The Curse of Time and Taste - Anne Herzel - E-Book

The Curse of Time and Taste E-Book

Anne Herzel

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Beschreibung

IM RAUSCHEN DER WELLEN HALLT DAS LIED DER GÖTTER WIDER Meuchelei, Sittenlosigkeit und Raubzüge ̶ in Vanelles Heimat gelten Piraten als das Ungeziefer der Meere, welches ihre Familie seit Generationen auszurotten versucht. Doch als sie nach einer schicksalshaften Begegnung auf das Schiff der berüchtigten Alverre-Bande gerät, steht die Welt der Piratenjägerin Kopf. Hier lernt Vanelle, wie bunt das Leben in Wirklichkeit ist. Besonders ihr mysteriöser Käpt'n gibt ihr Rätsel auf. Viele Gerüchte kreisen um Rivay Alverre, doch welche Ziele verfolgt das mürrische Kind der See tatsächlich? Vanelle kann dem Sirenenruf nach einem wilden Abenteuer voller vergessener Legenden, gefährlicher Götterbiester und geheimnisvoller Schatzkarten nicht widerstehen … Ein fesselnder Fantasy-Piratenroman, der in allen Farben des Regenbogens strahlt.

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Seitenzahl: 518

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Epilog

Danksagung

Zu*r Autor*in

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2022 bei DrachenStern Verlag, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Jara Dressler

Korrektorat: Johannes Eickhort

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

E-Book-Erstellung: Jara Dressler

ISBN 978-3-95669-170-6

www.bookspot.de

Für alle, die die Welt in den Farben des Regenbogens sehen.

Hinweis

Für alle, die den Regenbogen gerade erst kennenlernen: Menschen sind vielfältig. Äußerlich wie innerlich, ihre Sexualitäten ebenso betreffend wie ihre Identitäten.

Um Verwirrung zu vermeiden: Es ist kein Druckfehler, dass Rivay sowohl die Pronomen er/ihn als auch sie/ihr benutzt.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Epilog

Danksagung

Zu*r Autor*in

Prolog

Der seichte Windstoß ergriff die Vorhänge des offenen Fensters und lenkte Vanelles Aufmerksamkeit auf die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages. Sie spiegelten sich vielfach in den glatten, hellen Dächern der Stadt unter ihr wider, ihrer Heimat, der mächtigsten Piratenjäger-Metropole Gaias: Oceanshare. Jener Ort, der das Tanam-Meer im Westen vom Loeco-Meer im Osten trennte und seit jeher das Geschlecht der gleichnamigen Sippe beherbergte, die sich ganz und gar der Piratenjagd verschrieben hatte.

»Heute«, murmelte Vanelle, im Bewusstsein, dass nur der Wind allein ihren wild wirbelnden Gedanken lauschte. Auf diesen Tag wartete sie schon ihr ganzes Leben. Endlich durfte sie ihr Heim verlassen und das Vermächtnis fortführen, das man ihr bereits bei ihrer Geburt in die Wiege gelegt hatte: Ihr Name lautete Vanelle Oceanshare, Tochter des Carrick Ocean-share, dem mächtigsten Piratenjäger von ganz Gaia. Unzählige Seeräuber fanden durch seine Hand ihr Ende, verzweifelten an der Schärfe seiner Klinge, die er so galant zu führen verstand wie sonst kein Zweiter. Heute würde sie in seine Fußstapfen treten. Nur dafür hatte Vanelle all die Jahre gelernt, das Kämpfen und Segeln perfektioniert, all das notwendige Wissen in sich aufgesaugt wie ein kleiner, gieriger Schwamm. Wenn das, was sie heute zu tun gedachten, erfolgreich verlief, erhielt sie ein Schiff und die Erlaubnis, die Meere zu bereisen.

Vanelles sehnsüchtiges Seufzen wurde von einem weiteren lauen Lüftchen davongetragen. Es war eine Sache, ihre Heimatstadt zu verlassen und Vaters Anerkennung zu verdienen – dort draußen auf hoher See, wo allein das Recht des Stärkeren regierte – doch sich als gestandene Piratenjägerin zu behaupten, war etwas gänzlich anderes. Prüfend betrachtete sie im ausladenden Spiegel die Kontur ihres Körpers und strich sie glatt, die Kleidung mit dem Emblem ihrer Familie: das die Meere teilende Schwert, angebracht auf Schulter und Gürtelschnalle. Immer wieder überraschte sie das feinsäuberlich gestickte Zeichen in Gold, ebenso wie auch der angenehm schmeichelnde Stoff, der in starkem Kontrast zu dem doch recht kratzigen Baumwollhemd stand, welches Vanelle während ihrer Trainingsstunden zu tragen pflegte. Das satte Grün ihres Hemdes verstärkte den Rotstich ihrer Haare und unterstrich das kräftige Blau ihrer Augen. Sie gefiel sich in der neuen Kleidung, die speziell für diesen Anlass angefertigt worden war: Piratenjäger trugen stets enganliegende Hosen und Hemden, einen Waffengürtel und kniehohe Lederstiefel – so gebot es die Tradition. Vanelle schwoll die Brust vor Stolz, ihre Familie so präsentieren zu dürfen.

Geschickt glitten ihre Finger durch ihr langes, kastanienfarbenes Haar – ein Markenzeichen der Oceanshares, einmalig auf Gaia. Alles an ihr strahlte Erhabenheit aus, wäre da nicht die Narbe gewesen, die sich wie ein Schandfleck über ihre Wange zog. Nur kurz strich sie mit den Fingerknöcheln über die mittlerweile glatten Ränder des dunkleren Gewebes. Was für viele nicht mehr als eine dünne Linie sein mochte, stellte für Vanelle eine Abscheulichkeit dar, die Scham in ihr auslöste. Sie senkte die Lider, ehe sie die bereitliegenden, ledernen Handschuhe ergriff. Das lag in der Vergangenheit – und der heutige Tag markierte den Beginn ihrer Reise in die Ferne, ein Versprechen, das sie sich selbst gegeben hatte. Ihre Zukunft lag in greifbarer Nähe.

Kapitel 1

Es lag eine Milde in der Luft, die einen warmen Tag in Aussicht stellte, wie in jedem Sommer in Oceanshare. Die Uhr schlug noch nicht ganz Mittag, als Vanelle an der Seite ihres Vaters am Pier des gewaltigen Hafens wartete. Er war geräumt und für die Zivilbevölkerung gesperrt worden.

Vanelle schluckte, doch der Kloß in ihrem Hals blieb an Ort und Stelle. Die Ruhe, die sie noch am Morgen erfüllt hatte, verflog zusehends. Gleichzeitig trieb die aufkommende Nervosität ihren Puls in die Höhe. Auch die leise miteinander scherzenden, die Marina zu allen Seiten säumenden Soldaten steigerten ihre Unruhe mit jedem Herzschlag mehr. Fast glaubte Vanelle, sie sprachen über sie: die kleine, schlanke Frau, das älteste Kind ihrer Sippe, die ruhelos von einem Bein aufs andere trat. Die überraschende Berührung einer Hand ließ sie zusammenzucken.

»Keine Sorge«, murmelte der junge Mann an ihrer Seite, Spinell, ihr kleiner Bruder, dem ihr wechselndes Mienenspiel offensichtlich nicht entgangen war. Zwar stand er steif neben ihr – Vater erwartete, dass sie Haltung bewahrten – was nicht hieß, dass er es sich nehmen ließ, seiner älteren Schwester einen Seitenblick zuzuwerfen. Seine ebenso hellen, blauen Augen leuchteten voll Belustigung auf sie herab, immerhin überragte er sie um einen ganzen Kopf. Mühsam unterdrückte er das Zucken seiner Mundwinkel, die ein Schmunzeln formen wollten. »Es wird alles gutgehen.«

Spinell Oceanshare, obgleich fast zehn Jahre jünger als seine Schwester, wurde eine andere Rolle zuteil. Der einzige Sohn und damit Erbe der Oceanshares trat bereits früh öffentlich in Erscheinung, ganz im Gegensatz zu Vanelle. Heute jedoch, an diesem für sie unglaublich wichtigem Tag, hätte er nicht hier sein sollen. Nicht, weil Vanelle es ihm missgönnte, sondern weil sie befürchtete, dass es gefährlich werden würde. Teilnahmslos blickte die junge Frau auf die gekräuselten Wellen, die brausend gegen den Steg spülten. Auch Vater wusste, was sie erwartete. Warum also bestand er darauf, Spinell mitzunehmen? Er würde sich im Falle einer Auseinandersetzung nur wenig verteidigen können, denn Vanelle übertraf die Fähigkeiten ihres Bruders in jeder Hinsicht. Sie kämpfte besser mit dem Schwert, wusste mehr über Schiffe, Seekarten und das Segeln. Sie schlug ihn im Nahkampf und sogar im Schießen, einer Disziplin, die ihr nicht sonderlich lag. Spinell hingegen vernachlässigte das Training häufig. Trotzdem durfte er Vater immer begleiten. Nur kurz spülte Neid, einer hohen Welle gleich, über Vanelle hinweg. Egal wie sehr sie sich anstrengte: Spinells Geburtsrecht stellte etwas dar, das sie niemals aufwiegen konnte. Ihr blieb lediglich die Aussicht, außerhalb der Stadt Anerkennung zu erringen – und so womöglich Vaters kalten Augen einen Hauch von Wärme zu verleihen. Die Gefühle zurückdrängend, blickte Vanelle auf. Die Sonne stand bald im Zenit. Es konnte nicht mehr lange dauern.

»Da drüben!« Ihr Blick flog zum Horizont. Ein kleiner Fleck schälte sich aus dem Blau zwischen Meer und Himmel heraus.

»Na endlich«, murmelte ihr Vater. Seine Hand wischte durch die Luft und bedeutete den Marinesoldaten hinter ihm, sich in Bewegung zu setzen. Die Matrosen förderten eine Kiste zutage, die mehrere von ihnen gemeinsam tragen mussten. Selbst von hier aus sah Vanelle die Schweißperlen, die ihre Hälse hinabrannen. Das massive Metall schützte das, was darunter verborgen lag: das Stammbuch ihrer Familie. Das Schloss klimperte, während sie die Kiste hinter Vanelle absetzten. Sie verzog keine Miene, als die ruhelosen Augen ihres Vaters auf ihr liegenblieben.

»Du weißt, was du zu tun hast.«

»Ja, Vater«, erwiderte sie gehorsam, ihr Gesicht völlig starr. Keine Regung, keine Gefühle durften zu erkennen sein, schließlich hasste ihr Vater sentimentale Empfindungen jeder Art. Nur Taten zählten – und Vanelle wusste, was von ihr erwartet wurde. Fast beiläufig fand ihre Hand den Weg zu der Kette an ihrem Hals und berührte den kleinen Anhänger in Form einer geschwungenen Muschel, welche es für gewöhnlich nur in den Tiefen des Meeres gab. An manchen Tagen, wenn die Flut besonders günstig stand, konnte es passieren, dass einzelne Exemplare an den Strand gespült wurden – auch wenn Vanelle selbst noch nie eines davon gefunden hatte. Mutter, dachte sie und ließ den Arm sinken, bevor Vater etwas bemerkte, ich werde dich stolz machen.

Unbewegt standen sie da und beobachteten, wie der Punkt am Horizont allmählich größer wurde. Immer näher glitt die Barke zur Küste heran. Die Flagge hoch oben flatterte im aufkommenden Wind, ein weißer Totenschädel mit rubinfarbenem Dreispitz auf schwarzem Grund, dahinter gekreuzte Schwerter. Und dann sah Vanelle ihn zum allerersten Mal: Rivay Alverre. Der Kapitän der Alverre-Piratenbande höchstpersönlich, bekannt durch zahlreiche Überfälle auf Marine und Handelsflotten. Ein Name, der ihrer Familie in den letzten Jahren immer wieder unterkam – und auf den Meeren für Aufruhr sorgte.

Er bestach weder durch Größe noch Muskeln, musste kleiner sein als Spinell und kaum größer als sie selbst, mit schwarzem, wildem Haar und ebenso düsteren, grauen Augen über dicken Augenringen. Sein Körper ließ sich weder als schmächtig noch breit bezeichnen und seine Züge besaßen eine merkwürdige Harmonie, die Vanelle auf eine Art, die sie nicht beschreiben konnte, irritierte. Auch trug er einen roten Jade-Ohrring, der der Farbe seines Mantels und des Kapitänshutes glich – offenbar benutzte er dies als Vorbild für die eigentümliche Piratenflagge. Vanelle zog die Stirn kraus. Die Art, wie er abschätzig die Augen schweifen ließ sowie die Aura, die ein Kribbeln in ihrem Nacken auslöste, machten ihr eines ganz deutlich: Ihn durfte sie nicht unterschätzen, schließlich umrankten zahlreiche Gerüchte seine Taten auf See. Einmal sollte er mit gnadenloser Schwertkunst und bahnbrechender Geschwindigkeit ein Dutzend Marinesoldaten binnen weniger Herzschläge getötet haben. Auch seine Crew galt als überaus gefährlich. Grob schätzte Vanelle die Besatzung der beachtlichen Bark auf knapp 150. Neben dem Kapitän erkannte sie eine blasse, junge, blonde Frau. Sie wirkte weder grimmig noch verächtlich, denn die Art, wie sie nervös die Hände ineinander verknotete, sodass die Knochen weiß hervortraten, sprach von Angst. Daneben stand ein größerer Mann mit langem, hochgebundenem Haar und eine blonde, muskulöse Frau. Gemeinsam hievten sie eine breite Planke zwischen Schiff und Steg. Der Kapitän, die ängstliche Frau und die große Piratin verließen den Kahn und blieben einige Meter vor ihnen stehen. Als Reaktion darauf erfassten Vanelles Finger das kühle Heft ihres Schwertes.

»Rivay Alverre«, durchbrach ihr Vater die angespannte Stille. Vanelle glaubte bei einem flüchtigen Seitenblick, ein spöttisches Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen. Der Pirat seinerseits griff gelassen, ohne sein Gegenüber auch nur eines Blickes zu würdigen, in die Tasche des roten Umhangs und zog ein goldenes Objekt hervor. Vanelle erkannte das an einer silbrigen Kette baumelnde Schmuckstück sofort: Es handelte sich um ein Erbstück ihrer Familie, ein Medaillon. Unglaublich wertvoll, von Generation zu Generation weitergereicht – und nun in den Händen dieses elenden Piraten. Binnen eines Wimpernschlags schwand das Lächeln auf dem Gesicht ihres Vaters und wurde durch gebleckte Zähne ersetzt. Es war nun an dem Piraten, die Mundwinkel zu heben.

»Schwing keine langen Reden, Oceanshare. Du kennst die Abmachung. Dein wertvolles Schmuckstück gegen das Buch.« Die Wangen ihres Vaters nahmen einen anderen, tieferen Rotton an, der verdächtig an den Mantel des Piratenkapitäns erinnerte. Jeder hier wusste, wie Rivay Alverre an das Medaillon gekommen war: Vanelles Onkel, etliche Jahre jünger als sein Bruder, hatte es bei einem Scharmützel gegen die Piratenbande verloren. Sein Vorhaben, die Piratenbark zu entern, ging einher mit dem Verlust der Mannschaft, des Schiffes, des Medaillons – und seines Lebens. Sehr zur Schande ihres Vaters wollte ihr Onkel das Erbstück doch nach der Restauration in der Stadt Eel zum Familiensitz zurückbringen. Erneut wischte Carrick Oceanshare durch die Luft und Vanelle reagierte sofort. Das war es, das Zeichen, auf das sie gewartet hatte. Sie drehte sich um und öffnete das Schloss der schweren Kiste, der Deckel schwang mit einem widerspenstigen Knarren auf. Unter den wachsamen Blicken aller Anwesenden griff sie hinein und umschloss das in ledernen Einband gebundene Buch, auf dem das goldene Emblem der Oceanshares prangte.

»Nun gib es schon zurück, du dreckiger Halunke«, spuckte ihr Vater – wortwörtlich – aus, bevor Vanelle an seine Seite zurückkehrte. Rivay ließ sich davon nicht beeindrucken.

»Zuerst das Buch. Oder das hier«, er hielt das Schmuckstück an der Kette über die Brandung, »geht baden.« Das metallische Objekt blitzte auf, als die Sonnenstrahlen davon zurückgeworfen wurden. Nur Vanelle hörte, wie ihr Vater die Zähne wütend aufeinanderschlug. Er hob die Hand und ließ sie hart auf ihre Schulter fallen.

»Geh schon«, knurrte er, als er sie unsanft nach vorne schubste. Ihre Nerven lagen blank, doch Vanelle gehorchte. Knapp vor den Piraten hielt sie inne.

»Hier. Im Austausch für das Medaillon«, sagte sie, ihr Herz schlug so schnell, dass sie glaubte, es wolle ihr aus der Brust springen. Zu ihrer Überraschung würdigte sie der Piratenkapitän keines Blickes. Seine Augen glitten argwöhnisch über das Buch und verengten sich zu Schlitzen. Kurz huschten sie zu Vanelle – und dann ging alles ganz schnell: Tänzelnd trat er ihr die Beine weg und Vanelle kippte zur Seite. Erschrocken stieß sie die Arme zurück, um sich abzufangen, wurde aber von einem fremden Paar Hände ergriffen. Nur eine Sekunde später riss man sie hoch und platzierte einen starken Arm um ihren Hals. Instinktiv krallte sie die Nägel in die Haut des Angreifers, in dem Versuch, diesen abzuwehren. Entsetzen schlug ihr aus den Mienen ihres Vaters, Bruders und aller Marinesoldaten entgegen, die sie nun offen anblickte. Vanelle japste. Die muskulöse Frau, ging es ihr panisch durch den Kopf. Nichts davon hatte sie kommen sehen. Der gegen ihre Kehle gepresste Unterarm verwehrte Vanelle selbst den kleinsten Laut, zeitgleich strampelten ihre Beine ins Leere. Ächzend erspähte sie den Piratenkapitän, in seiner Hand das Stammbuch, das sie wohl fallengelassen hatte. Als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen, wog er es abschätzig hin und her, schlug es auf und blätterte durch die Seiten, bevor er es geräuschvoll zuklappte.

»Nun, Oceanshare«, begann er, die Stimme gesenkt zu einem kehligen Knurren. Ohne zu zögern warf er das Buch ins Wasser. Vielstimmiges Raunen ging durch die Reihen der Matrosen, nur Carrick Oceanshares Gesicht nahm die Farbe der aufspritzenden Gischt an. Vanelles Augen weiteten sich. »Ich lasse mich ungern übers Ohr hauen. Dieses Mädchen ist deine Tochter, nicht wahr?« Niemand antwortete, nur Vanelle stieß ein wütendes Schnauben aus – zu mehr war sie nicht imstande. Der Kapitän in Rot machte einige, herausfordernde Schritte nach vorn, fast glaubte Vanelle, er wolle ihren Vater verhöhnen.

»Das hier wird folgendermaßen ablaufen: Sie gegen das Buch. Und ich meine das echte Buch. Nicht diese lausige Fälschung, die du mir andrehen wolltest.« Vanelle starrte auf ihren Vater und suchte seinen Blick. Flehend öffnete sie den Mund, um zu sprechen, doch es entstand nur ein leises Krächzen. Die Sekunden drohten, sich ewig hinzuziehen, bis endlich Bewegung in das Oberhaupt ihrer Familie kam. Auch er schnaubte, verächtlich jedoch, ehe er ein freudloses Lachen ausstieß. Erst fasste er Vanelle ins Auge, sein Blick so eisig, dass ihr das Blut in den Adern gefror, dann Rivay Alverre.

»Als ob ich mich je auf einen Handel mit dir eingelassen hätte! Nimm sie ruhig, sie hat für mich keinen Wert!« Vanelles Arme sanken herab, als sie den Widerstand aufgab. Vater, wollte sie rufen, du versuchst, den Piraten zu überlisten, nicht wahr? Du willst ihn hereinlegen, um mich zu befreien, richtig? Nur aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass Spinell verständnislos zwischen ihr und Vater hin- und herblickte. Indes machte Rivay Alverre einen weiteren Schritt nach vorn, die Hand drohend am Schwertgriff. Gleich würde die Situation endgültig eskalieren – als mit einem Mal ein lauter Knall die angespannte Stille zerriss. Noch bevor ihr Vater oder der Piratenkapitän reagieren konnten, jaulte die große Frau auf und Vanelle rutschte aus ihrem Klammergriff. Ein Schuss, ging es ihr durch den Kopf. Jemand hatte auf die Piratin geschossen – und als Vanelle aufsah, brach das Geschrei wie ein Unwetter über sie herein.

Marinesoldaten stürzten mit erhobenen Klingen auf sie zu, ihr Vater rief etwas, die Soldaten brüllten, die Piraten griffen zu den Waffen und die Fronten prallten aufeinander. Der Lärm klingelte in ihren Ohren wie helle Glöckchen. Vanelle reagierte nicht sofort und wurde beinahe von einem heranstürmenden Matrosen umgerissen. Noch während sie um ihr Gleichgewicht rang, hörte sie das Knallen der Gewehre. Ein Pirat unweit von ihr zuckte zurück und presste eine Hand gegen den Bauch. Als er sie wegnahm, sprudelte Blut aus einer klaffenden Wunde hervor. Nur eine Sekunde später kippte er seitlich ins Wasser. Vanelle wandte den Blick ab. Alles in ihr schrie danach, die eigene Waffe zu ergreifen – da schob sich eine Gestalt in ihr Blickfeld. Die blonde, große Piratin mit der Verletzung am Arm, in der anderen Hand eine Schusswaffe haltend, zielte auf etwas, nein, jemanden auf dem Steg. Rauch quoll aus dem Ende des Laufs hervor – und dann hörte Vanelle ein Ächzen. Sein Ächzen, wurde ihr klar, als sie realisierte, dass der Schuss sein Ziel nicht verfehlt hatte.

Spinell umklammerte ebenfalls eine rauchende Pistole, die ihm gerade aus der Handfläche glitt. Ein blutiger Punkt erschien auf seiner Brust und befleckte den grünen Stoff des mit dem Emblem besetzten Hemdes. Vanelle erstarrte. Ihr kleiner Bruder, nicht mehr als ein Heranwachsender, sank zu Boden. Die Bretter des Piers unter ihm färbten sich rot. Erst fühlte sie nichts, dann plötzlich alles gleichzeitig: Entsetzen. Angst. Besorgnis. Vanelle wollte rennen und ihn berühren, ihn heranziehen und festhalten, doch ihr Körper versteifte sich, als die Piratin auf das Piratenschiff floh. Ein Schleier überlagerte ihre Sicht. Das Rauschen des Blutes und ihr eigener Herzschlag, übermäßig laut in ihren Ohren, nahm sie völlig gefangen, bevor sie mit blinder Wut die Augen von Spinell löste. Vanelle bemerkte nichts mehr. Sie sah nicht, wie die Marine den Rückzug antrat. Sie nahm nicht wahr, dass ihr Vater, der längst in den hinteren Reihen verschwunden war, keinen Blick für sie übrighatte. Sie sah auch nicht, wie einer der Soldaten Spinell aus der Schussbahn zog, während sich ihr Körper längst in Bewegung gesetzt und sie ihr Schwert gezogen hatte. Vanelle spürte nur ihre Beine, die den Absprung vom Steg auf das fremde Piratenschiff schafften, ihre Fußsohlen, die beim Aufprall vibrierten, ihre trotz der Wärme eiskalten Finger, die den Metallgriff ihres Schwertes umklammerten – und die vielen, fremden Augenpaare, die sich auf sie richteten, als das Schiff in See stach.

Kapitel 2

Die Piratenbark glitt durch die See und entfernte sich vom Tumult am Festland. Ihr eigener Puls, der laut, viel zu laut in ihren Ohren hämmerte, machte Vanelle jede Gefühlsregung unmöglich. Ihre schweißnasse Hand umklammerte das Heft ihrer Klinge. Sie war eine Verlängerung ihres Armes, bereit, im Blut der Seeräuber getränkt zu werden – nur handelte es sich nicht um die muskulöse Piratin, die ihr in den Weg stolperte. Der Mann mit dem Zopf blickte auf. Seine Augen verrieten ihn, denn er hatte Vanelle nicht kommen sehen. Ihre Füße glitten wie schwerelos über die Holzplanken, nur noch einen, vielleicht zwei Schritte vom tödlichen Hieb entfernt – dann schien alles für eine Sekunde still zu stehen. Ich will ihn töten, dachte Vanelle und erschrak gleichzeitig. Konnte sie das denn? Nun, sie besaß sowohl die nötige Stärke als auch ein scharfes Schwert. Es würde ein Leichtes sein, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen, wusste sie doch, welch schmaler Grat die Lebenden von den Toten trennte. All die Hinrichtungen, denen sie gezwungenermaßen beigewohnt hatte, all die Piraten, die am Galgen gestorben waren – das berührte sie nicht. In diesem Fall jedoch würde sie es sein, die den finalen Stoß setzte. Ein Leben nehmen – für jeden Oceanshare stellte dies eine Selbstverständlichkeit dar. Aber warum zögerte sie dann? Vanelle verlangsamte kaum merklich ihre Schritte. Eine Schande für die Familie, glaubte sie Vater beinahe sagen hören zu können.

Eine Gestalt erschien so unerwartet vor ihr, dass Vanelles wirre Gedanken einem jähen Stopp unterlagen. Der kalkulierte, brutale Schlag gegen das Brustbein schleuderte sie zurück. Sie spürte den an ihrer Kleidung zerrenden Wind und keinen Wimpernschlag später den Aufprall. Schwallartig verließ die Luft ihre Lungen und Punkte tanzten überall vor ihren Augen. Vanelle glaubte, ihr Kopf würde jede Sekunde explodieren. Fahrig sah sie auf. Höhnisch starrte er auf sie hinab, derjenige, der ihrer überstürzten Aktion ein Ende bereitet hatte: Rivay Alverre, der Kapitän der Piratenbande. Mit einem Blick, der auch den stärksten Marinesoldaten in die Knie zwingen würde, musterte er sie mit einer Arroganz, die Vanelle wütend machte. Als sei sie nicht mehr als ein lästiges Insekt. Sie biss die Zähne zusammen und wollte aufstehen, wahrscheinlich zu langsam, denn noch während sie die Hände abstützte, wurde sie unsanft zurückgestoßen. Widerstrebend hob sie das Kinn, roch es aber schon, bevor sie es erspähte: Das blanke Metall seiner Klinge, dicht vor ihr. Der Pirat machte sich bereit, das zu tun, woran Vanelle so kläglich gescheitert war: Er würde sie töten. So sollte es also enden. Kalter Schweiß brach ihr aus, doch die Angst schaffte es nicht, sie zu übermannen. Kühn reckte sie das Haupt nach oben, wenn auch nur zum Schein, denn ihr Magen rebellierte schmerzhaft.

»Mach schon«, forderte Vanelle ihn auf. Wenn sie schon sterben musste, dann wollte sie es mit Würde tun. Aber Rivay Alverre zögerte. Seine Augen, eben noch so voller Abscheu, voller Hass, hingen nun an etwas, das sich unweit von Vanelles Kiefer befand. Als sie verwirrt den Kopf senkte, erblickte sie den kleinen Anhänger in Form einer Muschel. Die Kette musste während des Kampfes unter ihrem Hemd hervorgerutscht sein. Sonnenstrahlen brachen sich an der Oberfläche und warfen bunte Lichtpunkte auf ihr Hemd. Wieder sah Vanelle auf.

»Worauf wartest du, du verfluchter Bastard? Bring es schon zu Ende!«

Rivay schien sie nicht einmal zu bemerken, denn eine Reaktion auf ihre Worte blieb aus. Nach einem weiteren, endlosen Augenblick des Schweigens ließ er die Klinge sinken. Vanelle blinzelte irritiert. Gleichzeitig kam die kleine, blonde Frau, die Vanelle bereits am Hafen von Oceanshare gesehen hatte, auf den Kapitän zu und reichte ihm ein Taschentuch. Er nahm es entgegen und wischte sich kurz über die Nase. Vanelle bemerkte es, das Blut, das den weißen Stoff befleckte. Ein grimmiges Lächeln wollte auf ihren Lippen erscheinen, doch stattdessen entglitt ihr ein beschwertes Ächzen. Langsam hob sie die Hand zur Stirn und tastete nach der Flüssigkeit, die über ihr eigenes Gesicht lief. Verwirrt senkte sie den Arm und musterte die rote Farbe an ihren Fingerspitzen. Nicht nur der Pirat blutete. Vanelle wurde schwindelig.

»Sperrt sie weg«, hörte sie seine Stimme, es schien, als würde sie von weither zu ihr herangetragen werden.

»Aber sie ist eine Oceanshare! Sollten wir sie nicht besser beseitigen?«

»Nein. Widersprich mir nicht, Aelin.«

»Aye, Käpt’n!« Vanelle nahm nur am Rande wahr, dass man über sie sprach. Sie wollten sie einsperren. Sie, Vanelle Oceanshare! Das durfte sie nicht zulassen. Niemals würde sie sich gefangen nehmen lassen von einer Horde Piraten, dem Geschmeiß der Meere, deren Leben nicht mehr bedeuteten als der Dreck unter ihren Fingernägeln – auch wenn sie von ihr wahrscheinlich dasselbe behauptet hätten. Als Hände nach Vanelle griffen, schlug sie diese beiseite und sprang auf die Beine, wobei sie rücklings zur Reling stolperte. Sie presste die Nägel ins glatte, kühle Holz.

»Ich lasse mich nicht einsperren! Tötet mich verdammt noch mal, aber ich werde bestimmt keine Geisel!« Sie sah etwas klarer, jetzt, da sie wieder stand, dennoch drehte sich alles. Wie auf den hölzernen Karussellen auf den Jahrmärkten, die sie als Kind so häufig mit ihrer Mutter besucht hatte. Alle Blicke lagen auf ihr, das spürte Vanelle deutlich. Jemand kam auf sie zu, also schlug sie mit der Hand durch die Luft in einem wenig erfolgreichen Versuch, sich zu verteidigen. Die Gestalt jedoch packte ihr Handgelenk und drückte es schmerzhaft nach unten. Vanelle ging japsend in die Knie.

»Niemand hier will dich als Geisel«, erkannte Vanelle die Stimme Rivay Alverres. Er stand direkt vor ihr. Seine grauen Augen durchbohrten sie förmlich, die noch dunkleren Augenringe gaben seinen Pupillen einen grotesken Schein. Seine Iriden erinnerten sie an die Farbe des Meeres während eines Gewittersturms. Ein grauer Abgrund ohne Entkommen. »Du hast es doch gehört. Nicht einmal dein eigener Vater gibt einen Deut auf dich. Schöne Familie hast du da, Oceanshare. Als Geisel bist du nichts wert.« Vanelle wollte etwas entgegnen, aber es fiel ihr zusehends schwerer, auch nur zu atmen.

»Er wird kommen«, murmelte sie daher, das Dröhnen in ihrem Kopf übertönte beinahe ihre eigene Stimme. »Vater wird nicht zulassen …« Etwas, das ein Lächeln sein mochte, stahl sich auf die Züge ihres Gegenübers. Darin lag keine Belustigung, keine Häme. Vielmehr offenbarte Rivay ein freudloses Grinsen, das seine Augen nicht erreichte. Fast schon hätte Vanelle es mit Mitleid verwechselt. »Das hat er längst. Sieh dich um.«

Abrupt ließ er von Vanelle ab und sie sank hinab, nicht jedoch ohne einen Blick über die Reling zu werfen. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Oceanshare, ihre Heimat, war nicht mehr als eine Silhouette am Horizont. Wie hatte es das Piratenschiff geschafft, die Marina so schnell zu verlassen? Um sie herum tobten die Wellen der erbarmungslosen, blauen See – und niemand folgte ihnen. Wo blieb die Flotte ihres Vaters, die vielen Schiffe, die doch sicher kommen mussten, um sie aus dieser misslichen Lage zu befreien? Vanelle spürte, wie ihr alle Kraft aus den Gliedern wich. Es war helllichter Tag, doch sie glaubte, die Nacht senke sich mit ihrer Dunkelheit unheilvoll über sie – und verschluckte sie ganz.

Kapitel 3

Rivay betrachtete die kleine, leblose Gestalt, die soeben auf den Planken ihres Schiffes zusammengebrochen war, mit Gleichgültigkeit. Sie schnaubte verächtlich und wandte sich von dem rötlich braunen Haarschopf ab, in dem die blutende Verletzung, die sie beim Aufprall auf den Hauptmast erlitten hatte, nicht weiter auffiel. Wie lästig.

»Kania, kümmere dich darum. Aelin, hilf ihr dabei und bring sie danach runter. Schafft sie mir aus den Augen.« Die blonde Piratin, ihre Schiffsärztin Kania, nickte sachte und bedeutete Aelin, ihr zu helfen. Im Stillen hoffte Rivay, dass das Mädchen ihren Verletzungen nur allzu bald erlag – dann musste sie sich nicht weiter mit dem blinden Passagier befassen, der sich so unerwartet Zugang zu ihrem Schiff verschafft hatte. Gleichzeitig wusste sie, dass das nicht der Fall sein würde: Ein Stoß gegen den Kopf reichte nicht aus, um das Licht der kleinen Oceanshare auszuknipsen. Und sie selbst durfte ihr kein Haar krümmen. Am liebsten hätte Rivay sie einfach über Bord geworfen und den Haien zum Fraß überlassen, aber auch das löste konträre Gefühle in ihr aus. Schließlich besaß sie diesen Muschelanhänger. Sie würde sie nicht anrühren.

»Raina«, sprach sie die große Frau an, die ein altes Tuch auf ihren verwundeten Arm presste. Die Blässe, einhergehend mit dem Blutverlust, gepaart mit den zusammengekniffenen Augenbrauen, bezeugten den Schmerz, der die Piratin heimsuchte. »Lass das von Kania ansehen und pack diesen Lumpen weg. Du darfst Schusswunden nicht unterschätzen.«

»Aye, Käpt’n.« Sie murrte leise vor sich hin, doch Rivay sah es ihr nach. Auch sie empfand keinerlei Zufriedenheit mit dem Ausgang dieses Treffens. Natürlich wusste die Kapitänin, dass man versuchen würde, sie übers Ohr zu hauen – aber letztlich ohne das, weswegen sie gekommen waren, abziehen zu müssen, entfachte ein loderndes Feuer der Wut in ihr. Ihre Finger glitten in die Tasche ihres roten Mantels und berührten die glatte, kalte Oberfläche der Taschenuhr. Sie spürte die Vibration des Zeigers bei jedem Ticken an ihren Fingerspitzen. Ich werde zurückkommen müssen, ging es ihr durch den Kopf. Zu gegebener Zeit.

»Rivay!« Zu ihrem Ärger besaß eines ihrer Besatzungsmitglieder die Frechheit, ihr einfach so in ihre Kapitänskajüte zu folgen. Natürlich wusste sie sofort, um wen es sich dabei handelte: Vinrick. Seine sonst eher unbeschwerten, veilchenblauen Augen wirkten besorgt. Mit einer beiläufigen Geste schob er das lange, silbrige Haar über die Schulter zurück, gleichzeitig zog er die schwere Holztür ins Schloss.

»Was genau sollte das da draußen? Die Mannschaft versteht nicht, was da passiert ist. Ich ehrlich gesagt auch nicht. Warum verschonst du eine Oceanshare?« Unter normalen Umständen hätte Rivay jeden Piraten, der ihr Handeln in Frage stellte, an Ort und Stelle hinausgeworfen. Nicht jedoch Vinrick. Er besaß das Privileg ihrer Freundschaft aufgrund ihrer gemeinsamen Vergangenheit – was auch bedeutete, dass er dies schamlos ausnutze, wann immer sich ihm die Gelegenheit dazu bot. Rivay betrachtete ihn abschätzend. Anstatt einer Antwort durchmaß sie den Raum und öffnete eine Schublade ihres ausladenden Schreibtisches. Sie holte ein Stück Papier hervor, das sie flach auf der Holzfläche ausbreitete.

»Deswegen«, entgegnete sie und deutete mit einem Finger auf das in der Ecke befindliche, im Licht vielfach schimmernde Muschelsymbol auf der Karte. Vinrick, in der Zwischenzeit an ihre Seite getreten, studierte das Pergament aufmerksam. »Sie trug es am Hals. Als Kette.«

»Nur deshalb? Das muss nichts bedeuten, Rivay. Könnte auch ein ganz normaler Anhänger sein.« Die Kapitänin antwortete nicht. »Ich meine, sie ist eine Piratenjägerin. Ja klar, du sperrst sie unten ein, verstehe schon – aber was, wenn sie jemanden verletzt? Als wir das letzte Mal auf einen Oceanshare trafen …«

»Denkst du eigentlich manchmal an die anderen?« Vinrick stockte, als sie ihm so unvermittelt das Wort abschnitt. Fast sofort senkte er die Brauen, ein bekümmerter Ausdruck umspielte seine Züge. Rivay wusste, dass er den Ablenkungsversuch durchschaute. Der Pirat kannte sie zu gut. Gleichzeitig – und das rechnete sie ihm hoch an – ging er nicht weiter darauf ein. Sachte legte er ihr eine Hand auf die Schulter.

»Du solltest eine Auszeit nehmen. Ich will dir ja nicht zu nahetreten, aber du siehst schlecht aus. Viel gegessen hast du in letzter Zeit auch nicht gerade. Ich werde Kolaris bitten, dir etwas Forelle zu braten. Was meinst du?« Der Ansatz eines Lächelns umspielte die Züge der Kapitänin.

»Sicher.« Erst, als Vinrick die Kajüte verließ, stieß Rivay ein langgezogenes Seufzen aus. Sie glitt zurück auf ihren Stuhl, die fast vergessene Karte mit dem Muschelsymbol fiel ihr ins Auge. »Das Zeichen des namenlosen Gottes«, wisperte sie in die entstandene Stille hinein.

Kapitel 4

Vanelle hörte das Knacken des alten Holzes und das gleichmäßige, sanfte Rauschen der Wellen. Es roch nach Salz, Stroh, Metall und etwas, das Möwenscheiße sein mochte. Nur wenig Licht drang zu ihr hinein und ihre Augen brauchten einige Zeit, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnten. Ein Raum im Inneren eines Schiffes. Klein, irgendwie karg, mit nur einem einzigen, winzigen Bullauge außerhalb ihrer Reichweite – denn dicke Gitterstäbe versperrten ihr den Weg. Was, bei allen sieben Meeren, war geschehen?

Nur bruchstückhaft kehrte die Erinnerung zu ihr zurück – wenn auch Vanelle nach einigen Minuten so sehr der Kopf schmerzte, dass sie es aufgab, sich Details ins Gedächtnis rufen zu wollen. Sie wusste noch, wie sie auf die Piraten warteten und dass Spinell auf dem Steg zusammengebrochen war. Nach wie vor spürte sie den schwachen Nachhall der Vibration in ihren Fußsohlen, die den Sprung auf die Piratenbark schafften – doch alle anderen Erinnerungsfäden bildeten ein vielfach verknotetes Wollknäuel, das sie beim besten Willen nicht entwirren konnte. Der Kampf, die Schüsse, das Piratenschiff, all das ergab keinerlei Sinn mehr für sie. Und wo war Spinell?

Vanelle wollte sich aufsetzen, wurde aber von ihren schmerzenden Gliedern gezwungen, liegen zu bleiben. Das Stroh unter ihr knisterte leise, als lache es sie aus. Trotzig presste Vanelle die Lippen aufeinander und schaffte es, den Rücken an die Zellenwand zu lehnen. Vor ihr ragten Eisenstäbe bis hinauf zur Zimmerdecke, die ihre Freiheit auf einige wenige Fuß begrenzten. Ein Klimpern ließ sie verschreckt zusammenzucken.

Da stand jemand. Eine Gestalt im Schatten, deren Umrisse nur schwerlich zu erkennen waren. Ein Kind? Keine Bewegung ging von ihm aus, es starrte sie nur an – und Vanelle schwieg beklommen. Für eine hoffnungsvolle Sekunde glaubte sie, dass es sich um Spinell handelte, doch wer auch immer ihr gegenüberstand, reichte nicht an seine Körpergröße heran. Die Schattengestalt stellte etwas ab, das sie unter einer Vertiefung ihres Gefängnisses hindurchschob. Sie erkannte, dass es ein Tablett sein musste. Mit hölzernem Geschirr und Essen. Also versorgte man sie? Vanelle rührte keinen Finger. Eher würde sie verhungern, als Nahrung von den Piraten anzunehmen – auch wenn ihr Magen bei dem Wohlgeruch, der an ihre Nase herangetragen wurde, verräterisch grummelte. Was, wenn man versuchte, sie zu vergiften? Nein, das konnte nicht sein. Sie wollten sie nicht beseitigen, zumindest nicht sofort. Sonst hätte man sie direkt auf Deck getötet.

»Warum haltet ihr mich gefangen?«, fragte sie krächzend und hielt verdattert inne. Nach der Bewusstlosigkeit fehlte ihrer Stimme jede Schärfe. Vanelle räusperte sich geräuschvoll, doch von dem Jungen kam keine Antwort. Stattdessen deutete er zuerst auf das Tablett und tippte danach an seinen Kopf. Dann tat er etwas, das sie absolut nicht nachvollziehen konnte: Er ballte die Hand beinahe zur Faust, Daumen und Zeigefinger vorgestreckt, und bewegte diese zweimal vor dem Mund, wie als würde er gegen seine Lippen klopfen. Vanelle senkte genervt den Blick. »Warum haltet ihr mich gefangen?«, wiederholte sie, diesmal lauter. Wie zum Spott führte er dieselben Gesten noch einmal aus. Frustriert vergrub Vanelle die Zähne in der Unterlippe.

»Jetzt mach schon den Mund auf!«, presste sie schnaubend hervor, doch auch diesmal reagierte ihr Gegenüber nicht wie gewünscht. Ein Grollen löste sich aus ihrer Kehle, als sie unvermittelt auf die Gitterstäbe zusprang. Wie ein wildes Tier rüttelte sie an den Stangen, sodass der Schatten rückwärts auf den Hosenboden plumpste. Verängstigt rutschte er zurück bis zum einzigen Bullauge des Raumes – und Licht erhellte sein Gesicht. Zum Vorschein kamen die Züge eines Heranwachsenden, doch gerade so ängstlich zusammengekniffen, dass Vanelle glaubte, ihm einen größeren Schrecken eingejagt zu haben als beabsichtigt. Er musste jünger als ihr Bruder sein. Spinell, dachte sie erneut und ihre Wut ebbte augenblicklich ab. Was genau hatte sich auf dem Steg zugetragen? Noch immer sah sie jene Bildsequenz vor Augen, der Moment, in dem er zusammenbrach. Vanelles Beine gaben nach und sie rutschte an den Stäben hinab, den Blick auf den Boden gerichtet. Wie weit hatte sie dieses Schiff bereits von Zuhause weggebracht? Was würde mit ihr geschehen? Und warum ließ man sie am Leben? Eine kleine, zittrige Hand erschien in ihrem Sichtfeld und hielt ihr ein Taschentuch entgegen. Argwöhnisch blickte sie ins Gesicht des Jugendlichen, der sie aus geweiteten, gelbgrünen Augen betrachtete. Dachte er, dass sie weinte? Als ob sie diese Blöße vor einem Piraten zulassen würde!

»Warum gibst du mir keine Antwort?«, zischte sie, wenn auch etwas milder. Tatsächlich ähnelten seine kindlichen Züge denen ihres Bruders enorm. So sehr, dass es Vanelle das Herz zusammenzog. Er erwiderte nichts, was Vanelle ein Seufzen entlockte. »Du willst nicht, was? Na schön. Dann behalte doch dein verdammtes Taschentuch.« Mitleidig blickte er auf sie hinab. Erneut deutete er zuerst auf das Tablett zu Vanelles Füßen, tippte gegen seinen Kopf und wiederholte die klopfende Geste vor seinen Lippen.

»Man könnte meinen, du kannst gar nicht sprechen«, giftete sie ihn an. Der Junge senkte kurz die Lider, auf eine Art, die Vanelle verdeutlichte, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Ihr ging ein Licht auf. »Warte, du kannst nicht –?«

Ihr Gegenüber wiederholte die Gesten, ohne die Frage zu beantworten. Diesmal verstand Vanelle. »Du willst, dass ich esse«, überlegte sie laut, während der Pirat wiederum sanft mit den Fingerspitzen der flachen Hand gegen seinen Kopf klopfte. Vanelles Finger glitten an ihrer Stirn entlang und strichen über rauen Stoff. Ein Verband, ging es ihr auf. Man hatte ihre Kopfverletzung behandelt. Dunkel erinnerte sie sich an den metallischen Geruch von Blut. Wieder glaubte Vanelle, verstanden zu haben.

»Damit meine Verletzung verheilt?« Ihr Gegenüber antwortete, indem er die Hand zur Faust ballte, die beiden äußeren Finger abspreizte und diese kurz schüttelte, was auch immer das bedeutete. Mit einem tiefen, grollenden Seufzen ergriff sie das Tablett. Die Mahlzeit bestand aus einer dicken Suppe, in der Karotten und Kartoffeln schwammen, etwas frischem, noch warmen Brot, das erst kürzlich gebacken worden war, und einem Becher Wasser. Verstimmt presste sie die Lippen aufeinander. Der Eintopf roch gut, glich jedoch in keinem Fall der Küche, die man ihr in Oceanshare über all die Jahre hatte angedeihen lassen. Aber was erwartete sie auch von einem stinkenden Piratenschiff? Schweigend führte sie den hölzernen Löffel zum Mund und noch in der Sekunde, als ihre Zunge mit der Substanz in Berührung kam, riss sie überrascht die Augen auf. Niemals stammte dieses vorzügliche, wohl abgeschmeckte Gericht von einem einfachen Schiffskoch. Vanelle schmeckte Kümmel, Fenchel, Zitrone, die Schärfe von Chili und auch etwas, das sie nicht kannte. Neu, fremdartig irgendwie, eine wahre Geschmacksexplosion in ihrem Mund. Was für ein Aroma! Verstohlen schaute sie zu dem Jungen, als könne er ihr jederzeit den Eintopf unter der Nase wegschnappen. Besitzergreifend umfasste sie das Behältnis und verschlang dessen Inhalt, bis der Löffel am Boden kratzte. Erst nachdem sie auch Brot und Wasser vernichtet hatte, schob sie das Tablett zurück. Ihr Gegenüber nahm es und wandte sich zum Gehen. Vanelle beobachtete, wie er durch eine Tür verschwand, durch die kein Licht hereinkam. Sie musste weit unter Deck sein. Keine guten Aussichten, wenn sie versuchen wollte, zu fliehen.

Sie kam auf die Beine und schritt den geringen Raum ab. Jetzt, nachdem sie gegessen und getrunken hatte, ging es ihr besser – also würde sie nach Schwachstellen in der Zelle suchen. Die Dielen wirkten stabil, die Gitterstäbe leisteten erbitterten Widerstand. Vanelle glitt frustriert zu Boden. Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Ein paar Stunden vielleicht? Wahrscheinlich lange genug, dass die Sonne bereits am Horizont versank. Das machte ihre Aussichten, noch in Reichweite von Oceanshare zu sein, sehr trübe. Außer der Zelle gab es in diesem Raum nur einen kleinen Hocker, der an der gegenüberliegenden Wand neben der Tür stand. Bis auf das gelegentliche Rauschen der Wellen drang auch kein Laut zu ihr heran. Die Stille drohte, sie zu erdrücken – bis sie ein unerwartetes Geräusch vernahm. Alarmiert straffte sie den Rücken. Schritte, dachte sie. Sie wurden lauter, die Tür schwang auf und die kleine, blonde Frau trat ein, die Vanelle bereits kannte. Jetzt sah sie nicht im Entferntesten mehr ängstlich aus: Das gezwungene Lächeln und die unruhigen, unentwegt umherspringenden Augen sprachen eher von Nervosität. Ihre Zierlichkeit verblüffte Vanelle – eine so zerbrechliche Person passte ihrer Ansicht nach nicht besonders gut auf ein Piratenschiff, bevölkert von rauen, grobschlächtigen Seeräubern. Ihr offenes, interessiertes Gesicht jedoch erweckte in Vanelle den Eindruck von Wärme. Sie mochte ein sehr herzlicher Mensch sein. Neben ihr schob sich der Pirat mit dem Zopf durch den Eingang – der, den Vanelle beinahe getötet hatte. Zum ersten Mal konnte sie ihn eingehender betrachteten: Sein nur geringfügig kantiges Gesicht mit der markanten Kinnpartie, den hohen Wangenknochen und den scharfen Augen wirkte attraktiv. Womöglich hätte sie ihn hübsch gefunden, wären da nicht seine aufeinandergebissenen Zähne, die deutlich zeigten, wie wenig Sympathie er für die Piratenjägerin hegte.

»Warte doch bitte draußen«, meinte die Blonde freundlich. Der Mann sah unzufrieden aus, wie er so dastand und Vanelle nicht für eine Sekunde aus den Augen ließ. Er knurrte unterschwellig.

»Ruf mich sofort, wenn sie etwas versucht«, murmelte er, ging jedoch hinaus. Die Piratin lächelte verunsichert.

»Wie schön, dass du endlich aufgewacht bist. Ich muss nach deinem Verband sehen. Hast du etwas gegessen?« Vanelle antwortete nicht. Besaß dieses Schiff denn keinen Arzt? Schickte man deshalb diese Frau? Die meisten Verbände wechselte man maximal einmal am Tag. Eine Vorahnung überkam Vanelle so unvermittelt, dass sich ein dicker Kloß in ihrem Hals bildete.

»Wie lange war ich bewusstlos?«, fragte sie, ihre Stimme, die zwischen den Tonlagen sprang, verbarg ihr Entsetzen nur schlecht. Der fremden Piratin entging das nicht, doch sie überging es lächelnd.

»Zwei Tage. Ich habe den Verband bisher immer gewechselt, während du geschlafen hast. Wie fühlst du dich? Ist dir schwindelig? Hast du irgendwelche Gedächtnislücken?« Vanelle schwieg weiterhin. Als dies anhielt, begann ihr Gegenüber, nervös die Handflächen zu kneten. »Darf ich mir die Wunde mal ansehen?« Vanelle glaubte ihr kein einziges Wort. Unversöhnlich hielt sie den Blickkontakt aufrecht. Niemals hatte sie zwei Tage lang geschlafen. Sie log, wollte sie davon abhalten, gegen die Gefangenschaft aufzubegehren. Anders konnte es nicht sein.

»Ich will dir nur helfen«, versuchte es die kleine Frau sanft. Die Stille dauerte an. »Ich bin Kania, die Schiffsärztin. Wie ist dein Name? Du bist Carrick Oceanshares Tochter, nicht wahr?«

»Vanelle«, antwortete sie zögernd, wenn auch ungläubig. Wieder eine Lüge. Es gab keine weiblichen Ärzte auf Gaia. »Was habt ihr mit mir vor?«

»Das entscheidet der Käpt’n. Tut mir leid, ich weiß nicht, was sie mit dir vorhat.«

Sie? Verwirrung ergriff von Vanelle Besitz. Kania sah ihr das offenbar an, denn die junge Frau sprach sofort weiter, auch wenn sie Vanelles irritierten Gesichtsausdruck kolossal falsch deutete. »Keine Sorge, sie ist kein Monster«, plapperte die Schiffsärztin nervös. »Darf ich mir jetzt bitte deine Verletzung ansehen?«

Vanelle blinzelte, gab dann aber nach. Sie rutschte zu den Gitterstäben und lehnte den Oberkörper dagegen. Kania begann erleichtert, den Verband zu lösen, während Vanelles Gedanken schneller rasten, als jedes ihr bekannte Schiff über das Meer zu segeln vermochte. Natürlich log man sie an, scheinbar war den Piraten jedes Mittel recht, sie in trügerischer Sicherheit zu wiegen. Ganz sicher beabsichtigten die Seeräuber, sie als Geisel zu benutzen und gegen Gold oder Schiffe einzutauschen. Die kundigen Hände zogen am Verband und Vanelle ächzte leise, während ein scharfer Schmerz durch ihre Stirn schoss.

»Entschuldige. Aelin? Kommst du bitte kurz?« Vanelle hörte die quietschenden Scharniere und Schritte. Ein metallisches Klackern folgte und unversehens schwang die Zellentür auf. Ihre Augen weiteten sich unwillkürlich, als Kania die Zelle betrat und vor ihr stehenblieb, bevor sie die Untersuchung fortführte, als sei nichts geschehen. Dieser Kerl – Aelin – lehnte an den Stäben. Sein Blick brannte ihr fast schon Löcher in den Hinterkopf. Sollte er aufpassen, solange sie Vanelle versorgte? Es stach kurz, während Kania die Wunde desinfizierte und wenig später einen neuen Verband anlegte.

»Ist dir übel? Oder schwindelig?«, fragte sie erneut, schließlich hatte sie beim ersten Mal keine Antwort erhalten. Vanelle schüttelte den Kopf. »Sehr schön. Alles verheilt ohne Pro-bleme.«

Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Die Hingabe in ihren Augen entfachte einen Funken, den Vanelle nur als Sympathie deuten konnte. Offensichtlich lebte die Piratin für die Heilkunst, etwas, das Vanelle sehr wohl respektieren konnte, auch wenn das noch lange keine Ärztin aus ihr machte. Beinahe kam ihr ein schlechtes Gewissen – aber nur fast. Vanelle spürte keinerlei Reue, als sie in dem Moment, in dem Kania den Kopf wegdrehte, aufsprang und die Piratin an die Gitterstäbe stieß. Sie empfand auch kein Mitleid, während sie diesem anderen Piraten, der aufgrund ihrer schnellen Reaktion eine Sekunde zu spät reagierte, die Zellentür gegen den Kopf schleuderte. Ohne einen weiteren Blick flüchtete sie an ihm vorbei und stürmte durchs Schiff.

Vanelle musste hier raus, und zwar so schnell wie möglich. Ein gellender Schrei durchbrach die Stille unter Deck, während die Piratenjägerin durch die Gänge eilte. Sie fand eine Luke und hangelte sich an der Leiter entlang, ehe ihr ein Schwall frischer, salziger Luft entgegenströmte. Nur eine Sekunde später blinzelte sie ins Licht der untergehenden Sonne.

Kapitel 5

Als der Lärm in ihre Kajüte drang, war Rivay gerade in Aufzeichnungen vertieft. Kreuz und quer lagen sie auf dem ausgedehnten Tisch, alles in allem ein ziemliches Durcheinander, das nur sie allein zu ordnen wusste. Genervt ergriff sie im Vorbeigehen den Kapitänshut und riss die Tür auf. Die Wärme der schwächer werdenden Sonne umspielte ihre Sinne. Die Strahlen spiegelten sich tänzelnd auf dem Wasser wider – wenn da nicht dieser Aufstand an Deck gewesen wäre, der den Frieden maßgeblich störte.

Rivay sah ihn, den Großteil ihrer Besatzung, wie er einen Kreis um das Oceanshare-Weib bildete. Die Kapitänin unterdrückte ein Knurren. Wer, bei allen Göttern, hatte sie aus der Zelle gelassen und warum beim Namenlosen hielt die Piratenjägerin ein Schwert in der Hand? Nicht wenige der Seeräuber versuchten, sie zurückzudrängen – erfolglos allerdings, denn die junge Frau verstand es, die Angreifer auf Abstand zu halten. Gerade parierte sie einen weiteren Schwerthieb und stieß ihren Kontrahenten zurück, er taumelte und riss einen seiner Kameraden mit sich zu Boden. Rivay knirschte mit den Zähnen. Offenbar konnte sie mit der Waffe umgehen, aber erkannte das Miststück denn die Aussichtslosigkeit ihrer Lage nicht? Rivay stieg auf die mit winzigen Schiffen malerisch verzierte Balustrade direkt vor ihrer Kajüte und sprang mit einem einzigen, gekonnten Sprung nach unten. Sofort wurde sie bemerkt und Stille schlug ihr entgegen, als die Piraten augenblicklich innehielten. Alle bis auf sie, die kleine Oceanshare, denn auch sie hatte die Kapitänin entdeckt.

»Bleib zurück!«, rief sie und richtete das Schwert auf Rivay. Ihre Hand zitterte – das sah sie sofort – also wusste sie um die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation. Immerhin. Der Kreis vor Rivay stob auseinander und die Crewmitglieder machten ihrer Schiffsführerin Platz.

»Vanelle, bitte hör auf! Niemand hier will dir etwas tun!«, vernahm sie Kanias aufgebrachte Stimme, flankiert von Aelin, der die Jägerin ganz entgegen Kanias Worten mit Augen betrachtete, aus denen Dolche auf sie niederzustechen schienen – außerdem bemerkte sie die beachtliche, blutige Schramme an seiner Stirn. Vanelle, dachte Rivay und es nervte sie, dass sie Raum in ihrem Kopf für den Namen dieses blinden Passagiers verschwendete.

»Du hast Kania gehört, Weib«, sagte sie, nach außen ruhig, nur innerlich brodelnd. Sie hasste es, wenn man ihr nicht gehorchte. »Lass das Schwert fallen und dir passiert nichts.«

»Als ob ich euch dreckigen Piraten auch nur ein Wort glaube!«

»Dreckig?«, erwiderte Rivay gereizt und ging einen Schritt auf sie zu. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, das eigene Schwert hervorzuziehen. Die Kapitänin sah dafür keine Notwendigkeit. Vanelle stockte sichtlich. Sie konnte nicht zurückweichen: Die Crew hatte sie vollständig umzingelt. Es gab keinen Ort, an den sie fliehen konnte. Rivay machte einen weiteren Schritt nach vorn – und dann noch einen. Vanelles Antwort bestand im zittrigen Anheben der Klinge.

»Komm nicht näher«, stieß sie hervor, doch Rivay hatte den Abstand zwischen ihnen bereits geschlossen. Die Spitze des Schwertes ruhte an ihrer Brust. Sofern das Oceanshare-Weib sie töten wollte, bekam sie nun ihre Chance.

»Oder was?«

Ein kleiner Stich würde reichen, das musste auch diesem ängstlichen Geschöpf klar sein – und Rivay sah sich bestätigt, als ihr Gegenüber zögerte. Fast erschien ein wissendes Lächeln auf ihren Lippen. Ihre Mundwinkel zuckten amüsiert, doch sie unterdrückte es. Rivay hatte gesehen, dass sie nicht töten konnte, oder besser gesagt, es nicht wollte. Dieselbe Angst, die sie jetzt aus ihrem Gesicht ablesen konnte wie aus einem offenen Buch: Sie begleitete die Piratenjägerin von jenem Schritt an, der sie auf dieses Schiff gebracht hatte. Das änderte aber nichts daran, dass ihre Mannschaft spürbar den Atem anhielt. Bis auf die Wellen, die gegen den Kahn schlugen, herrschte Totenstille.

»Was ist? Willst du mich nicht töten, Oceanshare?« Ihre Worte trugen dazu bei, Vanelles Zittern zu verstärken. Rivay wartete lediglich ab. Nur einige, wenige Sekunden lang, dann schnaubte sie leise und ergriff mit einem koordinierten Ausfallschritt das Handgelenk der jungen Frau. Sie bog ihre Hand um und zwang Vanelle so, das Schwert fallen zu lassen. Es landete klirrend auf den Holzdielen. Rivay erkannte sich selbst in der Spiegelung ihrer geweiteten, blauen Augen, während sie, nach wie vor ihr Handgelenk haltend, nah vor Vanelle stehen blieb. Wahrscheinlich spürte ihr Gegenüber sogar den Atem der Kapitänin auf der Haut.

»Was für eine Piratenjägerin bist du, wenn du nicht töten kannst?«, wisperte sie, leise und abfällig genug, dass nur die junge Frau ihre Worte hören konnte. Erst als sie sah, wie Vanelle vor Scham die Lider senkte, ließ sie von ihr ab. Sie stolperte rücklings in die Arme der Crew. Sofort hielt man sie fest, sie leistete keinerlei Widerstand. »Bringt sie zurück zur Zelle. Und positioniert diesmal eine Wache.« Als man sie unter Deck führte, richtete Rivay ihr Augenmerk auf Kania. »Was ist passiert? Heute Morgen hieß es, sie sei noch immer bewusstlos.«

Kania nickte schuldbewusst. Auch wenn da kein Vorwurf in Rivays Worten lag, knickte die junge Ärztin merklich ein. Sie ließ die Schultern hängen.

»Nachdem uns Thoma berichtet hat, dass sie aufgewacht ist, sind Aelin und ich nach unten gegangen, um nach ihrer Verletzung zu sehen. Und dabei …« Sie zögerte und Rivay zog eine Braue nach oben. »Ich bin in ihre Zelle, weil ich durch die Gitterstäbe so schlecht arbeiten konnte. Und dann hat sie –«

»Schon gut. Sie hat dich überwältigt. Aelin auch?« Die Augen des Angesprochenen glühten. »Tut mir leid, Käpt’n.«

»Käpt’n? Wenn ich einen Vorschlag machen darf«, ergriff Kania das Wort, während Rivay überlegte, wie sie die Beiden zur Rechenschaft ziehen sollte. Sie bedeutete ihr, zu sprechen. »Wir sind noch wochenlang auf dem Meer. Sie so lange da unten zu behalten, ohne Sonnenlicht, ohne frische Luft, das wäre grausam.« Rivay wusste nicht, worauf sie hinauswollte. Das Mädchen gehörte zu den Oceanshares. Einer Familie von Piratenjägern. Selbst wenn sie im Augenblick nicht den Mut hatte, einen Mord zu begehen, so würde der Moment sicherlich irgendwann kommen. Und wenn er kam, durfte sie nicht mehr auf ihrem Schiff sein.

»Können wir sie nicht nach oben holen? Aelin würde bestimmt auf sie aufpassen! Und vielleicht hat sie ja nützliche Informationen für uns!« Kania war einfach zu weich. Schon damals, als Rivay sie in ihre Reihen aufgenommen hatte, wusste sie, dass in ihr eine gute Seele schlummerte – sie konnte niemandem etwas zu Leide tun. Nicht einmal einer Piratenjägerin, deren Familie so viele von ihnen getötet hatte. Vergaß Kania, dass auch sie bei dem Treffen in Oceanshare Besatzungsmitglieder verloren hatten? Wie konnte sie also glauben, dass Rivay dieser Frau erlauben würde, auf ihrem Schiff zu verweilen, ob nun unter Aufsicht oder nicht? All diese Gedanken mussten sich auf ihrem Gesicht widerspiegeln, denn Kania ließ den Kopf hängen. »Ich weiß, dass es viel verlangt ist, Käpt’n. Aber ich habe mit ihr gesprochen. Ich weiß, dass sie kein schlechter Mensch ist. Und wenn man ihr eine Chance gibt –« Diesmal unterbrach Rivay sie mit einem Kopfschütteln.

»Was erwartest du von mir? Dass ich sie auf dem Schiff herumspazieren, mit uns allen essen oder die Planken schrubben lasse? Hast du vergessen, dass sie dich und Aelin überwältigt hat?« Kania wurde merklich kleiner unter der Last der Zurückweisung. Aelin klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter.

»Der Käpt’n hat recht, Kania. Diese Frau ist eine Gefahr für uns alle. Es ist besser, wir werden sie so schnell wie möglich los.« Rivay nickte zustimmend.

»Sobald wir den nächsten Hafen erreichen, fesseln wir sie und bringen sie bei Nacht von Bord. Wenn wir ablegen, ist sie nicht mehr unser Problem.«

Schließlich hatte Rivay Wichtigeres zu tun, als sich mit diesem Abkömmling einer Meute von Piratenjägern herumzuschlagen.

Kapitel 6

Vanelles Fluchtversuch lag drei Tage zurück. Bewegungslos ließ sie die tägliche Behandlung über sich ergehen, sprach jedoch kein Wort. Was auch immer diese Piraten mit ihr vorhatten, es lag nicht mehr in ihrer Hand. Es gab keinen Fluchtweg, außer sie plante, zu ertrinken – und dafür war Vanelle entschieden zu stolz. Außerdem machte ihr die Gefangenschaft zu schaffen. Zu gern würde sie einen Spaziergang machen und die wohlige Wärme der Sonne auf der Haut spüren. Ihr Körper wurde steif durch das viele Liegen auf dem harten Stroh und sie sehnte sich nach etwas anderem als der abgestandenen Luft unter Deck. Mehr noch als das gierte sie nach einem Bad. Beinahe eine Woche trug sie nun schon dieselbe Kleidung. Auch, wenn sie es nicht gern zugab, sie roch mittlerweile äußerst unangenehm. Lange würde sie den eigenen Mief, in dem sie marinierte wie ein Stück Fleisch, nicht mehr ertragen.

Sie horchte auf, als sie dumpfe Schritte vernahm. Die Tür öffnete mit einem kreischenden Quietschen und jemand, wer auch immer gekommen sein mochte, verharrte im Türrahmen. Es vergingen ein paar Sekunden, ehe sich ihr Besuch geräuschvoll räusperte.

»Steh auf, Weib. Du stinkst. Der ganze Raum hier stinkt. Du wirst jetzt nach oben gebracht und nimmst ein Bad. Verstanden?« Vanelle saß schon in dem Moment aufrecht, in dem sie seine Baritonstimme vernahm. Er sah aus, als wollte er nicht hier sein, wie er da so stand, mit verschränkten Armen und gekräuselter Nase. Rivay. Vanelle verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Als ob sie auf seine Befehle hören würde. Und wegen so einer Sache besuchte sie der Kapitän der Alverre-Piratenbande persönlich? Konnte man ihr keinen Eimer hinstellen? Sie lachte leise auf, was ihrem Gegenüber deutlich missfiel, denn er stieß ein kurzes, abgehacktes Schnauben aus. Am Rande nahm Vanelle wahr, dass auch Kania und Aelin bei der Tür standen.

»Wenn du willst, dass ich mich wasche, geht das auch in einem anderen Ton, Pirat. Und nenn mich gefälligst nicht Weib!« Sie fuhr schwungvoll hoch und umfasste mit beiden Händen die Gitterstäbe.

»Wie auch immer«, gab Rivay ungerührt zurück, offenbar interessierten ihn ihre verbalen Eskapaden wenig.

»Bekomme ich jetzt die ganz persönliche Eskorte des Kapitäns, oder womit habe ich diese Ehre verdient?«, stichelte Vanelle weiter. Der Kapitän schnalzte mit der Zunge und bedeutete Kania, die Zelle zu öffnen. Sie tat dies. Rivay betrat ihr Gefängnis und baute sich vor Vanelle auf.

»Ich bin hier, weil ich sichergehen muss, dass du keine weitere, unnötige Kurzschlussreaktion geplant hast. Nicht mehr und nicht weniger. Und jetzt setz dich in Bewegung, Frau. Oder willst du, dass ich dir Beine mache?« Vanelle verbuchte das als kleinen Sieg und erlaubte ihren Lippen, ein Grinsen zu formen. Sie ging an ihm vorbei und trat aus der Zelle. Dann folgte sie Kania, die ihr verschwörerisch zuzwinkerte, gefolgt von Aelin und dem Kapitän. Verdankte sie all das der Piratin? Warum tat sie das? Es wurde ein stiller Marsch bis hin zur Leiter, bei dem ihr nun zwei Augenpaare Löcher in den Rücken brannten. Sie wurde vom wolkenlosen Himmel begrüßt und nahm einen tiefen Atemzug. Wie heilsam, die Strahlen der Abendsonne auf der Haut zu spüren und die frische, salzige Luft zu atmen!

Sie stoppten vor einer großen Flügeltür. Als Kania diese öffnete, stieg Vanelle der Geruch nach aromatischer Seife in die Nase. Sie roch Lavendel und Rosen. Wie herrlich! Fast wie die reichhaltigen Waschlotionen zu Hause! Sie traten ein, die Tür schloss sich und die Seeräuberin deutete auf Vanelles dreckige Kleidung. »Du kannst dich hier ausziehen«, sagte sie und nahm auf der einzigen Bank im Raum Platz. Neugierig ließ Vanelle den Blick schweifen. Das hier musste eine Art Umkleide-bereich vor dem Badezimmer sein. Wie außergewöhnlich für ein Piratenschiff. In dem Moment, in dem ihre Augen an Rivay hängen blieben, der wie selbstverständlich in der Ecke des Raumes stand, verzog sie das Gesicht. Mit verschränkten Armen wartete er ab, seine Miene frei von Emotionen. Von Aelin fehlte jede Spur.

»Ich werde mich nicht vor einem Mann ausziehen«, stieß Vanelle entschieden hervor, ihre Augen blitzten auf, während sie Rivay betrachtete, dessen Gesicht gleichmäßig blieb.

»Niemand verlangt das von dir«, antwortete Kania anstatt des Kapitäns. »Aber bitte beeil dich. Das Wasser wird kalt.« Vanelle wirbelte verständnislos zu ihr herum.

»Ich habe doch gesagt, dass ich mich nicht vor einem Mann ausziehen werde!«, wiederholte sie und warf Rivay einen Seitenblick zu. Kania folgte diesem.

»Der Käpt’n ist kein Mann«, sagte sie schlicht und berührte Vanelle leicht an der Schulter. Diese zuckte zurück, als habe sie etwas angesprungen. Sie starrte erst Kania, dann den Kapitän an. Was sollte das denn heißen? All die Verwirrung schien Rivay nur wenig auszumachen. Er seufzte genervt und verdrehte die Augen.

»Ich kann mir auch Besseres vorstellen, als hier zu sitzen und dir beim Baden zuzusehen. Versprochen, Oceanshare.«

»Ich verstehe nicht«, platzte Vanelle heraus, »bist du ein Mann oder eine Frau?«

Rivay erwiderte ihren Blick gelassen. Er strich sich das kurze Haar zurück, es machte den Eindruck, als ermüde ihn die Frage – ein Umstand, den Vanelle nicht einordnen konnte – und senkte für einen Augenblick die Lider.

»Das eine, das andere, beides gleichzeitig und nichts davon. Such dir etwas aus, es ist mir egal.« Die Frustration in ihr wuchs. Was für eine Antwort sollte das denn sein? Rivay indes deutete auf Kania. »Macht es dir auch etwas aus, dich vor ihr auszuziehen?« Vanelle schüttelte knapp den Kopf. »Kania?« Die Angesprochene kam sofort auf die Beine.

»Ja!«, rief sie. »Ich übernehme das! Vertrau mir, Käpt’n!« Rivay wirkte nicht überzeugt, nickte ihr dann aber zu, ehe er sich an Vanelle wandte.

»Wir sind immer noch mitten auf dem Meer. Du kannst nirgendwohin. Verstehst du mich, Wei– Piratenjägerin?« Sie hörte es überdeutlich, das Stocken in seinen Worten. Vanelle fühlte sich völlig vor den Kopf gestoßen.

Nachdem Rivay sie und Kania zurückgelassen hatte, wurde Vanelle die dreckigen Kleider los. Kania führte sie in einen anliegenden Raum. Erwartete sie zunächst ein kleines Bad, so wurde sie mit einer groß angelegten Badefläche überrascht. Gerechnet hatte sie mit einer Badewanne, sah sich nun aber einem Becken gegenüber, in dem sicher fünf oder sechs Menschen gleichzeitig Platz fanden. Das Wasser darin dampfte verführerisch, also verlor sie keine Zeit. Vanelle stöhnte erleichtert auf, während sie Stück für Stück in die wohlige Wonne hineinglitt und den Rücken an den Beckenrand lehnte. Kania saß, vollständig bekleidet und offenbar schwitzend, denn sie fächelte sich mit der Hand Luft zu, unweit von ihr auf einem Hocker. Vanelle sank tiefer in das heiße Wasser und begann, ihre Haare zu waschen. Sanft umspielte die duftende Flüssigkeit ihre Haut. Mit jeder weiteren, vergehenden Minute spürte sie, wie die Reinheit des Bades auf sie überging. Je mehr sie entspannte, desto stärker drifteten ihre Gedanken ab – vor allem zu dem merkwürdigen Gespräch, das sie eben noch geführt hatte.

»Was meint dein Kapitän damit? Das eine oder andere oder was auch immer? Ich habe ihn für einen Mann gehalten.« Obwohl Vanelle keine klare Antwort erwartete, ließ sich Kania nicht lange bitten. Sie erwiderte ihren Blick ohne Scheu.

»Genau das, was der Käpt’n sagt. Sie ist kein Mann.«

»Aber auch keine Frau«, stellte Vanelle fest. Kania lächelte vielsagend.

»Vieles an Bord ist nicht so, wie du es auf dem Festland gewohnt bist. Die meisten von uns unterscheiden sich von den Menschen auf Gaia. Ich bin da keine Ausnahme.« Vanelle hob eine Braue.

»Was soll das denn heißen?« Kania studierte einige Herzschläge lang ihre Züge, als wolle sie abwägen, ob sie das Folgende tatsächlich aussprechen sollte. Sie schien sich dafür zu entscheiden, denn ein seichtes Lächeln bog ihre Lippen nach oben.

»Meine Gefährtin ist die Navigatorin dieses Schiffes. Ursprünglich hätte ich – wenn es nach den Launen meines Vaters gegangen wäre – ein gutbürgerliches Leben an der Seite eines Mannes führen sollen. Aber ich habe anders entschieden.« Vanelle blinzelte verständnislos. Ihr Gegenüber bemerkte das, denn sie lachte leise auf. »Ich stehe auf Frauen. Ausschließlich. Stellt das deine Welt auf den Kopf?« Unvermittelt wurden Vanelles Wangen warm. Ihr fehlten die Worte.

»N-Natürlich nicht!«, erwiderte sie gezwungen, vielleicht etwas zu schnell. Die Piratin schmunzelte wissend. »Ich habe mich nur gefragt, wie es sein kann, dass eine Frau als Ärztin arbeitet«, versuchte Vanelle sich aus der Schussbahn zu ziehen. Es misslang deutlich, doch Kania sagte nichts weiter dazu.

»Ich bin von Zuhause weggelaufen, als feststand, dass ich verheiratet werden sollte. Ich stahl Mutters Schmuck und machte mich von Coelacanth aus auf nach Sturgeon. Da habe ich studiert.«