilen. Wenigstens hat er sein T-Shirt noch an. Beim Gedanken an weibliche Hände auf seiner Haut, eben der Haut, die ich so oft berührt habe, wird mir so schlecht, dass ich würgen könnte, noch bevor ich die Kekse überhaupt gegessen habe. Dasselbe gilt für die Hände eines Mädchens in seinen kurzen braunen Haaren oder ihren Blick in seine wunderschönen grünen Augen, während sie ihm gibt, was eigentlich ich ihm geben sollte.

Komischerweise weiß ich nicht, ob ich bei ihrem Anblick lachen oder heulen soll. Alles an ihrem Gesicht ist so künstlich, dass es lächerlich ist. Es ist sogar fast schon widerlich, dass Jayce so tief gefallen ist. Ihre Brüste sind auf keinen Fall natürlich, und ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand hier sie erkennen würde, wenn er ihr zufällig an ihrem Make-up-freien Tag begegnen würde. Und ihre Fingernägel erst. Die sind so lang und so knallorange, dass ich sie sogar von der anderen Seite des Raums bestens sehen kann. Kurz, sie ist das Paradebeispiel einer typischen platinblonden Schlampe.

Igitt.

Jayce muss gespürt haben, dass ich ihn anstarre, denn unsere Blicke treffen sich. Und obwohl es sich wie eine Ewigkeit anfühlt, bis er wegschaut, muss ich meine ganze Kraft zusammennehmen, um seinem kurzen Blick standzuhalten. Ich weigere mich, ihm zu zeigen, wie sehr er immer noch mein Herz verletzt, wie viel Zeit auch vergangen sein mag, seit er nicht mehr mit mir redet.

Als er endlich wegschaut, trete ich an den Tisch, obwohl ich weiter beobachte, wie er sich vorbeugt und der Frau etwas ins Ohr flüstert. Wegen der dröhnenden Musik verstehe ich nichts, und weil ihr Gesicht von Jayce verdeckt wird, kann ich auch ihre vermutlich erregte Reaktion nicht sehen. Dem Himmel sei Dank.

Die Abscheu in meinem Bauch ist so groß wie die Wut, aber er wird mich nicht dazu bringen, wegzulaufen. Ich habe die Entscheidung getroffen, nach Hause zu kommen, und egal, wie schwer das wird, mir war schon bewusst, dass ich damit klarkommen muss. Trotzdem schnappe ich nach Luft, um die Tränen zu unterdrücken, die mir gegen meinen Willen hochkommen. Dann nehme ich mir eine Limo aus dem Kühlschrank und wähle ein paar Kekse aus, die ich in eine Serviette packe, als wäre der Mann, den ich liebe, nicht kurz davor, eine Frau mit in sein Zimmer zu nehmen. Ich bin nur dankbar, dass Liams Zimmer am anderen Ende des Flurs, weit entfernt von Jayce’, liegt. Wenigstens muss ich so nicht die Geräusche hören, die zu dem Bild von ihm und der Schlampe passen, das sich bereits in mein Gehirn eingebrannt hat. Mein Herz blutet schon genug von dieser Vorstellung, und in meinem Kopf schwirren ein ums andere Mal dieselben Worte herum.

Du bist so dumm, Alex.

Das bin ich wirklich. Ernsthaft, wie bescheuert muss man sein, um an einer Beziehung festzuhalten, die seit über einem Jahr tot ist? Es kann sein, dass Jayce mich verlassen hat, als sein Leben von Verlust, Trauer und Leid erfüllt wurde, aber darüber ist er mittlerweile anscheinend hinweg, zumindest so weit, wie das je möglich sein wird. Es gibt also nur eine Erklärung, warum er nicht zu mir zurückgekommen ist. Die Liebe, die er einst für mich empfunden hat, ist verschwunden. Die Zeit, die seit unserer Trennung vergangen ist, hat unserer Geschichte endgültig ein Ende gesetzt, und ich sollte das langsam akzeptieren.

Kapitel 2

Jayce

„Kommen wir gleich auf den Punkt.“

Obwohl die Spiders uns um dieses Treffen gebeten haben, ist es Nate, der den Anfang macht, als alle einen Platz zum Sitzen oder Stehen gefunden haben.

Wir treffen uns in einer Bar zwei Orte weiter auf neutralem Grund und haben den Eigentümer bezahlt, um den Raum eine Stunde für uns allein zu haben. Wir hätten uns nie darauf eingelassen, wenn Unbeteiligte hier herumgelaufen wären. Seien wir mal ehrlich, wir haben nicht mehr den geringsten Schimmer von den Machenschaften des Royal Spiders MC. Wir wissen nur, dass sie über Jahre mit Rod, dem ehemaligen Präsidenten der Spiders, und seinem inneren Kreis verbündet waren, jedoch nie zu seinen Vertrauten gezählt haben.  Allein das verheißt nichts Gutes. Soweit wir wissen, könnten diese Typen genauso unberechenbar sein wie Rod. Vor allem wäre ich nicht überrascht, wenn sie immer noch schlecht auf uns zu sprechen sind, weil wir vor ein paar Monaten eine Handvoll ihrer Brüder umgebracht haben. Und die Tatsache, dass sie über drei Monate gewartet haben, um Kontakt mit uns zu suchen, behagt mir auch nicht.

Nate, Liam, Ben, Blane und ich sitzen an einer Seite des langen Tisches, uns gegenüber sitzt der neue Präsident der Spiders mit vier seiner Männer. Cody und Melvin stehen wenige Schritte von uns entfernt und beobachten das ganze Geschehen. Alle Männer im Raum sind darauf bedacht, keinen der anwesenden Männer des anderen Clubs aus den Augen zu lassen.

„Wir wissen, dass Rod in Menschenhandel verwickelt war. Ihr habt gesagt, dass ihr uns sehen wollt, um über einen möglichen Waffenstillstand zwischen unseren Clubs zu sprechen, aber das ist nicht der einzige Grund, aus dem wir euer Gesprächsangebot angenommen haben. Wir wollen sichergehen, dass ihr nicht vorhabt, dieses Geschäft weiterzuführen.“

Wir wissen nur zu gut, dass diese neue Gang sogar schon bis zum Hals in diesem Mist stecken könnte, aber das erwähnt Nate nicht. Er lässt den Typ nicht aus den Augen, der behauptet, Rods Position und die Kutte des Präsidenten übernommen zu haben. Er wird Bison genannt, aber das ist auch alles, was wir über ihn wissen. Na ja, gerade habe ich erfahren, dass er an seinem Pokerface arbeiten sollte, denn er ist beschissen darin, seine Überraschung darüber zu verbergen, dass wir über Rods widerliche Geschäfte Bescheid wussten.

Immerhin lässt er sich von dieser Nachricht nicht abschrecken. „Ich weiß es zu schätzen, dass ihr zugestimmt habt, mich heute zu treffen, aber ich schulde euch keine Rechenschaft darüber, welchen Geschäften mein Club nachgeht.“

„Doch, das tust du, wenn du dieses Geschäft genau vor meiner Haustür betreibst. Dein Geschäft zieht die Bullen an, die dann auch in meinen Angelegenheiten rumschnüffeln. Glaubst du wirklich, dass ich kein Problem damit habe, wenn ihr genau dort Frauen entführt, wo auch unsere Frauen leben? Mal ganz zu schweigen von der Tatsache, auf die jeder mit einem Fünkchen Verstand schon lange gekommen wäre: Weder du noch ich sind stark genug, um es mit einem Kartell aufzunehmen. Es gibt nur einen Weg, wie wir miteinander klarkommen können, und das ist, wenn ihr eure Finger von diesem Geschäft lasst.“

„Und was, wenn ich das nicht tue?“

Scheiße. Was für ein Vollidiot. Es scheint, als würden entweder psychotische Mörder oder zurückgebliebene Trottel diesen nutzlosen Club anführen. Ich habe meine Geduld mit solchen Arschlöchern längst verloren. Ich sollte Nate später dazu gratulieren, dass er cool geblieben ist und seine dummen Fragen beantwortet hat, ohne vor Verzweiflung den Kopf auf den Tisch zu knallen. Meine Hände jucken vor Verlangen, ihm Vernunft einzuprügeln. In solchen Momenten bin ich froh, dass Nate Isaacs Rolle übernommen hat, als meine Familie gestorben ist. Selbst über ein Jahr später bin ich noch nicht klar genug im Kopf, um mit diesem Scheiß umzugehen.

„Dann gibt es eben keinen Waffenstillstand. Ich werde nicht zulassen, dass du die Aufmerksamkeit der Bullen oder eines Kartells auf meine Geschäfte, meinen Club und meine Familie lenkst.“

Auch wenn Nate seine Absichten nicht explizit genannt hat, ist die Drohung klar genug, wie man an Bisons wütendem Gesichtsausdruck deutlich erkennen kann. Dieser Mann kam vermutlich in der Erwartung hierher, das Treffen zu leiten, weil er es einberufen hat. Zur Hölle damit. Was dieser Arsch braucht, ist eine Erinnerung daran, dass er ein Niemand ist. Nur, weil er sich jetzt Präsident nennen lässt, heißt das noch lange nicht, dass er zu uns kommen und sich aufführen kann, als würde ihm alles gehören, was er berührt. Er ist ein Niemand. Genau wie Rod. Ein Stück Scheiße. Und wenn er weiter im verdammten Menschenhandel mitmischt, werden wir ihn und seine ganze Gang eigenhändig davon abhalten.

„Dieser Scheiß läuft nicht in meiner Gegend, ganz einfach“, spricht Nate weiter. „Du weißt so gut wie wir, dass du hier nicht reinpasst. Und nach dem, was Rod mit meinem Mädchen abgezogen hat, wird dir kein anderer Club in einer Auseinandersetzung den Rücken stärken. Sie werden auf meiner Seite stehen.“

Die Wut im Gesicht des Trottels nimmt mit jeder Sekunde zu und ich muss mir ein Grinsen verkneifen. Es macht mich verdammt glücklich, zu sehen, wie sein Kiefer verkrampft und sein Körper anfängt, zu beben. Genau, du Wichser. Das passiert, wenn du meinst, deine Eier wären größer, als sie es wirklich sind. Hättest es dir zweimal überlegen sollen, bevor du dich mit den Großen anlegst. Er hat wohl gedacht, wir würden wie die Marionetten hier antanzen, weil er es so angeordnet hat. Jetzt weiß er, dass wir gekommen sind, um ihm unseren Platz klarzumachen und ihm zu zeigen, wo seiner ist. Er soll in seiner Stadt bleiben und nichts tun, was unsere eigenen Geschäfte gefährden könnte.

Innerlich muss ich noch immer über das Gesicht des Idioten grinsen, auf dem sich Wut und eine Spur von Verblüffung abzeichnen, als der Typ links neben ihm etwas sagt, das er noch bereuen wird.

„Im Gegensatz zu euch brauchen wir wenigstens keine Bodyguards, um unsere Angelegenheiten zu klären. Wisst ihr noch, wie Rod ganz allein euren früheren Präsidenten und seine Söhne um die Ecke gebracht hat?“

Das arrogante Grinsen, das das Stück Scheiße mir mit Absicht zuwirft – was zeigt, dass er nicht nur dumm, sondern auch lebensmüde ist –, verschwindet nicht, als der Lauf meiner Pistole zwei Sekunden später genau auf sein Gesicht gerichtet ist.

Sofort kratzen Stuhlbeine auf dem Boden, dann herrscht für einige Sekunden Stille im Raum, bis Nate sich an Bison wendet. „Sieht aus, als hättest du vergessen, dass ihr es wart, die uns treffen wolltet. Ich sage dir was, ihr geht die Sache völlig falsch an, wenn ihr einen Waffenstillstand vereinbaren wollt. Wenn du deine Jungs nicht unter Kontrolle hast, solltest du deine Entscheidung, diesen Club zu führen, noch mal überdenken. Wir sind fertig hier, und ich schlage vor, ihr solltet euch überlegen, ob ihr gut oder schlecht mit uns stehen wollt. Du kennst meine Bedingungen“, sagt er und dreht sich zu mir um, ohne dem Arsch Zeit für eine Antwort zu lassen. „Jay, wir gehen.“

Sein Befehl ist ruhig und leise, aber streng genug, um mir klarzumachen, dass ich Mist gebaut habe. Aber das habe ich schon erwartet. Der Scheißkerl hat mir eine Karotte hingehalten, und ich bin wie ein bekloppter Hase vorgesprungen, um sie mir zu schnappen. Aber was soll’s. Dieser Abschaum will überhaupt kein Abkommen. In ihren Augen steht deutlich geschrieben, dass sie längst in Rods Fußstapfen getreten sind. Keine Ahnung, aus welchem Grund sie uns treffen wollten, aber es kann nichts Gutes gewesen sein. Jedenfalls war es nicht wegen eines Waffenstillstands, so viel ist klar.

„Pass besser auf, Freundchen“, sage ich dem Typen vor mir, den ich nicht aus den Augen gelassen habe.

„Soll das eine Drohung sein?“, entgegnet er spöttisch.

Warum sind wir überhaupt hergekommen? Eine verdammte Zeitverschwendung. Wir haben Besseres zu tun, als uns ihren erbärmlichen Bullshit anzuhören.

„Ja, das ist es“, bestätige ich kalt.

Mein Blick ruht weiter auf seinem selbstgefälligen Gesicht, während ich langsam nach hinten gehe.

Ben, der direkt neben mir ebenfalls zurückweicht, fügt hinzu: „Die Tatsache, dass wir vor ein paar Monaten so viele eurer Männer erledigt haben, bedeutet, dass ihr Verbündete braucht. Wenn ihr dann mal wieder jemandem auf den Sack geht, wird es wenigstens nicht so leicht sein, euch fertigzumachen. Nur mal so als Tipp“, beendet er seinen Kommentar trocken.

Wenn sie sich zu hundert Prozent sicher wären, dass keiner von ihnen ebenfalls eine oder zwei Kugeln in den Körper abbekommen würde, würden sie jetzt sicher versuchen, uns umzubringen. Stattdessen folgen sie mir und meinen Brüdern raus und zielen sogar dann noch mit ihren Pistolen auf uns, als wir schon in die zwei SUVs am Straßenrand einsteigen, bei denen Brent auf uns wartet. Er ist dortgeblieben, um sicherzugehen, dass niemand etwas mit unseren Wagen anstellt.

Obwohl Bison uns im Auto nichts anhaben kann, rast Blane bis nach Twican, Cody dicht hinter ihm.

„Das Letzte, was diese Typen wollen, ist eine Abmachung zwischen unseren Clubs. Keine Ahnung, mit welcher Absicht sie uns treffen wollten, aber ein Waffenstillstand war ganz bestimmt nicht der Grund“, sagt Blane, sobald wir die Stadt erreichen.

Damit hat er verdammt recht, und ich freue mich, dass jemand meine Gedanken teilt, die ich bisher für mich behalten habe. Was die Spiders angeht, denken die meisten meiner Brüder – wenn nicht gar alle –, dass ich voreingenommen bin. Und obwohl ich ihre Zweifel verstehe, irren sie sich. Obwohl der ehemalige engste Kreis der Spiders meinen Vater, Großvater und Onkel vor etwas über einem Jahr allesamt in einer Nacht umgebracht hat, sehe ich die Dinge mit Klarheit. Wollte ich an die Möglichkeit glauben, dass sie einen neuen Club aufbauen würden, dessen Mitglieder Begriffe wie Anstand und Menschlichkeit kennen? Ja, das wollte ich. Aber war ich so naiv, zu glauben, dass Männer, die jahrelang Rods Schoßhunde gewesen sind, diesen Sinneswandel vollführen würden? Nein, das nicht. Und das ist einfach nur eine objektive Meinung.

„Ja, das Treffen hatte schon eine Absicht“, mischt Ben sich ein. „Ich wüsste nur zu gern, welche. Keine Ahnung, vielleicht hat es etwas mit ihrem Geschäft zu tun?“, fragt er abwesend.

„Wenigstens wissen wir jetzt mit Sicherheit, dass sie das Geschäft übernommen haben“, meint Nate. „Sonst hätte Bison das sofort geleugnet.“

„Oder er wollte vor seinen Männern einfach nicht schwach wirken“, schlägt Liam vor, als Blane das Auto im Lager – so nennen wir den unteren Stock des Clubs, in dem wir Motorräder für unser illegales Geschäft bauen und lagern – parkt. „Dank Jayce haben wir überhaupt nichts rausgefunden.“

Seine Stimme klingt vorwurfsvoll und bitter. Aber es geht nicht um mein instinktives Verhalten in der Bar. Meine vorschnelle Reaktion ist für ihn nur ein Anlass, um endlich seinen Groll gegen mich rauszulassen.

Liam hat mich im letzten Jahr gemieden. Versteht mich nicht falsch, wir haben uns immer den Rücken gestärkt, aber sein Ärger über mich brodelt schon lange in ihm. Und seit ich den Grund dafür kenne, weiß ich auch, dass er gerechtfertigt ist.

Als ich aussteige, antworte ich ruhig: „Wenigstens mussten wir uns ihren Schwachsinn nicht anhören. Besser so. Es ist mir egal, welche Lügen sie uns verzapfen wollten.“

Es ist mir wirklich egal.

„Und beinahe ein Blutbad auszulösen, war besser?“ Er knallt seine Tür zu. „Vielleicht ist es dir auch egal, zu sterben.“

„Klingt nicht, als wärst du am Boden zerstört, sollte das passieren“, bemerke ich.

Wenn ihm nach Streit ist, kann ich auch in diesen Ton verfallen.

„Glaub, was du willst, aber vielleicht solltest du langsam aufhören, ein selbstsüchtiger Vollidiot zu sein. Es ist dir egal, was dir passiert? Gut. Aber ich habe eine Schwester, der das immer noch nicht egal ist. Obwohl ich ehrlich gesagt keine Ahnung habe, warum. Es ist noch keine drei Tage her, da musste ich wieder mitansehen, wie sie sich wegen dir die Augen ausheult“, schnauzt er mich an.

„Das war vor über einem Jahr“, betone ich geringschätzig, während ich auf die Treppen zulaufe und gelangweilt tue, obwohl ich mir bei der Vorstellung von Alex’ geröteten Augen am liebsten eigenhändig die Brust aufreißen würde, weil ich daran schuld bin. „Ich bin alt genug, ich brauche deinen Segen nicht, um meine Entscheidungen zu treffen.“

„Du bist ein verdammter Loser, sonst nichts“, brüllt er direkt hinter mir.

Ich drehe mich zu ihm um. „Dann solltest du glücklich sein, dass deine Schwester nicht mit mir zusammen ist“, fahre ich ihn provozierend an.

Die Jungs stehen noch immer bei den Autos und lassen uns unsere Angelegenheiten unter uns regeln, sie sind jedoch bereit, einzugreifen, sollte das nötig sein.

Meine Worte sollten ihn provozieren, aber obwohl er keinen Schritt zurückweicht, spüre ich auch keine Faust in meinem Gesicht. Er kneift immer noch wütend die Augen zusammen, aber er schüttelt den Kopf, als wäre er enttäuscht.

„Ich habe die ganze Zeit meine Klappe gehalten, weil ich gehofft hatte, Alex würde über dich hinwegkommen und sich in Dallas ein neues Leben aufbauen“, fängt er an, aber ich merke, dass er noch nicht fertig ist. „Aber jetzt ist sie wieder da, also solltest du entweder dein Leben in den Griff kriegen, wenn du sie noch liebst, oder wenigstens nett mit ihr umgehen, wenn dem nicht so ist. So oder so musst du etwas unternehmen, sie muss mit der Vergangenheit abschließen können. Sie verschwendet gerade ihr Leben. Du bist zu selbstsüchtig, um irgendwas zu bemerken, darum werde ich es für dich zusammenfassen. Sie ist nicht glücklich, und das ist allein deine Schuld, Bruder.“ Er geht einen Schritt zur Seite und läuft an mir vorbei. Als er die Treppen hochstürmt, fügt er hinzu: „Aber das ist dir bestimmt auch egal.“

Seine Schritte auf den Treppen hallen so laut wider, als würde er seine Wut an ihnen auslassen. Und ich? Ich stehe wie erstarrt da, während meine Brüder an mir vorbei nach oben gehen.

Sie ist zurück. Aber seit wann? Wie? Warum?

Brent klopft mir im Vorbeigehen auf die Schulter, aber ich reagiere nicht.

Erst als Nate mich anspricht, höre ich auf, vor mich hinzustarren, und schaue ihn an. „Sie hat eine Wohnung in der Stadt gemietet. Liam hat ihr vor drei Tagen beim Umzug geholfen, am Tag nach Thanksgiving. Er hat mir gesagt, er wisse nicht, ob sie mit ihrer Entscheidung glücklich ist. Er meint, sie würde irgendwie verloren wirken.“

Meine Antwort mischt sich mit einem Knurren. „Ich fühle mich schon beschissen genug. Du brauchst mich nicht weiter zu belehren.“

„Genau das ist es, Jay. Vielleicht muss ich das eben doch. Und ich sag dir was, auch wenn ich dafür gleich eine in die Fresse kriege. Connor, Isaac und Billy haben Alex geliebt, als wäre sie eine von ihnen. Connor hat sie behandelt wie seine eigene Tochter, und für das, was du ihr angetan hast, würde er dich grün und blau schlagen, wenn er könnte.“

Er hat recht. Er verdient eine auf die Fresse. Oder zwei. Ich verschone ihn nur, weil er auch bezüglich meiner Familie recht hat. Sie haben Alex geliebt. Alle drei würden sich für das schämen, was ich getan habe. Und ganz ehrlich, ich tue das auch.

Ohne Nate eine zu verpassen oder ihm auch nur zu antworten, laufe ich die Treppen hoch und geradewegs in mein Zimmer.

Sie ist wieder hier. Ich kann nicht glauben, dass sie wieder hier ist.

Als sie vor vier Jahren weggegangen ist, um zu studieren, habe ich mich vor quälender Angst einen Dreck darum geschert, was sie wollte. Ich konnte nur daran denken, was ich wollte. Und ich wollte sie einfach für immer in meinem Zimmer einsperren. Ich hatte damals vor so vielen Dingen Angst. Ich hatte Angst, dass sie ein einfaches Ziel für alle wäre, die uns provozieren wollten, und ich hatte Angst, dass sie einen netten Studenten kennenlernen und nie zu mir zurückkommen würde. Aber ich wusste, dass ich sie gehen lassen musste. Montag bis Freitag war die Hölle, und ich beruhigte mich erst, als ich sie am Wochenende wieder in meinen Armen hielt.

Das ging drei Jahre so, dann eröffnete ich ihr, dass ich sie nicht mehr in meinen Armen halten wollte. Angst und Schuld nagten immer noch an mir, wenn ich daran dachte, dass sie so weit weg war, aber nachdem meine Familie wie Tiere abgeschossen worden war, wusste ich, dass sie weit weg von mir am sichersten war.

Ich hatte trotzdem immer ein wachsames Auge auf sie und beobachtete sie eher mehr als weniger. Und Blane installierte eine Software auf ihrem Handy, sodass ich immer wusste, wo sie war. Da sie von Technologie noch nie etwas verstanden hat, hat sie es nie gemerkt. Aber selbst wenn sie etwas bemerkt hätte, wäre sie wahrscheinlich nicht überrascht gewesen und hätte bestimmt vermutet, dass Liam Blane darum gebeten hatte. Was ja auch tatsächlich der Fall war, genau genommen.

Das war vor dreizehn Monaten. Und jetzt ist sie wieder da. Sie wird hier sein, wie früher. Aber warum ist sie bloß zurückgekommen? Als sie vor sechs Monaten ihren Abschluss machte, wartete ich tagelang, dann wochenlang darauf, dass sie zurückkehrt. Aber anstatt sie an der Eingangstür des Clubs zu sehen, hörte ich, dass sie einen Job in Dallas gefunden hatte. Es ist ironisch, wie fertig es mich machte, dass sie nicht vorhatte, wieder nach Twican zu ziehen. Und jetzt kann ich nicht anders, als zu hoffen, dass sie wegen mir zurückgekommen ist. Dass das Mädchen, das mich einst mit Liebe und Bewunderung angeschaut hat, noch irgendwo in ihr steckt. Aber ich bin so ein Arsch, davon auszugehen, sie wäre wegen mir wieder hier. Ein Arsch, weil das nichts ändern würde. Es darf nichts ändern. Ich muss Abstand halten, koste es, was es wolle. Das wird schwer, wenn sie ständig hier ist, aber so ist das nun mal.

Ich schmeiße mich aufs Bett, starre an die Decke und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie ist wieder hier. Scheiße, wie soll ich bloß überspielen, dass ich ohne sie innerlich zugrunde gehe, wenn ich sie jeden Tag sehen muss? Ihre wunderschönen blauen Augen, ihr volles, braunes Haar, ihr strahlendes Lächeln … Wie soll ich nur so tun, als wollte ich all das nicht zurück? Und gleichzeitig kann ich es kaum erwarten, dass mein Mädchen wieder da ist, wo es hingehört.

Kapitel 3

Alexia

Ich atme aus und lasse meinen entspannten Körper mit einem dumpfen Geräusch auf die Matte fallen. Ich fixiere die weiße Decke, während ich ruhig ein- und ausatme, dann lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen.

Das ist mein Lieblingsraum in der neuen Wohnung. Immer wenn ich hier bin, sage ich mir, dass ich es nicht bereue, eine größere Wohnung als die in Dallas gesucht zu haben. Ich habe einen eigenen Yogaraum gebraucht. Ich habe ihn wirklich dringend gebraucht. Nicht zu fassen, wie viele Frauen im Fitnessstudio eine Yogastunde mit einem Kaffeeklatsch verwechseln. Wozu zahlt man denn überhaupt einen Monatsbeitrag in einem Fitnessstudio? Ich bin mir ziemlich sicher, dass es günstiger ist, sich einmal pro Woche in einem Café zu treffen. Und wozu überhaupt an einer Yogastunde teilnehmen, wenn man die komplette Stunde über nicht die Klappe hält? Total für die Katz, wenn ihr mich fragt.

Auf jeden Fall liebe ich diesen Raum. Eine große, beige Matte liegt in der Mitte und bedeckt etwas mehr als die Hälfte des Holzbodens; in der Nähe des Fensters steht ein Laufband mit Blick auf einen kleinen, grünen Park. Das brauche ich, wenn mir danach ist, ein paar Meilen zu joggen, denn im Freien werdet ihr mich nie joggen sehen, schon gar nicht, wenn draußen die sengende texanische Sommerhitze brütet. Und Liam wäre nicht wohl bei dem Gedanken, dass ich abends oder nach Sonnenuntergang allein draußen unterwegs bin. Er ist ein bisschen überfürsorglich. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, wie sein Leben aussieht, und ich muss zugeben, dass auch ich vorsichtig bin. Aber das heißt nicht, dass ich ihm nicht manchmal gern das Leben ein bisschen schwer mache.

Ich setze mich auf und schaue verschwitzt, wie ich bin, zur Spiegelwand, auf die ich bestanden habe. Die restlichen Wände sind in hellem Blau gestrichen, einer Farbe, die Frieden und Ruhe vermittelt. Frieden und Ruhe ist das, was ich dieses letzte Jahr am meisten gebraucht habe. Das hat mir wunderbar dabei geholfen, klare Gedanken zu fassen, und mich davon abgehalten, wegen meiner ganzen herzzerreißenden Gefühle wie Trauer, Einsamkeit und Sorge durchzudrehen. Oder mit der Wut auf die Person, die ich bedingungslos geliebt habe. Eine Person, die früher lieber gestorben wäre, als von mir getrennt zu sein. Wenn ich im Yogamodus bin, vergesse ich das alles. Nur für einen kleinen Moment, aber immerhin. Es hilft mir, nicht an den Schmerz zu denken. Es ist ziemlich sicher der Grund dafür, dass ich nicht verrückt geworden bin, nachdem ich durch eine nie gekannte Hölle gehen musste. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das reicht, jetzt, wo ich zurück in Twican bin. Ich nehme an, das werde ich abwarten müssen.

Mein Alltag wäre auch wesentlich besser, wenn Yoga sexuellen Frust abbauen könnte. Glaubt mir, es ist echt anstrengend, die ganze Zeit spitz zu sein. Mein Vibrator ist mittlerweile mein bester Freund in den einsamen, nicht enden wollenden Nächten, aber das arme überbeanspruchte Teil schafft auch nur ein wenig Abhilfe.

Ich lasse Frieden und Ruhe im Zimmer zurück, stehe auf und springe im Bad unter die Dusche. In null Komma nichts bin ich geduscht und abgetrocknet und gehe zurück in mein Zimmer, wo ich mir eine Jeans und ein weißes T-Shirt anziehe. Ich habe keine Zeit zu verlieren, weil ich noch ein paar Zeilen schreiben will, bevor Liam mich abholt. Ich habe immer noch vor, einen Schreibtisch für das Wohnzimmer zu kaufen, weil es geräumiger ist als das in Dallas, aber mittlerweile bin ich es gewohnt, ohne Tisch zu schreiben. Sobald ich fertig angezogen bin, lasse ich mich also auf meinem gemütlichen, grauen Samtsofa nieder.

Ich lege die Füße auf das weiße Tischchen, richte meine Augen auf den Computerbildschirm, streife die Tastatur mit meinen Fingern und dann … stoße ich einen langen Seufzer voller Verzweiflung und Frust aus. Und dieses Mal hat der Frust nichts mit sexueller Enthaltsamkeit zu tun. Wie jedes Mal, wenn ich während der letzten drei Wochen versucht habe, einen Satz zu formulieren, ist mein Kopf wie leer gefegt. Deshalb hatte ich auch schon in Dallas erste Zweifel an meiner Entscheidung, zurückzukommen. Verdammte Psyche. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass Yoga ausreicht, um in Twican einen klaren Kopf zu bewahren.

Mein Vater hat immer gesagt, dass das menschliche Gehirn ebenso faszinierend zu erkunden wie kompliziert zu verstehen ist. Aber er war Neurochirurg; was Ersteres angeht, kann ich also nicht behaupten, gleicher Meinung zu sein. Ich wäre ganz bestimmt nicht so begeistert wie er darüber, meine Hände täglich in die graue Substanz zu stecken. Und was den zweiten Teil angeht, habe ich schon längst den Versuch aufgegeben, zu verstehen, was im Kopf anderer Leute vorgeht. Sich selbst immer und immer wieder die gleichen Fragen zu stellen, erschöpft dermaßen, dass man für die Welt innerhalb kürzester Zeit nicht mehr existiert, das könnt ihr mir glauben. Wie sehr wünsche ich mir, dass mein Vater noch hier wäre, um mir dabei zu helfen, Jayce’ Gedanken zu verstehen. Natürlich ist dieser Wunsch lächerlich, denn wenn mein Vater nicht vor so vielen Jahren gestorben wäre, müsste ich seine Gedanken jetzt gar nicht entziffern. Wenn Liam und ich unseren Vater nicht wegen eines Herzinfarkts verloren hätten, hätte ich Jayce nämlich gar nicht kennengelernt.

Und obwohl Jayce mein Leben in eine Hölle verwandelt hat, als er mich verlassen hat, ist es schwer, sich eine Wirklichkeit vorzustellen, in der es ihn überhaupt nicht gibt. Es tut weh, sich das auch nur auszumalen. Das zärtliche Lächeln, die sanften, grünen Augen, die Lippen, die zuckten, wenn sie mich sahen, das schallende Lachen, wenn ich einen dummen Witz machte , die tiefe Stimme, die mir ins Ohr flüsterte , wie sehr er mich liebt … Ich denke, es stimmt, was die Leute sagen. Es ist besser, geliebt und diese Liebe verloren zu haben, als nie zu lieben. Jedes Mal, wenn ich an ihn denke, zerspringt mein Herz in tausend Stücke oder wird von einer unsichtbaren, gnadenlosen Hand zerquetscht, aber trotzdem kann ich mir eine Welt, in der ich ihn nicht kenne, nicht vorstellen.

Ich war dreizehn, als mein Vater gestorben ist, aber das kleine Mädchen, das zehn Jahre später immer noch irgendwo in mir steckt, hat ihn nie mehr gebraucht als während des letzten Jahres. Er hätte mich seine Prinzessin genannt und mit seinen starken, schützenden Armen festgehalten, bis das, was mich aufgewühlt hat, nicht mehr wehgetan hätte. Obwohl ich wirklich bezweifle, dass selbst die stärkste Umarmung meines Vaters mein Herz heilen könnte, nachdem es von dem Mann, den ich geliebt habe, zertrümmert wurde.

Dem Mann, den ich liebe.

Die Leute haben auch recht, wenn sie sagen, dass Liebe und Hass nah beieinanderliegen. Jedes Mal, wenn ich daran denke, wie sehr ich Jayce liebe, kocht wenig später Wut in mir hoch. Ich hasse ihn für das, was er mir angetan hat. Was er uns angetan hat. Ich gebe ihm die Schuld daran, wie mein Leben in letzter Zeit ausgesehen hat. Daran, wie verloren ich mich fühle, und daran, dass ich nicht mehr weiß, wo mein Platz in der Welt ist. Ich bin zufrieden mit der Wohnung und dem, was ich aus ihr gemacht habe. Sie ist gemütlich und einladend. Ich habe getan, was ich konnte, um die Wohnung in ein Zuhause zu verwandeln, und trotzdem kann ich nicht leugnen, dass all das nicht genug ist. Ich fühle mich immer noch vom Club angezogen. Auch von Jayce’ Haus. Es ist, als würde ein Teil von mir immer wieder versuchen, mich an die zwei einzigen Orte zu ziehen, an denen ich mich vollkommen zu Hause gefühlt habe, seit Jayce und ich zusammengekommen sind. Ich vermisse, wie wohl ich mich dort gefühlt habe, und mein Herz weiß das. Aber gleichzeitig weiß mein Herz auch, dass ich mich dort jetzt genauso allein fühlen würde wie hier. Die wenigen Tage, die ich im Club verbracht habe, bevor ich hier eingezogen bin, haben mir das gezeigt. Mir ist klar geworden, dass es nicht ausschlaggebend ist, wo ich mich aufhalte. Es war immer Jayce, der den Unterschied gemacht hat. Ich habe mich im Club und bei ihm zu Hause wohlgefühlt, weil er dort war. Mit ihm zusammen zu sein, bedeutete, daheim zu sein.

Mein Gott … Ich mache es schon wieder. Ich quäle mich wieder selbst. Warum vergesse ich immer, dass es vorbei ist? Aus und vorbei. Warum kann ich nicht nach vorn schauen? Vielleicht, weil ich ein ganzes Jahr lang die Hoffnung am Leben gehalten habe. Ich habe fest daran geglaubt, dass Jayce früher oder später zu mir zurückkommen würde. Es kann lange dauern, bis Trauer vergeht, und er hat nicht nur ein, sondern gleich drei Familienmitglieder auf einmal verloren. Und dann auch noch die letzten Verwandten, die er noch hatte. Sein Vater, Großvater und Onkel wurden ihm in einer einzigen grausamen Nacht entrissen, und seitdem ist er mehr als am Boden zerstört. Er ist vernarbt. Zerbrochen. Verloren. Aber ich habe trotzdem geglaubt, dass die Zeit seine Wunden heilen und mir irgendwann meinen Mann zurückgeben würde. Egal, mit wie vielen Narben. Daran hatte ich nie Zweifel. Aber die Zeit verflog und der Abgrund, den Jayce’ Verzweiflung zwischen uns aufgerissen hatte, wurde größer und größer. Und letzten Sommer habe ich endlich mit deutlicher, herzzerreißender Klarheit erkannt, dass nichts je diesen Abgrund würde überbrücken können. Nicht einen Deut. Unsere Geschichte ist passé. Das weiß ich jetzt. Es ist aus zwischen uns. Doch es verwirrt mich, wieder hier zu sein.

Und jetzt bin ich wieder einmal wütend auf mich, weil ich nicht stark genug bin, um meine Gedanken an ihn im Griff zu haben, genauso wenig wie diese verdammte Schreibblockade, für die ich ihn auch verantwortlich mache.

Mit einem lauten Seufzer lege ich meinen Laptop zur Seite. Liam wird mich sowieso bald abholen, und da ich in der letzten Woche nicht einen einzigen Satz zu Papier bringen konnte – zumindest keinen guten –, ist es höchst unwahrscheinlich, dass mir das in der nächsten halben Stunde gelingen wird.

Luft. Ich brauche frische Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Ich stehe vom Sofa auf, schlendere in mein Zimmer und ziehe mir eine lange, graue Strickjacke über das weiße T-Shirt. Im Flur schlüpfe ich in meine Turnschuhe, schnappe meine Tasche und verlasse die Wohnung und das Haus.

Das sonnige Wetter Anfang Dezember ist angenehm, es ist nicht zu kalt und ich gehe in aller Ruhe spazieren und genieße die frische Luft. Und trotzdem bin ich in weniger als fünf Minuten in der Innenstadt und kann mein Ziel schon erkennen. Ich verlangsame kurz meine Schritte, um Liam eine Nachricht zu schreiben und ihm zu sagen, wo ich bin. Sobald ich damit fertig bin, drücke ich die Glastür auf, durch die ich während der letzten zehn Jahre so oft gegangen bin.

Die Tür hinter mir ist noch nicht zugefallen, als ich schon freudig begrüßt werde. „Na sieh mal einer an, wer schon wieder hier ist! Sag bloß nicht, dass du mit den vier Büchern, die du vor ein paar Tagen gekauft hast, schon durch bist?“

Mr. Kinley legt ein Buch auf dem großen Tisch ab, auf dem die Neuerscheinungen ausgestellt werden, und umrundet den Tisch.

„Schuldig“, sage ich grinsend und komme ebenfalls an den Tisch. „Mein neuer Job beginnt erst in zwei Wochen, ich habe viel freie Zeit, die ich irgendwie totschlagen muss.“

So lange ich denken kann, bin ich einmal pro Woche in Mr. Kinleys Buchladen gekommen. Ich habe Bücher schon immer geliebt. Sogar bevor ich lesen konnte. Ich kann mich nicht an meine Mutter erinnern, sie ist an einer Lungenembolie gestorben, als ich keine zwei Jahre alt war, aber auch sie war eine Buchliebhaberin. Mein Vater hat dafür gesorgt, dass ich nach und nach jedes Buch der beeindruckenden Sammlung bekam, die sie selbst als Kind begonnen hatte. Über die Jahre und bis zu seinem Tod füllte sich das Bücherregal in meinem Kinderzimmer immer weiter mit ihren und meinen eigenen Büchern. Als mein Vater starb, übergab mir Liam einfach alle restlichen Bücher bis auf die, für die ich noch nicht alt genug war. Selbst während des Studiums kam ich jedes Wochenende in Mr. Kinleys Laden, um neue Bücher zu kaufen. Aber wie alles andere hat sich auch das vor über einem Jahr geändert.

Liam machte immer Witze darüber, wie gut es war, dass mein Vater uns bei seinem Tod genug Geld hinterlassen hatte, denn sonst müsste er mindestens zwanzig Autos am Tag reparieren, um meinen luxuriösen Lebensstil zu finanzieren. Die meisten meiner Bücher sind noch bei Liam zu Hause, aber in meiner Wohnung habe ich bereits zwei große Regale aufgestellt.

„Wonach ist dir denn heute?“, fragt mich Mr. Kinley. „Thriller, Sci-Fi, etwas Romantisches …?“

„Warum nicht eines von jedem?“, antworte ich in dem Moment, in dem eine Nachricht von Liam auf meinem Handy eintrifft. Nachdem ich sie gelesen habe, füge ich hinzu: „Ich habe zehn Minuten, um mich zu entscheiden. Ich bezweifle, dass mein Bruder Lust hat, hier zu warten, während ich Dutzende Klappentexte lese.“

„Dann haben wir keine Zeit, durch die Regale zu bummeln“, bemerkt er, während ich ihm zum Sci-Fi-Regal im hinteren Bereich des Ladens folge. „Ich habe eine Neuerscheinung, die dir bestimmt gefallen wird. Sie ist von einem neuen Autor, aber meiner Meinung nach hat er Talent“, erklärt er, während er mit dem Finger über zahlreiche Buchrücken fährt und schließlich ein graues Buch wählt.

Er zieht es heraus und überreicht es mir, und während ich den Klappentext lese, geht er zurück in den vorderen Bereich des Ladens, wo sich die Liebesromane befinden. Als ich ihm nachlaufe, hat er bereits ein weiteres Buch in der Hand und geht zum Tisch mit den Neuerscheinungen. Wenige Sekunden später schnappt er sich schon ein drittes Buch.

„Die hier werden dir gefallen“, sagt er und wartet ab, bis ich auch mit diesen beiden Klappentexten fertig bin.

„Die klingen gut“, stimme ich ihm zu.

„Ausgezeichnet. Wann werde ich eigentlich die Freude haben, deinen ersten Bestseller in meinem Schaufenster auszustellen?“

Mr. Kinley kennt sich nicht nur mit meinen literarischen Vorlieben bestens aus, er weiß auch, dass ich immer gern geschrieben und mit dem Gedanken gespielt habe, eine fünfteilige Liebesromanreihe zu veröffentlichen, an der ich seit Jahren arbeite. Im wahrsten Sinne seit Jahren.

„Hoffentlich vor meinem vierzigsten Geburtstag“, gebe ich zur Antwort. „Aber wenn ich daran denke, wie schwer es mir in letzter Zeit fällt, auch nur einen einzigen Satz zu schreiben, würde ich meine Hand dafür nicht ins Feuer legen.“

Ich muss schon wieder beinahe seufzen, wenn ich daran denke, wie unproduktiv ich in letzter Zeit war. Ausgerechnet jetzt, wo ich nicht mehr lernen muss und praktisch den ganzen Tag nichts zu tun habe, bis ich mit der Arbeit anfange. Ich könnte diese ganze freie Zeit nutzen, um voranzukommen, aber stattdessen stecke ich fest. Das ist unglaublich frustrierend, denn normalerweise fließen die Wörter nur so aus meinem Kopf.

Bevor Mr. Kinley mehr tun kann, als mir zaghaft zuzulächeln, werden wir von Motorradgeknatter abgelenkt, das draußen erst entfernt und dann immer lauter zu hören ist.

Ein Geräusch, das ich ebenfalls sehr vermisst habe.

„Sieht aus, als würde dich heute die komplette Mannschaft abholen.“ Er lächelt, als wir durch die Schaufenster mehrere Maschinen erkennen können, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite anhalten.

„Sieht so aus. Sie sind heute früh zusammen aus New Mexico losgefahren. Ich bin mir sicher, dass sie mit Liam hier gehalten haben, um sich einen Kaffee zu holen. Den wird Liam brauchen, ich habe nämlich vor, ihn in ein paar Möbelläden zu schleifen.“

Er kichert. „Dann wollen wir sie mal nicht warten lassen.“

Ich laufe mit ihm zur Kasse, und nachdem ich mein x-tes Buch bezahlt und mich von ihm verabschiedet habe, gehe ich aus dem Laden.

Ich bin gerade draußen und lasse den Türgriff los, als zu viele Dinge gleichzeitig auf mich einprasseln. Ein Auto, das mit quietschenden Reifen die kleine Straße entlangrast, laute knallende Geräusche, die alles andere um mich herum verstummen lassen, alle Chaser, die ihre Waffen ziehen und sich hinter geparkten Autos verschanzen … All das passiert so schnell, dass ich wie versteinert bin und mich nicht bewegen kann, um im Laden Schutz zu suchen. Es vergehen wenige Sekunden, bis mir der stechende Schmerz in meinem Bauch plötzlich den Atem raubt und mir überraschend langsam die Kraft aus den Beinmuskeln zieht, die mich aufrecht halten. Laute mir vertraute Stimmen brüllen meinen Namen, aber mein Blick sinkt auf die rote Flüssigkeit, die mein T-Shirt durchnässt, während nach der Schießerei wieder Stille in der Straße herrscht.

Kapitel 4

Jayce

„Alexia!“, schreie ich. „Nein, Alex!“

Meine Brüder schießen noch immer auf das Auto, das wie eine gesengte Sau davonrast, aber meine eigene Pistole fällt auf den Boden, als ich auf den Buchladen zu renne. Ich sehe nur Alex.

Ihr Rücken rutscht an der Tür hinunter, die Bewegung scheint langsam und ist doch schnell. In meinem Magen breitet sich Übelkeit aus, mein Blick hängt an dem großen roten Fleck fest, der sich mitten auf ihrem Bauch weiter ausbreitet. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, bis ich mich endlich neben sie auf den Boden fallen lassen und sie zu mir ziehen kann.

Die Schießerei ist vorüber, und ich kann Alex’ Wimmern hören, als sie ihren Kopf auf meine Brust legt. Ich höre auch Ben, der den Notruf anschreit, sie sollen gefälligst ihre Ärsche herbewegen, aber meine ganze Aufmerksamkeit gilt der einzigen Frau, die ich je geliebt habe. Der einzigen, die ich je lieben werde.

„Bleib bei mir, Baby. Ja? Bleib bei mir. Alles wird gut.“

„Jayce“, flüstert sie.

„Ich bin hier, Alex. Ich bin hier bei dir. Halte durch für mich, ja?“

Ihre Hand, die sie nach mir ausstreckt, ist kalt, und sie drückt mich erschreckend schwach. Als ihr Atem flacher wird und ihre Augen sich mit Schwere füllen, wird jeder meiner Herzschläge von einem unerträglichen Schmerz begleitet.

Ich kann sie nicht verlieren. Bitte nicht! Bitte, Gott, nimm sie mir nicht weg. Verdammt, ich kann sie nicht verlieren.

„Alex? O scheiße, nein, Alexia …“

Liam kniet sich langsam neben seiner Schwester hin und betrachtet sie, als könnte er nicht glauben, was sich da genau vor seinen Augen abspielt.

„Liam“, sagt sie mit einem Keuchen und zittert in meinen Armen.

„Halte durch, kleine Schwester. Der Krankenwagen ist schon unterwegs“, verspricht er und küsst sie auf die Stirn.

„Ich liebe dich“, sagt sie ihm, und ein unheimliches Gefühl versetzt mir einen Stich, als sie ihm nicht verspricht, zu kämpfen.

Diese drei Worte … Ich weiß, sie hat sie nicht zu mir gesagt, aber wie ein selbstsüchtiger Arsch wünsche ich mir, das hätte sie.

„Ich liebe dich auch, Alex. Also gehe nicht. Wehe, du lässt mich alleine. Bitte, komm schon, halte durch, ja? Sie sind schon unterwegs. Sie werden gleich hier sein.“

Gleich. Aber sogar das ist viel zu lang. Es scheint, als bliebe die Zeit stehen, während Tränen Liams Wangen hinunterlaufen. Sie verspricht immer noch nichts. Sie lächelt ihn nur an. Ihr wunderschönes Lächeln. Obwohl es mir das Herz bricht, ihre Augen von Trauer verschleiert zu sehen.

Als endlich Sirenen zu hören sind, dreht sie ihren Kopf und schaut mich an.

„Und du …“ Sie unterbricht sich, um einen schwachen Atemzug zu nehmen. „… bist die Liebe meines Lebens.“

Für einen winzigen Moment bin ich wie erstarrt. Ich muss diese Worte geträumt haben. Das muss ich, weil ich von ihr alles erwartet habe, nur das nicht. Sie sollte mich hassen. Ich habe alles getan, was ich konnte, damit sie mich hasst. Sie sollte mich so sehr hassen, wie ich mich selbst hasse.

Ich kann das Zittern in meiner Stimme nicht verbergen, als ich endlich spreche. „Und du meine. Verdammt noch mal, du bist auch meine, Alexia“, rede ich weiter und merke, dass ich in Tränen ausgebrochen bin. „Es tut mir so leid, Baby. Es tut mir leid, ich liebe dich. Das weißt du, oder? Ich liebe dich.“

Sie muss das wissen. Sie muss wissen, dass ich sie immer geliebt habe.

Die Sirenen werden lauter und Tränen benetzen ihr Engelsgesicht.

Sie drückt meine Hand noch einmal schwach und schüttelt kaum sichtbar den Kopf, als ob nichts von dem, was ich ihr angetan habe, wichtig wäre. „Bitte …“ Sie kämpft darum, die Augen offen zu halten. „Küss mich?“, murmelt sie.

Ihre Worte überraschen mich erneut. Unmöglich, zu wissen, wie oft ich seit dem Moment, in dem ich sie aus meinem Leben gedrängt habe, davon geträumt habe, ihre Lippen noch einmal zu kosten. Ihre weichen, rosa Lippen, die gerade überhaupt nicht rosa sind. Sie sind beängstigend blass, genau wie ihre Haut. Ich koste sie trotzdem. Meine Lippen streifen ihre mit dem sanftesten Kuss, den ich ihr je gegeben habe. Sie rührt sich kaum in meinen Armen, und ich frage mich, ob sie meine Tränen schmecken kann.

Meine scheiß Tränen.

Ich habe den Eindruck, dass sie schwächer wird, und etwas in mir blutet mit stechendem Schmerz. Einem Schmerz, der jeden Millimeter meiner Haut und jede Zelle meines Körpers verbrennt und der noch schmerzhafter wird, als ich mich von ihren Lippen trenne und sehe, wie sie die Augen schließt.

„Nein, nicht die Augen zumachen. Nein, Alexia, nicht die Augen zumachen. Bleib bei mir. Baby, schau mich an“, rufe ich ihr ein ums andere Mal zu, aber es ändert nichts.

„Alex, nicht, bitte …“, höre ich Liam neben mir.

Sein Flehen ist so nutzlos wie meines. Ihre schönen blauen Augen öffnen sich nicht mehr.

„Entschuldigung, legen Sie sie bitte vorsichtig auf dem Boden ab und treten Sie zurück.“

Obwohl ich meinen Blick nicht von Alex’ totenblassem Gesicht abwende und die Stimme, die mich anspricht, nicht erkenne, weiß ich, wer da spricht. Aber viele Sekunden lang scheine ich nicht die Kraft aufzubringen, mich zu bewegen. Was zum Teufel können sie schon tun, um ihr zu helfen? Sie …

„Bitte, jede Sekunde zählt“, drängt der Sanitäter in einem strengen Tonfall, den ich unter normalen Umständen niemandem würde durchgehen lassen.