The Curse of Fortune and Fate - Anne Herzel - E-Book

The Curse of Fortune and Fate E-Book

Anne Herzel

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

IM NEBEL LAUERT DAS WISPERN DES VERGESSENS Innerhalb kürzester Zeit hat Vanelle alles verloren: Das Vertrauen ihrer Crew und Rivays Rückhalt, denn nun soll sie der Hinrichtung der Alverre-Bande durch die Hand ihres Vaters beiwohnen. Doch nicht nur in Oceanshare breitet sich der verhängnisvolle Nebel aus. Die Götterbiester erheben sich, das Chaos hält die gesamte Welt in Atem. Als eine unerwartete Wendung den Piraten die Flucht ermöglicht, beginnt für alle Artefakt-Träger ein Wettlauf mit der Zeit. Längst geht es nicht mehr nur um ihre Flüche, sondern das Schicksal aller – auch das der Götter selbst. Das große Finale der Curse-Trilogie von Anne Herzel entführt erneut in ungeahnte Tiefen, wo Gefühle, Schicksalsschläge und alte Bekannte im Verborgenen lauern – nichts ist, wie es scheint.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 559

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2024 bei DrachenStern Verlag, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Jara Dressler

Korrektorat: Johannes Eickhorst

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Illustrationen Gebärdensprache: manimundo

eISBN 978-3-95669-211-6

www.bookspot.de

 

 

Für diejenigen, die ihre eigenen Farben in meinen Büchern wiedergefunden haben.

Prolog

Die Ketten klirrten leise.

Nur vage erahnte sie die Bewegungen des Schiffes, kein Licht drang in das unter Wasser liegende Gefängnis. Rivay stank. Das Haar klebte ihr strähnig im Gesicht und die eisernen Schellen scheuerten ihre Haut wund. Sie war allein. Niemand kam, um nach ihr zu sehen oder mit ihr zu sprechen, denn außer einer schwarz gekleideten Gestalt, die ihr einmal am Tag einen halbvollen Wasserschlauch und Brot vor die Füße warf, geschah nichts. Längst rotierten ihre Gedanken nur noch um eine Frage: Was würde mit ihnen geschehen?

In jener Nacht hatte man sie in einem unachtsamen Moment überrascht. Ihre stark dezimierte Crew, ausgelaugt von der täglichen, harten Arbeit, lag in den Kojen. Rivay selbst hatte mit ihren eigenen, düsteren Gedanken zu kämpfen – deshalb wachte niemand vom Krähennest aus über die See. Sie kamen aus dem Nichts. Rivay musste die Erste gewesen sein, die man überwältigte. Nach und nach zogen sie die Besatzung aus ihren Betten und schleiften sie an Deck, zuletzt Vanelle, die in jener glorreichen Sekunde eine Wiedervereinigung erlebte – denn der Name ihres Angreifers lautete Spinell Oceanshare.

Er offenbarte ihn jedem einzelnen Piraten: Den offenkundigen Verrat der Frau, der Rivay in all den Monaten zu vertrauen gelernt hatte. Zu der sie in einem schwachen Moment geglaubt hatte, ein tiefergehendes Band knüpfen hätte zu können. Aber all dies bedeutete nichts mehr. Schon von dem Augenblick an, in dem die Piratenjäger Rivays Besatzung auf das fremde Schiff schleppten. Sie sah, wie man jeden einzelnen tief in den Rumpf hinab zwang, in einen langen Raum mit Ketten an den Wänden. Nur sie führte man bis ganz nach hinten, in einen abgetrennten Bereich, in welchem sie gesondert gefangen gehalten wurde. So ließ man Rivay zurück, ohne den Mantel oder die Taschenuhr, die vergessen und unerreichbar in ihrer Kajüte lagen.

Das Quietschen des Türscharniers drang an ihre Ohren, ein scharfes Geräusch in der sie umgebenden Stille. Mehrere Wortfetzen drangen herein: Beleidigungen, das ein oder andere Knurren, mehrstimmige Flüche. Wer auch immer der Besucher sein mochte, die Crew verachtete ihn. Rivay hob nicht einmal den Kopf. Sie blieb an die Wand gelehnt sitzen, trotz des Lichts der mitgebrachten Öllampe. Es stach in ihren Augen.

»Rivay.«

Ihr dünnes Hauchen schien geisterhaft. Fast glaubte Rivay, sie bildete es sich nur ein. Lauernd blickte sie auf und erkannte tatsächlich die wässrigen, blauen Augen jener Frau, die sie am liebsten eigenhändig dem Tod übergeben hätte. Vanelle. Langsam kam sie auf sie zu und sank vor ihr auf ein Knie, machte sogar Andeutungen, in ihren Taschen wühlen zu wollen. »Ich befreie euch. Es dauert nur eine Sekunde.«

Ein Ruck ging durch Rivays in Mitleidenschaft gezogene Glieder. Verrat, halte es durch ihren Kopf, ein gewaltiges Echo, das ihre Gedanken zerriss. Sie stieß Vanelle gewalttätig zurück, die Ketten schepperten. »Verschwinde, Verräterin! Ich falle nicht auf deine verdammten Tricks herein!«

»Rivay –!«

»Hätte ich dich doch damals nur getötet!« Sie wusste nicht, ob die Erscheinung ihrer Einbildung entsprang oder ob Vanelle wahrhaftig vor ihr stand. Sie glaubte nicht daran: Denn die Vanelle, die sie kannte, existiere nicht mehr.

Kapitel 1

Vanelle stolperte zurück. Rivay sah aus, als wolle er sie angreifen: die Augen so weit aufgerissen, dass es ihr Angst einjagte, die Zähne gebleckt, die Brauen herabgesenkt. Sie wusste, dass man ihnen nur das Nötigste an Wasser und Nahrung zugestand, damit die Piraten geradeso am Leben blieben – allem voran dem Kapitän, den man auf grausame Weise vom Rest der Mannschaft isolierte.

Es hatte Vanelle viel Überwindung und enormen Mut gekostet, in das Gefängnis im Rumpf hinabzusteigen. Sie hatte zwar keinen Schlüssel bei sich, dafür jedoch ein dünnes, langes Metallteil, mit dem sie hoffte, die Schlösser öffnen zu können. Aber so weit kam es nicht. Schon von der Sekunde an, in der sie das Unterdeck betreten hatte, begegnete man ihr mit offenkundiger Feindseligkeit. All das Vertrauen, die Freundschaften, der Zusammenhalt – zerbrochen wie eine morsche Schiffsplanke. Vor allem Lineth schmetterte ihr in ihrem erbärmlichen Zustand extreme Beleidigungen entgegen, während Kania einfach nur leise schluchzte. Raina biss die Zähne aufeinander, ein tiefes Knurren entkam ihrer Kehle, denn nur die Ketten hielten die große Piratin davon ab, auf Vanelle loszugehen. Thoma wirkte erschöpft, ebenso wie Kolaris, der kraftlos in den Fesseln hing. Enril mied ihren Blick. Allein Aelin betrachtete sie nicht mit unverhohlener Abneigung, vergleichbar mit Elan, der sogar versuchte, mit Vanelle zu sprechen. Die anderen übertönten ihn. Und Rivay? Ihr Kapitän, der so geschunden wirkte wie nie, dem das schwarze Haar unordentlich an der Stirn klebte, die Augenringe so dunkel, dass es ihr die Eingeweide zusammenschnürte – er hasste sie inbrünstig. Der Stoß gegen ihre Brust schmerzte, jedoch nicht so sehr wie ihr nun erneut berstendes Herz. Gebrochen kam Vanelle auf die Beine. Sie konnte hier nichts tun. Niemand schenkte ihr Gehör, schon gar nicht er. Deshalb suchte sie ihr Heil in der Flucht.

Gejagt von den Verwünschungen der Piraten, kehrte sie auf Deck zurück. Innerlich in Aufruhr kam sie zum Stehen, die Hand auf das raue Holz der Reling gepresst. Das fremde Schiff gab ihr keinen Halt, längst nicht so, wie es die Oasis getan hätte. Sie vermisste den stolzen Kahn, den sie in Arowana verloren hatten. Und jetzt? Man hielt Kurs Richtung Oceanshare, ein Gedanke, der Vanelle Übelkeit bereitete. Man beobachtete sie, tagein, tagaus. Insbesondere Spinell ließ sie nie aus den Augen. Er, ihr Bruder, glaubte doch tatsächlich, man habe sie gegen ihren Willen festgehalten und zu einem Leben als Piratin gezwungen. Bisher hatte sie ihm nicht widersprochen. Sie konnte, durfte nicht zugeben, dass sie längst nicht mehr zu den Piratenjägern gehörte, immerhin galt ihre Loyalität lange schon nur noch ihnen: der Alverre-Piratenbande. Rivay war ihr Kapitän und würde es auch weiter sein, unwichtig wie sehr er sie gerade verabscheute.

»Schwesterchen?«

Die tiefe, ihr fremd erscheinende Stimme ließ Vanelle zusammenzucken. Er kam von oberhalb des Achterdecks auf sie zu und strich sich mit einer beiläufigen Geste das kurze, kastanienfarbene Haar aus dem Gesicht. Schon damals, am Tag ihres Sprungs auf das Schiff der Piraten, hatte er Vanelle überragt. Diesen Vorsprung hatte er zwischenzeitlich ausgebaut. Fast 18 Monate war sie mit der Alverre-Bande übers Meer gesegelt – diese Zeitspanne hatte offensichtlich gereicht, um aus dem einstigen Jugendlichen einen Mann zu machen. Sie erkannte ihn kaum wieder, ihren kleinen Bruder, nun 16, beinahe 17 Jahre alt. »Alles in Ordnung?«

Vanelle mied seinen Blick. Auch wenn sie nun schon geraume Zeit miteinander segelten, so hatte sie es bisher nicht geschafft, ein ernsthaftes Gespräch mit Spinell zu führen. Sie wusste zwar, dass er die Verletzung von damals überlebt hatte, nicht jedoch, was genau danach geschehen sein mochte. Immerhin hatte sich bestätigt, dass Spinell die Verantwortung für das Aussetzen des Kopfgeldes trug, das ihnen so viel Ärger bereitet hatte. Über eine andere Sache konnte sie aber nur Vermutungen anstellen: Vaters Meinung zu all diesen Dingen. So sehr sie es von sich wegschieben wollte, sie würde ihm begegnen. Schon bald, denn in weniger als einer Woche erreichten sie Oceanshare. Und dann? Sogar die dünne, fragende Stimme in ihrem Kopf machte Vanelle Vorwürfe. Sie ahnte, was in der Stadt der Piratenjäger geschehen würde. Eine Bande wie die von Rivay erwartete der Galgen. Die Erinnerungen an vergangene Hinrichtungen spielten sich ohne ihr Zutun vor ihrem geistigen Auge ab: baumelnde Körper, besudelte Kleidung, verzerrte Gesichter. Vanelle ballte die Hände zu Fäusten.

»Du siehst besorgt aus«, ergriff Spinell nach einer Weile das Wort, ohne dass Vanelle ihm geantwortet hätte. »Ist es wegen Vater? Ich verstehe, dass du aufgeregt bist. Das wäre ich an deiner Stelle auch.«

»Ich weiß nicht, was ich zu ihm sagen soll.«

»Keine Bange, er ist im Bilde. Wenn überhaupt wird er sich freuen, dass uns die Alverre-Bande endlich in die Hände gefallen ist. Spätestens morgen Abend stoßen wir mit ihm gemeinsam darauf an.« Vanelle stutzte. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit sah sie Spinell ins Gesicht. Ein freudiges Glänzen lag in seinen meerblauen Augen, sie glichen ihren. Da, der verlorengeglaubte Funken der Jugend. Vielleicht war er doch noch nicht so sehr erwachsen, wie es den Anschein machte.

»Morgen?«

»Er kommt uns entgegen. Schließlich ist es schon eine Weile her, dass die Familie –« Vanelle hörte die übrigen Worte nicht. Morgen schon. Die aufkommende Panik verschaffte ihr ein flaues Gefühl. Dafür war sie nicht bereit. Sie konnte, wollte ihn noch nicht sehen, jenen Menschen, der ihr Leben so sehr geprägt hatte. Ihre Narbe kribbelte unangenehm. »Vanelle, hörst du mir zu?«

»Tut mir leid. Ich bin müde. Vielleicht haue ich mich etwas aufs Ohr.«

Spinell schwenkte den Kopf hin und her. »Okay. Lass es mich wissen, falls du etwas brauchst. Du bist ganz schön blass, weißt du?« Sie nickte, ehe sie ihren Bruder am Rande der Reling zurückließ, mit der Ahnung, dass sie in dieser Nacht kaum Schlaf finden würde.

Der Anbruch des nächsten Tages brachte Vanelle keine Erleichterung. Vorsorglich stattete man sie mit der traditionellen Kleidung eines jeden Piratenjägers aus: enganliegende Hosen und kniehohe Stiefel, ein grünes Hemd, das Emblem der Ocean-shares – ein die Meere teilendes Schwert – angebracht auf Gürtelschnalle und Schulter. Es schien Vanelle zu verhöhnen, denn die Erinnerung an Zeiten, in denen sie es mit Stolz getragen hatte, waren so blass wie ein Döbel.

Mit starrem Blick wurde sie Zeugin seines Erscheinens: Carrick Oceanshare! Breitbeinig stand er auf Deck seines Lieblingsschiffes, der wendigen, schlanken Bark namens Hunting Tania. Ein Tribut an ihre verstorbene Mutter und gleichzeitig das schnellste Gefährt, das Vanelle kannte. Mit ihr, einer nur durch wenige Matrosen steuerbaren Schönheit aus dunklem Holz, begab er sich nur dann auf See, wenn er sein Ziel in greifbarer Nähe glaubte. So wie jetzt, als der kleinere Kahn an dem größeren andockte. Vanelle sank das Herz in die Hose, als der muskulöse Mann die Planke überquerte. Auch an ihm hatten die vergangenen Monate Spuren hinterlassen, denn graue Strähnen durchzogen das für die Oceanshares markante, kastanienbraune Haar. Die neuen, tiefen Falten um die Mundwinkel machten ihn grimmiger. Dennoch zeigte er ein dünnes Lächeln beim Anblick seiner beiden Kinder.

»Spinell. Vanelle. Es ist eine Weile her.« Ergeben senkte ihr Bruder das Haupt und ging auf ein Knie hinab, Vanelle verharrte und starrte ihn an, den sie überragenden Mann mit den stechenden blauen Augen. Auch sie glichen einander, obwohl er kalt auf sie hinabschaute. Unvermittelt packte Spinell ihre Hand und zog sie zu sich hinunter, sodass Vanelle sich gezwungen sah, seine Haltung zu mimen. Sie hasste alles daran. »Die Zeit auf See ist dir gut bekommen, Tochter. Du wirkst nicht mehr halb so verängstigt wie noch vor einem Jahr.«

Die Stille hielt an, Vanelle musste ihm antworten. »Danke«, erwiderte sie daher knapp, ansonsten völlig regungslos. Carrick brummte wohlwollend.

»Spinell. Sprich.« Ihr Bruder hob den Kopf.

»Ich habe Vanelle wie befohlen aus den Fängen der Piraten befreit. Sie liegen in Ketten, bereit für ihre gerechte Strafe.« Ihr Vater stieß einen kurzen, abgehakten Ton aus, der wohl Zustimmung symbolisierte.

»Der Kapitän?«

»Isoliert von den Übrigen.«

»Und die, du weißt schon?«

»Sichergestellt. Du findest alles in meinem Besitz.«

»Gut. Vanelle.« Herausfordernd blickte sie auf, nicht im Geringsten eingeschüchtert. Ihr Vater schenkte ihr ein kalkuliertes Grinsen. »Auf ein Wort.« Es bedurfte nur eines Winks an seine Untergebenen, um den Weg zu jenem Raum freizumachen, von dem Vanelle vermutete, dass er ihrem Bruder, dem Kapitän dieses Schiffes, als Kajüte diente. Ihr Vater nahm hinter dem breiten Tisch Platz und deutete auf einen bereitstehenden Stuhl. »Setz dich.«

Vanelle kam der Bitte nach. Noch ehe Carrick zu Sprechen ansetzte, fiel ihr etwas ins Auge: Rivays Mantel, der Dreispitz und ein Schlag Papier, welcher ihr bei näherer Betrachtung die Kehle zuschnürte. Sie erkannte das im Licht leuchtende Muschelsymbol sofort. Es sprenkelte die Holzverkleidung mit bunten Punkten. »Du scheinst zu wissen, worum es sich dabei handelt.« Es ergab keinen Sinn, jetzt noch zu leugnen.

»Das tue ich.« Sie klang ruhig, gelassen. Immerhin das.

»Ausgezeichnet. Das erspart mir eine lange Erklärung.« Sie beobachtete, wie ihr Vater die Pergamentstücke inspizierte. Er legte sie aneinander, das entstandene Bild war unvollständig. »Sechs insgesamt. Nicht schlecht für einen Piraten. Dir ist bewusst, dass der siebte Teil in Oceanshare liegt?« Er wartete Vanelles Antwort nicht ab. »Ohne die achte Karte ist das Puzzle leider nicht komplett. Du weißt nicht zufällig, wo diese zu finden ist?« Er lauerte auf eine Reaktion, einen Hinweis, irgendetwas – aber Vanelle zuckte nicht einmal mit der Wimper. Sie kannte den bohrenden Blick dieses Mannes, viel zu häufig hatte sie ihn in ihrer Kindheit ertragen müssen. Noch vor mehr als einem Jahr wäre sie darunter eingeknickt, doch die Zeit bei den Piraten hatte sie gelehrt, widerspenstig zu sein. Stark. Das verdankte sie Rivay, ebenso wie Raina, Aelin, Kylas und sogar Vinrick.

»Nein, keine Ahnung.«

»Wie ärgerlich«, gab Carrick nach einigen Sekunden zurück. »Nun, dann wird es dich freuen, zu hören, dass das fortan deine Aufgabe sein wird. Niemals habe ich damit gerechnet, dass all diese Karten in meinen Besitz übergehen würden. Jetzt ist die Vollendung in greifbarer Nähe. Wusste doch, dass der verdammte Alverre-Pirat sie alle zusammentragen würde, nachdem er damals so respektlos nach unserem Stammbuch verlangt hat.« Ihr Vater lachte auf, ein freudloses, gehässiges Geräusch, das Vanelle nicht erreichte. Er wollte, dass sie die letzte Karte besorgte? Natürlich wusste sie, dass dieses Stück Papier nur bei einer einzigen Person zu finden sein würde: Lucien Dorado. Rivays ehemaligem Geliebten. »Und das Medaillon?«

Die unerwartete Frage riss Vanelle aus ihren Überlegungen. Er wollte es noch immer zurück? Das Familienerbstück, das sie seit dem Verbrennen der Oasis unmittelbar bei sich trug? Sie spürte das Gewicht in ihrer Tasche, neben ihrem Kompass. »Ich habe es nicht retten können.« Carrick raunte missbilligend.

»Na schön. Daran lässt sich wohl nichts ändern.« Ihr Vater vollführte eine wegwerfende Geste. »Vorerst darfst du gehen. Halt dich bereit, sobald wir Oceanshare erreichen.« Wortlos schob Vanelle den Stuhl zurück, nur allzu geneigt, die Gegenwart dieses Mannes zu verlassen. Sie wandte sich der Tür zu, die Zähne so heftig aufeinandergepresst, dass es schmerzte. »Und Vanelle.« Sie stoppte mitten in der Bewegung. »Ich erwarte, dass du deine Loyalität unter Beweis stellst. Ich weiß genau, was damals passiert ist – du magst zwar meine Tochter sein, doch verkehrt hast du dennoch mit diesem niederen Geschmeiß.«

Vanelle dankte den Göttern, dass sie mit dem Rücken zu ihm stand. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. »Stich in See, sobald wir die Piraten in Oceanshare hingerichtet haben. Wenn du diese Sache mit den Karten für mich erledigst, verspreche ich dir, dich angemessen zu entlohnen. So, wie es einer Tochter aus dem Hause Oceanshare gebührt.«

Erst in ihrer Kabine erlaubte Vanelle es sich, die Wut zuzulassen. Mit einem Aufschrei donnerte sie ein metallenes Wassergefäß gegen die Wand, die gesamte Situation erschütterte sie auf ungekannte Art und Weise. Rivays Taschenuhr befand sich ohne Frage in der Kapitänskajüte, verborgen in seinem Mantel. Auch Enrils Laute glaubte sie gesehen zu haben, neben vielerlei anderen Gütern, die man den Piraten geraubt hatte. Vielleicht sogar Aelins Ring. Vater will mich entlohnen. In einem Anflug von Zorn trat sie gegen den einsamen Stuhl in dem kargen Raum. Von wegen Lohn! Das ist eine Strafe! Dafür, dass ich ihm entkommen bin! Dass ich mich ihm nicht viel länger beugen wollte! Dabei wollte ich nur … Vanelles Lippen formten eine dünne Linie. Freiheit an der Seite ihrer Mannschaft und ihres Kapitäns. Nicht mehr und nicht weniger.

Ein Plan reifte in ihrem Kopf. Perfide, gefährlich, wahrscheinlich würde er ihren Tod bedeuten – doch Vanelle schreckte auch vor dieser Möglichkeit nicht zurück. Sie würde nicht kampflos aufgeben. Daher legte sie sich eine Maske auf, um in den kommenden Wochen ihre wahre Gesinnung zu verbergen. Kalt und kalkuliert musste sie erscheinen, ungebrochen von der Grausamkeit ihrer Sippe. Von nun an sollte sie die perfekte Piratenjägerin sein. Mit gestrafften Schultern stieg sie neuerlich an Deck und hielt nach der einzigen Person Ausschau, die ihr zur Seite stehen würde. Vanelle fand ihn in seiner Kajüte, allein diesmal, ohne die eisige Präsenz ihres Vaters.

»Vanelle, was führt dich –«

»Spinell.« Sie ergriff seine Hände. »Ich brauche deine Hilfe!«

Kapitel 2

Mit wachsender Besorgnis musterte Vanelle die Männer rund um das Schafott. Sie testeten die parallel stehenden, erhöht liegenden Galgenbalken und zogen den Hebel. Die Luken, die den Todgeweihten wortwörtlich den Boden unter den Füßen wegziehen sollten, klappten lautstark auf. Schon morgen, dachte Vanelle, ein Knoten an jener Stelle, an der eigentlich ihr Magen saß. Vater hatte ihr befohlen, die Arbeiten am Hafen zu überwachen und sicherzustellen, dass alles in seinem Sinne verlief, denn bei der Hinrichtung der Alverre-Piratenbande durfte nichts schiefgehen. Auch das war ein Teil ihrer Strafe. Die ganze Stadt würde dabei zusehen. Hier, an diesem Ort, der vor mehr als einem Jahr den Beginn ihrer Reise markiert hatte. Ihr Pferd wieherte leise.

Vanelles Blick glitt hinauf zum wolkenlosen, von leichtem Nebel verhangenen Himmel. Auch hierher hatte sich der Dunstschleier ausgebreitet, innerhalb der Stadtmauern erschien er erträglicher als auf dem Land. Schwertmöwen, beheimatet nur in der Gegend um Oceanshare, saßen auf den Kacheldächern – grässliche Viecher in Schwarz mit grauem Kopf, die den Müll der Leute fraßen und sich dennoch Vögel schimpften. Efeu wuchs an einigen Häuserwänden nahe der Küste empor, gleichmäßig schlugen die Wellen gegen die Hafenmauern. Vanelle betrachtete das Meer, den Steg und die Marina der Hafenstadt. Ein Anblick, den sie früher genossen hatte. Jetzt aber fand sie nichts Schönes mehr daran. Fahrig studierte sie die Küstenlinie und die dort liegenden Wassergefährte. Hoffentlich ging alles glatt. Ihre Vorbereitungen waren abgeschlossen, nun konnte sie lediglich warten.

»Na da hol mich doch eine Sirene!«

Die unerwartete, polternde Stimme ließ Vanelle zusammenfahren. Als darüber hinaus auch noch eine prankenhafte Hand auf ihre Schulter fiel, stellten sich ihr die Nackenhaare auf. Sie erkannte den breit gebauten, in die Jahre gekommenen Mann sofort: Sinlar Orwell, ehemaliges Mitglied der Marine und jetziger Kapitän der Feder der Meere, der Primavera, des größten Handelsschiffes der Welt. Doch der Kahn ankerte hier nicht – ihn hätte sie wohl kaum übersehen. Der Knoten in ihrem Magen platzte und sie spürte, wie die Säure in ihrer Speiseröhre nach oben stieg. »Was denn, habe ich dich so sehr überrascht? Du bist weiß wie die Gischt!«

Mühsam schluckte Vanelle das aufsteigende Erbrochene hinunter. Es hinterließ den Geschmack von Schlamm auf ihrer Zunge. Dieser Kerl, derjenige, der ihr diesen Schlamassel eingebrockt hatte – was tat er hier? Wie kam er dazu, sie so herzlich zu begrüßen? Mordlust sickerte tröpfchenweise in ihren Verstand, eine völlig neue Empfindung, die einen roten Schleier über ihre Wahrnehmung legte. Es kostete sie enorme Beherrschung, nicht sofort zum Schwert zu greifen.

»Warum bist du in Oceanshare?« Vanelle verbannte jeden Vorwurf aus ihrer Stimme, darum bemüht, ein Lächeln auf ihre Lippen zu zwingen. Es gelang ihr nicht gänzlich, trotz der Maske, die sie seit ihrer Ankunft vor zehn Tagen so mühevoll aufrechterhielt. Sinlar grinste breit.

»Kannst du dir das nicht denken? Ich komme gerade vom Anwesen deiner Familie.« Er zog einen prall gefüllten, klimpernden Beutel hervor. »Meine Belohnung für damals! Ich hoffe, du verzeihst mir die Sache mit dem Brief, denn ich war nicht ehrlich zu dir. Es erschien mir lukrativer, die gefangenen Piraten in deinem Namen direkt nach Oceanshare zu schicken und in die Rechtlosigkeit zu verkaufen, anstatt sie in Bluewhale aufhängen zu lassen. Piratenjäger teilen ihre Beute nicht gern, das weiß ich aus meiner Jugend mit Carrick. Verzeih, dass ich dich so unverblümt ausgenutzt habe.« Es verlangte Vanelle alles ab, das falsche Lächeln zu keiner Grimasse verkommen zu lassen. Sinlar schien ihren inneren Zwist zu übersehen. »Dein Vater hat die Piraten in der Zwischenzeit gewinnbringend verkauft – und ein Teil des Erlöses stand mir zu. Ich habe die Primavera verlassen, wie du dir sicher denken kannst. Mit dieser Summe kann ich meinen Lebensabend außerhalb der Meere verbringen. Vielleicht stelle ich mich sogar in den Dienst deiner Familie. Dein Vater hat angedeutet, demnächst einen gewaltigen Vorstoß gegen die Piraterie zu wagen.« Vanelle hörte die letzten Worte kaum. Sinlars unverblümtes Geständnis, hervorgebracht ohne jede Reue, machte sie rasend.

»Ich verstehe«, entgegnete sie tonlos und zeigte die Zähne. Du Ratte, schrie sie innerlich. Ihre angespannten Muskeln befahlen ihr, an Ort und Stelle das Schwert zu ziehen, um es in seiner grinsenden Visage zu versenken.

»Nun denn, ich schätze, wir sehen uns morgen. Carrick sagte, er mache aus der Hinrichtung der Alverre-Bande ein Spektakel – das möchte ich mir ungern entgehen lassen.« Er lachte schallend auf, ehe er Vanelle erneut auf die Schulter klopfte. Noch während er abzog, ergriff sie die Zügel ihres Pferdes. Ein schwarzer Rappe, gezüchtet für die Familienmitglieder der Oceanshares, der sie mit hoher Geschwindigkeit zurück zum Anwesen ihrer Familie brachte – das weiße Gebäude auf dem Hügel, hoch über der Stadt. Nahe den Ställen sprang Vanelle aus dem Sattel, die Zügel warf sie wutschnaubend in die Hände eines Stallburschen. Ihre Füße trugen sie zum Trainingsplatz mit dem alten Flumbaum am Rand, inmitten des Gebäudes, der ringsherum von den Balkonen beobachtet werden konnte. Wie üblich trainierten hier die Matrosen, wie auch sie es während ihrer Kindheit und Jugend getan hatte. Sie alle, vier an der Zahl, neigten voller Ehrfurcht die Köpfe. Sie erwarteten, dass Vanelle wortlos an ihnen vorbeizog, doch stattdessen ergriff sie eines der Trainingsschwerter. Es lag gut in der Hand, wog jedoch weniger als die echten Exemplare aus Metall. Vanelle schwang es locker umher und nahm die Übenden ins Visier. Alles in ihr drängte danach, die angestaute Wut abzubauen.

»Greift mich an!«, befahl sie knapp, die Stimme so voll unterdrückter Aggression, dass der Jüngste einen Schritt zurückmachte. Niemand rührte auch nur einen Finger.

»Fräulein Oceanshare –«

»Greift mich an!«, brüllte Vanelle aus Leibeskräften. »Das ist ein Befehl! Oder wollt ihr euch mir widersetzen?« Die Anwesenden tauschten unbehagliche Blicke, zumindest einer nahm Kampfhaltung an. Größer als sie selbst, er erinnerte an Tadpole, diesen widerlichen Piraten, der sie in der Piratenbucht gefangengenommen hatte. Ein dünnes Lächeln stahl sich auf Vanelles Züge, als sie ebenfalls in Angriffsposition ging. Der Mann wagte eine unbeholfene Attacke, indem er frontal das Schwert in die Höhe riss. Sie vollführte einen Ausfallschritt, denn sie sah ihm an, dass er noch nicht lange trainierte. Mit Leichtigkeit prellte sie dem überrumpelten Kerl den Ellbogen in die Mitte und vernahm sein ersticktes Japsen, ehe sie ihn zu Boden schleuderte. Die Übungswaffe glitt ihm aus den Fingern, er krümmte den Rücken und hustete. Was sagst du jetzt, Kaulquappe? Vanelle achtete nicht länger auf ihn, denn der Zweite kam auf sie zu. Kleiner als sie selbst, eine bessere Ausgangshaltung als sein Vorgänger, mit feinen Gesichtszügen, die Ezner ähnelten. Der Kapitänin der Ratos. Dieser Gegner wusste mit seiner Klinge umzugehen, auch seine Attacken erfolgten koordinierter – aber Vanelle erlaubte ihm nicht, sie zurückzudrängen. Offensiv zwang sie ihn mit herben Schlägen Stück für Stück über die Kampffläche, so schnell, dass er schon nach kurzer Zeit außer Atem geriet. Es mangelte ihm offensichtlich an Ausdauer. Sie täuschte an, stellte zufrieden fest, dass er darauf einging, und donnerte ihm mit voller Wucht das Schwert gegen die Stirn. Die stumpfe Schneide hinterließ eine oberflächliche, dafür stark blutende Verletzung, die ihren Gegner in die Knie zwang. Das ist für Enril, Raina und Rivay. Vanelle fasste den Dritten ins Auge. Eingeschüchtert wagte er nur einen halbherzigen Versuch, ihr entgegenzutreten, seine Haltung rief ihr Gideon ins Gedächtnis, diesen verlogenen Hund – sie fegte ihm die Klinge aus den Händen und brach ihm dabei das Handgelenk. Sofort wirbelte sie herum und fixierte den letzten Matrosen, während der Schrei des Zurückgelassenen ihre Ohren zum Klingeln brachte. Auf gewisse Weise erinnerte er sie an Sinlar. Derselbe, verschmitzte Gesichtsausdruck, der sie zum Rasen brachte. Vanelle sprang mit Schwung auf ihn zu und er riss die Waffe vor die Brust in der Hoffnung, sie so abwehren zu können. Vergeblich! Krachend schlug Holz auf Holz, ihr Gegenüber zuckte zurück, doch sie rammte ihm den Knauf gegen die Wange. Getroffen torkelte der Mann davon und fiel auf den Hosenboden. Sie starrte ihn an, dieses wimmernde Häuflein Elend zu ihren Füßen. Wie konntest du mich so hinters Licht führen?! Ihr Starren hielt an, bis ein einsames Klatschen ihren Wutanfall beendete.

»So kämpft nur eine Oceanshare!«

Vater stand dort oben, am Rande des Balkons, ein wohlwollender Ausdruck zierte seine Miene. Es mochte das erste Mal sein, dass er Vanelle auf diese Weise betrachtete – und es bereitete ihr keinerlei Freude. Sie wollte ihm schon den Rücken kehren, da erregte eine Bewegung ihr Augenmerk: Hinter ihm, nahe einer der Säulen am Rande der Veranda, trat eine Gestalt aus den Schatten. Das kurze, an den Seiten ausrasierte Haar besaß dieselbe Farbe wie Vanelles, gleichwohl wie die Augen der Person, die glasklar auf sie hinabschauten. Seine Nase hing etwas krumm in seinem runden, von einigen Falten durchzogenen Gesicht – und auf irritierende Art glaubte Vanelle, ihn zu kennen. Er gesellte sich an die Seite ihres Vaters. Onkel Carrus? Nein, dieser lebte nicht mehr. Aber jener Mensch sah ihm ähnlich.

Sie tauschten keine Worte, starrten einander nur an, ehe der großgewachsene Mann behände über die Brüstung kletterte und sich den Balkon hinabhangelte. Staub wirbelte auf, als seine Stiefel den sandigen Boden berührten. Er nahm es auf, eines der verlorenen Übungsschwerter, und wog es abschätzig in der Hand, all das unter den wachsamen Augen ihres Vaters. Ein Lächeln huschte über die Lippen des Fremden, dann stürmte er auf Vanelle zu. Kampfbereit riss sie den Arm nach oben, sodass die stumpfen Klingen donnernd aufeinanderprallten. Ihr Gegner wartete nicht ab. Erneut preschte er nach vorn, überrumpelt von der Gewalt verlor Vanelle an Boden. Sie biss die Zähne zusammen. Wer auch immer hier vor ihr stand, sie würde nicht unterliegen – und sie beschloss, ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Sie legte all den Zorn der vergangenen Monate in die folgenden Attacken: Gekonnt duckte sie sich unter einer Parade hinweg, drückte die Stiefel in den Sand und sprang auf den Älteren zu, im Begriff, ihm die Waffe aus den Händen zu schlagen. Der Mann zeigte Zähne und drehte sich aus ihrem Angriff heraus, die flache Seite des Schwertes prallte gegen ihren Hinterkopf. Vanelle, schon dabei, auf dem Boden aufzuschlagen, fing ihren Fall mit einem Arm ab und rollte über die Schulter davon. Keuchend kam sie zurück auf die Beine, fixiert von ihrem Kontrahenten, der sie direkt musterte. Ihr Kopf dröhnte, er lächelte.

»Stimmt«, sagte er mit heller, kratziger Stimme. »So verbissen kämpft wirklich nur eine Oceanshare.« Der Mann warf das Schwert beiseite und kam auf sie zu, Vanelle verharrte, besonders dann, als er sie in eine herzliche Umarmung zog. »Du siehst gut aus. Älter natürlich. Ich habe dich ewig nicht gesehen.« Nicht nur seine Erscheinung, auch seine Stimme schien ihr vertraut.

»Wer bist du?«

Der Fremde lachte knapp auf. »Du erkennst mich nicht? Denk scharf nach, Kleine.« Er nahm etwas Abstand, sodass Vanelle ihn eingehender betrachten konnte: Argwöhnisch musterte sie das irritierend vertraute Antlitz, die schiefe, wohl im Laufe der Zeit mehrmals gebrochene Nase, die Grübchen um seine Mundwinkel, die hellblauen Augen, das Haar in der Farbe der Kastanie. Urplötzlich wusste sie, wer da vor ihr stand. Es traf Vanelle völlig unvorbereitet.

»Tante Carra?«

Ihr Gegenüber schmunzelte. »Nicht ganz. Carra ist in Ordnung, aber ich bevorzuge Onkel.« Vanelles Kinnlade klappte hinunter. Carra Oceanshare, das einzige, ältere Geschwisterkind ihres Vaters. Sie mochte ihre Tante – nein, ihren Onkel – zuletzt in ihrer Kindheit gesehen haben, schließlich kamen die Geschwister seit dem Tod ihrer Eltern vor mehr als 30 Jahren nicht gut miteinander aus. In ihren frühen Jahren hatte Carra nur wenig Zeit in Oceanshare verbracht, irgendwann blieben seine Besuche vollständig aus. Etwas sagte Vanelle, dass Carras Identität damit in Zusammenhang stand. Warum war er jetzt hier? Carra wartete indes ab, als sei Vanelles Reaktion richtungsweisend für den weiteren Verlauf ihres Verhältnisses. Sie holte tief Luft.

»Ich freue mich, dich zu sehen, Onkel – aber was tust du hier?« Verblüffung schlug ihr aus der Miene ihres Verwandten entgegen. Fast so, als habe er ein völlig anderes Echo erwartet.

»Du redest auch nicht lange um das Loch im Netz herum, was? Deine Reise um die Welt scheint dich offener gemacht zu haben. Ganz im Gegensatz zu deinem Vater.« Da schwang Anerkennung in seinen Worten mit. »Du kannst dich bei Spinell bedanken. Er hat mich aufgesucht, in meinem Sitz nahe Porta Lucca. Ich habe ihm bei der Suche nach dir geholfen, Fräulein Piratin.« Eine Woge der Zuneigung spülte über Vanelle hinweg. »Außerdem ist dein Bruder dafür verantwortlich, dass Carrick und ich wieder miteinander sprechen.« Er sah zum Balkon auf, doch vom Oberhaupt der Oceanshares war nichts zu sehen. »Na ja, mehr oder weniger. Er ist noch genauso dickköpfig wie seit dem Tod unserer Eltern. Dachte eigentlich, ihr Kinder hättet ihm irgendwann den Stock aus dem Arsch gezogen. Da habe ich mich wohl getäuscht.« Er stupste Vanelle mit dem Fingerknöchel gegen die Nase – eine Geste, die er in ihrer Kindheit häufig vollführt hatte. »Beeindruckend, wirklich. Nicht viele schaffen es, sich über einen so langen Zeitraum unter Piraten zu mischen. Dein Vater gibt es zwar nicht zu, aber er ist verdammt stolz auf dich. Die Alverre-Piratenbande ist ihm schon seit diesem Vorfall ein riesiger Dorn im Auge.«

Vanelle wusste, worauf Carra anspielte, auch wenn ihr die Worte einen neuerlichen Knoten im Magen verursachten: Damals, noch vor ihrer Zeit auf der Oasis, hatte ihr verstorbener Onkel Carrus die Alverre-Piraten angegriffen. Er starb im Zweikampf mit Rivay und verlor das Medaillon. Jenes, von dem Vanelle nach wie vor behauptete, sie habe es nicht bei sich. Gemeinsam mit ihren übrigen Habseligkeiten wartete es versteckt in ihrem Zimmer, verborgen vor den Augen ihrer Familie.

»Du bleibst also für die Hinrichtung?«

»Richtig. Womöglich noch länger als das. Carrick und ich planen einen großen Coup innerhalb des Loeco-Meers. Eventuell legen wir die Familienzweige zusammen – es wäre schön, wieder mit einem meiner Brüder über die Meere zu segeln.« Die Sehnsucht in seinen Worten schnürte Vanelle die Kehle zu. Es musste ihrem Onkel eine besondere Art der Genugtuung verschaffen, dem Untergang der Piraten beizuwohnen, die Carrus auf dem Gewissen hatten. Auch sie konnte sich an ihn erinnern: sanftmütiger als ihr Vater, jedoch genauso hitzköpfig wie der Rest von ihnen – obgleich Vanelle diese Eigenschaft abzulegen versuchte. Vater hatte Carrus oft mit Großvater verglichen, obwohl Vanelle den stolzen Piratenjäger nie hatte kennenlernen dürfen. Sie glaubte, ins Wanken zu geraten. Ein erfahrener Piratenjäger wie Carra besaß durchaus das Potenzial, ihre Pläne zu durchkreuzen. Hoffentlich ging alles glatt.

»Fräulein Oceanshare, Ihr verspätet Euch!« Die Ermahnung der Bediensteten ließ Vanelle kalt. Gehetzt hielt die Frau saubere Kleidung, eine Bürste und den ihr gehörenden Waffengürtel bereit, eine Schale mit Wasser erwartete sie ebenfalls. Vanelle gähnte ausgelassen, nur langsam kam sie auf die Beine, als besäße sie alle Zeit der Welt. »Lass ausrichten, dass Vater ohne mich losgehen soll. Ich bin rechtzeitig zu Beginn der Hinrichtung da.«

»Aber –«

»Ich sagte: Geh.« Die Frau knickste, ehe sie eilig davonrauschte. Vanelle sank indes erneut in die weichen Kissen zurück. Nur ihr wild gegen ihre Brust hämmerndes Herz machte ihr bewusst, dass es nun nicht mehr aufzuhalten war. Beruhige dich. Das gehört zum Plan. Erst als sie Pferdegetrappel durch das geöffnete Fenster vernahm, stand Vanelle auf. Behände zog sie sich an und betrachtete die eigene Kontur im Spiegel. Es fühlte sich an wie ein Déjà-vu. In voller Montur würde sie auftreten, das Schwert an der Hüfte, eine Schusswaffe im Holster. So verlangt es die Tradition, dachte sie mit einem grimmigen Schmunzeln. Auch ein Großteil der Dienerschaft sollte am Hafenspektakel teilnehmen, daher schlüpfte Vanelle ungesehen aus dem Zimmer, nur wenige Dinge in ihren Taschen: das Medaillon, den Kompass, Rivays Taschenuhr, Aelins Ring und die Ohrringe aus Aquarin, die sie seit Porta Lucca mit sich herumtrug. Das Anwesen hatte sich in den vergangenen eineinhalb Jahren nicht verändert. Noch immer lagen die weißen Korridore schmucklos vor ihr, nur der dunkelrote Teppich dämpfte die Schritte ihrer Stiefelsohlen. Die Porträts ihrer Ahnen, angebracht an den Wänden, verfolgten sie mit ihren stechend blauen Augen. Sie huschte vorbei an Innenhof und Flumbaum, von dem sie wohlweislich einen dünnen Zweig abbrach, hinauf zum Arbeitszimmer ihres Vaters – dort, wo sie hoffte, das letzte Puzzleteil ihrer langen Reise zu finden.

Die Tür lag verschlossen vor ihr, natürlich, doch das hielt Vanelle nicht auf. Sie steckte das dünnere Ende des Holzes ins Schloss, holte tief Luft und erlaubte den göttlichen Kräften, zu fließen. Nach nur wenigen Sekunden knackte es, dann zersprang das Türschloss in seine Einzelteile. Grüne Farne drangen aus dem so entstandenen Loch hervor, Vanelle hatte es mit der Magie ihres Kompasses gesprengt. Nur ein Tropfen Blut rann ihre Nase hinab, sie wischte ihn einfach beiseite, bevor sie ins Innere des Raumes eintrat. Das Zimmer entsprach dem schlichten Geschmack ihres Vaters: ein überschaubarer Arbeitstisch in der Mitte, darunter ein Teppich im Stil des Korridors, eine Öllampe auf der Tischplatte. Zu beiden Seiten Bücherregale, die eingerollte Seekarten enthielten. Entschlossen zog sie den Kompass hervor.

»Die Karten«, wisperte sie dem Artefakt zu, augenblicklich drehte die Nadel bei und hielt auf einer kleinen Kiste am Fuße des rechten Regals inne, zunächst verborgen unter einer Vielzahl von Schriftrollen. Vanelle zog das unscheinbare Ding heraus, denn das schlichte Gefäß lud nicht gerade dazu ein, dessen Inhalt zu ergründen. Dennoch fiel ihr das Gesuchte ins Auge, sofort nachdem sie die Kiste geöffnet hatte: das vielfarbige, im Licht schimmernde Muschelsymbol des namenlosen Gottes. Es prankte aus einem sich aufrollenden Pergamentstück hervor, darunter viele weitere. Erleichtert atmete sie aus, schließlich hatte sie mit ihrer Vermutung richtig gelegen. Vater bewahrte sie hier auf – ebenso wie ein Buch, gebunden in seidigem Einband, beschlagen mit einem metallenen, es vollständig umgreifenden Verschluss, auf dem sie das Emblem ihrer Familie entdeckte. Und darauf, eingebettet wie ein tief liegendes Relief, erahnte Vanelle eine ihr bekannte Form. Das Stammbuch der Oceanshares, das echte, es gab keinen Zweifel – und die Vertiefung schrie nach dem Medaillon. Deshalb wollte Vater es so verzweifelt in die Finger bekommen. Eilig kramte Vanelle das kleine Objekt hervor und legte es in die Mulde. Zu ihrer Verblüffung vernahm sie ein metallisches Klicken und das winzige Schloss sprang auf. Handschriftliche Seiten über dieses und jenes Familienmitglied, nur auf der letzten Seite erwartete sie das, wonach sie so lange gesucht hatten: Ein gefaltetes Stück alten Pergaments, auch dieses trug das Symbol der Tiefenmuschel. Sorgsam verstaute sie all die Karten in ihrem Stiefel. Erst dann richtete sie den Blick auf die Öllampe.

Kapitel 3

Rivay konnte die Augen kaum offenhalten. Ohnmacht war keine Option, was ihre Beine leider nicht davon abhielt, träge über den Boden zu schaben. Schleppend lief sie hinter ihnen her, den verdammten schwarzen Pferden der Ocean-share-Sippe, an diesem trüben Morgen umspielt von seichten Nebelschwaden. Den Rücken Vanelles suchte sie vergebens, denn nur drei der Piratenjäger, flankiert von Marinesoldaten, führten die Gefangenen in das Herz der Küstenstadt hinein: Carrick Oceanshare, der Jüngling Spinell sowie ein großgewachsener Mann mit halbrasiertem Kopf. Auch jetzt trennte man sie vom Rest ihrer Mannschaft, allein trottete sie dem größten Rappen hinterher, jenem, der dem beschissenen Oberhaupt der Jägerfamilie gehörte. Die übrige Crew ging, teilweise in unterschiedlich großen Gruppen und ebenfalls gefesselt durch dicke Stricke, mit etwas Abstand hinter ihr.

Trotz ihres wohl letzten Spaziergangs tat es gut, die Sonne auf der Haut zu spüren. Die Zeit unter Deck, abgeschieden in völliger Dunkelheit, hatte Rivay beinahe des Lebenswillens beraubt. Es wurde in Oceanshare nicht wirklich besser, aber immerhin hörte sie dann und wann die anderen Gefangenen miteinander sprechen. Das hielt sie am Leben, obgleich nur knapp, denn die wenige Nahrung und das eigentlich immer schale Wasser machte viele von ihnen krank.

»Mach hinne, Alverre«, spie ihr Carrick Oceanshare entgegen, ein widerwärtiges Grinsen entblößte die Zähne des breitschultrigen Mannes. Rivay schnalzte mit der Zunge.

»Wozu die Eile? Kannst es wohl kaum erwarten, mich hängen zu sehen, was?« Der Piratenjäger schenkte ihr ein vielsagendes Lächeln, beendete das Gespräch aber an dieser Stelle, denn der Zug erreichte den Saum der Stadt. Vielstimmiges Gebrabbel schlug ihnen entgegen, hervorgestoßen aus unzähligen Kehlen, die den versammelten Bewohnern der Metropole gehörten. Sie bildeten eine Gasse, durch die die Piraten gezwungen wurden, begleitet von abfälligen Beschimpfungen, beworfen mit Essensresten, angespuckt und gedemütigt. Rivay hob den Blick. Das allein würde niemals reichen, um ihren Stolz zu brechen. Wenn sie heute sterben sollte, dann mit Würde.

Hufgetrappel wurde laut, ausgehend von den hinter ihnen liegenden Straßen. Die Menge verstummte, aufgeregtes Wispern erhob sich und Rivay erkannte diejenige Oceanshare, die sie bisher vermisst hatte: Vanelle sah völlig verändert aus, das Gesicht straff und angestrengt, die Kleidung sauber und das Haar streng zurückgebunden. Wie eine richtige Piratenjägerin, ging es ihr durch den Kopf, bevor sich ihre Eingeweide vor Hass zusammenzogen. Aber Vanelle schenkte Rivay keinen Blick. Stattdessen schloss sie zu ihrem Vater auf, der ihr Herannahen mit verkniffener Miene quittierte.

»Wo warst du?« Der Vorwurf wog schwer wie Blei.

»Ich habe eine Weile gebraucht, mich präsentabel zu machen.«

Prüfend musterte Carrick ihr Erscheinungsbild. »Lass das nicht zur Gewohnheit werden.« Geschmeidig rutschte er an der Seite des Gauls hinab und übergab die Zügel einem herannahenden Matrosen. Vanelle tat es ihm gleich, ebenso wie ihr Bruder und der Rivay unbekannte Oceanshare. Alle Pferde wurden an den Rand des Marktplatzes gebracht, neben die der sie begleitenden, hochrangigen Marine-Offiziere. Unweit von ihnen entdeckte Rivay Kanonen. Nach der Hinrichtung würde man sie wahrscheinlich abfeuern, als feierlicher Abschluss des Spektakels – das kannte sie bereits aus ihrer Kindheit in Bluewhale. Die Piraten und sie selbst führte man auf die andere Seite des Schafotts, die Küste im Rücken. Hier drängte man sie in Reihen. Seitlich neben ihnen, allein dem Volk zugewandt, nahmen die Oceanshares ihren Platz ein, ebenso wie einige weitere hochrangige Gefolgsleute. Und dort fand Rivay jemanden, den sie nicht erwartet hatte: Den Kapitän der Primavera, Sinlar Orwell, der Vanelle soeben zunickte. Eine Welle des Ekels rollte über sie hinweg. Vanelle, diese Verräterin, sie hatte sie alle betrogen – und es gab nichts, was Rivay jetzt noch tun konnte.

Kapitel 4

Unauffällig suchte Vanelle den morgendlichen Himmel ab. Heute, hier, in diesem Moment, setzte sie alles auf eine Karte. Noch konnte sie nichts sehen. Gleichzeitig spürte sie einen Blick auf sich ruhen. Sie begegnete grünen Augen, sie gehörten zu Aelin. Er sah so schrecklich aus wie die übrigen Piraten: geschunden, ungewaschen, kränklich. Fliegen kreisten über ihnen, schließlich hatte keiner der Seeräuber im letzten Monat genug Wasser zum Trinken, geschweige denn zum Waschen erhalten. Dennoch lag kein Vorwurf in seiner Miene. Es schien viel eher, als wolle er sich ihr mitteilen. Aber Vanelle wandte sich ab. Sie konnte ihm nicht standhalten, seinem Blick, die Scham war zu groß. Bitte haltet noch ein wenig länger durch!

Überall vor dem erhöht liegenden Galgengerüst warteten Menschen. Dicht gedrängt, Kinder auf den Schultern, als handle es sich nicht um eine Hinrichtung, sondern einen vergnüglichen Ausflug. Vanelle empfand Abscheu bei diesem Anblick, denn zu sehr erinnerte es sie an die Male, die man auch sie in ihrer Kindheit gezwungen hatte, jenen Veranstaltungen beizuwohnen.

»Bürger Oceanshares!«, erhob ihr Vater die Stimme, er stand mittig auf dem Schafott und blickte wohlwollend über die Versammelten hinweg. »Einmal mehr ist es an der Zeit, unsere Gesellschaft vom Geschmeiß der Meere zu säubern!« Zustimmende Rufe drangen an ihn heran, Vanelle presste die Zähne zusammen. Noch immer nichts am Himmel zu sehen. »Am heutigen Tage tilgen wir Gaia von der Existenz dieser niederen Insekten – einer Bande, die nicht nur den braven Bürgern unseres Kontinents immensen Schaden zugefügt hat, nein, denn auch meine Familie blieb nicht von den Taten dieser Monster verschont!« Die Menschen schrien wütend auf, vereinzelt warfen sie fauliges Obst in Richtung der Piraten. Nichts davon erreichte sie, der Abstand war zu groß. Ihr Vater vollführte eine knappe Geste, die vorderste Reihe der Seeräuber wurde mit vorgehaltenen Schwertern an Vanelle vorbeigetrieben. Sie entdeckte Kolaris unter ihnen, den herzensguten Koch, der deutlich an Gewicht verloren hatte. Seine müden Augen huschten bittend über ihr Gesicht, ein Anblick, der Vanelle schier das Herz platzen ließ.

»Brandschatzer«, skandierte ihr Vater, während einer nach dem anderen auf das Schafott gestoßen wurden. »Diebe.« Auch Kolaris schubste man die Treppe hinauf. »Mörder.« Vanelle suchte panisch den Himmel ab. Warum passierte da nichts? Ruhelos warf sie ihrem Bruder einen Seitenblick zu, er wirkte nicht minder besorgt. Jetzt legten sie ihnen die Schlingen um den Hals, kurz darauf stülpten sie den Todgeweihten grobe Säcke über die Köpfe.

»Brut ohne Rettung«, rief Carrick, die Menge wurde still. Nein, hallte es in Vanelles Gedanken wider, ich darf das nicht zulassen! Sie wollte nach vorn stürzen, doch ein unverhoffter Zug um ihre Hand hielt sie an Ort und Stelle. Spinell umklammerte ihre Finger, die Geste genügte, um Vanelle erstarren zu lassen. Ihr Vater bemerkte von alledem nichts. »Mögen euch die Götter gnädig sein!«

Der Matrose vor dem Galgen reagierte. Mit einer einzigen, flüssigen Bewegung zog er den Hebel, die Falltüren unterhalb der Piraten gaben nach und nahmen ihnen den Halt. Sie stürzten in die Tiefe und die Seile strafften sich mit einem zerrenden Laut. Die Menge schrie, die Verurteilten strampelten hilflos, allem voran Kolaris. Die Jubelrufe schwollen an. Vanelle konnte sich nicht abwenden, auch wenn der Drang übermächtig in ihr wütete. Sie hörte das Kreischen der Menschen, es klang hohl in ihren Ohren. Erneut flog ihr Blick gen Himmel, doch das strahlende Blau verhöhnte sie. Es machte ihr bewusst, dass sie tatenlos dabei zusah, wie jemand, den sie zu beschützen geschworen hatte, jämmerlich verreckte.

Sie hörte Ketten und spähte hinüber zu einem schmutzigen Bündel, dass sich gewaltvoll in die Fesseln warf. Thoma, der mit entsetztem Gesicht gegen die Gewalt des Metalls ankämpfte. »Spinell«, wisperte sie, während Kolaris verzweifelt um sein Leben rang. Thoma zerrte immer ungezügelter an den Kettengliedern. »Bitte ...« Der Griff um ihre Hand verschwand, als die ersten Todgeweihten allmählich zur Ruhe kamen. Einer von ihnen nässte sich ein, begleitet vom Johlen des Volkes. Nur Kolaris hielt bis zum Ende durch, doch schließlich erstarben auch seine Bewegungen. Vanelles Herz setzte einen Schlag aus, sie bemerkte kaum, dass Spinell nicht mehr neben ihr weilte. Thoma weinte dicke Tränen der Fassungslosigkeit. Noch hatte er seinen Kampf gegen die Fessel nicht aufgegeben. Carrick Oceanshare riss indes die Hände nach oben, er suhlte sich in den begeisterten Schreien der Menschen, die nicht zur Ruhe kommen wollten.

»Der da hat es wohl besonders eilig! Bringt ihn mit den nächsten.«

Nein! Vanelle warf den Kopf herum, nur kurz verharrte sie bei Thoma, der in den Dreck gestoßen wurde. Längst hatte er alles Kindliche verloren. Einer der Matrosen zog ihn brutal auf die Beine zurück, während man die zweite Gruppe Piraten wie Vieh vor sich hertrieb. In dieser befand sich der Informationshändler Elan, ebenso wie die Navigatorin Lineth und die Schiffsärztin Kania. Vanelle wurde eiskalt, als auch sie an ihr vorbeigeführt wurden. Elans Augen glänzten, ein nachdenklicher Ausdruck umspielte seine Lippen und fast glaubte Vanelle, er wolle ihr aufmunternd zunicken – da schoben sie Lineth an ihr vorbei. Ihr Gesicht war so stark von Wut zerfressen, dass Vanelle den Drang verspürte, Abstand zu ihr zu gewinnen. Einzig Kania wirkte leer, innerlich wie äußerlich, denn sie sah Vanelle nicht einmal an. Und noch immer kein Zeichen am Himmel. Was sollte sie nur tun?

Kapitel 5

Rivay verzweifelte, als Kolaris’ Körper den Widerstand aufgab. Sie sah sie vor sich: seine ersten Tage auf der Oasis, die geteilten Mahlzeiten, die Zeit, nachdem Thoma zu ihnen gestoßen war – all das gehörte nun der Vergangenheit an. Unwiederbringlich, vorbei. Das hatte der gutmütige Smutje nicht verdient, keiner von ihnen durfte auf diese Weise sterben! Entsetzen befiel sie, als die Seile kurzerhand abgeschnitten und die leblosen Körper auf einen Haufen geworfen wurden. War sie wirklich dazu verdammt, dem Ende ihrer gesamten Mannschaft beizuwohnen? Zeuge dessen zu werden, wie jeder Einzelne starb? Rivay wusste, dass Carrick Oceanshare ihren Tod für das Finale nutzen würde. Sie, die Anführerin der verhassten Piratenbande, bewahrte er sich bis zum Schluss. Das Glanzstück seines Beutezuges. Dieses Stück Scheiße. Ein Knurren entkam ihrer kraftlosen Kehle. Wenn sie doch nur die Taschenuhr bei sich hätte, vielleicht gäbe es dann eine Chance. Aber diese würde sie wohl niemals wiedersehen.

»Bringt die Nächsten!«, brüllte Carrick Oceanshare, sein breites Grinsen lud dazu ein, ihm jeden Zahn einzeln aus der Visage zu prügeln. Übersprudelnd vor Zorn musste Rivay mitansehen, wie Thoma, Elan, Lineth, Kania und einige Weitere aufs Schafott gestoßen wurden. Vorbei an Vanelle, die aussah wie die Gischt auf einer heranrollenden Welle. Auch ihr Antlitz erfüllte ungeahntes Entsetzen, aber Rivay ließ sich davon nicht täuschen. Sie spielte ihnen noch immer etwas vor – wie seit jenem schicksalhaften Tag, der die verfluchte Piratenjägerin auf ihr Schiff geführt hatte. Die Matrosen warfen neue Stricke über den Galgen, die Schlaufen baumelten vor den Gesichtern der Seeräuber. Elans Kopf drückte man zuerst hinein, er stieß einen lauten Fluch aus, den Rivay selbst über das Wüten der Menge hinweg vernahm.

»Das Seil scheuert meine empfindliche Haut wund!«, rief er vorwurfsvoll, seiner räudigen Verfassung zum Trotz, denn auch ihm hing das Haar strähnig in die Stirn. Schweißflecken bedeckten den grünen, verkrusteten Damast-Stoff. Der Marinesoldat stieß ihm dafür den Ellbogen in die Seite. Elan keuchte, ein verschmitztes Lächeln auf dem Gesicht. Selbst in dieser Situation, in dem Wissen, dass ihm der Tod bevorstand, konnte er nicht ernst bleiben. Rivay bedauerte es, ihn so zu Grunde gehen zu sehen. Jemand in der Menge deutete gen Himmel. Nur für eine Sekunde folgte Rivay dem Fingerzeig bis zu einer dünnen Rauchfahne oberhalb der Schindeldächer.

»Richtet sie!«, befahl Carrick Oceanshare, sodass Rivay nicht lange in ihren Betrachtungen verweilte. Wütend wollte sie nach vorn stürzen, hin zu den Piraten, als der Hebel gezogen wurde – und nichts passierte. Die Menge schrie schon auf, verstummte aber jäh, denn die Falltüren rührten sich nicht. Rivay stutzte, ebenso wie das Oberhaupt der Piratenjäger. Der Mann vor dem Schafott schob den Hebel zurück und betätigte ihn erneut, doch das erwartete Ergebnis blieb aus. »Was ist da los?«, hörte sie Carrick Oceanshare brüllen.

»Keine Ahnung, vielleicht klemmt die Apparatur!«

»Dann bringt sie in Ordnung! Sofort!«

In den folgenden Minuten beobachtete Rivay, wie zahllose Hände an dem Mechanismus herumhantierten. Ein Matrose stieg sogar hinauf auf den Galgen, Elan schubste man einen Schritt weit zurück, sodass der Mann auf der Falltür herumhüpfen konnte. Sie sprang krachend auf, der unglückliche Seemann stürzte in die Tiefe und brach sich unter Geschrei ein Bein. Dennoch: Egal was sie versuchten, nichts davon brachte den Hebel zum Funktionieren. Hinter Rivay raschelte es. Alle Aufmerksamkeit lag auf dem Schafott, niemand beachtete die Piraten, viel weniger noch den jungen Mann, der zwischen den Gefesselten kniete. Rivay erkannte sein kastanienfarbenes Haar sofort. Der Bruder der Verräterin. Was tat er da? Wollte er sie eigenhändig töten? Sie öffnete den Mund, bereit, ihn hier und jetzt zur Rede zu stellen.

»Das reicht! Versucht es weiter, in der Zwischenzeit gebe ich dem Volk den Anführer dieser Parasiten!« Rivay sah noch, wie Spinell zwischen einigen Piraten verschwand, ehe starke Arme nach ihr griffen. Sie bugsierten sie hinauf, aber nicht zu den Galgen, denn man zerrte sie vor die Füße des Piratenjägers, mit dem Gesicht der Menge zugewandt. Carrick Oceanshare grinste breit.

»Rivay Alverre. Bist du bereit, deinen Schöpfern entgegenzutreten?«

Kapitel 6

Fassungslos beobachtete Vanelle, wie sie Rivay vor ihren Vater brachten. Indes bemühten sich die Matrosen noch immer darum, den Galgen zum Funktionieren zu bringen. Sie scheiterten rigoros. Elan, niemand achtete auf ihn, betrachtete die Bemühungen der Männer mit unverhohlener Belustigung.

»Rivay Alverre, bist du bereit, deinen Schöpfern entgegenzutreten?« Rivay gab keine Antwort. Stur erwiderte er den Blick ihres Vaters, die Lippen grimmig zusammengepresst. Carrick schnaubte – und wandte sich zu Vanelles Entsetzen an sie.

»Vanelle! Komm zu mir!«

Urplötzlich lagen unzählige Augenpaare auf ihr. Die Menge schrie überrascht auf – und Vanelle versteifte.

»Geh schon«, wisperte Carra ihr zu, ein wissender Unterton in der Stimme, er gab ihr einen Schubs. Bleiernen Schrittes marschierte sie das Schafott hinauf, erst jetzt bemerkte sie die Rauchfahne, die am Rande ihrer Wahrnehmung das Blau des Himmels besudelte. Vater folgte ihrem Blick mit hochgezogener Augenbraue, er betrachtete den Rauch argwöhnisch und nickte einen der Matrosen heran.

»Du. Geh und finde heraus, was da vor sich geht. Erstatte mir umgehend Bericht!« Der Mann rannte davon, Vanelles Herz machte einen schmerzhaften Satz. Endlich! Vielleicht gerade noch rechtzeitig. Dennoch, was sollte sie hier oben? Hier war sie den Blicken der Versammelten schutzlos ausgeliefert – so konnte sie ihr Unterfangen unmöglich in die Tat umsetzen. Ungelenk bezog sie an Carrick Oceanshares Seite Stellung.

»Dieser Seeräuber«, ergriff der Piratenjäger das Wort, dabei deutete er auf den vor ihnen knienden Rivay, »ist der Mörder meines Bruders. Carrus Oceanshare starb vor zwei Jahren, heimtückisch und rücklings ermordet!« Empörte Rufe drangen an sie heran. »Carrus war mutig!« Die Menge pflichtete ihm bei. »Ein Mann in den besten Jahren!« Zustimmung brandete über sie hinweg.

»Und der schwächste Kämpfer, der sich mir je entgegengestellt hat«, raunte Rivay lautstark. Wenige vernahmen den Spott, doch Vanelles Vater hörte ihn nur allzu deutlich. Sie glaubte, seine Augen würden ihm aus den Höhlen fallen, so sehr traten sie hervor.

»Was hast du da gerade gesagt, du niederes Insekt?« Rivay lachte gehässig auf, weiter kam er nicht, denn Carrick Ocean-share verpasste ihm einen Tritt in den Rücken. Mit dem Gesicht voran landete er auf den Brettern. Sein Ohrring brach sich im Licht der Sonne. Vanelle ballte die Hände zu Fäusten. Sie wollte Rivay zur Hilfe kommen, aber noch musste sie warten, konnte nicht anders als der aufkommenden Aggression zuzusehen, wie in jener Nacht, in der sie ihr eigener Vater mit der Narbe gezeichnet hatte. Grob zog Carrick Rivay zurück auf die Knie, ehe er den Ohrring packte und ihn mit einem brutalen Ruck abriss. Rivay ächzte, hauptsächlich vor Überraschung, während ihr Vater den roten Jadidstein in die Menge warf. Irgendjemand fing ihn auf. Vanelle machte keinen einzigen Laut. Nur eine Sekunde später kehrte jene Gelassenheit zu Carrick Oceanshare zurück, die Vanelle zu fürchten gelernt hatte. In diesem Zustand war er unberechenbar. Er richtete das verrutschte Hemd und räusperte sich geräuschvoll.

»Es ist mir ein persönliches Anliegen, meiner Familie Gerechtigkeit zu verschaffen«, verkündete er gefasst. Geschmeidig zog er die Klinge aus der Scheide, das schleifende Geräusch verursachte Vanelle Gänsehaut. Ohne jede Vorwarnung drehte er den Knauf, er deutete nun auf sie. »Du wirst das tun.« Sein Flüstern galt nur ihr, nicht dem johlenden Volk. Vanelle erstarrte.

»Meine verlorengeglaubte Tochter wird die Ehre unserer Familie wiederherstellen! Ihr allein haben wir es zu verdanken, diese Verbrecher ihrer gerechten Strafe zuführen zu können!« Vanelle griff nicht zu, offenbar wurde es auch nicht von ihr erwartet – zumindest noch nicht, denn das Oberhaupt der Piratenjäger sprach weiter: »Vanelle erklärte sich bereit, die Gefahren eines gefährlichen Plans auf sich zu nehmen! Unter einem Vorwand schlich sie sich auf das Schiff der Alverre-Bande, gab sich als eine von ihnen aus und kontaktierte ihren Bruder, sodass er diese dreckigen Piraten zum rechten Zeitpunkt gefangen nehmen konnte.« Vanelle traute ihren Ohren nicht, auch wenn das Volk ihrem Vater aus der Hand fraß. Jauchzend spendeten sie ihr und ihrer vermeintlichen Heldentat Beifall. Sie vergrub die Zähne in der Unterlippe und schmeckte Schlamm auf der Zunge. Wie konnte er es wagen, ihre Zeit auf der Piratenbark derart in den Dreck zu ziehen? Vanelle wusste nicht, warum sie es hörte, aber Rivay stieß ein kurzes Schnauben aus. Das Geräusch wirkte beiläufig, doch sie ahnte, dass es allein ihr galt – und es tat weh.

»Rivay Alverres Kopf soll ihr Lohn sein!«, rief jemand aus der Menge, ihr Vater präsentierte den Menschen ein Grinsen, dem jedes Erbarmen fehlte.

»Nimm es.« Diesmal zwang er Vanelle die Klinge auf. Vater trat hinter sie, die prankenhaften Finger grub er in ihre Schultern. »Zeig es ihnen, Tochter. Töte. Beweis ihnen, wem deine Loyalität gehört.« Der Druck seiner Hände schwand, es wurde ruhiger. Die Menschen warteten ab; der über sie hinwegfegende Wind bewegte Vanelles Haar. Früher oder später wirst du töten müssen, hörte sie in ihrem Kopf, eine ferne Erinnerung an Rivay. Denn sonst stirbt jemand, der dir am Herzen liegt. Vanelle lauschte in sich hinein, doch es blieb still. So unsäglich still.

»Tu es«, vernahm sie die leisen Worte ihres Käpt’ns, es klang wie eine Herausforderung. Vanelle umfasste die Klinge fester. Sie betrachtete Rivays Rücken, seinen Nacken, das schmutzige Hemd. Langsam hob sie den Arm – und vollführte den fatalen Schlag.

Kapitel 7

Rivay hörte, sie spürte den Lufthauch und erwartete ihr Ende. Sie hoffte, dass es schnell gehen würde, dass Vanelle sauber traf und es nur eines Hiebes bedurfte, denn dann kam der Tod binnen eines Augenblicks. Ein erschrockener Aufschrei drang an ihre Ohren, während sich die Sekunden dehnten – aber kein Schmerz einsetzte. Sie blinzelte, blickte auf und erkannte die versteinerten Mienen der Schaulustigen – ehe eine wahre Woge an Radau losbrach. Rivay drehte den Kopf, begleitet vom fassungslosen Kreischen der Menschen. Ihre Augen wurden weit.

Carrick Oceanshare, starr vor Entsetzen, den Mund geöffnet zu einem stummen Schrei, hob wie in Zeitlupe die Hand zu seiner Brust. Die Klinge durchbohrte ihn, ein immer größer werdender Fleck entstand auf dem grünen Hemd, tropfend lief die rote Flüssigkeit das Metall entlang, bis zu seinen Fingern. Längst hatte Vanelle die Waffe losgelassen, ihr Vater sackte zu Boden, unbewegt, wahrscheinlich fast tot, zeitgleich, als neue Schreie, ausgehend vom Rande der Stadt, über die Menge he-reinbrachen.

»Feuer!«, brüllte jemand. Rivays Augen wanderten hinauf zu der nunmehr riesenhaften Rauchfahne am Himmel. »Feuer im Anwesen der Oceanshares! Es greift auf die Stadt über!«

Vanelle blieb nicht lange untätig. Sie förderte eine Steinschlosspistole zutage, gefasst richtete sie diese auf das andere Ende des Platzes. Rivay sah von ihrer Position aus nicht genau, welches Ziel sie ins Auge fasste. Was sie aber hörte, waren zweierlei Dinge: Den abgegebenen Schuss, er versetzte die Menschen sofort in helle Panik, gefolgt von einem übermächtigen Knall. Schießpulver, ging es ihr im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf. So klang es, wenn man ein ganzes Pulverfass davon hochjagte. Und dann, nicht mal einen Herzschlag später, folgte das laute Wiehern durchgehender Pferde. Umgehend stürzte Vanelle an ihre Seite und umfasste Rivays Hände, niemand achtete mehr auf das Schafott oder die Piraten. Ihre eiskalten Finger übergaben einen Gegenstand, der vertraut in Rivays Handflächen lag. Ihre Taschenuhr.

»Lauft zur Küste, zur Hunting Tania! Flieht!« Der drängende Unterton machte Rivay erst jetzt vollständig bewusst, was hier gerade geschehen war. Flink schnitt Vanelle die scheuernden Fesseln durch und zog kurz danach ein Pergament aus den Tiefen ihres Stiefels. Fein säuberlich gefaltetes Papier, das sie Rivay an die Brust drückte. »Schnell, ihr habt nicht viel Zeit!«

»Was hast du getan?« Ihre Gedanken standen nicht mehr still. Vanelle zögerte. Flehentlich verzog sich ihr Gesicht. Ihr wortloser Austausch berührte einen Teil von Rivays Herzens, der sich nun schmerzhaft zu Wort meldete, gerade, als eine weitere Gestalt auf das Podest sprang.

»Weg von ihr!« Raina, ein dünner Bart haftete an ihrem Kinn, schubste Vanelle grob beiseite. Sie packte Rivay an den Schultern und zog sie mit, das Pergament hielt sie geistesgegenwärtig fest, noch während Vanelle auf dem Rücken landete. Sofort zog sie sich hoch, schmerzvoll kniff sie die Augen zusammen, eilte aber ohne ein weiteres Wort zu den Galgen. Rivay blickte ihr nach.

Kapitel 8

Nette Vorstellung«, lobte Elan, noch während Vanelle seine Fesseln löste. Auch Kania und Lineth, alle schnitt sie los, doch nur Elan verweilte an ihrer Seite. »Du musst mir hinterher erzählen, wie du das angestellt hast.« Fordernd umfasste sie seine Hände.

»Lauf zur Küste, da steht ein Schiff bereit. Die anderen nehmen dich mit –«

»Klingt fast so, als würdest du zurückbleiben wollen.« Vanelle legte voll Kummer die Stirn in Falten. Elan senkte die Brauen. »Oh nein! Du spielst hier nicht die Heldin! Das lasse ich nicht zu!« Er packte sie und rannte los, sie konnten die Hunting Tania bereits in der Entfernung sehen. Die ersten Piraten sprangen an Bord, um mit ihr aus Oceanshare zu flüchten. Vanelle erfasste Carra, der mit gezogenem Schwert gegen die Menge ankämpfte. Der Strom der Menschen hielt ihn zurück, ebenso wie die Marinesoldaten. Doch für wie lange? Vanelle schüttelte Elan ab und wandte ihm den Rücken zu.

»Ich muss dafür sorgen, dass ihr davonkommt! Ich kann nicht –«

Der Zusammenstoß presste ihr die Luft aus den Lungen. Vanelle landete auf dem Rücken, über ihr das Aufflackern unbändigen Zorns. Spinell! »Wie konntest du das tun?!« Seinem Gebrüll folgte die kalte Berührung von Metall direkt an ihrem Hals, ein Zeichen des maßlosen Entsetzens. »Das war unser Vater, Vanelle! Du hast versprochen, dass niemand zu Schaden kommt!« Noch bevor sie ihm antworten konnte, riss man ihn von ihr weg. Starke Arme hielten Spinell im Schwitzkasten.

»Jetzt mach mal halblang, halbe Portion!« Aelin. Er entwand Spinell die Klinge, dieser funkelte erst ihn, dann Vanelle an, die Worte blieben ihm im Hals stecken. Vanelle rappelte sich auf. Er hat recht. Fahrig warf sie einen Blick über die Schulter, zur Leiche ihres Vaters. Dort lag er, mit leerem Blick und blutigem Hemd. Ich habe ihn getötet. Das Echo wirbelte ihr Innerstes auf. Aelin hielt den strampelnden Spinell im Zaum. »Kommt schon, verschwinden wir von diesem beschissenen –«

Ein lautes Knallen zerriss die Luft. Der Schmerz kam ohne jede Vorbereitung, schockartig breitete sich die Empfindung in ihrem Körper aus und nahm Vanelle jeden Halt. Sie wankte, jemand fing sie auf, sie sah Aelin vor sich, auch Elans Gesicht offenbarte pures Entsetzen. Sogar Spinell weitete die Augen. Und dort, irgendwo weit hinter ihnen, erfasste sie eine wohlbekannte Gestalt. Er hielt einen silbrigen Gegenstand in der Hand, eine Schusswaffe. Sinlar? Ein Teil von Vanelle registrierte, dass er nun keine Anstellung von ihrem Vater erhalten würde – und die Vergeltung tröstete sie für eine Sekunde über den rasenden Schmerz hinweg. Sie hustete und schmeckte Schlamm auf den Lippen. Blut.

Aelins Mund bewegte sich, Elan schrie ihn lautlos an, dann setzten sie sich in Bewegung. Vanelle hörte keines ihrer Worte. Ein anderes Bild erschien vor ihrem geistigen Auge, gleichzeitig entdeckte sie Spinell. Er rannte mit ihnen, getrieben von einer sichtbaren Erschütterung, die seine Wut für den Augenblick überlagerte. Anders als zu der Zeit, in der sie ihren Plan geschmiedet hatten.

»Du kannst das unmöglich ernst meinen!« Nie zuvor hatte er ihr gegenüber die Stimme erhoben, nicht einmal in ihrer Kindheit.

»Ich weiß, dass das für dich abwegig klingt, aber ich sage die Wahrheit. Ich habe freiwillig auf ihrem Schiff angeheuert.«

»Du lügst!«

»Ich war in Oceanshare nie wirklich glücklich, weißt du? Die Zeit im Anwesen unserer Familie hat Narben bei mir hinterlassen. Mal abgesehen von der Offensichtlichen.« Nie hatte sie ihm von den wahren Geschehnissen erzählt. Bis jetzt. »Vater hat das getan.«

»Ich habe nicht gewusst, dass Vater so ...«

»Du kannst ja nichts dafür. Ich wollte dich beschützen, Spinell. Deshalb habe ich es stillschweigend ertragen. Jede Demütigung, jede Herabsetzung. Das hier ist das Einzige, worum ich dich je bitten werde. Ich muss sie retten. Bitte, Bruder!«

»Einverstanden. Ich helfe dir.«

Vanelle keuchte. Sie spürte jeden Schritt, jede Windung auf dem steinigen Boden, sogar Aelins laut pochendes Herz in seiner Brust, während das Blut ihrer Wunde entströmte wie ein reißender Strom. »Aelin«, hauchte sie kraftlos.

Wieder Lippenbewegungen ohne Worte. Die Angst in seinem Blick tat Vanelle weh. Fast mehr als der sie zerreißende Schmerz. Sie hörte Spinell auf sich einreden, nur schien seine Stimme seltsam weit weg. Sie passte nicht zu dieser Situation, zu diesem Ort.

»Vater wird euer Schiff auseinandernehmen lassen. Die Sammler überbieten einander bestimmt längst.«

»Aber wie sollen wir dann flüchten?«

»Mit der Hunting Tania.«

»Vaters Lieblingsschiff?«