The Curse of Truth and Sound - Anne Herzel - E-Book

The Curse of Truth and Sound E-Book

Anne Herzel

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Beschreibung

DER WIND FLÜSTERT DIE NAMEN DER VERLORENEN Beinahe ein Jahr ist es her, seit Vanelle der Piratenjagd den Rücken gekehrt und ein neues Zuhause auf Rivays Schiff gefunden hat. Doch auch die Oasis bleibt vom Schicksal nicht verschont. Nach dem Verlust Vinricks und vieler Weiterer ist der Geist der Mannschaft gebrochen. Selbst Rivay erkennt, dass der Preis für die Karten zu hoch ist. Doch als ein totgeglaubtes Crewmitglied auf das Schiff zurückkehrt und die Meere im Chaos wilder Stürme erbeben, müssen die Piraten feststellen, dass auch sie dem Ruf ihrer Bestimmung nicht entkommen können. Während Gaia im Nebel versinkt und die Götterbiester ihr Unwesen treiben, setzen Vanelle und Rivay alles daran, ihre Flüche zu brechen. Doch ist der Erhalt ihrer Mannschaft mehr wert als das Schicksal der Welt?

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Seitenzahl: 548

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Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2023 bei DrachenStern Verlag, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Jara Dressler

Korrektorat: Johannes Eickhorst

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Illustrationen Gebärdensprache: Adobe Stockphoto

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-193-5

www.bookspot.de

 

 

 

 

Für all diejenigen unter dem Regenbogen, die viel zu häufig übersehen werden.

Prolog

Vanelle stolperte über das nasse Holz und drohte, das Gleichgewicht zu verlieren. Das Unwetter warf das kleine Schiff umher, während der Regen unbarmherzig auf sie niederprasselte.

»Oceanshare!«, durchdrang seine Stimme den Sturm. Zwar kamen seine Worte kaum gegen das lautstarke Tosen des Windes an, doch Vanelle hörte eines klar und deutlich heraus: Das Versprechen eines langsamen, qualvollen Todes.

Sie rutschte aus und hielt sich nur dank eines beherzten Griffes zur Reling auf den Beinen – aber jetzt gab es kein Entkommen mehr. Das Ende des Bootes lag vor ihr, hinter dem Geländer drohte die peitschende See. Harsch wandte Vanelle den Blick ab. Das Haar klebte ihr strähnig im Gesicht und ihre Kleidung war durchnässt bis auf die Haut. Noch vor einer Stunde hatte sie die Metropole Oceanshare auf sich zukommen sehen – die Silhouetten der Stadt in der Ferne, schon gut sichtbar am Horizont. Ein Blitz erleuchtete die Szenerie und tauchte ihren Verfolger in gleißendes Licht.

Kapitel 1

Minuten zuvor knarrte das Schiff unheilvoll. Wie das verlorene Spielzeug eines Kindes wurde es vom tosenden Sturm umhergeworfen, allein den stürmischen Wellen ausgeliefert, die unbarmherzig gegen den hölzernen Rumpf schlugen. Vanelle beobachtete ihn: Varrick, wie er dann und wann prüfend durch das kleine Sichtfenster in ihren Raum hineinblickte. Sie wusste, dass er ihre einzige Chance in die Freiheit bei sich trug – in Gestalt eines Schlüssels, festgemacht an seiner Taille. Vanelle hatte einen sehr einfachen Plan: Sie würde ein Beiboot finden und fliehen, andernfalls säße sie schon morgen im Anwesen ihrer Familie, gedrängt in eine Rolle, die längst nicht mehr zu ihr passte.

»Hey!«, rief sie lautstark und hoffte, dass einer der Seemänner, vielleicht sogar Varrick selbst, auf sie aufmerksam werden würde. Polternd schlug sie gegen das dicke Holz und hatte Erfolg: Schwerfällige Schritte drangen von draußen an ihr Ohr, nur Sekunden bevor der silberhaarige Mann in ihr Sichtfeld geriet. Sein Anblick schnürte Vanelle die Kehle zu. Die veilchenblauen Augen musterten sie zwar abfällig, glichen Vinricks jedoch exakt.

»Was willst du?«, blaffte er. Vanelle wusste, dass er sie mittlerweile nur noch als Ware betrachtete, die er unglücklicherweise transportieren musste – im Auftrag Luciens, der sie für ein weiteres Theaterhaus eintauschen wollte.

»Ich langweile mich«, sagte sie, weil ihr auf die Schnelle nichts Besseres einfiel. Varrick schnaubte genervt.

»Warum sollte mich das kümmern? Ruf mich nicht noch mal, ich war gerade am Gewinnen!«

Vanelle dachte fieberhaft nach. Verwickele ihn in ein Gespräch, drängte sie sich selbst, in Ermangelung an Alternativen. »Was spielt ihr?«, fragte sie.

»Kartludo«, entgegnete Varrick argwöhnisch. »Und jetzt halt den Rand und warte, bis wir Oceanshare erreicht haben. Es dauert nur noch ein paar Stunden.« Vanelle kannte das Spiel: Es basierte auf Kartenpaaren, die man finden musste. Einige auf dem Tisch, die Übrigen in den Händen der Spielenden. Hauptsächlich bestimmte die Erinnerung und etwas Glück, ob man die Partie für sich entschied. Als Kind hatte sie es häufig mit Spinell gespielt.

»Ich könnte mitmachen!«, schlug sie deshalb spontan vor. Varrick lachte hämisch auf.

»Hältst du mich für so töricht? Du bist eine Gefangene!« Die Belustigung zeichnete Fältchen um seine Mundwinkel – und der Anblick seiner vertrauten Züge, des silbernen Haares und der treuen Augen versetzte Vanelle einen Stich. Äußerlich glich er Vinrick vollkommen, teilte aber nicht die sanfte Natur seines Bruders. Und das brachte sie auf eine Idee.

»Wie war Vinrick so?«, fragte sie. »Während eurer Kindheit, meine ich?« Varrick verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, obgleich der leise Glanz von Interesse diese erhellte.

»Warum willst du das wissen?«

»Du erinnerst mich an ihn. Und er fehlt mir.« Zumindest das entsprach der Wahrheit. Ihr Gegenüber neigte den Kopf hin und her, wohl innerlich abwägend, dann zuckte er mit den Schultern.

»Wir waren uns nie besonders ähnlich, Vinrick und ich. Er ist der jüngere Zwilling, nur kurz nach mir geboren, zumindest hat man das im Waisenhaus behauptet. Ich war schon immer viel stärker als er. Stets wollte ich mit dem Kopf durch die Wand, Vinrick hingegen bevorzugte friedliche Lösungen. Ein paar Mal hat mir das den Arsch gerettet. Na ja, eigentlich der ganzen Gruppe.« Vanelle lächelte sanft. Das klang wirklich nach ihm. »Ist mein Bruder immer noch so?«

Selbst in diesem kurzen Satz spürte Vanelle die Inbrunst, mit der sich Varrick nach seinem Zwillingsbruder sehnte. Zu wissen, dass sie einander niemals wieder gegenüberstehen würden, beschleunigte ihren Puls auf schmerzhafte Weise. Er hämmerte vorwurfsvoll gegen ihren Brustkorb.

»Ja«, log Vanelle verhalten. »Er ist immer noch ganz genauso.«

»Ich kann es kaum erwarten, ihn zu uns zu holen. Wird Zeit, dass er dem stinkenden Piratenleben den Rücken kehrt.« Vanelle antwortete nicht. Ob Lucien mittlerweile Bescheid wusste? Sie hatte die Vorahnung in seinen Augen erkannt. Schon in jener Nacht, in der sie von Elan befreit worden war. Anders als Varrick, der nach wie vor im Dunkeln tappte.

»Ich weiß, was du denkst«, höhnte dieser in die entstandene Pause hinein. »Vinrick war Rivay eine halbe Ewigkeit lang treu, warum sollte er die Piratenbande verlassen, um mit der Dorado-Truppe zu segeln?« Sein Grinsen vertiefte sich. »Wenn wir nicht von der Marine aufgegriffen worden wären, hätte er sich Rivay niemals angeschlossen. Im Gegensatz zu deinem verräterischen Kapitän würde mein Bruder mich niemals einfach so im Stich lassen. Wenn er erfährt, dass Lucien, Vera und ich am Leben sind, wird er freiwillig zurückkommen. Daran kann auch Rivay nichts ändern.« Vanelle wusste dazu nichts zu sagen. Stattdessen spürte sie einen dicken Kloß in ihrem Hals wachsen. Die Intensität seiner brüderlichen Gefühle fühlte sich vertraut an. So hatte sie für Spinell empfunden.

»Warum habt ihr nicht früher nach der Piratenbande gesucht?«, fragte sie nach einigen Sekunden. Varrick verzog das Gesicht.

»Ich wollte ja. Schon vor etwa fünf Jahren, als die Flotte noch nicht halb so viele Schiffe umfasste. Lucien und Vera waren auf meiner Seite, aber dann ist etwas passiert – und Lucien hat seine Meinung geändert.« Fragend legte sie den Kopf schief, doch Varrick starrte nur missmutig an ihr vorbei. Er knirschte auffällig mit den Zähnen. Vanelle ahnte, dass er die Begebenheiten der Vergangenheit missbilligte. Sie empfand Mitleid mit ihm. All das tat Varrick aus Loyalität Lucien gegenüber – hoffend, dass er so schon bald Vinrick gegenüberstehen würde. Seine Augen kamen auf ihren zum Ruhen.

»Was guckst du so komisch? Passt es dir etwa nicht, dass Vinrick die Piraten verlassen wird? Für dich hat das doch sowieso keine Bedeutung mehr.« Sein herausfordernder Unterton wusch das Mitleid weg, wie einen schmutzigen Fleck von einem Teller. Vanelle wollte die Widerworte hinunterschlucken, entschied sich jedoch dagegen. Sie hatte nicht vergessen, dass sie gefangen gehalten wurde – und womöglich war ihre Chance jetzt gekommen.

»Er wird Rivay niemals hintergehen«, erwiderte sie mit fester Stimme. Sie hielt den Blickkontakt zu Varrick aufrecht. Diesem schmeckte Vanelles Antwort nicht, denn er rückte auffällig nah an die Tür heran. Beinahe glaubte sie, ein leises Knurren zu hören.

»Was weißt du denn schon über meinen Bruder?«, raunte ihr Gegenüber, doch Vanelle wich nicht zurück.

»Ich weiß, dass er Rivay und der Crew gegenüber treu ist. So treu, dass er sein Leben für das Wohl der anderen aufs Spiel setzen würde.« Varricks Knurren wurde lauter.

»Woher willst du das wissen?« Vanelle überwand den letzten Abstand zwischen ihnen. Sie konnte sehen, wie Varricks Nasenflügel vor Wut bebten.

»Weil er genau das getan hat. Er hat sich für seine Familie geopfert.« Unerwartet warf Varrick die Fäuste gegen die Tür, im selben Moment, als ein donnerndes Grollen über das Schiff hinwegzog. Die Lautstärke stach in ihren Ohren. Alles in Vanelle schrie danach, sich dieser bedrohlichen Situation zu entziehen, doch sie rührte keinen Finger. Nur noch ein kleines bisschen, dachte sie. Noch hatte er es nicht zur Gänze erfasst, das sah sie ihm an. Er verstand die Botschaft hinter ihren Worten nicht.

»Vinrick ist nur seiner richtigen Familie gegenüber loyal«, zischte Varrick. Seine Augen zuckten vor Unruhe.

»War«, korrigierte sie leise – und der Effekt blieb nicht aus. Es dauerte ein halbes Dutzend Wimpernschläge. Sie konnte buchstäblich dabei zusehen, wie die Erkenntnis in seinen Verstand einsickerte. Varricks Gesicht wurde starr und nahm einen wilden Ausdruck an, seine zuvor hochgerissenen Brauen sanken hinab.

»War?«, wiederholte er, es klang seltsam leblos.

»War«, bestätigte sie, wieder Stille – bis Varrick explodierte.

Vanelle wich zurück, verfolgt von seinem wütenden Schrei, gleichzeitig erhellte ein gleißender Blitz die Kabine. Mit brachialer Gewalt, die sie ihm so nicht zugetraut hatte, brach der Schauspieler die Tür auf. Vergessen war der Schlüssel und dass er sie nach Oceanshare bringen sollte. Vanelle ahnte instinktiv, was jetzt kam. Ein so großer Gegner stellte eine Herausforderung dar – und es würde sie all ihre Fähigkeiten kosten, gegen ihn zu bestehen. Varrick wirkte wie ein wildgewordenes Walross: massiv, beängstigend, nicht zu zügeln. Er stürmte in den Raum, die Hand bereits am Schwertgriff, direkt auf sie zu. Was würde er jetzt tun? Versuchen, sie zum Schweigen zu bringen? Es erforderte all ihre Konzentration, bis zum letzten Augenblick abzuwarten: Erst dann sprang sie mit einer Rolle über die Schulter beiseite und kam sofort wieder auf die Beine. Das Herz schlug ihr gegen den Hals, dennoch verlor sie keine Zeit und zog eilig die malträtierte Tür hinter sich ins Schloss. Dem metallenen Krachen folgte ein Poltern, denn einen Moment später flog Varrick wutschnaubend dagegen. Vanelle stürzte eilends davon – bis ein markerschütternder Schrei ihre Knochen zum Erbeben brachte: Erfüllt von Schmerz und dem Drang nach Vergeltung. Die auf sie aufmerksam werdenden Seemänner zuckten unter dem gewaltigen Laut zusammen. Sie hielten Spielkarten in den Händen und starrten Vanelle an, als sei sie eine geisterhafte Erscheinung, geboren aus dem Sturm. Sie schenkte ihnen keine Beachtung, auch wenn sie wusste, dass sie die Verfolgung aufnehmen würden.

Salzige Luft schlug ihr entgegen, als sie in die Schwärze des nächtlichen Decks eintauchte. Trotz des Regens brach ihr der kalte Schweiß aus. Sie musste schleunigst ein Beiboot finden. Doch so weit kam sie nicht. Ein Fass segelte nur knapp über ihren Kopf hinweg und zerschellte berstend auf dem Seitendeck.

»Oceanshare!«

Varrick trat ins spärliche Licht und Vanelle stolperte davon. Ihr rasendes Herz machte einen Satz und sie rutschte die feuchten Dielen entlang, ehe sie die Reling erreichte und erkannte, dass er ihr den Weg abgeschnitten hatte. Ein grimmiges, vor Hass verzerrtes Grinsen umspielte Varricks Züge.

»Lucien wird nicht erfreut sein!«, schrie er in den Sturm. »Aber er muss es mir verzeihen! Vinrick hätte niemals auf diesem Piratenschiff landen dürfen!« Er pausierte, ein Seitenblick zu seiner an seinem Gürtel befindlichen Klinge folgte. »Rivays Kehle wäre mir lieber – aber ich werde mich mit dir begnügen!«

Panik eroberte ihre sich überschlagenden Gedanken. Ich bin völlig allein, dachte Vanelle angesichts der Schneide, die Varrick nun aus der Schwertscheide zog. Ihr entsetztes Gesicht spiegelte sich auf dem polierten Metall. Diesmal würde niemand kommen, um sie zu retten, während sie unbewaffnet einem Mann gegenüberstand, dessen Crew sich um sie zu scharren begann. Sie bildeten einen Halbkreis und zogen ihn langsam zu.

Beim Zurückweichen stieß Vanelle rücklings gegen Holz. Wilden Blickes sah sie hinaus in den Sturm. Dort, irgendwo zwischen regengepeitschten Wellen, leuchtete etwas. Ein Licht, erst dumpf, dann stärker, doch in einiger Entfernung. Sie wandte den Kopf, zurück zu denjenigen, die nach ihrem Blut trachteten. Vanelle spannte sich an. Ich werde nicht kampflos aufgeben, ging es ihr durch den Kopf, ob nun mit Waffe oder nicht! Varrick machte den Anfang: Ein unkoordinierter Hieb auf dem wankenden Deck teilte die Luft, sie wich zur Seite aus. Vanelle erkannte sofort, dass er kein geübter Kämpfer war. Vielleicht habe ich eine Chance! Ihre Aufmerksamkeit flog zu einem der Seemänner hinüber. Ein schlaksiger Kerl, der von der Kälte des Regens zitterte. Sie versenkte die Zähne in der Unterlippe – und hechtete auf ihn zu. Dieser, erschrocken durch ihr abruptes Manöver, stolperte zurück. Das Schwert in seiner Hand schien vergessen, denn als sie ihm den Ellbogen ins Gesicht trieb, entglitt es seinen Fingern. Vanelle fing es noch im freien Fall auf, wirbelte herum – und parierte den scheppernden Schlag Varricks, der sonst ihren Rücken getroffen hätte.

»Ich mache dich kalt!«, knurrte er über die gekreuzten Klingen hinweg.

»Das werden wir noch sehen!« Mit einer abrupten Drehung wich sie zur Seite aus, Varrick ruckte ins Nichts und Vanelle riss das Schwert in die Höhe. Töte, hörte sie eine tiefe Stimme in ihrem Kopf, klar und deutlich, eine Aufforderung ihres Käpt’ns. Rivay! Seinem Befehl entsprechend, schnellte das Metall auf Varrick zu. Dieser stieß ein Brüllen aus. Er senkte das Haupt, die Schneide fegte nur knapp an ihm vorbei. Sofort schwang er die eigene Waffe herum und ging auf Vanelle los. Vibrierend fanden sich die Schwerter zu einem metallenen Kuss. Immer weiter drängte er sie zurück, erneut an die Reling, nicht aufgrund seines Könnens, sondern seiner schieren Körperkraft. Lass dir etwas einfallen! Die Wellen schwappten über das Deck hinweg, soeben benetzte das Meerwasser ihre Stiefel. Vanelle entschied, dies auszunutzen. Varrick schleuderte das scharfkantige Riesenmesser indes wahllos über seinen Kopf, Vanelle duckte sich unter der Gewalt der Klinge hinweg. Sie fegte an ihm vorbei, fühlte, dass er ihr nachsetzen wollte – in derselben Sekunde, als neue Flüssigkeit die Planken benetzte. Seine Stiefel verloren den Halt, Varrick drohte, das Gleichgewicht zu verlieren – und packte ihr Hemd. Perplex wurde Vanelle zu Boden gerissen, während eine weitere Welle das Theaterschiff umherschleuderte. Größer als die vorherigen und mächtig genug, um nicht nur sie, sondern auch einige weitere Seemänner zu ergreifen. Das fremde Geschrei begleitete sie bis zur Reling, ihre klammen Hände schrammten über das raue Holz und fanden keinen Halt. Varrick konnte sie nicht mehr sehen. Vanelle keuchte auf, wollte nach irgendetwas, irgendjemandem, greifen – doch die tobenden Fluten beförderten sie unbarmherzig in die eiskalte See. Plötzlich war überall Wasser, so frostig wie tausend winzige Nadelstiche. Die Wellen zogen sie davon, in die Tiefe, weg vom Schiff und in die Schwärze. Das Salz des Meeres drang ihr in Nase und Mund, es schmeckte nach Schlamm und Erde. Übelkeit wallte in ihr auf. Vanelle kämpfte gegen die Übermacht der See an. Widerspenstig, stur – und erkannte mit jedem verzweifelten Schwimmversuch, dass dies kein Kampf war, den sie gewinnen konnte. Sie dachte nicht an das Theaterschiff oder Varrick, nur noch an ihre Angst, selbst als sie durch eine barmherzige Fügung die Wasseroberfläche durchstieß und japsend, gleich einem erstickenden Fisch an Land, nach Luft schnappte. Eine neue Welle spülte über sie hinweg und packte ihren Körper, beförderte sie erneut hinab, sodass sie immer größere Mengen von dem schlammigen Wasser schlucken musste. Vanelle wurde schwindelig und dann verklärte ihr Blick. Sie brauchte Sauerstoff, aber ihre Glieder fühlten sich kalt und schwer an. Der Sog trug sie hinweg, doch längst wusste sie nicht mehr, wo oben und unten war. Sterbe ich? Hatte sie umsonst so viel auf sich genommen, nur um auf dem Grund des Meeres zu enden? Hatte sie versagt in ihrem Bestreben, zu denen zurückzukehren, die ihr mittlerweile so lieb und teuer geworden waren? Trauer ergriff sie, während sie an die schönen Tage auf der Oasis zurückdachte. Sie hätte alles dafür gegeben, noch ein letztes Mal mit ihnen über die Ozeane zu segeln. Aelin. Kania. Raina. Thoma. Lineth. Rivay. Der Gedanke an ihren Kapitän tat besonders weh. Er hatte endlich angefangen, sich ihr zu öffnen, hatte sie sogar angelächelt. Und jetzt würde sie sein Lächeln niemals wiedersehen. Es schmerzte. Nein! Nicht so! Nicht jetzt! Mit dem finalen Aufflackern der schwindenden Hoffnung riss Vanelle die Augen auf und strampelte los. Sie kämpfte, presste die Lippen aufeinander, mied die Düsternis der See und jene in ihrem Herzen – bis zu jener Sekunde, in der sie die unsichtbare Barriere zwischen Nass und Trocken durchbrach. Es hatte aufgehört zu regnen. Keuchend beförderte sie Luft in ihre schmerzenden Lungen. Der allmählich mäßigere Wellengang warf sie umher und Finsternis umfing sie – bis auf eine Lichtquelle, nicht weit von ihr entfernt, eigentlich nur ein schwaches Schimmern, das ein Leuchten auf dem Wasser erzeugte. Das Licht, das sie vom Theaterschiff aus gesehen hatte. Und auch, wenn Vanelles Glieder krampfhaft rebellierten, so begann sie doch, zu schwimmen. Sie musste durchhalten, durfte jetzt nicht sterben. Nicht an diesem Ort und nicht ganz allein. Vanelle wollte, nein, sie würde sie wiedersehen. Das hier war nicht das Ende ihrer Reise. Mit letzter Kraft erreichte sie das Licht und kämpfte sich an einem kleinen Boot hoch. Wie ein nasser, zitternder Sack brach sie zusammen. Ihre Ankunft blieb nicht unbemerkt.

»Da bist du ja.« Die schöne, melodiöse Stimme verwirrte sie. Vanelle kannte ihre Besitzerin. Ihrem schmerzenden Kopf zum Trotz öffnete sie die Lider – und erkannte die klugen, braunen Augen der Frau mit den weißen Tattoos. »Ich habe mich schon gefragt, wann du auftauchst.«

Noeve!

Kapitel 2

Vanelle hörte die Wellen des offenen Meeres, roch das Salz und spürte die Wärme der Sonne, die angenehm ihre Lider kitzelte. Meine Kajüte, dachte sie und streckte die Glieder. All das musste nur ein schlechter Traum gewesen sein. Eel, das Theater, ihre Gefangennahme – nichts davon entsprach der Realität. Wenn sie ihre Augen öffnete, würde sie die Oasis sehen. An Deck wartete Aelin auf sie, bereit, gemeinsam zu frühstücken. Lineth würde den Kurs überwachen, Kania an ihrer Seite, die über Gebärden mit Thoma plauderte. Raina rief einige Befehle, ausgehend von ihrem Kapitän mit dem roten Ohrring, der Vanelle wohlwollend betrachtete. Doch als sie die Augen öffnete, starrte sie auf bunte Laken. Unter ihr war nicht der kräftige, hölzerne Rumpf, der sie sicher übers Wasser trug. Weiche Daunenkissen federten ihren Kopf, eine schwere Decke lag auf ihr. Noeves Boot, fiel es ihr ein. Vanelle hatte sich auf ihr Boot gerettet, in letzter Sekunde. Ein beschwertes Husten entkam ihrer Kehle. Ihr Hals brannte vor Durst und ihre Lippen rieben aneinander wie Sandpapier, nur einen Moment, bevor die Vorhänge geteilt wurden und helles Tageslicht den winzigen Raum flutete. Es blendete sie.

»Du bist aufgewacht! Wie geht es dir?« Auch ohne sie zu sehen, wusste Vanelle, wer da vor ihr stand. Sie schob die Laken zurück, ihre Finger tasteten ihren rauen Hals ab.

»Noeve«, krächzte sie. »Wie lange habe ich geschlafen?«

»Fast einen ganzen Tag. Das Salzwasser hat dir wirklich nicht gutgetan, meine Liebe. Du warst völlig erschöpft.« Sie spürte, wie ihr etwas in die Hand gedrückt wurde. »Trink! Es wird dir helfen.«

Vanelle spülte das kalte, frische Wasser hinunter, es beruhigte beinahe sofort ihre geschundene Kehle. »Danke«, sagte sie, jetzt wieder mit normaler Stimme.

»Ich muss zugeben, du überrascht mich immer wieder. Niemals hätte ich damit gerechnet, dich wie einen Fisch aus dem Wasser zu ziehen. Was ist passiert? Du bist doch nicht etwa unbemerkt von Rivays Schiff gefallen?« Vanelle schüttelte den Kopf.

»Ich wurde gefangengenommen. Von jemandem, der mich meiner Familie in Oceanshare ausliefern wollte.«

»Oh«, entgegnete Noeve irritiert. »Was ist mit Rivay? Wo war sie währenddessen?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Vanelle unglücklich. »Zuletzt habe ich meine Mannschaft in Eel gesehen. Kurz bevor man mich mitgenommen hat.« Nachdenklich spielte Noeve mit einer Locke ihres schwarzen Haars.

»Verstehe. Nun, dann möchtest du sicherlich zu deiner Mannschaft zurück. Ich kann dich zu deiner Crew bringen, aber das wird eine ganze Weile dauern.« Ihre Augen wanderten dorthin, wo Vanelle das Rauschen der Wellen vernahm.

Sie legte die Stirn in Falten. »Warte, du kannst mir helfen, zu meiner Crew zurückzukehren?«

»Natürlich.«

»Aber woher weißt du, wo wir sie finden?« Noeve schenkte ihr ein vielsagendes Lächeln, das Vanelle jedoch gar nichts erklärte.

»Bist du hungrig? Du solltest zunächst wieder zu Kräften kommen.« Sie erkannte den Ablenkungsversuch, doch das vehemente Knurren ihres nach Nahrung verlangenden Magens ließ sie innehalten. Ein Kichern entkam Noeves Lippen. Gleichzeitig teilte ein Windstoß die den Eingang bedeckenden Tücher und erneut erhellte das Sonnenlicht die Umgebung. Ebenso wie die nun deutlich sichtbaren, leuchtend weißen Tattoos auf Noeves umbrafarbener Haut, die durch die Strahlen in einem satten Braunton schimmerten. Vanelle stutzte. Worte. Da waren Worte. Und für einen Herzschlag glaubte sie sich in jene Nacht zurückversetzt, die sie mit der schönen Frau geteilt hatte. Was bedeuten deine Tattoos?, echote ihre eigene Stimme in ihrem Kopf, während sie nackt unter den Laken weilten. Fast schon war es, als sähe sie Noeve Schmunzeln, genau wie damals. Sie erzählen eine Geschichte, oder besser gesagt, viele Geschichten. Kannst du lesen, was da geschrieben steht? Zu jenem Zeitpunkt hatte Vanelle verneint. Entfernt erinnerte sie sich an ihr zweites Aufeinandertreffen, noch auf der Oasis. Schon damals hatte sie geglaubt, einen Sinn in den Zeichen erkennen zu können, doch damals hatte es keine Gelegenheit gegeben, dem nachzugehen. Verwirrt streckte sie eine Hand nach Noeves Gesicht aus, ihr Gegenüber verharrte und blieb ganz ruhig, als Vanelles Fingerspitzen über ihre seidige Haut hinweg der Bahn der Worte folgten: »Zehn Götter, geboren, als es weder Tag noch Nacht gab«, las Vanelle vor, die Augen vor Verblüffung weit aufgerissen. Noeve lächelte, ehe sie die eigene Hand auf Vanelles legte. Die Intimität der Geste jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

»Du kannst es also lesen«, stellte Noeve fest, als wäre nichts dabei.

»Dann habe ich mich damals doch nicht geirrt«, murmelte Vanelle irritiert. »Aber wie ist das möglich?«

»Mach ruhig weiter«, antwortete die schöne Frau auffordernd, ohne ihre Frage zu beantworten. Zögerlich beugte Vanelle ihr den Oberkörper entgegen, knapp vor ihrer Haut hielt sie inne, um dem Verlauf der Zeichen zu folgen. Von ihrer Wange aus strebten sie ihren Hals hinab, um sodann in ihrem Ausschnitt zu verschwinden.

»Am Anfang war der Erste allein. Es gab nichts in dieser leeren Welt und er schwebte durch die Unendlichkeit, die ihn sehr langweilte. Also beschloss er, die Zeit zu definieren. Denn diese würde es sein, die ihm Gesellschaft brachte.« Die Göttergeschichte, dachte Vanelle bei sich. Dies musste eine andere Version derjenigen sein, die sie bereits kannte. Nervös blickte sie zu Noeve auf, sie lauschte geduldig jedem ihrer Worte. Da lag Wärme in ihren braunen Augen. Zustimmung. Und das machte Vanelle Mut, fortzufahren: »Von da an nahm die Zeit ihren Lauf. Sekunden, Minuten, Stunden vergingen – und neun weitere Götter entstanden nach und nach aus dem Nichts. Sie glichen einander, doch nur in ihrer Macht, denn jeder einzelne besaß eine ganz einzigartige Kraft. Einer vereinte Stärke in sich, die Berge versetzen konnte. Der andere quoll über vor innerem Frieden, nie verlor er sein Gleichgewicht. Eine wusste meisterlich mit Klängen umzugehen, die nächste wollte räuberisch sein. Was sie einte, war die Verehrung gegenüber dem Ersten, dem mächtigsten unter ihnen – denn er galt als Gott unter den Göttern.« Vanelle schluckte errötend, als ihre Finger an Noeves Schlüsselbein verharrten. Die folgenden Zeichen lagen unter ihrer Kleidung, sie konnte nicht noch tiefer wandern, also übersprang sie diesen Teil und ging zu Noeves Arm über. Deren gehobene Mundwinkel kündeten von ihrer Belustigung. »Nachdem sie die Meere und das Land erschaffen hatten, teilten sie ihre Schöpfung untereinander auf: Der Glücklichste unter ihnen beanspruchte die große Landmasse, drei weitere übernahmen die übrigen Kontinente. Der Rest bezog nur an einzelnen Inselgruppen Stellung, gemeinsam mit den dazu gehörenden Meeren. Eine zog es vor, auf den Gewässern zu bleiben, denn Staub und Erde reizten sie nicht. Nur der erste Gott verzichtete auf all das, denn ihm lag nichts daran, Land oder Wasser zu besitzen. Und so lebten sie für tausende Jahre in Eintracht.« Vanelle war an Noeves Handgelenk angelangt. Sie hielt ihre feingliedrigen Finger und betrachtete die bunten Armreife. Die Berührung wirkte vertraut, wie damals, auf dem Seitendeck, als Noeve sie geküsst hatte. »Die Menschen gediehen. Mit den Jahren fühlten sich die Götter immer stärker mit ihnen verbunden, denn die Abbilder ihrer selbst übten eine besondere Faszination auf sie aus. Sie begehrten, ihnen ähnlich zu sein, also gaben sie sich Namen: Dace war der erste Gott, der sich benannte. Seine Güte galt nicht der Menge der Menschen, sondern nur einem Einzigen. Galeo folgte Dace’ Vorbild, in dem er sich einen Namen gab, von dem er glaubte, er besäße große Erhabenheit. Ganz im Gegensatz zu dem Dritten unter ihnen: Lophi.«

Vanelle verharrte. Lophi. Die Gottheit, die in der See der Bäume gelebt hatte, dessen Kompass … Erschrocken ließ sie von Noeve ab und schob beinahe panisch die Hände in die Taschen. Erst, als ihre Finger über die kühle Oberfläche des Artefaktes strichen, wurde Vanelle ruhiger. Es war noch da. Sie hatte es nicht verloren. Erleichtert holte sie das Relikt hervor: Das Objekt der Gottheit Lophi, das ihr sowohl Fluch als auch Segen bescherte. Noeves Augen blitzten auf.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du diejenige sein würdest.« Verdutzt beobachtete sie, wie Noeve sachte über die kleinen Gravuren des Kompasses strich, die wie winzige, goldgelbe Wellen im Licht schimmerten. »Kein Wunder, dass die Meere in Aufruhr sind«, murmelte sie. Vanelle legte den Kopf schief.

»Wovon sprichst du?«

Noeve antwortete nicht, zumindest nicht sofort, denn ein trauriges Lächeln umspielte ihre Züge. »Ich bedaure, was mit Lophi geschehen ist. Er hat einen Fehler gemacht.«

Verwirrung ergriff von Vanelle Besitz. Was redete Noeve da? »Ich verstehe nicht«, entgegnete sie. Noeve seufzte lediglich beschwert.

»Ja, ich weiß. Die Artefakte, die Götterbiester … Rivay hat dir sicher erzählt, was sie weiß.« Vanelle merkte auf. Sie hatte ihren Kapitän bisher nicht erwähnt.

»Nein«, widersprach sie aufmerksam. »Nicht viel zumindest. Ich weiß, dass die Artefakte Flüche bringen. Und Segen.« Mit einem Mal hielt Vanelle inne. Verwundert berührte sie ihre Lippen. Nichts hatte sie davon abgehalten, diese Worte laut auszusprechen. Er war nicht da, der Griff des Artefakts, der sie vom Sprechen abhielt.

»Richtig«, bestätigte Noeve. »Sowohl Rivay als auch dir wurde ein Fluch auferlegt. Die Segen auf der anderen Seite sind mächtige Waffen, die euch einen enormen Vorteil bringen können – vorausgesetzt, ihr wisst sie zu verwenden.« Für den Bruchteil einer Sekunde kam Vanelle die Passionsblume in den Sinn. Und damit ihre Versuche, die eigenen Kräfte zu ergründen. Es endete fatal – und mit dem Versprechen Rivay gegenüber, die göttliche Magie nur dann einzusetzen, wenn sie ihr Leben in Gefahr wusste. Vanelle bemerkte erst jetzt, dass Noeve sie intensiv musterte. »Du weißt nicht wie, habe ich recht?«

Ertappt, obgleich unglaublich verwirrt, vergrub Vanelle die Zähne in der Unterlippe. »Nein«, gestand sie. Eine kurze Pause entstand.

»Ich kann dir zeigen, wie du sie kontrollierst.« Die Offenbarung ihres Gegenübers hallte in ihren Gedanken nach. Falls Noeve ihren inneren Zwiespalt bemerkte, überging sie ihn. »Bislang musst du gedacht haben, dass allein der Besitz des Kompasses reicht, um ihn zu benutzen: Aber wie alle Fähigkeiten hängt auch diese davon ab, wie sehr du sie trainierst.« Die Art, wie Noeve über all das sprach, erinnerte Vanelle an die Lehrmeister ihrer Kindheit. Als handle es sich um alltägliche Dinge wie das Reiten oder Kämpfen – nicht etwa um die Verwendung magischer Relikte.

»Ich verstehe das alles nicht«, wiederholte Vanelle mit vor Entgeisterung schwerer Stimme. »Warum weißt du so viel darüber? Wieso kann ich mit dir über die Artefakte sprechen? Und weshalb erzählen deine Tattoos die Geschichte der Götter?«

»Ich liebe deine Neugier.« Noeves unverblümte Worte trieben Vanelle die Röte auf die Wangen. Sie blieb dicht vor ihr stehen, ein unvergleichliches Lächeln auf den Lippen, das Vanelles Knie weich werden ließ. »Diese Begierde, alles wissen zu wollen, den Dingen auf den Grund zu gehen: Das zieht mich an.« Noeves Atem auf ihrer Nasenspitze verursachte Vanelle Gänsehaut. »Daran hat sich bis jetzt nichts geändert.«

Noeve beantwortete ihre Fragen nur spärlich. Weder wollte sie Vanelle sagen, woher sie all dieses Wissen bezog, noch, wie sie mit den Göttergeschichten in Verbindung stand. Kurz dachte Vanelle an die Möglichkeit, dass die schöne Frau auch ein Artefakt bei sich trug, doch ein solches suchte sie an ihr vergeblich. Armreife, Ringe, Perlen – das kannte sie schon, nichts davon schien jedoch außergewöhnlich genug, um als göttliches Relikt zu taugen. Immer häufiger strichen ihre Augen an den mysteriösen Zeichen vorbei, die eine ungeahnte Neugier in Vanelle entfachten. Nicht, dass sie Noeve hätte bitten können, sich vor ihr zu entkleiden. Bereits der Gedanke brachte ihre Wangen zum Glühen. Dennoch machte die Schönheit ihr Versprechen wahr, denn schon am nächsten Tag setzte sie sich Vanelle gegenüber und ergriff ihre Hände.

»Göttliche Magie ist stärker als alles andere auf dieser Welt. Dein Körper ist nicht dafür gemacht, so viel rohe Kraft zu ertragen – aber mit Übung und Geduld kannst du lernen, sie in die richtigen Bahnen zu lenken.« Vanelle nickte entschlossen.

»Was muss ich tun?«

»Schließ die Augen. Konzentrier dich. Denk an den Kompass – und welches Gefühl er in dir auslöst.« Sie tat, wie ihr geheißen, doch mehr als alles andere spürte Vanelle die Hitze der Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sie legte die Stirn in Falten.

»Du bist abgelenkt«, vernahm sie Noeves Stimme. Sachte drückte diese ihre Hand, die das Artefakt umschloss. »Atme tief und gleichmäßig ein. Wie hat es sich angefühlt, als du den Kompass das letzte Mal benutzt hast?« Vanelle dachte nach. Der Schmerz kam ihr in den Sinn, ebenso wie die Wallungen purer Energie, die ihre Adern durchströmte. Sie vibrierte in ihren Fingerspitzen.

»Ich habe mich stark gefühlt«, erwiderte sie leise. »Als könnte ich alles tun. Zumindest für einen Moment. Danach tat es eigentlich nur weh.« Noeve summte zustimmend.

»Versuch, diese Empfindung festzuhalten. Der Schmerz ist unvermeidlich, aber du wirst lernen, ihn nicht so intensiv zu empfinden. Ein Gefäß ist letztlich auch nur das: Eine Hülle, die bricht, wenn die Kapazität überschritten wird. Das darfst du nicht vergessen.«

Noeves Ermutigung zum Trotz machte Vanelle auch nach Tagen keine nennenswerten Fortschritte. Immer öfter glaubte sie, das Kribbeln in ihren Händen zu spüren, doch es blieb so flüchtig wie die sanfte Berührung eines Lufthauches. Sie bekam es einfach nicht zu fassen, vergleichbar mit einem Faden, der ständig ihren Fingern entglitt. Und dann, als die Frustration sie schon beinahe an den Rand der Verzweiflung trieb, drückte Noeve ihr etwas in die Hand, die nicht den Kompass hielt. Ein samtiges Beutelchen in tiefem Azurblau, eingefasst mit einem vielfarbigen Band. Vanelle betrachtete es mit einer Mischung aus Irritation und Genervtheit.

»Im Inneren findest du Samen. Recht gewöhnliche, für den Anfang. Versuch, einen davon sprießen zu lassen. Wenn du das geschafft hast, machen wir weiter.« Zerknirscht holte Vanelle einen davon hervor: ein dunkles, festes Körnchen, klein, unbedeutend. Und dennoch verhöhnte es sie. Seufzend wandte sie sich Noeve zu, die sich an den Rand des Bootes setzte. Sie glitt mit den Beinen ins Wasser und genoss die wärmenden Strahlen der Sonne. Wie so oft in den letzten Tagen drifteten Vanelles Gedanken ab, zurück zu der Zeit auf der Oasis, bis hin zu jener Nacht, die sie mit Noeve geteilt hatte. Sie glaubte sich darüber hinweg. Ihr Herz schmerzte nicht mehr bei ihrem Anblick – und dennoch lag da ein Gewicht auf ihren Schultern, das ihr mit beeindruckender Regelmäßigkeit das Atmen erschwerte. Ob es ihr deshalb so schwerfiel, konzentriert zu bleiben? Hing es mit Noeve zusammen? Unschlüssig verstaute sie das Körnchen, ehe sie die Stiefel von den Beinen löste. Kurz darauf glitt sie neben Noeve an den Rand des Bootes.

»Gibst du etwa schon auf?« Noeves Frage war frei von jedem Vorwurf, dennoch rief sie Vanelles Widerwillen hervor.

»Vielleicht klappt es ja nicht mit Samen. Bisher habe ich nur bereits gewachsene Pflanzen beeinflusst.«

»Du irrst dich«, erwiderte Noeve gleichmütig. »Es liegt an dir. Irgendetwas hemmt dich, das spüre ich, seitdem du mein Boot betreten hast. Woran mag das liegen?« Vanelle stockte ertappt. Verunsichert fixierte sie die Musterung des Stoffes um Noeves Körpermitte. Sie glich dem Bändchen des Samenbeutels.

»Ich bin mir nicht sicher«, gab sie zu. »Aber was es auch ist, es hält mich davon ab, den Kompass richtig zu benutzen.« Gedankenverloren drehte sie das kleine, goldene Objekt in den Händen und ließ den Deckel aufschnappen. Die Nadel deutete hinaus aufs Meer. Kurz dachte sie an Rivay, an die Oasis, an ihre Crew, und der Zeiger schwang herum. Das funktionierte zumindest noch.

»Vielleicht sollten wir zuerst herausfinden, was dich bedrückt«, ergriff Noeve nach einer Pause das Wort. Augenblicklich drehte die Nadel bei und blieb auf ihr liegen. Vanelle hob den Kopf und verharrte, als sich ihre Blicke trafen.

»Warum …«, murmelte sie, »… warum zeigt die Nadel auf dich? Kannst du mir das erklären?« Für mehrere Herzschläge studierte Noeve Vanelles Züge, dann widmete sie ihr ein strahlendes Lächeln.

»Machen wir doch ein Spiel daraus. Ich will, dass du lernst, den Kompass zu kontrollieren – und du willst Antworten, habe ich recht? Ich bin gewillt, sie dir zu geben, doch dafür …« Sie tippte mit der Fingerspitze gegen Vanelles Artefakt, »… dafür musst du deine Magie unter Kontrolle bekommen. Wirst du das schaffen?«

Eine Woche verging, dann eine zweite. Jeden Tag saß Vanelle an Deck, vertieft in die Betrachtung ihres Kompasses, ohne jeglichen Fortschritt. An diesem Abend flackerten die letzten Strahlen der Sonne über sie hinweg, bald würde sie am Horizont versinken. Warum nur bekam sie ihre Kräfte nicht unter Kontrolle? Lag es an ihrem Versprechen Rivay gegenüber, das ihr verbot, die Magie außerhalb lebensgefährlicher Situationen einzusetzen? Oder doch vielmehr an der ständigen, wenn auch unaufdringlichen Beobachtung, der sie durch Noeve ausgesetzt war? Möglicherweise auch an den Geschehnissen des letzten Monats. Der Haiangriff, Eel, ihre Gefangenschaft, der Kampf und die Flucht. Vielleicht etwas von allem, dachte Vanelle beklommen, soeben zerrieb sie ein kleines Samenkorn zwischen Zeigefinger und Daumen. Es würde dem nicht lange stand-halten.

»Tu das nicht«, vernahm sie mit einem Mal die Stimme Noeves, scheltend und ungestüm zugleich. Sie ging neben ihr in die Knie, die sonst glatte Stirn in Falten gelegt. »Selbst in diesem kleinen Körnchen steckt Leben, Vanelle. Tritt es nicht mit Füßen.« Die sanfte Ermahnung frustrierte sie.

»Leben hin oder her, in meinen Händen wird es eher zu Staub als zu einer Pflanze.«

»Nur, wenn du es nicht versuchst.«

»Versuchen?«, wiederholte Vanelle angestachelt. »Ich versuche es jetzt seit mehr als einer Woche! Verflucht, Noeve, das hier bringt nichts!«

»Vanelle«, wollte die Ältere zu ihr vorzudringen. »Wut bringt dich nicht voran, ebenso wenig wie Frustration. Es steckt in dir, du darfst dir nur nicht selbst im Weg stehen.«

»Ich stehe mir selbst im Weg?«, wiederholte Vanelle langsam, es fiel ihr schwer, sich dies einzugestehen. Ja, dachte sie. Möglicherweise hat Noeve damit recht. Sie zwang sich, tief Luft zu holen.

»Ja, genau so. Lass deine negativen Gedanken los. Und jetzt …« Noeve nahm ihr das Körnchen ab und legte es ihr in die Handfläche. »Konzentrier dich.«

Vanelle schloss die Augen. Sie hörte das Meer, spürte das gleichmäßige Schaukeln des Bootes, roch das Salz in der Luft, fühlte das Samenkorn in ihrer Hand. Mit einem Mal flackerte es in ihr auf, wie flüssiges Feuer strömte die wilde Magie durch ihre Adern, bis hin zu ihren Fingerspitzen. Sie erfasste das Körnchen und verschlug Vanelle den Atem, denn der Rückstoß fraß sich durch ihre Lungen. Keuchend sackte sie zusammen und öffnete die Hand, etwas entglitt ihrem Griff und rutschte durch die Bewegungen des Bootes davon, während Noeve an ihre Seite eilte. Stützend gab sie Vanelle Halt, sogar dann noch, als Blut an ihrem Mundwinkel hinablief.

»Gut gemacht«, hörte sie Noeve loben, Vanelle hatte Mühe, das versprengte, grüne Ding auf den wankenden Planken auszumachen. Aber dort, wo die Maserung des Holzes am dichtesten zusammenlief, lag er: ein winziger, unscheinbarer Spross.

»Ich habe es geschafft«, murmelte sie erschöpft. Noeve drückte sie sachte hinab.

»Bleib für einen Moment sitzen. Es geht dir gleich besser.« In der Zwischenzeit fischte sie das kleine Gewächs heran und hielt es anerkennend ins Licht. »Beeindruckend«, sagte sie. »Lophis Kräfte sind wirklich etwas ganz Besonderes.«

»Du hast mir eine Antwort versprochen«, stieß Vanelle mürbe hervor. Selbst diese vergleichbar kleine Darbietung ihrer Fähigkeiten saugte die Energie aus ihr wie ein Wels die Algen vom Grund eines Flusses.

»Das ist richtig«, erwiderte Noeve leichthin. Erneut schenkte sie der Jüngeren ein warmes Lächeln. »Dein Kompass ist gut darin, göttliche Magie aufzuspüren. Schon der kleinste Funke reicht, um ihn ausschlagen zu lassen.« Vanelle betrachtete Noeve intensiv.

»Was bedeutet das in deinem Fall?«

Ein leises Lachen entkam den Lippen der Angesprochenen. »Was glaubst du denn?«

»Ich …« Vanelle zögerte. »Ich bin mir sicher, dass du eine Verbindung zu den Göttern hast. Aber ich verstehe nicht, welche.«

»Damit liegst du gar nicht so falsch«, antwortete Noeve sanft. Sie senkte die Lider. Als sie die Augen das nächste Mal öffnete, glühten sie auf, wie von der Berührung eines lodernden Feuers. Vanelle musste den Drang unterdrücken, zurückzuweichen.

»Deine Augen, sie …!«

»Stör dich nicht daran«, erwiderte Noeve leichthin. »Für meinesgleichen ist das nichts Besonderes.« Vanelle verlor sich in ihrem Anblick. Sie verstand es nicht. Nicht ansatzweise, bis Noeve den Blick zum Himmel hob. Erste Sterne erschienen am Firmament, Vanelle glaubte, sie aufleuchten zu sehen.

»Weißt du noch, damals, bei unserem ersten Aufeinandertreffen?« Sie hob die Hand, Vanelle stockte der Atem, denn einzelne Sternschnuppen rieselten über die Weiten des unendlichen Gewölbes hinweg. »Damals habe ich dir ganz ähnliche Magie gezeigt. Deine Piraten halten meine Kräfte für Taschenspielertricks, Illusionen oder etwas dergleichen. Aber niemand will erkennen, was sich wirklich dahinter verbirgt.« Die Erkenntnis gewann nach und nach Einlass, sie raubte Vanelle jeden anderen Gedanken und stürzte sie in ein heilloses Durcheinander.

»Noeve«, begann sie flüsternd, ungläubig, hin- und hergerissen, »heißt das, du …« Erneut traf sie das sanfte Lächeln der einst fremden Frau, die Wärme dahinter zog Vanelle an.

»Du musst es schon aussprechen, damit ich es dir bestätigen kann.«

Vanelle benötigte einen Moment.

»Du bist eine Göttin.«

Wie zum Beweis ließ Noeve die Hand durch die Luft gleiten, ein seichter Luftzug kam auf und verwirbelte ihre Locken. »Mein Name ist Noeve. Ich beherrsche die Meere, das Wasser, die Gezeiten – und ich gehöre zu den letzten Göttern, die auf dieser Welt wandeln.« Vanelle fehlten die Worte. Mondlos gewann die Nacht die Oberhand über den Tag, nur Noeves Augen, ein leuchtendes Inferno inmitten der Schwärze, spendeten Licht.

»Warum?«, stieß Vanelle hervor, plötzlich und unerwartet. »Du hättest viel früher etwas sagen können! Warum erst jetzt?«

»Ich habe mich nie wirklich verborgen«, erwiderte Noeve leichthin. »Menschen wollen meinesgleichen nicht sehen, schließlich sind alle anderen Götter vom Antlitz dieser Welt verschwunden. Lieber suchen sie nach anderen Erklärungen, als das wahrzunehmen, was vor ihren Augen geschieht.«

»Aber … Was ist mit Lophi? Mit den Artefakten? Du hast es gewusst, als wir uns zuletzt sahen!«

»Das habe ich«, bestätigte Noeve prompt. »Ich habe bemerkt, dass sich etwas an dir verändert hatte. Lophis Aura haftet dir an – so wie an Rivay die des Namenlosen.«

»D-Der Namenlose?«

»Korrekt. Ich weiß nicht, was genau zwischen ihr und meinem Erschaffer vorgefallen ist, aber Rivay besitzt sein Artefakt. Die Taschenuhr, mächtiger als alle anderen.« Alle anderen, hallte es in ihrem Kopf nach. Es gibt noch mehr da draußen.

»Die übrigen Götter haben auch Artefakte hinterlassen?«, hauchte sie tonlos.

»Gut erkannt. Jeder, der in die Fluten wanderte. Ich kann ihre Existenz spüren, ein schwacher Nachhall in der Ferne, der mir sagt, ob sie einen Träger besitzen oder nicht.«

»Das alles weißt du?«

»Zunächst erscheint es wie sehr viel, doch eigentlich ist mein Wissen begrenzt. Schließlich kann ich die Meere nicht verlassen.«

»Du …« Vanelle schwirrte der Kopf. Sie verbarg das Gesicht in den Händen, gleich einer Welle schwappte all das neugewonnene Wissen über sie hinweg und drohte, sie zu ertränken. Noeve ist eine Göttin. Sie weiß von unseren Artefakten. Rivays Artefakt gehörte dem namenlosen Gott. Und es gibt weitere da draußen. Zitternd sah sie zu ihr auf, Noeve, diejenige, die so viel stärker sein musste als jeder Mensch, dem Vanelle je über den Weg gelaufen war. »Deshalb findest du die Oasis immer wieder. Du spürst Rivay.«

»Und jetzt auch dich. Stell dir meine Überraschung vor, als ich deine Anwesenheit in den Gewässern um Oceanshare wahrnahm. Ich wusste, dass du meine Hilfe brauchen würdest, denn Rivay ist weit entfernt.« Noeve kam zu ihr, sanft strich sie über Vanelles bebende Schultern, ein Versuch, sie zu beruhigen. »Sei dir einer Sache ganz sicher, Vanelle: Ich stehe auf eurer Seite. Eure Präsenz, sie …« Schmerzlich senkte sie den Kopf. Das rote Glühen ihrer Iriden verging und kehrte zum bekannten Braun zurück. »Sie zieht mich an. Wie einst meine Geliebten.« Die Sehnsucht in ihren Augen nahm Vanelle gefangen. Sie verdeutlichte allen Schmerz des an ihrer Seite knienden, göttlichen Wesens, das zwar unglaubliche Magie beherrschte, gleichzeitig aber ebenso litt wie jedes andere Lebewesen Gaias. Und das machte die Göttin Noeve in Vanelles Augen menschlicher als jemals zuvor.

In dieser Nacht lag Vanelle wach, versunken in die Betrachtungen der wehenden Tücher, die das kühle Mondlicht von außerhalb nicht ganz fernhalten konnten. Noeve ruhte mit etwas Abstand neben ihr, die Augen geschlossen, auch wenn Vanelle nicht wusste, ob Götter überhaupt schlafen mussten. All die Offenbarungen, die wundersamen Dinge, die Noeve ihr erzählt hatte – sie raubten ihr den Schlaf, also rutschte sie behutsam von den Laken und schob die Tücher beiseite.

Das Meer wog ruhig hin und her, während der seichte Wind ihr Haar zerzauste. Allein der sternenklare Himmel tauchte die Szenerie in blaues Licht. Langsam überquerte Vanelle die wenigen Planken und blieb am Rande der Reling stehen, die Hand in ihre Tasche getaucht, die Finger um den kalten Kompass geschlungen. Sie holte ihn hervor und musterte die Nadel, sie drehte bei und hielt an. Ein Funke göttlicher Magie, dachte sie beim Anblick des Zeigers. Das ist also des Rätsels Lösung. Für einige Sekunden verharrte sie beim Anblick ihres Artefaktes, ihre Gedanken drifteten zu ihrer Crew. Irgendwo dort draußen mussten sie sein. Ob die anderen wohl gerade schliefen? Wo lag die Oasis, was war nach ihrem Verschwinden geschehen? Wussten die Piraten, dass Lucien Vanelle nach Oceanshare hatte bringen lassen? Suchten sie womöglich nach ihr? Und was würde Rivay zu alledem sagen? Würde ihn das Wissen um Noeve ebenso aus der Bahn werfen wie sie? Nein, beantwortete sie ihre eigene Frage und schmunzelte. Rivay wird genau das Richtige zu sagen wissen. So wie immer, unser souveräner Käpt’n. Belustigt stieß sie die Luft aus den Lungen. Die Kompassnadel deutete hinaus auf die Wellen, irgendwohin, Vanelle vermochte es nicht zu sagen. Sie hatte mit der Alverre-Bande so vieles erlebt. Palechub. Die Piratenbucht. Die See der Bäume. Tilapia. Immer auf der Suche nach den Karten. Die Nadel zitterte, bevor sie einen neuen Kurs anvisierte. Vanelle blinzelte überrascht. Rivays Karten, ging es ihr durch den Kopf. Wiederum änderte der Kompass seine Ausrichtung. Verwundert beugte sie sich etwas weiter nach vorn.

»Eine Karte, die wir noch nicht besitzen«, murmelte sie versuchsweise, als teile sie ihrem Artefakt ein Geheimnis mit. Es reagierte wie durch Geisterhand und deutete auf ein weit entferntes Ziel jenseits des Horizonts. Vanelles Herzschlag beschleunigte. Sie legte eine Hand an die Stirn, das Deck unter ihren Füßen wankte – und tatsächlich glaubte sie, dass sich die Welt um sie herum zu drehen begann. Ich kann die Karten anvisieren? Konnte ich das all die Zeit über?

»Vanelle?« Erschrocken fuhr sie herum und sah, wie Noeve die Tücher beiseiteschob. Vanelle schaukelte hin und her, zu durcheinander von der plötzlichen Erkenntnis, sodass Noeve den Abstand überwand und sie kurzum an den Oberarmen packte. »Alles in Ordnung mit dir? Warum bist du wach?« Vanelle atmete tief ein, überfordert von dem neuen Wissen. Endete dieser Tag der Erkenntnisse denn nie?

»Ich habe etwas frische Luft gebraucht«, brachte sie hervor, ohne den Blick ihres Gegenübers zu erwidern.

»Du zitterst«, gab Noeve zurück. »Komm, ich bringe dich rein.« Vanelles Gedanken rasten. Der Hai, kam es ihr unverhofft in den Sinn. Wir hätten ihm aus dem Weg gehen können!So viele könnten noch am Leben sein. Wenn ich nur früher gewusst hätte, dass ... Sie krallte die Finger in Noeves Oberteil. Die Ältere betrachtete sie fragend, ehe ein warmer Ausdruck ihre Züge erhellte. Vanelles Herz machte einen kleinen, unerwarteten Satz.

»Noeve, ich muss dich etwas fragen.«

»Ja?«

»Der Kompass, kann er die Karten ausfindig machen?«

»Karten? Was für Karten?« Vanelle blinzelte, ehe sie Noeves abwartender Miene begegnete.

»Ich weiß nicht, woher sie kommen oder wer sie erschaffen hat«, hauchte Vanelle verwundert. »Aber sie tragen das Symbol … Warte.« Mit einer Hand zog sie den kleinen Muschelanhänger hervor, sogar im wenigen Licht verströmte er sein vielfarbiges Leuchten. Ihr Gegenüber stockte sichtlich.

»Das ist …« Noeve beendete ihren Satz nicht, stattdessen berührte sie vorsichtig das kleine Objekt um Vanelles Hals. »Woher hast du das?«

»Ein Erbstück meiner Mutter«, erläuterte Vanelle mit leiser Stimme. Noeve runzelte die Stirn.

»Deiner Mutter? Hm.«

»Nicht weiter wichtig. Diese Karten, von denen ich sprach …«

»Sie zeigen das Symbol der Tiefenmuschel«, beendete Noeve ihren Satz, nicht argwöhnisch, dafür ungemein interessiert. »Ich höre zum ersten Mal von ihnen. Was hat es damit auf sich?« Vanelle holte aus. Sie erzählte von Rivays Suche, ihrem gemeinsamen Bestreben, die Karten ausfindig zu machen, seinen Tattoos und zuletzt den Vorfällen auf Tilapia. Die Erinnerung schnürte ihr die Kehle zu. Noeve hörte sich all das aufmerksam an. Schließlich versank sie in dumpfes Brüten.

»Woher auch immer diese Karten stammen – ihnen muss ein Funke göttlicher Magie innewohnen. Nur deshalb findet sie dein Kompass. Es verhält sich wie mit den Artefakten. Der Kompass macht die Magie auffindbar.« Vanelle kam ein Gedanke.

»Heißt das, wir könnten nicht nur die Karten, sondern auch die Artefakte ausfindig machen?« Mit einem Mal verhärteten sich Noeves Züge. Ein strenger Ausdruck lauerte hinter dem sonst so sanften Wesen. Vanelle, noch immer nah bei ihr, fröstelte, doch nicht vor Kälte.

»Du begibst dich auf riskantes Terrain, meine Liebe. Die Artefakte sind … gefährlich, Vanelle. Das trifft auch auf das deine zu. Nur weil du jetzt lernst, es zu beherrschen, heißt das nicht, dass es harmlos ist. Ein Artefakt allein kann schon gewaltigen Schaden anrichten …« Sie schüttelte den Kopf. »Als die Götter in den Meeren verschwanden, ließen sie die Magie zurück. Ihre letzten Kräfte, versiegelt in Artefakten, ein Überbleibsel ihrer einstigen Macht. Es heißt, wer sie zusammenträgt, sei der Macht eines Gottes ebenbürtig. Vielleicht sogar mächtiger als der Namenlose selbst.« Vanelle wusste hierauf nicht zu antworten. So besorgt hatte sie Noeve noch nie erlebt. »Es reicht schon, dass einige von ihnen gefunden wurden. Doch je mehr von ihren Ursprungsorten entnommen werden, desto stärker gerät das Gleichgewicht durcheinander.«

»Von welchem Gleichgewicht sprichst du?«, hakte Vanelle mit dünner Stimme nach.

»Das Gleichgewicht, auf dem diese Welt fußt, Vanelle. Es gibt viele Varianten der Göttersage, die die Entstehung unserer Welt charakterisiert – aber alle haben sie eines gemeinsam: Wir, die meinen und ich, haben die Pfeiler dieser Welt erbaut. Und mit unserem Verschwinden banden wir das brüchige Fundament an die Artefakte. Werden sie von einem Menschen entnommen, reißt die Verbindung zu den Ankern, die uns auf Kurs halten, unwiederbringlich ab. Und je mehr Artefakte einen Träger finden, desto bedrohlicher wird es. Für Gaia, Pontos, Uranos und«, sie machte eine Pause, »Ourea.«

Noeve, urplötzlich heimgesucht von einer Schwäche, die ihr Antlitz trübte, lehnte den Kopf an Vanelles. Die plötzliche Nähe ging ihr durch Mark und Bein. Noeve wirkte anziehend. Mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte.

»Deshalb dürft ihr nicht nach den Artefakten suchen. Schatzsucher, die den Versuchungen unvorstellbarer Macht nicht widerstehen können, gibt es auf den Meeren zuhauf, einige davon wollen die verschollenen Artefakte finden. Es gibt nicht viele Legenden über ihren Verbleib, dafür habe ich gesorgt.« Ein gehässiges Schmunzeln verzerrte ihre Lippen. »Aber zu meinem Leidwesen sind dort draußen unzählige unterwegs, die die eigenen Ziele über das Schicksal dieser Welt stellen. Ich erzähle Geschichten – aber ich wahre auch das Gleichgewicht. Das ist meine Aufgabe als Schreiberin unserer Geschichte.« Sie deutete auf ihre Tattoos, die weißen Linien leuchteten auf. »Ja es stimmt, dein Kompass besitzt die Macht, auch Artefakte zu finden. Aber ich muss dich bitten, davon abzusehen, Vanelle. Versprich mir, dass du diesen Weg nicht beschreitest.« Das intensive Leuchten ihrer Augen kehrte zurück, nur kurzzeitig, doch der Anblick ließ Vanelles Puls in die Höhe schnellen.

»Ich strebe nicht nach Macht«, antwortete Vanelle schließlich. »Aber ich will meinen Fluch brechen. Rivay verspricht sich von den Karten Erlösung.«

»Dazu kann ich nichts sagen«, erwiderte Noeve leichthin. »Aber ich wünsche mir, dass euer Vorhaben gelingt. Vielleicht ist es sogar möglich, eure Artefakte zurückzugeben. Für ein wenig mehr Gleichgewicht.« Eine unerwartete Welle schwappte gegen den Rumpf des Bootes, Vanelle stolperte ein Stück weit nach vorn, direkt in Noeves Arme. Die plötzliche, warme, weiche Berührung hüllte sie ein. Als sie das nächste Mal aufsah, blickte Noeve lächelnd zu ihr hinab. »Vielleicht solltest du wieder zu Bett gehen. Es ist spät und –« Für den Bruchteil einer Sekunde standen sowohl ihr Kopf als auch ihr flatterndes Herz miteinander in Konflikt. Dann stemmte Vanelle sich auf die Zehenspitzen und drückte ihre Lippen auf Noeves. Der Kontakt dauerte nicht lange an. Er blieb zart genug, dass Vanelle die Verblüffung in Noeves Zügen erkennen konnte. Nur einen Moment später wurden ihre Augen gänzlich weich. Sie legte eine Hand an Vanelles Wange und beugte den Kopf, nur so weit, dass sich ihre Lippen erneut fanden, diesmal für einen weitaus weniger unschuldigen Kuss. Erst, als sie sich voneinander trennten, bemerkte Vanelle, dass sich ihr Atem beschleunigt hatte.

»Bist du dir sicher, dass du das willst?«, hauchte Noeve, so leise, dass selbst das Geräusch der Wellen gereicht hätte, um ihre Worte ungehört davonzutragen. »Das letzte Mal habe ich dir das Herz gebrochen. Ich will dir nicht wieder wehtun.« Vanelle wusste das. Sie wusste, dass eine Göttin vor ihr stand und dass ihr dieser Tag unendlich viele Dinge zum Nachdenken gegeben hatte – doch mehr als alles andere war Vanelle bewusst, wonach sich ihr Herz in dieser Nacht mit jedem Schlag deutlicher sehnte: Und ihr Name lautete Noeve.

Es schien, als sei ein Knoten geplatzt, denn mit einem Mal fiel die Blockade von ihr ab. In dieser und vielen weiteren Nächten lernte Vanelle das Wort Zärtlichkeit völlig neu kennen. Sie spürte die Hitze ihrer Körper, die einander gierig berührten und bis hin zur Ekstase trieben. Sie roch den Schweiß und die Lust gleichermaßen, wie schon damals, beim ersten Mal: Jede Berührung, jeder Kuss, der nicht nur ihre Lippen fand, jede Sekunde, wenn sich warme, weiche Haut an ihre schmiegte, bis hin zu diesem einen Moment, an welchem das plötzliche, überwältigende Gefühl die Obermacht gewann und wie ein Siegeszug durch ihre Adern tobte – Vanelle genoss alles davon. Von nun an machte sie wesentlich größere Fortschritte. Es wurde nicht leichter, doch Vanelle lernte durch Noeves Hilfe, mit dem Schmerz umzugehen. Schon nach kurzer Zeit kannte sie ihre eigenen Grenzen, weitete diese jedoch ständig aus. Das ein oder andere Mal riss es sie von den Füßen. Die Göttin war stets zur Stelle, um ihr auf die Beine zu helfen.

»Dein Körper lernt, der Belastung standzuhalten«, sagte sie. »Aber du musst wissen, wann du eine Pause brauchst. Keine Sorge, du wirst stärker werden. Wie ein Muskel, der nach und nach an Kraft gewinnt. Dennoch darfst du die nötige Regenerationszeit nicht unterschätzen.«

So vergingen erst Tage, dann Wochen, die Vanelle wie in einem Traum durchlebte. Ausnahmslos jede Nacht verbrachte sie mit Noeve, die völlig neue Gelüste in ihr weckte. Gleichzeitig wusste sie eine Sache mit absoluter Sicherheit: Noeve und sie – das war nicht von Dauer. Jeder Augenblick fühlte sich wie ein gestohlener Moment an. Es würde enden, früher oder später. Diesmal erlaubte Vanelle sich nicht, Gefühle für die schöne Frau zu entwickeln. Wenn der Zeitpunkt des Abschieds kam, blieb ihr die Erinnerung – und eine tiefe Freundschaft, von der sie hoffte, dass sie ewig währen würde.

»Wie lange wird es noch dauern?«, fragte sie Noeve am Morgen nach einer weiteren, lebhaften Nacht. Die Ältere sah nachdenklich aus, während sie aufs Meer blickte, kein Fetzen Stoff am Leib. Vanelle spürte, dass ihr berauschender Anblick nicht nur Verlangen in ihr auslöste: Sie bewunderte Noeve für ihre zarte, im Sonnenlicht leuchtende Haut, gleichfalls für ihr weiches, schwarzes, lockiges Haar. Ihre wohlklingende Stimme. Die Sanftheit ihrer Berührungen. Sie hielt sie für unvergleichlich.

»Ich kann die Launen der Wellen nie gänzlich voraussagen, aber ich schätze, nur noch ein paar Tage.« Sie warf Vanelle einen belustigten Seitenblick zu, als sie ihr unverhohlenes Starren bemerkte. »Freust du dich darauf, deine Crew wiederzusehen?« Eineinhalb Monate lag ihre Entführung nun schon zurück. Eine schrecklich lange Zeit auf See.

»Mehr, als du dir vorstellen kannst«, erwiderte Vanelle mit glühenden Wangen, denn noch immer konnte sie ihren Augen nicht von Noeve losreißen. Verstohlen betrachtete sie die geschlängelten Tattoos, leider boten ihre nächtlichen Treffen nie ausreichend Zeit, die Geschichten ausführlicher zu studieren. Natürlich blieb auch dies Noeve nicht verborgen. Sie lächelte auffordernd.

»Nur zu. Ich sehe doch, was du vorhast.« Vanelle errötete stärker. Sie räusperte sich verhalten, ehe sie auf die Größere zukam. Zärtlich strichen ihre Finger Noeves Wange entlang, hinab bis zum Schlüsselbein und zu der Stelle, an der sie zuletzt innegehalten hatte.

»Was sie einte, war die Verehrung gegenüber dem Ersten, dem mächtigsten unter ihnen – denn er galt als Gott unter den Göttern«, wiederholte sie den letzten Satz, ehe sie fortfuhr: »Das änderte sich mit der Schöpfung der Menschen. Um diesen zu schmeicheln, glichen die Götter ihr Äußeres an. Vier von ihnen entschieden sich für die Merkmale dessen, was gemeinhin als Frau bezeichnet wurde, fünf weitere für die eines Mannes. Nur der Erste überließ dies seinen Empfindungen, weshalb er häufig wechselnd in beiden Gestalten umherwanderte.« Vanelle stockte, denn ihre Hand kam auf Noeves Brust zum Halt. Verlegen begegnete sie ihrem Blick. Noeve schien die Berührungen zu genießen – denn ihre Brustwarze versteifte unter Vanelles Fingern. Gemächlich fuhr sie fort, auch wenn sie das Knistern in der Luft beinahe greifen konnte: »Trotz dieser Entscheidung konnten die Götter ihre äußere Hülle stets ändern. Sie war wandelbar, wie die Götter selbst. Vor allem Coleo und Orca gehörten zu denjenigen, die von ihrer Wandelbarkeit häufig Gebrauch machten – wenn auch nicht so oft wie der Erste.« Vanelle berührte Noeves Bauchnabel. Beinahe überwältigte sie das Bedürfnis, ihre Lippen auf die weiche Haut zu drücken – vielleicht sogar noch tiefer zu wandern – doch sie beherrschte sich.

»Wandelbarkeit«, sagte sie leise, »trifft das auch auf dich zu?« Noeve legte den Kopf zur Seite, ein abwartendes Grinsen umspielte ihre Züge.

»Möchtest du es sehen?« Vanelle merkte nickend auf, die Neugier gewann wie üblich die Oberhand, selbst dann noch, als Noeve mit einer Hand über ihr Gesicht fuhr. Es sah aus, als sei Noeve aus Wachs. Ihre weichen Gesichtszüge wurden kaum merklich härter, ihre ohnehin aufragende Gestalt gewann an Größe, ihre Schultern wurden breiter und die geschwungene Hüfte sowie die Brust ging zurück. Als Vanelle blinzelte, erkannte sie die Göttin nicht mehr wieder, denn aus ihr war ein Gott geworden. Dieselbe, schöne Haut, gekrönt von lockigem, schwarzen Haar. »Überrascht?«, fragte er mit tiefer Stimme, die Vanelle erstaunte. Sie ähnelte Noeves, war unverkennbar dieselbe, nur anders. Dann, sie sah es nicht kommen, schenkte er ihr einen Kuss: feurig, atemberaubend, verschlingend. Vanelle wusste nicht, wie ihr geschah. Die nunmehr starken Arme umfingen sie mit Leichtigkeit, erst dann nahm er geringfügig Abstand, seine Lippen schwebten vor ihren. »Ich kann dir auch sehr gern die Vergnügungen dieses Körpers zeigen«, versprach Noeve ihr verführerisch, die schwarzen Locken kitzelten ihre Wangen. Vanelle holte tief Luft, um dem Angebot zu wider-stehen.

»Ich möchte zuerst die Geschichte zu Ende lesen«, brachte sie fahrig hervor. Noeve lachte leise auf. Er wischte wieder über sein Gesicht, die Verwandlung ging erneut vonstatten, nur dass an ihrem Ende die schöne Frau vor ihr stand.

»Nur zu«, lockte sie schmunzelnd. »Aber du wirst dich entscheiden müssen, denn ab hier teilen sich die Erzählungen auf. Wovon möchtest du mehr erfahren?« Auch Vanelle lächelte ein seichtes Lächeln.

»Welche verrät mir mehr über Lophi?«

Mit einem ihrer feingliedrigen Finger deutete Noeve auf eine Linie, die seitlich an ihrem Bein entlanglief und sich von dort aus auf ihre Rückseite schlängelte. Vanelle berührte ihren Schenkel, was Noeve einen seufzenden Laut entlockte. Er ließ Vanelle keinesfalls kalt. Mit steigendem Puls zeichnete sie den Verlauf des Tattoos nach, so weiß wie die Sterne auf ihrer glatten Haut. »Als die Kriege unter den Menschen ausbrachen …«, begann Vanelle, »… schlugen sich die Götter auf die Seiten ihrer Anhänger. Von nun an behandelten sie einander wie Feinde. Längst misstrauten sie ihren ehemaligen Geliebten, allen voran Lophi, der sich mehr und mehr in die See der Bäume zurückgezogen hatte. Besonders Galeo war dies ein Dorn im Auge, verband ihn mit Lophi doch ein sehr viel tieferes Band. Er führte große Schlachten gegen ihn, die beide viele ihrer Anhänger kosteten, bis kaum noch welche übrig waren. Lophi, der darüber hinaus mit der Gesinnung seiner Anhänger zu kämpfen hatte, fiel ins Meer, noch bevor Galeo seine Besitzansprüche aufgab, und ihm in die Wellen folgte.« Hier endete die Schlangenlinie und Vanelle wollte bereits mit einer anderen fortfahren, als eine Hand ihr Kinn berührte. Noeve kniete sich zu ihr – und ehe Vanelle protestieren konnte, zog sie sie in einen langen, fordernden Kuss.

Noeve zeigte Begeisterung angesichts ihrer Fortschritte. Längst konnte Vanelle die Kräfte des Kompasses wesentlich effizienter nutzen: Denn sie brachte eine Reihe blühender Pflanzen hervor, ebenso wie Gemüse, auch wenn Noeve dieses ausschlug. Vanelle erfuhr, dass Gottheiten keine Nahrung benötigten – und auch die Schmerzen ließen nach. Gleichzeitig beschäftigten sie die Geschichten, die sie von Noeves Tattoos erfahren hatte, allem voran die Verbindung zwischen Lophi und Galeo. Noeve half ihr, die Natur dieser beiden zu verstehen, auch wenn ihr die Erkenntnis schwer im Magen lag: »Was ihr Götterbiester nennt, sind die Hüllen der versunkenen Götter. Sie wandeln ruhelos in ihren Meeren umher – manche aggressiver als andere, insbesondere, wenn sie die Nähe eines Artefaktes spüren. Galeo … hat Lophi inniger geliebt als die übrigen Gottheiten. Doch nachdem Lophi sich auf seine Insel zurückzog und von den Götterkriegen fernblieb, konnte er ihm dies nicht verzeihen. Dieser Hai, der euch angegriffen hat – ich erkenne Galeo in ihm wieder. Er war schon immer sehr nachtragend. Lophis Präsenz, wenn auch nur in Form seines Artefaktes, muss ihn rasend gemacht haben.« Vanelle wusste, dass ihr das eine Teilschuld an den Geschehnissen gab.

An diesem Tag betrachtete sie sehnsuchtsvoll die umherschwingende Kompassnadel. Sie wollte mit Rivay über all dies sprechen. Bestimmt würde ihr Kapitän ihren Schmerz verstehen, vielleicht sogar die beißenden Schuldgefühle. Ein verirrter Windstoß kam auf. Vanelle hob den Kopf, der ferne Geruch von Feuer stieg ihr in die Nase, undenkbar auf hoher See. Unruhig kam sie auf die Beine, wissend, dass dies nur eines bedeuten konnte: Land.

Kapitel 3

Harlot vergrub das Gesicht in den Händen. Heftige Schluchzer schüttelten ihren Körper, während Rivay nichts anderes tun konnte, als ihr beruhigend über den Rücken zu streichen. Sie hatte ihre Freundin direkt nach der Ankunft auf Tetra aufgesucht, um ihr von Vinricks Schicksal zu berichten – es war vermutlich das erste Mal, dass sie Harlot so herzergreifend weinen sah.

»Ich konnte ihn nicht beschützen«, wisperte sie, die Worte gingen in einem weiteren Schluchzen ihres Gegenübers unter. Harlot antwortete nicht, sah nicht einmal zu ihr auf, und nach einer Weile sank Rivay auf einen nahen Stuhl. »Tut mir leid, Harlot.«