Vergessene Sterne (Die Lichter unter London 2) - Anne Herzel - E-Book

Vergessene Sterne (Die Lichter unter London 2) E-Book

Anne Herzel

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Beschreibung

Die Reise in die Unterwelt geht weiter! Nach dem Erreichen der vierten Tiefenschicht müssen Maeve und Blaise feststellen, dass ihr Weg zum Grund der Katakomben noch nicht beendet ist. Eine Heilung für Maeves Zeichnung rückt zunächst in weite Ferne, bis neue Verbündete auf alte Feinde treffen. Auf jenen Ebenen, die kein Mudlark je betreten hat, enthüllt sich das meistgehütete Geheimnis der Katakomben. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, in dem Maeve und Blaise über das Schicksal von Ober- und Unterwelt entscheiden müssen. Doch verfolgt von dem Wächter und konfrontiert mit den Rachegelüsten der Mudlarks muss sich Maeve eine zentrale Frage stellen: Auf welcher Seite steht sie eigentlich?

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Seitenzahl: 456

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für meinen Neffen Hieu

Inhalt

PROLOG

TEIL 4: FOURTH DROP

TEIL 5: FIFTH DROP

TEIL 6: SIXTH DROP

TEIL 7: SEVENTH DROP

TEIL 8: AUFSTIEG

EPILOG

Meine Welt bestand aus Wasser. Ein rauschender Vorhang anstatt Fenstern, dahinter ein Hunderte Meter tiefer Abhang ohne Aussicht auf Flucht – denn man hielt mich gefangen. Weder Gitterstäbe noch Schlösser fesselten mich, nur das Licht des Energiekristalls erreichte mich durch den nassen Schleier von jenseits des Wasserfalls. Doch es blieb ein Gefängnis und ich allein.

Es gab keine Tür, nur einen zweiten Wasservorhang, wesentlich kleiner als jener an der Wand. Kräftiger toste das Wasser hinab, sein Brausen gewaltig genug, mich zu verletzen, falls ich ihn zu durchqueren versucht hätte. Nur einmal am Tag setzte das Sprudeln aus, jedes Mal, kurz bevor dey diesen Raum betrat. So wie jetzt.

Ich hob den Kopf, als ich deren Stimme vernahm: ein tiefes Brummen in der Sprache der Unterwelt. Sie verhallte zeitgleich mit dem Rauschen; dey schob sich in den Raum: die grauen Augen kalt, das Gesicht eine starre Grimasse, die Härte ausstrahlte.

Es gab keine Stühle, nicht einmal ein Bett. Nur ein gewöhnungsbedürftiges Nest aus grünlichen Pflanzen auf dem kargen Boden, wenigstens versorgten sie mich regelmäßig mit Nahrung, Wasser konnte ich von dem dünnen Wasserschleier schöpfen. Doch außer jenem Unterweltler bekam ich niemanden zu Gesicht – wahrscheinlich handelte es sich um den einzigen Bewohner dieser Stadt, der meine Sprache beherrschte.

»Wo ist Blaise?«

Jeden Tag aufs Neue stellte ich diese Frage, ohne eine Antwort zu erhalten. Mit Gewalt hatten sie uns voneinander getrennt, am Tag unserer Ankunft, direkt nach dem Kampf gegen den Wächter. Keine Erklärungen, niemand, der mir zuhörte. Seither hatte ich Blaise nicht wiedergesehen.

Der Unterweltler vor mir starrte mich an und verschränkte die Arme.

»Wie bist du an die Zeichnung des Wächters gekommen?« Es überraschte mich immer wieder, wie gut dey meine Sprache beherrschte, stammte dey schließlich aus einer so weit von der Oberfläche entfernten Tiefenschicht. Nur die Sprachmelodie gab einen Hinweis auf die Herkunft unter Tage, allein Selvice hatte akzentfrei gesprochen. Ich kräuselte die Nase, doch nicht wegen deren Sprachfähigkeiten.

»Wie oft soll ich euch das noch sagen? Hast du es bei den ersten zehn Malen nicht verstanden oder warum fragst du mich das immer wieder?« Allmählich war ich es leid. Ständig derselbe Fragenkatalog, als gäbe ich irgendwann andere Antworten. »Ich lüge nicht, falls ihr das glaubt.«

»Wer bist du?«, fuhr der Unterweltler fort, als habe dey mich nicht gehört. Ich schnaubte.

»Ich heiße Maeve. Maeve O’Sullivan.«

»Bist du ein Mudlark?«

»Nein.«

»Warum bist …«

»… du dann hier?«, beendete ich deren Satz, mittlerweile konnte ich die Fragen schon mitsprechen. Für eine Sekunde verharrte der Unterweltler, perplex zunächst, bis einer von deren Mundwinkeln zuckte. Ein Funke echten Amüsements, der nicht lange anhielt. Dey räusperte sich und gewann deren Fassung zurück, um dieselbe Frage noch einmal zu stellen: »Warum bist du hier?«

Ein verärgerter Laut entkam meinen Lippen, ich schluckte die Frustration widerwillig hinunter. Es hatte nichts gebracht, demm ins Wort zu fallen. »Ich will die Zeichnung loswerden. Deshalb muss ich bis zum Grund der Unterwelt. Weil ich nicht der nächste Wächter werden will.«

»Ein Mensch wie du als unser Wächter«, erwiderte der Unterweltler leise, die Abscheu stand demm ins Gesicht geschrieben. »Das ist undenkbar.«

»Da sind wir uns einig. Aber das weißt du längst.« Ich hatte aufgehört, zu zählen, wie oft ich dieses Gespräch bereits geführt hatte. Es brachte auch nichts, meiner Wut freien Lauf zu lassen. Oder mitzuspielen. Egal was ich tat, das Ergebnis blieb gleich. Dey würde gehen und mich allein lassen. Hier, im dämmrigen Licht des Energiekristalls, suchte mich der Fluch nicht heim – denn das alles durchdringende Leuchten unterband jeden Ausbruch. Und am nächsten Tag kehrte der Unterweltler zurück, um mir dieselben, ermüdenden Fragen zu stellen. Rinse and Repeat.

Schon drehte dey sich um, im Begriff, den Tür-Wasserfall zu durchqueren. Doch diesmal würde ich demm nicht einfach so gehen lassen.

»Warte! Ich möchte Blaise sehen. Geht es ihm gut?«

Keine Reaktion, das kannte ich bereits. Verzweifelt schnappte ich nach deren Hand, energisch schüttelte mich der Unterweltler ab.

»Fass mich nicht an!«

»Bitte!«, versuchte ich es erneut, die Hartnäckigkeit zauberte feine Falten auf die Stirn meines Gegenübers. »Ich bin keine Bedrohung. Blaise … ist mein Freund. Ich will doch nur wissen, ob er …« Meine Stimme brach und das gab den Ausschlag: Erneut entdeckte ich den seichten Widerhall von Irritation auf den Zügen des Unterweltlers. Nicht weil ich demm leidtat. Sondern weil ich demm nervte.

»Er ist unversehrt.«

Selbst dieser winzige Informationsfetzen reichte, um meine Hoffnung zu nähren. Jetzt nur nichts überstürzen. Vielleicht bekomme ich noch mehr aus dem Unterweltler heraus.

»Wer bist du? Du hast uns in die Stadt gebracht und kommst jeden Tag hierher. Aber deinen Namen kenne ich trotzdem nicht.«

Der Unterweltler grollte leise, ein Geräusch zwischen Knurren und Brummen. »Lance«, antwortete dey zögerlich.

Lance? Ein eigenartig normaler Name für einen Unterweltler.

»Wie Lancelot?«

Dey kniff die Augen zusammen. Mir ging auf, dass Lance wohl kaum mit den Sagen um König Arthur vertraut sein konnte. »Äh, das ist ein Ritter. Auch Drachentöter genannt …«

»Was ist ein Ritter? Oder ein Drachentöter?« Lance starrte mich an, abweisend zwar, doch interessiert auf eine Art, die deren Augen zum Leuchten brachte. Das erinnerte mich an Selvice, wann immer ich demm von der Oberfläche erzählt hatte. Ich durfte jetzt nicht nachlassen.

»Ritter sind von Königen ernannte Krieger. Und Lancelot war ein ganz besonders starker Ritter. Es gibt Geschichten, in denen er Drachen besiegt hat. Monster, die andere Menschen bedroht haben.« Lance lauschte aufmerksam. Dey senkte die Brauen in dem Versuch, das aufblühende Interesse zu verbergen. Doch noch schneller als Selvice fing dey Feuer. Lance musste deutlich jünger sein. Trotz deren Erscheinungsbildes – ein erwachsener Körper, stehengeblieben in der Zeit – kam dey mir mehr wie ein Jugendlicher an der Schwelle zum Erwachsensein vor.

»Krieger, die Monster bekämpfen«, wiederholte dey, ohne mich aus den Augen zu lassen. »So wie wir.«

»Wie ihr?«

Lance grummelte, offenbar aus Reue, das gesagt zu haben. »Ich komme später wieder. Warte hier.«

»Lance!«

Erneut griff ich nach deren Hand. Diesmal verharrte dey, anstatt sich mir zu entziehen. Wie in Zeitlupe drehte Lance sich in meine Richtung, die mit einem lauten Klacken kollidierenden Zahnreihen verrieten deren Unmut. Sofort ließ ich los.

»Bitte!« Ich legte jedes bisschen Überzeugungskraft in dieses eine Wort, in der Hoffnung, es möge nicht umsonst sein. Doch wieder wandte dey sich ab.

»Ich entscheide das nicht. Warte einfach. Man wird dich anhören, wenn die Zeit reif ist.«

Und einfach so war ich wieder allein. Zurückgelassen, einsam, eingesperrt. Mein Herzschlag beschleunigte sich, überlaut rauschte das Blut durch meinen Kopf.

Ich halte das nicht mehr aus! Mutlos sank ich auf die Knie, stoßweise rauschte mir der Atem über die Lippen, die Panikattacke kam. Für unendlich lange Zeit lag ich auf dem Boden, unfähig, mich zu beruhigen. Diesmal blieb ich mir selbst überlassen. Niemand, der mich auffangen würde.

Blaise und ich hatten die Hölle durchquert. Eine Reise in die Tiefe, vorbei an Mudlarks und monströsen Kreaturen, durch den Urwald des Third Drop und das Meer der Sterne. Doch wofür? Um in einer Stadt der Unterweltler zu enden, von der wir geglaubt hatten, dass sie längst nicht mehr existierte? Zerstört von den Mudlarks? Da haben wir uns wohl mächtig geirrt …

»Hey!«

Meine Augen flogen auf, vor mir stand Lance. Ich musste nach der Panikattacke geschlafen haben – zumindest vermutete ich das, weil meine Augenlider klebten. Die Gefangenschaft und die wiederkehrenden Panikattacken hatten mich so sehr ausgezehrt, dass ich deren Eintreten nicht bemerkt hatte. Doch wie versprochen war Lance zurückgekehrt. Zwei weitere Unterweltler flankierten demm; jeder von ihnen hielt einen langen Speer in Händen. Kräftiges Holz, versehen mit je einer leuchtenden Spitze an einem Ende: eine blau, die andere rot, gefertigt aus Splitterkristall. Keiner davon auf mich gerichtet, dennoch eine unausgesprochene Drohung. Ein Versprechen, dass sie sich zur Wehr setzen würden.

»Steh auf. Man wird dich anhören.«

»Mich anhören?« Ich kam auf die Beine. Lance bedeutete mir mit einem Nicken, demm durch den sonst prasselnden Türbogen zu folgen, der nun kein Wasser mehr führte. Zaghaft schlich ich Lance nach, hinter mir die Bewaffneten, die Stille behagte mir nicht.

»Wer hört mich an? Etwa euer Zirkel?«

»Dann weißt du also auch vom Zirkel«, sagte Lance ohne Überraschung. Ich bekam den Eindruck, dass dey mich noch immer aushorchte. Blaise. Sie müssen mit Blaise dasselbe Theater abgezogen haben.

»Blaise und ich waren in der Stadt aus Glas. Für eine ganze Weile.«

»So ist das also.« Mildes Interesse, nicht ansatzweise so groß wie während meiner Erzählung über Ritter und Drachen. Na schön. Das Spiel lässt sich in beide Richtungen spielen. Vielleicht konnte ich demm die eine oder andere Information entlocken – vorausgesetzt, dey hörte mir zu.

Der Korridor vor uns führte Wasser zu allen Seiten des Weges: Becken mit Pflanzen, die ich mittlerweile kannte, weil man sie mir in meinen kleinen Raum gebracht hatte. Vor allem diese dicken Knollen von der Konsistenz einer Kartoffel, außerdem ein Gewächs, das an Trauben erinnerte. Ich entdeckte Kräuter, Algen, Seetang und natürlich Cave Shrooms. Diese leuchtende Untergrund-Delikatesse schien überall zu wachsen, hier wie ein dichtes Geflecht – umschwärmt von Wasserwesen. Winzig klein schwebten sie durch die glasklare Flüssigkeit: Fische und Schnecken, wie in Aquarien. Die Wände, der Boden, überall befand sich Wasser. Keine Begrenzungen oder einzelne Teiche, vielmehr hatte ich Wasserstraßen vor mir, alle miteinander verbunden. Ein riesiges Ökosystem, bewohnt vom Volk des Lichtes, in enger Bindung mit Fischen. Wie eng, das wurde mir erst bewusst, als wir nach draußen traten: Denn damals, bei unserer Ankunft, hatte man mir keinen Blick gewährt.

Die Schritte hinter mir setzten aus, doch ich verschwendete keinen Gedanken mehr an die Bewaffneten. Gebannt studierte ich diesen Ort in der Tiefe, eine weitere Stadt der Unterweltler, anders als die Stadt aus Glas.

Ein See.

Er lag in der Mitte, im Zentrum dieses gewaltigen Trichters, der sich in unendlich vielen Etagen in der Höhe verlor. Wasser rauschte von oben hinab, vorbei an Behausungen, behangen von dichtem Pflanzenwuchs. Derselbe Wasserfall, der auch mein Gefängnis vom Rest der Stadt getrennt hatte. Er umspielte, was sich über unser aller Köpfe befand, in der Schwebe, wie von unsichtbaren Fäden gehalten: ein Energiekristall, azurblau und glänzend, ein Anblick, so erhaben wie die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne.

Sein Leuchten verschlug mir die Sprache. Das Licht, jetzt nicht mehr gefiltert durch einen Wasservorhang, drang mir bis ins Mark. Das verstehe ich nicht. Die Stadt war tot, als wir sie betraten. Ihres Energiekristalls beraubt. Trotzdem haben sie einen hier.

Mein Blick verlor sich in der Höhe über uns, irgendwo dort oben hatten wir den Spiegel durchquert, der uns hierhergeführt hatte. Eine verlassene Ruine bar jeden Lebens, direkt über einer zweiten Stadt, die nur so vor Leben pulsierte, versteckt vor den suchenden Augen der Mudlarks. Die Erschöpfung fiel von mir ab wie ein abgetragenes Kleidungsstück. Hier herrschten angenehme Temperaturen. Ich sehnte mich nach einem langen Bad im Glanz dieses Kristalls, doch ein Räuspern, gefolgt von einem unsanften Stoß in meine Rippen, trieb mich voran. Hinter Lance her, während demm mich aufmerksam beäugte.

Dennoch konnte ich mich nicht sattsehen an der Schönheit dieses Ortes mit seiner spiegelnden Wasseroberfläche und den zahlreichen Unterweltlern, im Spiel mit … Seepferdchen? Kleinere Exemplare kannte ich. Aber diese hier, scharlachrot mit gefächerten Flügelchen auf den Rücken, erinnerten nicht nur aufgrund ihrer Größe an die Pferde der Oberwelt – sondern auch weil die Unterweltler auf ihnen ritten. Ebenso wie auf riesenhaften, schwarzen Rochen. Flach und lautlos schwebten sie in Oberflächennähe durch die Fluten, ihre Flügel länger als ihre Reiter, ausgestattet mit dem markanten Stachel. Arglos spielten einige kleinere Exemplare mit den Kindern, die eifrig im kühlen Nass plantschten. Mit den Erwachsenen hingegen tauchten die ausgewachsenen Rochen ab, in die tieferen Bereiche des Sees. Dort entschwanden sie meinem Blick – hinein in Wassertunnel, umgeben von glitzernden Splitterkristallen. Das mit den Wasserstraßen galt wohl für die gesamte Stadt.

»Ich wusste gar nicht, dass man Rochen und Seepferdchen auf diese Art halten kann.« Meine Bemerkung klang seltsam in dieser Stadt, in der allein die Sprache der Unterwelt gesprochen wurde. Lance betrachtete mich abschätzig.

»Wir halten sie nicht. Sie leben mit uns, in einer Gemeinschaft. Wir nutzen ihnen, sie nutzen uns. In vielerlei Hinsicht.«

Ich vernahm ein Geräusch wie von schleifendem Stein. Während unserer Umrundung des Sees kam ein geräumtes Areal in Sicht. Es ähnelte einer Plattform, ohne Reittiere oder Pflanzengestrüpp, gänzlich im Trockenen. Darauf befanden sich Unterweltler mit Speeren, aufgereiht wie Soldaten. Sie trainieren, das erfasste ich auf Anhieb. Hart schlug Waffe gegen Waffe, ihre Bewegungen erinnerten an keine Kampfkunst, mit der ich mich je befasst hatte – was ohnehin überschaubar blieb. Trotzdem irritierte mich ihr Handeln auf eine Art, die ich nicht ganz zu fassen bekam. Hat Blaise nicht mal gesagt, dass das Volk des Lichtes friedliebend ist? Im Second Drop hatte niemand zu den Waffen gegriffen. Doch die grimmigen Mienen dieser Unterweltler sprachen von Kampfeslust.

Nach und nach wurden die Stadtbewohner selbst auf mich aufmerksam. Kein Wunder, mein flammend rotes Haar stach heraus. Das jedoch daraus resultierende Gewisper behagte mir nicht. Ich rieb mir über die Arme, trotz der hier herrschenden, angenehmen Temperaturen. Wahrscheinlich erwärmte der Energiekristall die Gewässer der Stadt; die Luftfeuchtigkeit erinnerte an die Schwüle vergangener Sommertage.

Allmählich begann man, uns zu folgen. Nur mir schien das unangenehm zu sein, denn weder Lance noch meine Bewachenden reagierten auf die zunehmend größer werdende Traube an Schaulustigen.

»Wo bringst du mich hin?«, fragte ich schließlich.

»Zu deiner Anhörung. Das sagte ich doch bereits.« Lance sprach gedämpft. Dey wollte wohl vermeiden, dass man die Sprache der Oberwelt allzu gut hörte. Ich schwieg, allmählich drängte sich mir die Vermutung auf, dass die Bewohner dieser Tiefenschicht nicht allzu viel von mir hielten: In ihren Augen konnte ich nur ein Mudlark sein. Ein Eindringling, gekommen, um ihre Heimat zu zerstören – so wie die Stadt weit über uns, jenseits dieses Spiegels, durch den sie uns gezogen hatten.

Lance brachte mich durch einen Tunneleingang tiefer in die Eingeweide der Stadt, weg von der spiegelnden Oberfläche des Sees und dem Licht des Energiekristalls, hinein in ein Wirrwarr aus Korridoren. Unter dem Gewässer hinweg, zu einer Passage voller Splitterkristalle. Die Bewaffneten folgten uns nicht länger, ihre Schritte blieben aus. Auf merkwürdige Weise kam mir die Kammer der Erinnerungen in den Sinn. So hatte es dort auch ausgesehen, in jenem Raum, in dem man den Wächter für unendlich lange Zeit eingesperrt hatte.

Kinderstimmen begrüßten uns, doch die Kleinen rannten davon, als sie uns erspähten. Zurück blieben ausgebrannte Fragmente überall zu unseren Füßen. Und Bilder. Gemalte Kunstwerke eifriger Hände, ihr Anblick zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Wie in der Stadt aus Glas.

»Du kommst besser nicht auf törichte Gedanken«, unterbrach Lance meine Bewunderung für die Kritzeleien der Kinder. Dey deutete sie kolossal falsch – zumindest sprachen deren gesenkte Augenbrauen ganz und gar von Misstrauen. »Du würdest nicht weit kommen, wenn du versuchst wegzulaufen. Diese Wände sind unüberwindbar.«

Ich kräuselte die Nase. »Ich habe nicht vor davonzulaufen. Es ist einfach nur schön, dass es auch hier einen Ort der Kunst gibt. Wie in der Stadt aus Glas.«

»Einen Ort der …?« Lance kniff die Augen zusammen, als nehme dey die Schmierereien erst jetzt wahr. Dey klickte mit der Zunge, ein irritierender Laut, den das Echo zu uns zurückwarf. »Die Kleinen täten sich besser daran, ihren Umgang am langen Arm zu üben. Was für eine Zeitverschwendung.«

»Kunst ist nie Zeitverschwendung«, widersprach ich pikiert. Offenbar gab es gewaltige Unterschiede zwischen den einzelnen Städten. Nicht jede schätzte Kunst. »Hier. Lass mich dir was zeigen.« Ich ergriff eines der zurückgelassenen Fragmente. Noch bevor Lance protestieren konnte, zeichnete ich mit schnellen Strichen die Karikatur eines Ritters: hoch oben auf seinem Ross, mit glänzender Rüstung und scharfem Schwert.

Lance beugte sich nach vorn, zunächst befremdet, dann zusehends faszinierter. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

»Das ist ein Ritter. So wie Lancelot.«

»Worauf sitzt dey da? Und was hält dey in der Hand? Deren Gesicht sieht eigenartig aus.« Heutzutage ist auch jeder ein Kritiker.

»Ein Pferd, so wie eure Seepferdchen. Nur mit Beinen. Und seine Waffe ist ein Schwert. Vergleichbar mit den Speeren. Äh, ein langer Arm? Damit sind doch Speere gemeint, oder?«

»Speere«, wiederholte Lance, offenbar ein neues Wort für demm. Mit schief gelegtem Kopf strichen deren Finger über die gezeichnete Rüstung. Dey wartete auf eine Erklärung, die ich mit Freuden lieferte: »Eine Rüstung. Mudlarks tragen auch eine. Sie macht dich gegen Angriffe widerstandsfähiger.«

»Rüstung. So was haben wir auch.«

»Rüstungen? Wirklich?«

»Keine eigenen, sondern …« Mit einem Mal legte Lance die Stirn in Falten, erbost über einen Umstand, den ich nicht ergründen konnte – und funkelte mich an. »Wir verschwenden Zeit, wie ich es gesagt habe. Komm jetzt. Man erwartet dich, Oberweltler!«

»Maeve«, korrigierte ich sachte.

»Maeve«, wiederholte dey widerstrebend. Ich zwang mich, nicht zu schmunzeln. Auf bestimmte Weise fand ich Lance liebenswert – wie ein grummeliger Teenager, der bloß nicht zugeben wollte, wenn ihn eine neue Sache begeisterte. Bin ich dann schon die uncoole Erwachsene?

Mein Frohsinn hielt nicht lange an, denn es wurde dunkler – wortwörtlich. Nur der Schein der Splitterkristalle warf verwässertes Licht auf die Umgebung, während Lance mich immer tiefer in diese Tunnel hineinführte. Ein verzweigtes Höhlensystem, das mir mit jedem Schritt enger ums Herz werden ließ. Schließlich, nach einer Zeit, die sich wie Stunden anfühlte, verharrte dey.

»Ich bin der einzige Unterweltler aus meinem Volk, der deine Sprache gut genug beherrscht, um längere Gespräche zu führen«, bestätigte Lance meine Vermutung. »Daher erwartet man, dass ich für dich übersetze.« Dey sandte mir einen scharfen Blick, der mich wohl in meine Schranken verweisen sollte – ich gab mir Mühe, dem zu entsprechen, obwohl dey mich kein bisschen einschüchterte. Nicht mehr, dafür fand ich demm zu niedlich. Auf deren eigene, verquere Art ähnelte dey Selvice. »Zeig Respekt, wenn du dem Zirkel gegenüberstehst. Ich warne dich.«

Erst dann legte dey die Hände auf das Gestein, Worte in der Sprache der Unterwelt auf den Lippen, die einen Schimmer durch die Kristalle sandten. Feine Risse fraßen sich gierig über die glatte Oberfläche, mit einem Kreischen brach der Splitterkristall, das Geräusch kam mir falsch vor. Wie zerbrechendes Glas kombiniert mit dem Schaben von Fingernägeln über einer Tafel. Dahinter tat sich ein Durchgang auf – oder vielmehr eine Halle. Der Raum weitete sich.

Ich schluckte, als Lance mich unsanft voranschob, denn nichts hatte mich auf die Augen der Wartenden vorbereitet. Es sind so viele.

Hunderte Unterweltler, nicht nur ein paar Dutzend wie in der Stadt aus Glas. Sie saßen auf Terrassen aus Splitterstein, kreisrund um mich herum, wie in einem merkwürdig geformten Theater. Nicht alle von ihnen konnten zum Zirkel gehören, denn nur ein paar wenige thronten auf gewaltigen Säulen: Mehrfarbig, auf unterschiedlichen Höhen, offenbar bestand auch innerhalb des Zirkels ein Machtgefälle. Alle beobachteten sie mich wie in einem Gerichtssaal – mit mir in der Rolle des Angeklagten.

»Maeve!«

Seine Stimme brachte mein Herz zum Stottern. Quälend langsam drehte ich mich um, weg von den Versammelten und hin zu demjenigen, den ich all die Zeit über so schmerzlich vermisst hatte.

»Blaise …«

Das Flüstern kam und ging, meine Augen füllten sich mit Tränen, noch bevor ich ihn gänzlich hatte ansehen können – weil er mich stürmisch umarmte. Und einfach so gehörte die Anspannung meiner Gefangenschaft der Vergangenheit an. Ich verbarg das Gesicht an seiner Schulter, das Murmeln um mich herum kümmerte mich kein bisschen.

»Bist du in Ordnung, Sonnenschein?« Der Spitzname aus seinem Mund tat gut, ich krallte mich an ihm fest. Blaise roch vertraut: nach Asche und Gestein. Nichts hatte ich im Moment lieber.

»Jetzt wieder. Was ist mit dir? Haben sie dich gut behandelt?«

»Den Umständen entsprechend.«

Er drückte mich ein Stück weit von sich weg, ich weigerte mich, den Blick von ihm zu nehmen. Blaise anzusehen … Das fühlte sich an wie eine Heimkehr. Seine violetten Augen leuchteten, ein weicher Ausdruck umspielte seine Züge. Eine Ahnung von Sorge schlich sich in Form von Falten um seine Mundwinkel – die das feine Grinsen bildeten. Auch das hatte ich vermisst.

Ein Räuspern erinnerte mich an die vielen Augenpaare um uns herum. Sie alle hatten unserem Wiedersehen beigewohnt. Ich kam mir vor wie in einer dieser schrecklichen Nachmittags-Reality-Shows. Dennoch rückte ich näher an Blaise heran, in mir die gar nicht so irrationale Furcht, dass sie uns jederzeit erneut trennen würden. Lance betrachtete uns beide distanziert. Ein Zirkelmitglied erhob die Stimme und sprach Worte, die ich nicht verstand, in einer Tonlage, die ich als herablassend empfand.

»Man heißt uns willkommen«, flüsterte Blaise, obwohl er die Augen zu schmalen Schlitzen verengte. Ich hörte ihm an, dass man uns nur mit Widerwillen duldete. »Der Zirkel ist bereit, das Urteil zu verkünden.«

»Urteil?«, stieß ich hervor. »Ich dachte, man hört mich an!« Mein Blick schoss zu Lance. Ungerührt verschränkte dey die Arme. War das eine Lüge?

»Sie haben entschieden, noch bevor man dich hierherbrachte«, fuhr Blaise fort. »Hat lange gedauert, sie zu überzeugen. Tut mir leid, dass du warten musstest. Es gab keinen anderen Weg.« Blaise lächelte grimmig, Beweis genug, dass man ihm eine andere Behandlung als mir hatte zuteilwerden lassen – weil er zu gleichen Teilen aus der Ober- und Unterwelt stammte.

Ein zweites Zirkelmitglied erhob sich von einer niedrigeren Säulenposition aus. Dey wirkte weniger wirsch, obwohl deren Gebaren verriet, dass man das Folgende nur zähneknirschend verkündete. Blaise übersetzte im Flüsterton: »Es sei den Fremden gestattet, die Stadt zu verlassen. Wir, die Anführer dieser Ebene, stellen ihnen das Licht des Sterns zur Verfügung.«

Lance trat vor, in deren Hand ein Fragment in zartem Blau. Dey hielt es mir unter die Nase. Ein Glimmen im Inneren verriet, dass man es mit der Kraft des Energiekristalls gesättigt hatte. Und man händigte es mir aus, um meine Reise in die Tiefe fortzusetzen. Einfach so?

Zweifelnd nahm ich es entgegen, glatt lag der Stein in meiner Hand. Das ergibt keinen Sinn. Sie haben mich wochenlang eingesperrt, um mich jetzt ganz plötzlich auf freien Fuß zu setzen?

»Warum?« Das einsame Wort unterbrach niemanden, dennoch musste ich etwas Verbotenes getan haben. Gewisper wurde laut, es kam von den Schwellen der Beobachtenden. Ich zögerte, doch viel schlimmer konnte es jetzt ohnehin nicht mehr werden. »Warum lasst ihr mich plötzlich gehen? Was hat sich verändert?«

Die vielen Augen des Zirkels wanderten zu Lance, unbehaglich verlagerte dey das Gewicht. Deren Stimme vibrierte vor Nervosität, während dey meine Worte weitergab. Die Antwort kam prompt, Lance wirkte ärgerlich, als dey sie für mich wiederholte: »Das Versprechen des Wirbelblutes hat den Zirkel überzeugt. Wir lassen euch gehen.«

Ich musterte Blaise, damit konnte nur er gemeint sein. Wirbelblut? Ist das die Bezeichnung für jemanden, der zu gleichen Teilen aus Ober- und Unterwelt stammt?

»Was hast du ihnen versprochen?«

»Das erkläre ich dir, sobald wir unter uns sind. Es ist nicht ganz einfach, aber … Aber uns fällt schon was ein.« Aufmunternd rieb er mir über die Schulter. Ich beschloss zu warten. Auf eine Erklärung, die Licht ins Dunkel brachte – auch wenn es mich ärgerte, dass man über meinen Kopf hinweg entschieden hatte.

»Ihr könnt jetzt gehen«, forderte Lance meine Aufmerksamkeit, dey deutete auf Bewaffnete wie die, die mich hierhergebracht hatten. »Sie werden euch alles Notwendige zur Verfügung stellen, damit ihr …«

Eines der Zirkelmitglieder, dey saß an höchster Position, hob gestikulierend die Hand. Die eintretende Stille hallte unangenehm nach, denn jeder Anwesende wartete ab. Wer auch immer dort oben saß, musste eine sehr hohe Position innerhalb des Zirkels besetzen. Obwohl ich deren folgenden Redeschwall nicht verstand, bescherten mir die Reaktionen aller anderen Gänsehaut – weil sie entgeistert dreinblickten. Blaise presste die Lippen aufeinander, Lance ballte die Hand zur Faust – und ich verstand gar nichts.

Ein verbaler Schlagabtausch zwischen Lance und den Zirkelmitgliedern entbrannte, ich wohnte ihm völlig ahnungslos bei. Wie ein Kleinkind, das Sprache erst noch kennenlernen musste. Das eine oder andere Worte erschien mir geläufig. Es klang wie Strafe oder vielleicht auch Gefahr, womöglich bildete ich mir das aber auch nur ein. Schwer zu sagen. »Blaise, was ist da los?«

Knapp schüttelte er den Kopf, bevor er sich mit einer gebellten Antwort einmischte. So heftig hatte er bisher selten gesprochen, ich bekam den Eindruck, dass er stritt. Doch nicht mit einem der Zirkelmitglieder – sondern mit Lance. Dey gestikulierte erbittert, Hilfe suchend wandte dey sich zurück an den Zirkel – und erntete Ablehnung.

»Es ist entschieden.«

Ich zuckte wie unter Peitschenhieben zusammen, denn niemals hatte ich erwartet, eines der Zirkelmitglieder in meiner Sprache sprechen zu hören.

»Lance geht mit euch. Als Versicherung und zu unserem Schutz.« Deren Aussprache klang raspelnd, äußerst ungeübt und gezwungen. Aber verständlich genug, um mir eines klarzumachen: Lance soll mit uns kommen?

Blaise knurrte gedrückt, er musterte den Unterweltler mit einem Blick, der nur eine Sprache sprach: Misstrauen. Lance spiegelte dies, ich vermutete, dass die beiden während meiner Gefangenschaft ebenfalls Bekanntschaft miteinander gemacht hatten. Leider keine gute.

Die Menschen in den Rängen zogen sich zurück und auch die Zirkelmitglieder erhoben sich von ihren erhöhten Positionen. Uns brachte man hinaus, allerdings nicht mehr in die Stadt. Stattdessen schickte man uns tiefer: weiter hinein in dieses Tunnelsystem, in dem ich längst jede Orientierung verloren hatte. Lance begleitete uns, hielt aber Abstand. Nur zwei Bewaffnete trennten uns von demm, ich wagte es nicht, schon jetzt nachzufragen, was hier überhaupt gespielt wurde. Was hatte ich da oben verpasst? Welches Versprechen hatte Blaise gegeben und warum schickte man Lance mit uns?

Mein Grübeln endete vor einer Kammer, versiegelt durch Splitterkristall. Lance legte abermals die Hand auf. In ihrem Inneren erwartete uns das gedämpfte Licht von Cave Shrooms – und zu meiner Überraschung ein ganzer Haufen an Ausrüstung. Keine aus der Unterwelt, sondern verstärktes Leder, metallbeschlagene Stiefel – und Spangenhelme. Rüstzeug eines Mudlarks, sogar Kopflichter. Lance hatte nicht gelogen. Sie besitzen wirklich Rüstungen.

»Nimm, was du für nützlich hältst«, wisperte Blaise mir zu, zielsicher nahm er einen der Helme in die Hand. Dabei rutschte ein kleines, silbernes Objekt zu Boden; mit einem Scheppern schlug es auf. Ich blinzelte, ging in die Knie und griff zu, denn vor mir lag eine der neueren Schusswaffen eines jeden Tiefenschürfers: eine Thunder & Shiver. Beim Öffnen der Trommel stelle ich jedoch fest, dass es keine Patronen gab, auch nicht im Lauf.

»Blaise.« Das Gewicht der Waffe lag wie unwirklich in meiner Hand. »Was wird hier gespielt?«

Sein Seufzen trug nicht weit, doch die Antwort kam von Lance: »Man zwingt mich, euer Schicksal zu teilen. Das ist es, was hier vor sich geht!« Die Unzufriedenheit belegte deren Stimme. »Dabei habe ich viel wichtigere Aufgaben zu erfüllen. Was denkt sich der Zirkel dabei, mich mit euch …«

»Die Bewohner des Fourth Drop können weder in die Stadt hinein noch aus ihr hinaus«, fiel demm Blaise ins Wort, als sei ihm Lance’ Gejammere zuwider. »Die See der Sterne wird von Mudlarks kontrolliert, seit der letzten Sprengung stärker als je zuvor. Die Spiegelstadt kann sich zwar vor ihnen verbergen, doch ein Entkommen gibt es nicht.«

Spiegelstadt. So heißt er also, dieser Ort.

Ich erhob mich, die Waffe fest umklammert. »Was ist mit dem Fifth Drop? Der Abstieg sollte sich innerhalb der Stadt befinden.«

»Dazu wollte ich gerade kommen«, erwiderte Blaise mit harter Miene. »Der Fifth Drop ist den Unterweltlern versperrt – weil die Mudlarks dort unten eine Basis errichtet haben. Ich hatte recht, so tief sind sie also schon gekommen. Ihr Lager befindet sich direkt vor dem Zugang zur Spiegelstadt, ohne dass die Tiefenschürfer davon wissen. Das macht die Unterweltler zu Gefangenen ihrer eigenen Stadt.«

Das Herz rutschte mir in die Hose. Ich ahnte, was Blaise mit ihnen ausgehandelt hatte.

»Sie wollen, dass wir …?«

»Die Basis beseitigen, ja. Mithilfe dieses Krams.« Er klopfte auf einen der Spangenhelme. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

»Mit anderen Worten: Wir sollen uns … einschleichen? Blaise, das ist ein Himmelfahrtskommando. Wenn sie uns erwischen …«

»Sie wissen nichts von Phoebe oder den Vorkommnissen jenseits des Fifth Drop – zumindest vermute ich das.« Blaise betrachtete mich aufmerksam. »Das haben wir ihnen voraus, Maeve. Wir nutzen dieses Wissen zu unserem Vorteil – denn egal wie wir es drehen oder wenden, wir müssen an ihnen vorbei. Und im besten Fall auch wieder nach oben.«

Bedeutungsvoll erschien mir das Funkeln in seinen Augen, denn auch Blaise wollte tiefer hinab in die Katakomben. Und ich hatte ihm versprochen, gemeinsam mit ihm zu gehen. Wir beide würden den Wächter, seinen Vater, erlösen. Auch wenn das bedeutete, sich durch eine Horde Mudlarks zu kämpfen.

Lance zischte lautstark. »Hey, ignoriert mich nicht! Ich hoffe, ihr habt einen Plan. Denn ich werde mich nicht viel länger als unbedingt notwendig mit euch herumschlagen.«

Blaise packte einen der metallbeschlagenen Stiefel und reichte ihn an mich weiter, danach ergriff er einen Gegenstand, der wie eine Maske aussah. Kompakt, dunkel, mit getöntem Glas; eine Ader trat auf Lance’ Stirn, weil man demm nicht antwortete.

»Wirbelblut! Hey! Ich spreche mit dir!«

»Ich würde dir ja antworten, aber dein arrogantes Getue geht mir auf den Sack.« Blaise und Lance maßen einander mit Blicken, Lance kurz vor dem Explodieren, Blaise deutlich gefasster, denn er schob mir die Maske in die Hand. »Behalt die gut bei dir, mir wurde bereits gesagt, dass die Unterweltler nur wenige hiervon besitzen.« Ich nickte, vertieft in die Betrachtungen der Gesichtsmaske. Nun galt es, diesen Haufen alten Rüstzeugs zu durchkämmen – denn wir würden es bitter nötig haben.

»Spätestens alle 24 Stunden muss ich im Licht des Splitterkristalls baden. Das heißt, wir haben nicht viel Zeit.« Ich drehte den glatten Stein zwischen meinen Fingern; kalt fühlte er sich an, seitdem wir die Spiegelstadt verlassen hatten. Tunnel führten uns immer weiter in die Tiefe, unsere neue Kleidung verlangsamte uns zusätzlich. Nie hatte ich geglaubt, dass das Rüstzeug eines Mudlarks so schwer auf mir lasten würde. Wahrscheinlich gewöhnte man sich aber mit der Zeit daran.

»Das heißt, dass wir nur eine Chance haben«, murrte Lance mit einem Seitenblick auf Blaise, der demm komplett ignorierte. »Und ich werde euch aus offensichtlichen Gründen nicht bis in ihr Lager begleiten.« Dey strich sich eine Strähne des weißen Haares zurück über die Schulter und ich verstaute den Splitterkristall unter meinem Hemd. Fremd lag der Stoff auf meiner Haut, irgendwann musste es einem Mudlark gehört haben. Gruselig, handelte es sich doch um die Kleidung eines Toten. Die Maske trug ich ebenfalls bei mir, fest verschnürt an meinem Gürtel. Blaise besaß das einzige weitere Exemplar, nur Lance kam ohne aus.

»Woher habt ihr diese Sachen? Die Mudlarks werden sie euch wohl kaum freiwillig überlassen haben.«

»Erinnerst du dich an das Gefängnis?«, erwiderte Blaise, bevor Lance das Wort ergreifen konnte. Mein Hals schnürte sich zu, denn ab und an, wenn ich die Lider senkte, spukten die endlosen Korridore noch immer durch meinen Kopf. Auch die Visionen der orangen Seele hatte ich nicht vergessen: Mudlarks und Unterweltler, die man an diesem grausigen Ort sich selbst überlassen hatte.

»Was ist ein Gefängnis?«, fragte Lance mit gesenkten Brauen. Blaise kratzte sich demonstrativ am Kinn, ich zupfte unruhig an meiner neuen Kleidung herum. Ledergürtel, unzählige Taschen – ich sah wie ein waschechter Mudlark aus. Einst hatte es eine Zeit gegeben, in der ich alles dafür getan hätte, in dieser Kluft die Katakomben zu erforschen. Nun aber, nach Monaten unter Tage, sehnte ich mich nach der Sonne. Nach Wind und Regen, die es hier nicht gab. Und für Tiefenschürfer hatte ich nur noch Verachtung übrig. Sie, die diese Welt und ihre Bewohner erbarmungslos ausbeuteten, die ihr Sterben in Kauf nahmen, ohne Rücksicht auf Verluste.

Lance schnaubte, da dey erneut keine Antwort erhielt. Mit gestrafften Schultern beschleunigte dey deren Schritt und ich glaubte, das Ende des Tunnels zu erspähen – und mit ihm Licht. Neugier durchströmte meine Gedanken, denn nun, nachdem ich den Fourth Drop in all seinen schönen und schrecklichen Facetten kennengelernt hatte, würde ich erfahren, was dahinterlag. Eine neue Tiefenschicht, ein Bereich, von dem ich bisher kaum ein Wort gehört hatte. Die Stadt aus Wurzeln, erinnerte ich mich, Selvice hatte sie zumindest erwähnt. Innerlich wappnete ich mich für das, was uns hinter einer breiten Reihe von Zweigen erwartete: miteinander verknotet, sodass sie den Eingang zum Tunnel bestens verschlossen.

Ein schraubstockartiger Griff um mein Handgelenk hielt mich zurück, Blaise deutete auf die Maske. Er setzte die eigene auf, sie bedeckte sein Gesicht in Gänze, das getönte Glas verschleierte sogar die Farbe seiner Augen. Mit einem Seufzer tat ich es ihm gleich. Ungewohnt lag das Gewicht des Gegenstands um meinen Kopf, die Maske saugte sich regelrecht fest.

»Ist das wirklich notwendig?«

»Nur, wenn du nicht ersticken willst, Sonnenschein.« Blaise zwinkerte mir zu, Lance verdrehte die Augen – und riss die ersten Zweige beiseite. Dicht lagen sie, wie ein Pfropf, der eine Tiefenschicht von der anderen trennte. Aus den Schatten kamen wir, schlängelten uns hindurch zu einer Welt, die mich an Ort und Stelle erstarren ließ. Sie bestand aus Bäumen – und Schnee.

Wolkenkratzergroß schraubten sich die Bäume in die Höhe, massiver als jedes Gehölz in der Oberwelt. Wie riesige Pfeiler stützten sie die Felsdecke so weit über uns, dass ich diese in der Distanz nur erahnen konnte. Sogar die Kolosse aus dem Fourth Drop hätten neben diesen gewaltigen Gewächsen lächerlich klein ausgesehen. Dennoch gab es Licht. Es kam buchstäblich von überallher, vor allem von den Felswänden. Dort befanden sich Gesteinsdurchbrüche, die Fels und Holz gleichermaßen mit feinem Nass überzogen: Wasseradern, sie wallten auf wie sich bewegende Spinnennetze. Hoch über uns tropfte es; Wasser kristallisierte zu riesigen, gefrorenen Stalaktiten – und rieselte in Schneeflocken auf uns herab. Ein sanftes Leuchten umgab jede Flocke; fast wie senkrecht zu Boden fallende Glühwürmchen. Und zwischen alledem hüpften Insekten umher. Grashüpferähnlich, ohne Scheu sich uns zu zeigen.

»Die Mineralien aus dem Gestein mischen sich mit dem Wasser aus meiner Heimat«, erläuterte Lance mit verschränkten Armen, während dey meine Züge studierte. »Deshalb leuchtet es hier überall.« Lance schien zu gefallen, wie sehr mir diese Landschaft imponierte, denn dey lächelte verhalten. »Und die Bäume, die aus diesem Wassergemisch Energie beziehen, produzieren Gas. Unterweltler können es atmen.« Lance tat einen tiefen Atemzug, frei von jeder Maske. Blaise hingegen tippte gegen das Glas vor seiner Nase.

»Behalt die Maske zu jedem Zeitpunkt auf, Maeve. Für dich ist die Luft hier unten auf jeden Fall tödlich. Was sie mit mir anstellt, kann ich nicht sagen.« Er zuckte mit den Schultern, doch ich hörte kaum hin. Zu sehr fesselte mich der Anblick dieser unvergleichlichen Tiefenschicht – so wunderschön, auch wenn alles hier unten versuchte, mein Lebenslicht auszupusten. Wenn ich eines gelernt hatte, dann, dass sich die Gefahr gern hinter der Schönheit versteckte.

Splitterkristalle. Und Wandernde Steine. Sie wuchsen wie juwelenbesetzte Schmuckstücke an den Bäumen und ihren dicken Ästen, umgeben von den sich in Zeitlupe bewegenden Lebewesen. Wie Pocken saßen sie an Rinde und Gestein, glücklicherweise nur faustgroße Exemplare, oberflächlich eingeschneit. Ich schauderte, froh über die isolierende Wirkung der Mudlark-Kleidung. Wahrscheinlich erfror man hier schnell.

Lance zog deren aus verschiedenen Pflanzen gefertigten Mantel enger um sich. Dey war sicherlich die Wärme der Spiegelstadt gewohnt, das hier musste sehr unangenehm für demm sein.

Vor uns lag dichtes Gestrüpp aus Wurzeln, überzogen von feinem Schnee. Unpassierbar in meinen Augen, bis auf eine einzelne Passage. Selbst auf die Entfernung entdeckte ich eine dünne Rauchsäule zwischen den Bäumen. Dort musste es liegen, das Lager der Mudlarks.

»Maeve.« Ich begegnete Blaise’ Blick, er nickte mir zu, ich fasste mir ein Herz.

»Gehen wir.«

»Ich halte mich in der Umgebung versteckt«, fügte Lance hinzu, deren Aufmerksamkeit galt den hohen Bäumen. »Sobald eure Aufgabe erledigt ist, kehre ich in die Spiegelstadt zurück. Beeilt euch, wenn ihr nicht auffliegen wollt.« Mit einem Sprung erklomm dey einen der Gigantenbäume. Immer höher hüpfte Lance an ihm empor, scheinbar so mühelos, wie ich es bisher nur von Blaise gesehen hatte – aufgrund der geliehenen, mit Springschuppen versehenen Stiefel. Unbehaglich trat Blaise von einem Bein aufs andere, denn jetzt trug er das wesentlich schwerere Schuhwerk eines Mudlarks.

»Die gibt dey mir besser zurück, wenn wir das hier erledigt haben.«

Zum ersten Mal seit unserem Wiedersehen war da niemand, der uns zuhörte. Bald schon begaben wir uns in Gefahr – dieser Moment erschien mir kostbar. Mein Herz pochte, als ich mich an Blaise’ Schulter lehnte. Ein spontaner Entschluss, dem er mit einem Schmunzeln begegnete.

»Was denn, Sonnenschein, hast du Angst?«

»Du etwa nicht?«

»Und ob!« Federleicht wanderten seine Finger über meine behandschuhte Hand, ich hätte direkten Kontakt jederzeit vorgezogen.

»Du hast mir gefehlt, Blaise.« Die Wärme in meinen Wangen kam nicht von ungefähr. Seit unserem Kuss in den Untiefen des Meeres ging es mir häufig so. Blaise lächelte.

»Du mir auch. Konnte ja niemand ahnen, dass sie uns getrennt voneinander einsperren würden. Vor allem, nachdem sie dir das Leben gerettet haben.«

Schwer lag das Gewicht des Splitterkristalls um meinen Hals, durchtränkt von der Kraft ihres Sterns. Nur durch die Güte der Unterweltler hatte ich weiterleben dürfen, nachdem ich meinen alten Stein im Kampf gegen den Wächter geopfert hatte.

»Glaubst du, er folgt uns noch immer? Dein … Vater, meine ich.«

»Worauf du einen tiefen Atemzug nehmen kannst. Nur ein Scherz, ich brauche dich an meiner Seite, Maeve.« Seine Worte, so beiläufig sie auch sein mochten, gingen mir durch Mark und Bein. Blaise braucht mich. Ich schluckte, trocken klebte meine Zunge am Gaumen fest, als ich mich aufrichtete.

»Was ist mit deiner Mutter? Konntest du etwas über sie …?«

Blaise schüttelte den Kopf. Ein Schatten verfinsterte sein Gesicht, das Lächeln erstarb. »Ich habe versucht, nach ihr zu fragen, aber die Unterweltler waren nicht sehr gesprächig. Niemand schien sie zu kennen – und wenn, hätten sie es mir wohl nicht gesagt. Keine Ahnung.« Er zuckte mit den Schultern. Ich nickte verständnisvoll.

»Was ist das mit Lance? Warum geht ihr euch gegenseitig an die Gurgel?«

Blaise schnaubte kurz. »Du hast ja keine Ahnung, was ich durchmachen musste, während sie dich nicht aus deinem Gefängnis gelassen haben. Ich bin zur Hälfte wie sie und beherrsche ihre Sprache – aber das hat nur gereicht, um mich vor dem Verrotten in ihren Kammern zu bewahren. Sie haben hart mit sich verhandeln lassen. Und Lance ist eben der einzige Unterweltler, der die Sprache der Oberwelt gut genug beherrscht, um mehr als drei gerade Sätze herauszubringen …« Blaise wollte sich am Hinterkopf kratzen, aber der Spangenhelm kam ihm in die Quere. Genervt schob er ihn beiseite. »Ich würde Lance ja einen verdammten Hund nennen, aber dey würde mich nur fragen, was ein Hund ist. Und so macht Beleidigen einfach keinen Spaß.«

Ich unterdrückte ein Schmunzeln – zwecklos, in Anbetracht dessen, dass Lance mich auch nach Rittern und Rüstungen gefragt hatte.

»Dey wirkt durch die Fragerei so jung. Was glaubst du, wie alt dey ist?«

»Keine Ahnung. Konzentrieren wir uns lieber auf das da.«

Mit einem Seufzen fasste er die Rauchfahne ins Auge.

Die ersten Schritte über den schneebedeckten Untergrund brachten uns nur mühsam voran. Es gab hier kein Gras oder Gebüsch. Nur Stein, Schnee und die feinen Wasserläufe neben verwachsenen Wurzelgebilden. Jeder unserer Schritte hinterließ Spuren. Blaise verwischte sie regelmäßig mit einem breiten Ast.

»Weißt du, Unterweltler wie diese habe ich noch nie gesehen.« Der Ast in seiner Hand zog Schlieren durch den Schnee hinter uns. »Sie kämpfen, Maeve. Diese Speere sind gefährlich. Nicht nur als Stichwaffe.«

»Sie nennen sie lange Arme«, erwiderte ich. »Lance war ganz versessen darauf, dass sogar die Kinder damit umzugehen lernen sollten.«

»Weil sie sich auf einen Kampf vorbereiten.« Blaise’ Worte sandten mir einen Schauer über den Rücken.

»Ein Kampf … mit den Mudlarks?«

»Ich schätze, Krieg trifft es besser. Aber ja, sie planen, die Mudlarks aus dem Untergrund zu vertreiben. Angefangen bei diesen hier.« Es ratterte in meinem Kopf. Die Vielfalt der gegen die Unterwelt gerichteten Waffen machte Speere in meinen Augen geradezu lächerlich. Schusswaffen, Schwerter, schweres Gerät wie Motorräder oder U-Boote – und nicht zu vergessen die UV-Lampen. Damit konnten sie Unterweltler foltern.

»Das ist aussichtslos«, hörte ich mich sagen, meine Stimme klang seltsam tonlos. »Sie mögen viele sein, aber die Waffen der Mudlarks …«

»Unterschätz die Macht ihrer Lichter nicht«, erwiderte Blaise, er schnippte einen der Grashüpfer beiseite, der sich auf seine Schulter verirrt hatte. »Sie sind willensstark und bereit, Risiken einzugehen. Außerdem haben sie den Stern. Und wenn sie die Kraft des Sterns mit ihren Speeren …«

Ein Schrei unterbrach Blaise mitten im Satz, hoch und stechend, gefolgt von einem massiven Wesen, das mit gewaltigen Flügelschlägen auf uns zusteuerte. Ein Schemen aus dunklen Farben und ledriger Haut, der brausend wie eine Welle auf mich hinabsauste – und mich mit sich reißen wollte. Doch Blaise kam ihm zuvor: Er stürzte sich auf mich und katapultierte uns beide aus der Schussbahn. Keine Sekunde später zerrissen Schüsse die Luft. Knallend dröhnten sie in meinen Ohren und lenkten meine Aufmerksamkeit hin zu einer bis zu den Zähnen bewaffneten Mudlark – die uns frech angrinste.

»Das war ganz schön knapp!«

Erbarmungslos ratterte ihre Maschinenpistole – denn aus dem einen Angreifer waren mehrere geworden.

Fledermäuse! Groteske Wesen aus der Tiefe mit ledrigen Flügeln. Übertrieben groß, von der Statur eines Menschen, mit scharfen Krallen – und boshaft funkelnden Augen. Unbarmherzig mähte die Mudlark eine der Fledermäuse nieder, aber neue schossen bereits aus dem Dickicht hervor. Andere Mudlarks traten in mein Sichtfeld, sie gaben uns Feuerschutz. Blaise zog mich hoch. Nur ein einziger Blick zwischen uns, mein Gesicht spiegelte sich auf der Oberfläche seiner Maske. Ich benötigte keine Bestätigung, um zu wissen, dass wir beide dasselbe dachten: Wir haben die Mudlarks gefunden!

Das Kreischen der Fledermäuse ertönte erneut. Ein Signal, das sie zerstreute, weil es hier keine Beute für sie geben würde. Nachdem auch die letzte Kreatur zwischen den Gigantenbäumen verschwunden war, senkte die Mudlark die schwere Waffe.

»Verdammt, für eure Rettung schuldet ihr mir was!«

Ihr Grinsen, unter der Maske bestens erkennbar, schickte mich auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Rotes Haar, enge Locken, Sommersprossen. Sie bemerkte es ebenfalls, denn sie ging vor mir in die Hocke, um mir von unten direkt ins Gesicht blicken zu können. »Du meine Fresse, noch eine Irin? Hey, schön, dich bei uns zu haben, Landesgenossin!«

»Finley«, murrte einer der herumstehenden Tiefenschürfer. »Wir sollten hier draußen nicht herumstehen. Die verdammten Flugviecher sind harmlos gegen das, was sonst noch hier herumkreucht.«

Finley – so lautete offenbar der Name der Frau – winkte ab. »Hast ja recht, Mullock. Aber ihr beide … Ihr stammt nicht aus meinem Camp. Hat man euch von einem der anderen Posten hierhergeschickt? Und das nur zu zweit? Oder habt ihr euch vom Rest eurer Gruppe davongeschlichen, um …« Ihr anzügliches Grinsen streifte von Blaise zu mir und zurück, mir wurde erst kalt, dann unbeschreiblich heiß. Irgendwo in meinem Hinterkopf registrierte ich, dass sie von mehreren Basen sprach. Ein Umstand, der mir einen Stoß versetzte – wie ihre Anspielung.

»N-nein! So ist das nicht.«

»Ach! Nicht? Ihr wärt nicht die Ersten, die sich an diesem gottverlassenen Ort den Arsch abfrieren, um für ein paar Minuten …« Finley zuckte mit den Schultern, bevor sie die Waffe verstaute. »Na, wie auch immer. Ihr könnt mir im Lager erklären, was euch herführt. Sammelt die Fledermaus da drüben ein, mir ist nach Eintopf. Dieses saftige Stück Fleisch bekommen die beschissenen Steine nicht.«

Mit geweiteten Augen beobachtete ich, wie sie das getötete Tier einsammelten. Finley überwachte den Vorgang, für den Moment hatten wir keine Priorität. Doch lange würde das nicht anhalten, denn noch während wir uns in Bewegung setzten, wurde mir klar, dass wir uns von nun an unter Feinden bewegten. Und viel Zeit blieb uns auch nicht.

Mehrere Basen, alle besetzt mit Mudlarks. Die Unterweltler wissen nicht, wie groß die Bedrohung wirklich ist. Unkontrolliert wummerte mir das Herz gegen den Hals, Blaise hielt den Blick starr geradeaus gerichtet. Ich vermutete, dass auch er diese Information erst einmal verdauen musste. Ganz gleich, was er den Unterweltlern versprochen hatte, das hier überstieg unsere Möglichkeiten um ein Vielfaches.

Schließlich erreichten wir das Lager. Auf den ersten Blick erinnerte es mich an einen merkwürdigen Campingplatz – und das enttäuschte mich. Eine Basis der Mudlarks hatte ich mir wie die hängende Festung vorgestellt. Doch dieser Ort hier wirkte allenfalls provisorisch: UV-Lampen bildeten einen schützenden Ring, der einen Großteil der Unterweltbewohner in die Flucht schlug. Zelte, groß und aufgebläht, verteilten sich überall zwischen den Bäumen. Metallene Rahmen hielten sie aufrecht, summende Geräte an ihren Seiten, die mich an elektrische Ballonpumpen erinnerten, schickten Rauch in kurzen Schächten in die Höhe. Keine Lagerfeuer. Ich habe mich geirrt. Außerhalb dieser Zelte hatte man einen Kreis aus Wurzelwerk gebildet – jede Wurzel so dick wie gewöhnliche Bäume an der Oberfläche. Hier saßen unzählige Tiefenschürfer, geschart um Campingkocher. Was sie zubereiteten, verdarb mir den Appetit, wenn ich denn welchen besessen hätte: Es handelte sich um Insekten. Ebenjene, die überall im Lager umherhüpften. Diese Grashüpfer, von denen ein grünlicher Schein ausging. Auf merkwürdige Weise schienen sie den großen UV-Lampen gegenüber unempfindlich.

Die Mudlarks stießen Jubelrufe aus, kaum gedämpft durch die Masken, als Finley mit der getöteten Fledermaus erschien.

»Heute mal keine Grashüpfer!«, verkündete sie, es ging im allgemeinen Getose unter. Ich wandte mich ab, als man Messer hervorholte, um das Tier zu häuten.

»Hey, ihr zwei!« Der Mudlark von vorhin, Mullock, blickte mich und Blaise streng an. Dauerhafte Falten um seine Mundwinkel erweckten den Eindruck von ständiger Verärgerung. »Gönnt euch in einem der Zelte eine Pause, bis das Essen fertig ist. Wir haben gereinigtes Wasser, also trinkt. Die Fünf trocknet uns schneller aus, als mir lieb ist.« Er deutete auf eines der Zelte, ich wagte es kaum, mich ihm zu nähern, doch Mullock schob mich unbarmherzig voran. »Aber kein Herumgeturtel, das will hier niemand hören. Und passt auf, dass kein Gas ins Zeltinnere dringt.« Er öffnete einen übergroßen Reißverschluss. Ich fand mich in einer abgeschirmten Kammer wieder, durch eine dicke Plastikschicht getrennt von einem dahinterliegenden Raum. Hier drin wartete ein Abzug neben einem kleinen Gerät – dessen Funktion ich mir sofort herleiten konnte.

Blaise rührte sich nicht vom Fleck, Mullock zog den Reißverschluss hinter uns zu – und ich drückte den einzigen Knopf. Es ratterte, ein Luftzug entstand, denn er bewegte das wenige, unter meinem Spangenhelm hervorlugende Haar. Erst als der künstliche Wind erstarb, zog ich die Maske vom Gesicht.

»Maeve!«

»Leise. Hier drin kannst du sie abnehmen.« Ich deutete nach draußen, die Zeltwände waren wahrscheinlich stark genug, um einiger Belastung standzuhalten, aber Worte dämpften sie sicher eher weniger. Mit einem Ruck zog ich den zweiten, breiteren Reißverschluss auf, dahinter erwartete uns tatsächlich ein Raum, der mich an ein Zeltlager der Oberwelt erinnerte: dünne Matten als Betten, ein faltbarer Tisch und sogar Stühle. Es musste ewig gedauert haben, all das nach hier unten zu bringen. Wärme umgab mich wie eine dicke Decke, eine Wohltat nach der Kälte draußen. Blaise behielt die Maske auf, selbst dann noch, als ich die Plastiktür hinter uns verschloss.

»Sicher, dass ich …?«

»Ja, aber pass auf, dass niemand dein Gesicht sieht. Und sei leise. Wer weiß, wer uns zuhört?«

Mit einem schmatzenden Geräusch löste er die Maske vom Gesicht, sie hinterließ rote Ränder. »Sie haben mehr als nur eine Basis. Scheiße!«

»Ja. Was machen wir jetzt?«

»Wir müssen herausfinden, wie viele Lager es gibt. Und wie sie sich verteilen. Vielleicht ist es besser, mit dieser Information in die Spiegelstadt zurückzukehren. Allein sind wir aufgeschmissen.«

Auf dem Tisch warteten einige Plastikflaschen voll Wasser. Ich drehte den Verschluss auf und nahm einen Schluck, schmeckte abgestanden, aber trinkbar. Blaise tat es mir gleich. »Ein Wunder, dass die Mudlarks hier überleben. Muss viele Opfer gekostet haben, bis sie eine sichere Zuflucht errichten konnten.« Gedankenverloren strich ich mit der Hand über die Zeltwände. Sie gaben meinem bohrenden Finger nach, kaum weit genug, um Schaden zu hinterlassen. Elastisch, aber stabil.

Ich wollte mir noch etwas mehr Wasser genehmigen, doch aufgeregte Rufe von außerhalb drangen an mein Ohr. So viel dazu, wie gut diese künstlichen Luftkammern isolierten. »Was ist da los?«

Blaise presste die Maske aufs Gesicht. »Finden wir es heraus.«

Gemeinsam verließen wir den Schutz des Zeltes. Schon beim Heraustreten entdeckten wir einen zurückkehrenden Zug an Mudlarks: Geschunden sahen sie aus, wie nach einer langen Wanderung. Einer davon trug einen zweiten Tiefenschürfer auf dem Rücken; die Übelkeit kam ohne jede Ankündigung, denn das eingefallene Gesicht gehörte zu einem Toten. Sprünge auf seiner Maske hatten das Glas splittern lassen. Blaue Adern zogen sich durch seine graue Haut. Blutunterlaufene Augen und die Reste von Schaum vor dem Mund sprachen von einem quälenden Todeskampf. Mir drehte sich der Magen um, ich musste an mir halten, mich nicht schwallartig zu übergeben. Mit der festsitzenden Maske ein Übel, das ich mir alles andere als angenehm vorstellte.

»Scheiße, warum habt ihr ihn mitgebracht?«

»Ich konnte ihn nicht einfach so zurücklassen. Er hat es verdient, an die Oberfläche zurückzukehren.«

Finley trat an ihn heran, bedauernd berührte sie erst seine Schulter, dann die des Verstorbenen. Sie, von der ich glaubte, dass sie die Mudlarks anführte, zeigte Mitgefühl. »Du weißt, wie das hier läuft. Wer im Untergrund stirbt, hat sein Grab bereits gefunden. Wir haben weder die Zeit noch die Mittel, seine Leiche nach oben zu bringen. Tut mir leid.«

Der Tiefenschürfer senkte den Kopf, dennoch nickte er, eine Szene, die sich bereits viele Male abgespielt haben musste. Mudlarks lebten gefährlich – und wenn sie starben, dann vergaß man sie schnell.

»Habt ihr sonst irgendwelche Neuigkeiten für mich?«, wandte sich Finley an die übrigen Zurückgekehrten, ihr erbärmlicher Zustand sprach von Entbehrungen: abgewetzte Rüstungsteile, zerrissenes Leder, ein seltsam verbeulter Spangenhelm. Ihre Grimassen sangen Klagelieder auf den zurückliegenden Vorstoß.

»Nein. Die Ränder der Stadt sind nach wie vor unpassierbar. Und die Viecher rücken uns trotz der tragbaren Lampen immer mehr auf die Pelle. Keine Ahnung, wie wir uns dem Abstieg auf diese Weise nähern sollen.« Die Ränder der Stadt und der Abstieg. Dann haben sie ihn bereits gefunden?! Ich wechselte einen Blick mit Blaise, er verengte kaum merklich die Augen. Aber noch sind die Mudlarks hier. Irgendetwas hält sie davon ab, in den Sixth Drop zu steigen. Nur was? Ich verlor mich in der Betrachtung der auf ihren Rücken angebrachten UV-Lampen. Kleinere, kompakte Modelle, die während ihrer Feldzüge die hier lebenden Kreaturen abhalten sollten. Aber das gelang wohl mehr schlecht als recht, außerdem wirkten sie massiv und schwer.

»Bedauerlich«, erwiderte Finley. Mit einem Ruck fasste sie mich ins Auge – und mein Puls beschleunigte sich. »Was ist mit euch? Ihr habt mir noch immer nicht gesagt, von welcher Basis ihr kommt. Gibt es erfreulichere Neuigkeiten von anderen Bereichen des Stadtsaums?«

Sie lagern am Saum der Stadt. Der Gedanke kam und ich sah ihn bestätigt. Rund um die Stadt verteilt? Weil sie nach einem Weg ins Stadtinnere suchen?

»Hey, hast du mich gehört?« Finley verlagerte das Gewicht, ich erstarrte. Mein Schweigen hatte wohl zu lange angedauert. »Raus damit, Mudlark! Lass dich von meiner Nettigkeit nicht täuschen. Ich dulde kein Versagen, hier unten zählen nur Ergebnisse. Oder hast du vergessen, wer vor dir steht?«

Mein Mund fühlte sich trocken an. Ich musste sprechen, fieberhaft suchte ich nach einer Erklärung, doch jede erschien mir wie eine offensichtliche Lüge. Ich wagte es nicht, Blaise anzusehen. Das hätte nur ihr Misstrauen geschürt. Stattdessen würgte ich den dicken Kloß in meinem Hals hinunter. »Also …«

»Maeve. Maeve, bist du das?«

Ich zuckte kaum merklich zusammen. Die bekannte Stimme kam von einer Mudlark mit tiefbrauner Haut. Dichte Locken spähten unter Helm und Maske hervor, mit einem Satz stand sie vor mir und ergriff meine Hände. Falls sich Verwirrung in meinen Zügen zeigte, überspielte sie die, denn sie lächelte aufrichtig. »Das muss ewig her sein. Wie ist es dir ergangen? Ich würde ja sagen, dass es mich freut, dich hier unten zu sehen, aber …« Sie lachte entschuldigend, der sich vor meinem geistigen Auge abspielende Film schürte die Übelkeit. Flüssiges Feuer, Magmaschnecken, ein Safe House. Und dann der Felsschatten, eine Tour durch den Second bis zum First Drop und der Dämon, der Zachary zerriss.

»Lilly.«

Ich bekam nur aus den Augenwinkeln mit, wie sich Finley entspannte. »Ach, eine Freundin von dir, Lilly?«

»Und ob! Maeve hat kurz nach mir angefangen, hauptsächlich in der Zwei. Ich habe gehört, dass man dich in die Fünf geschickt hat, aber hier unten sind so viele von uns, da habe ich nicht damit gerechnet, dich zu Gesicht zu bekommen. Du gehörst zum Nordlager und unterstehst Atkin, oder?«

»Ganz genau«, kam mir Blaise zu Hilfe. Ich fragte mich, ob er sie ebenfalls erkannte. Sie, die meiner Zeichnung durch den Wächter beigewohnt hatte und gemeinsam mit Gale geflohen war.

»Leider haben wir auch nichts Neues zu berichten«, fuhr Blaise fort. »Die Stadt ist nach wie vor nicht erreichbar.« Mann, da hat er aber schnell geschaltet!

Finley stemmte eine Hand in die Seite. »Na gut. Aber warum hat Atkin euch hergeschickt? Klar, ich habe erst kürzlich einige meiner Leute verloren, aber …«

»Er hat euch zu Boten gemacht, habe ich recht?«, drängte sich Lilly dazwischen. »Verwegen von Atkin, euch zu zweit loszuschicken. Er muss große Stücke auf euch halten.«

»Ja, richtig«, gab ich zurück, bemüht um eine gleichmäßige Miene. Finley seufzte übertrieben.

»Boten? Die Letzten mit dieser Aufgabe werden wahrscheinlich noch immer von den Wandernden Steinen verdaut. Aber meinetwegen. Es kann nicht schaden, die Kommunikation zwischen den Lagern zu verbessern. Ich sag es euch, würde Funk hier unten funktionieren, hätten wir längst einen Weg in die Sechs gefunden.« Sie betrachtete die mittlerweile auseinandergenommene Fledermaus. Ein dicker Eintopf blubberte in mehreren Töpfen vor sich hin; die Mudlarks scharten sich um die Untergrund-Delikatesse.

»Das Nordlager ist mehrere Tagesreisen von hier entfernt«, sagte Finley nachdenklich. »Ein Wunder, dass ihr es in einem Stück hierhergeschafft habt. Ruht euch aus, bevor ihr weiterzieht. Ich bereite ein Dokument für die übrigen Basen vor. Und schlagt euch den Bauch voll. Unterwegs könnt ihr ja nur mit Mühe essen.« Finley zog sich zurück, derweil verteilte man Portionen der Fledermaus in stabilen Schalen. Lilly nahm drei davon entgegen, bevor sie uns in ein nahes Zelt drängte. Blaise übernahm die Schüsseln, während sie den Abzug betätigte. Erst innerhalb der versiegelten Kammer riss sie sich die Maske vom Gesicht, um mir mit einem Sprung um den Hals zu fallen.

»Was tust du hier unten, verdammt?« Ihr Flüstern trug nicht weit, schnell gab sie mich frei, um einen weiteren Mechanismus im hinteren Teil des Zeltes zu betätigen. Das Surren des Luftreinigers übertönte die Geräusche von außerhalb. Lilly packte mich bei den Schultern und beugte sich zu mir herab, um zu verhindern, dass auch nur der kleinste Laut nach außen drang.

»Scheiße, Maeve! Du lebst. Du bist wirklich am Leben. Wie hast du es bis hierher geschafft? Nein, halt, ich will es gar nicht erst wissen. Du musst die Hölle durchgestanden haben … Und wer ist eigentlich der Kerl da? Weiß er Bescheid? Ist er ein Mudlark aus einer anderen Schicht, der dir ebenfalls helfen wollte? Wie wir?«

»Lilly …«

»Verflucht, die Gewissensbisse haben mich verfolgt! Sogar bis in meine Albträume. Der Dämon selbst ist furchterregend, aber dass ich eine Studentin einfach so sich selbst überlassen habe … Das hat an mir genagt. Und an Gale genauso, wo auch immer man ihn derzeit einsetzt.« Streng fasste mich Lilly ins Auge, ihre Hände nach wie vor auf mir. Ich zwang mich, nicht