The Diviners – Die dunklen Schatten der Träume - Libba Bray - E-Book

The Diviners – Die dunklen Schatten der Träume E-Book

Libba Bray

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Beschreibung

Wenn Träume tödlich sind New York, 1927: Während Evie O'Neill durch ihre besonderen Fähigkeiten zur landesweiten Berühmtheit wurde, braut sich das Unheil zusammen: Mehr und mehr Leute fallen einer mysteriösen Schlafkrankheit zum Opfer. Die Ärzte sind ratlos. Jetzt ruht alle Hoffnung auf den Diviners, denn sie können in die Träume anderer Menschen eindringen und der Krankheit so hoffentlich auf den Grund gehen. Doch was sie dort vorfinden, übersteigt ihre schlimmsten Befürchtungen …

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Libba Bray

The Diviners

Die dunklen Schatten der Träume

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Barbara Lehnerer undBernadette Ott

Für Alvina & Greg

Wahre Liebe ist das Beste auf Erden,ausgenommen Hustenbonbons.

William Goldman, ›Die Brautprinzessin‹

Und für Alex Hillian

1970–2013

Träume süß, Senator.

Wach kann ich nicht sein,

denn nichts erscheint mir wie zuvor.

Es sei denn, ich erwachte zum allerersten Mal,

und alles, was zuvor gewesen,

war nur ein schlimmer Traum.

Walt Whitman

Wer an die Erfüllung seines Traums glaubt,

verbringt sein Leben im Schlaf,

Chinesisches Sprichwort

ERSTER TEIL

ERSTER TAG

DIE STADT UNTER DER STADT

New York City, 1927

Alle Städte sind Geister.

Neue Gebäude entstehen über den Gebeinen der alten, sodass jeder glänzende Stahlträger, jedes Backsteinhochhaus die Erinnerung an das, was nicht mehr da ist, in sich trägt – ein architektonischer Spuk.

Manchmal lässt sich ein flüchtiger Einblick in dieses frühere Leben erhaschen: in dem verborgenen Winkel einer Straße, an einem filigran verzierten Tor, einer alten Eichentür, die aus einer neuen Hausfassade hervorschaut, oder einer Gedenktafel, die an eine Stelle erinnert, an der sich einst ein Schlachtfeld befand, dann ein Saloon errichtet und inzwischen ein Park angelegt wurde.

Im Untergrund verhält es sich nicht anders.

Unter den Straßen wächst die Stadt. U-Bahn-Gleise drängen bis nach Brooklyn, Queens und in die Bronx vor. Tunnel verbinden einen Ort mit dem anderen, das Mögliche mit dem Unmöglichen. So viele Menschen, die befördert werden müssen. Aber das Streben der Stadt beschränkt sich nicht auf die Oberfläche. Das schrille Wimmern der Bohrmaschinen und das Klirren der Spitzhacken begleiten die Arbeiter, die das Gestein für einen neuen U-Bahn-Tunnel aus dem Weg schaffen. Schweiß bindet Staubschichten an die Körper der Männer, bis sich schwer sagen lässt, wo sich die Grenze zwischen ihnen und der Finsternis befindet. Der Bohrer frisst sich nur häppchenweise durch das Grundgestein. Die Arbeit der Männer ist hart und mühselig. Dann, plötzlich, brechen sie zu schnell durch.

»Achtung! Aufgepasst – jetzt!«

Ein Erdwall stürzt ein. Die Männer husten und husten, ersticken fast an der staubgeschwängerten Luft. Einer von ihnen, ein irischer Einwanderer namens Padriac, wischt sich mit seinem schmutzigen Unterarm über die Stirn und starrt in das große Loch, das der Bohrer hinterlassen hat. Auf der anderen Seite befindet sich ein hohes schmiedeeisernes Tor, das längst dem Rost anheimgefallen ist: eines der Geister aus einer vergangenen Zeit. Padriac leuchtet mit seiner Grubenlampe durch die Gitterstäbe und der rostige Belag scheint auf wie das getrocknete Blut einer alten Wunde.

»Jetzt seht euch das an«, sagt er und grinst die anderen an. »Dahinter könnte was von Wert stecken.«

Er zieht an dem rostigen Tor, es öffnet sich quietschend, und dann stehen die Männer in dem staubigen Gewölbe eines vergessenen Teils der Vergangenheit dieser Stadt. Der Ire lässt den Strahl seiner Lampe durch den gruftähnlichen Raum gleiten und pfeift durch die Zähne: Der Blick öffnet sich auf Holzverkleidungen, grau von Spinnweben, auf verschüttete Fliesenmosaike, auf eine Laterne, die bedrohlich von einem geknickten Mast herabbaumelt. Ein Eisenbahnwaggon steht da, halb begraben unter einem Berg von Schutt. Seine Räder stehen schon lange still, und doch kommt es den Arbeitern im Dunkeln beinahe so vor, als könnten sie das leise schleifende Geräusch von Metall auf Metall in der konservierten Luft des Gewölbes nachklingen hören. Padriac verfolgt die Gleise mit dem Strahl seiner Lampe bis ganz nach hinten zu einem stillgelegten Tunnel. Die Männer treten näher heran und spähen in die Finsternis. Ihnen ist, als starrten sie in das klaffende Maul der Hölle, dessen Zunge die Gleise sind. Der Tunnel scheint sich ins Unendliche auszudehnen, doch das gaukelt ihnen nur die Dunkelheit vor.

»Was da wohl drin is?«, sagt Padriac.

»Ne Flüsterkneipe, is doch klar«, erwidert Michael, einer der Männer, und kichert in sich hinein.

»Das wär’s. Einen Drink könnt ich vertragen«, scherzt Padriac. Er geht in den Tunnel, noch immer voller Hoffnung auf einen verschollenen Schatz. Die anderen Arbeiter folgen ihm. Diese Männer sind die unsichtbaren Erbauer der Stadt, selbst fast schon Geister, und sie haben keinen Grund, die Dunkelheit zu fürchten.

Nur Sun Yu zögert. Eigentlich hasst er die Dunkelheit, aber er ist angewiesen auf diese Arbeit, und an Arbeit ist schwer ranzukommen, wenn man Chinese ist. Er hat sie ohnehin nur ergattert, weil er sich ein Zimmer mit Padriac und ein paar anderen in Chinatown teilt und der Ire beim Boss ein gutes Wort für ihn eingelegt hat. Jetzt einen Rückzieher zu machen, wäre keine gute Idee. Also folgt auch er Padriac. Als Sun Yu sich einen Weg durch die herabgefallenen Schutt- und Gesteinshaufen auf den Gleisen bahnt, stolpert er plötzlich über etwas. Padriac schwenkt seine Lampe herum und entdeckt eine hübsche kleine Spieldose mit einer Handkurbel auf dem Deckel. Er hebt sie auf und bestaunt die kunstvolle Verarbeitung. So was wird heute nicht mehr hergestellt. Er dreht an der Kurbel und leise klimpernd erklingt eine Melodie. Er hat sie schon mal irgendwo gehört, es ist ein altes Lied, aber er weiß nicht mehr, wann und wo.

Er überlegt, ob er die Spieldose mitnehmen soll, doch dann legt er sie wieder auf den Boden zurück. »Schauen wir erst mal, was es hier unten noch für Schätze gibt.«

Padriac schwenkt seine Grubenlampe weiter, bis ihr Strahl auf das Skelett eines Fußes fällt. Vor ihm liegt eine mumifizierte Leiche, großteils zerfressen von Verwesung, den Ratten und der Zeit. Die Männer werden still. Sie starren auf die Haarbüschel, die dünn wie Zuckerwatte sind, und auf den wie zu einem letzten Schrei aufgerissenen Mund. Einige Männer bekreuzigen sich. Vieles haben sie zurückgelassen, um in dieses Land kommen zu dürfen, aber ihren Aberglauben nicht.

Sun Yu ist beklommen zumute, doch im Englischen fehlen ihm die Worte, mit denen er den anderen seine Gefühle mitteilen könnte. Mit dieser Frau hat es ein böses Ende genommen. Wäre er in China, er würde für angemessene Gebete und ein Begräbnis sorgen. Denn dort weiß jeder, dass eine Seele ohne diese Rituale keine Ruhe finden kann. Aber hier ist Amerika. Und hier ist alles anders.

»Pech gehabt«, sagt er schließlich, und keiner widerspricht ihm.

»Wir machen dann wohl besser weiter, Jungs«, sagt Padriac mit einem tiefen Seufzer.

Die Männer drängen aus dem Gewölbe. Als Padriac das Tor schließt, wirft er noch einen bedauernden Blick auf die von ihnen entdeckte Bahnstation. Bald schon wird es sie nicht mehr geben, wird sie zerstört werden, um neuen U-Bahn-Linien für die wachsende Stadt Platz zu machen. Der Fortschritt schreitet immer weiter fort.

»Eine Schande«, sagt er.

Nur wenige Augenblicke später verschmilzt das Dröhnen der Presslufthammer mit dem stetigen Geratter der U-Bahnen; der Gesang der Stadt hallt in den Tunneln wider. Plötzlich wird das Licht der Arbeitsleuchten schwächer. Die Männer halten inne. Ein Windstoß weht durch den Tunnel und streicht zart über ihre schweißbedeckten Gesichter. Er trägt ein leises Weinen mit sich und dann ist es vorbei. Die Lichter werden wieder hell. Die Männer zucken mit den Achseln – solch sonderbare Dinge ereignen sich nun einmal in der Stadt unter der Stadt. Sie nehmen ihre Arbeit wieder auf; ihre Maschinen fressen sich in das Erdreich und begraben dabei die Vergangenheit.

Später kehren die Männer erschöpft nach Chinatown zurück und steigen die Treppen zu ihrem Mehrbettzimmer hinauf. Sie fallen mit eingerissenen, schmutzverkrusteten Fingernägeln in ihre Betten. Sie sind zu müde, um sich noch zu waschen, nicht aber, um zu träumen. Denn auch die Träume sind Geister, Sehnsüchte, denen wir im Schlaf nachjagen, bis sie am Morgen dann verschwinden. Das Verlangen dieser Träume lockt die Toten an, und die Stadt birgt viele Träume.

Die Männer träumen von der Spieldose und ihrer Melodie, einem Relikt aus längst vergangenen Tagen.

»Beautiful dreamer, wake unto me / Starlight and dewdrops are waiting for thee…«

Die Melodie geht ihnen ins Blut, trägt sie fort in die schönsten Träume, die sie jemals hatten – Träume, in denen sie über Tage sind, Männer mit Vermögen und Ansehen, Männer, die über Besitz verfügen, in einem Land, das zu Besitzerwerb anspornt. Michael träumt von einem eigenen Bauunternehmen. Padriac von einer Pferdefarm auf dem Land. Sun Yu träumt davon, als wohlhabender Mann in sein Dorf zurückzukehren und den Stolz in den Gesichtern seiner Eltern zu sehen, wenn er sie nach Amerika holt, samt einer Frau für sich. Ja, einer Frau, mit der er die Beschwerlichkeiten und Freuden des Lebens in diesem Land teilen kann. Er sieht, wie sie ihn anlächelt. Was für ein reizendes Gesicht! Und das da neben ihr sind seine Kinder? Tatsächlich! Glückliche Kinder, die ihn nach getaner Arbeit mit seinen Hausschuhen, seiner Pfeife und glücklichen »Baba!«-Rufen zu Hause willkommen heißen und um eine Gutenachtgeschichte betteln.

Sun Yu streckt den Arm nach seinem jüngsten Kind aus und sein Traum zerfällt zu glühender Asche. Nur das Dunkel des Tunnels, den sie vorhin entdeckt haben, umgibt ihn noch. Sun Yu ruft laut nach seinen Kindern und hört leises Wimmern. Es bricht ihm das Herz.

»Nicht weinen«, versucht er sie zu trösten.

Ein Funken glimmt in der Finsternis auf. Einige Sekunden lang erwacht Sun Yus lang ersehntes Familienleben wieder zum Leben, so als ob er durch ein Schlüsselloch auf sein Glück spähen würde. Eins seiner Kinder lockt ihn mit gekrümmtem Finger zu sich her und lächelt.

»Träum mit mir…«, flüstert der Knabe.

Ja, denkt Sun Yu. Er öffnet eine Tür und tritt über ihre Schwelle.

Drinnen ist es kalt, so kalt, dass Sun Yu es selbst im Schlaf spürt. Der Ofen ist nicht angezündet, das ist das Problem. Sun Yu geht weiter und begreift, dass der Ofen kein wirklicher Ofen ist. Er verschwimmt, und unter diesem Traumbild sieht Sun Yu alte Ziegelsteine liegen, längst vermodert und zerbrochen. Aus dem Augenwinkel erblickt er eine Ratte. Sie bleibt stehen, um an einem Knochenhaufen zu schnüffeln.

Beunruhigt dreht Sun Yu sich zu seiner Familie um. Die Kinder lächeln nicht mehr. Sie stehen in einer Reihe vor ihm und starren ihn an.

»Träummitunsträumedumusstmitunsträumen…«, sprechen die Kinder im Chor, und seine Frau schaut ihnen zu, mit scharfen Zähnen und kohlschwarzen Augen.

Sun Yus Herz schlägt jetzt doppelt so schnell. Kampf oder Flucht. Sun Yu will aufwachen, aber der Traum gibt ihn nicht frei. Er ist erbost, dass Sun Yu fliehen will. Als er auf die Tür zuläuft, fällt sie vor ihm ins Schloss.

»Du hast es versprochen«, brummt der Traum mit schwerer Zunge wie ein Chor von Dämonen.

Die Melodie aus der Spieluhr erklingt. Letzte Reste der schönen Fassade lösen sich ab. Die Dunkelheit rückt wieder näher.

Auch die anderen Männer wittern einer nach dem anderen die Gefahr, die hinter all der Schönheit lauert. Diese Träumerei ist eine Falle. Im Schlaf versteifen sich die Finger der Männer, während sie versuchen, gegen den Schrecken anzukämpfen, der in ihre Gemüter dringt. Denn der Traum weiß um ihre Ängste wie um ihre Wünsche. Er kann sie alles sehen lassen. Unfassbare Albträume umzingeln die Männer. Sie würden schreien, wenn sie könnten. Aber es würde nichts ändern. Der Traum hat sie in seine Gewalt gebracht und wird sie nicht mehr loslassen. Nie mehr.

Die Körper der Männer in den Betten an der Mott Street werden schlaff. Aber hinter den geschlossenen Lidern bewegen sich ihre Augen wie im Fieber, während sie einer nach dem anderen tiefer und tiefer in einen Albtraum hinabgezogen werden, aus dem sie niemals mehr erwachen werden.

SECHSTER TAG

MIT DEN TOTEN REDEN

Ein winterlicher Windstoß fuhr zwischen die bunten Papierlaternen, die unter dem Vordach des Tea House Restaurants in der Doyers Street baumelten. Drinnen saßen nur noch wenige Gäste vor blitzblank leer gegessenen Tellern. Köche und Kellner eilten geschäftig hin und her, ungeduldig sehnten sie das Ende ihres Arbeitstages herbei, um danach in aller Ruhe eine Zigarre zu rauchen und ein paar Partien Mah-Jongg zu spielen.

Im hinteren Teil des Restaurants ihres Vaters starrte die siebzehnjährige Ling Chan durch die Schnitzereien eines Mahagoni-Wandschirms auf die trotz der späten Stunde immer noch herumlungernden Gäste, als könnte sie sie allein durch ihren durchdringenden Blick dazu bringen, zu zahlen und zu gehen.

»Das will heute Abend gar nicht mehr aufhören«, sagte George Huang, der plötzlich mit einer weiteren Kanne heißen Tees neben ihr stand. Er war so alt wie Ling und so dünn und flink wie ein Windhund.

»Schließ doch einfach die Tür vorne ab«, sagte Ling.

»Damit dein Vater mich feuert?« George schüttelte den Kopf und goss Ling eine Tasse Tee ein.

»Danke«, sagte Ling.

George lächelte sie an und zuckte mit den Achseln. »Du musst bei Kräften bleiben.«

Die Tür des Restaurants ging auf und ein Mädchen-Trio schneite herein. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet.

»Ist das nicht Lee Fan?«, rief George. Er schaute zu dem schönsten der drei Mädchen hinüber. Sie hatte einen kirschroten Mund und eine halblange Wasserwellenfrisur. Hastig stellte George die Teekanne ab und fuhr sich mit der Hand über den Kopf.

»Bitte nicht, George…«, begann Ling. Aber er winkte Lee Fan bereits zu sich herüber.

Ling fluchte innerlich, als Lee Fan sich von den anderen beiden Mädchen löste und an den Lacktischen und mit Farnen bepflanzten Keramiktöpfen vorbei in den hinteren Teil des Restaurants schwebte. Die Perlenschnüre ihres Kleides schwangen dabei hin und her. Lee Fan machte immer alles mit, »was der letzte Schrei war«, wie Lings Mutter zu sagen pflegte. Ihre Mutter meinte das nicht bewundernd.

»Hallo, Georgie!«, rief Lee Fan und setzte sich. »Ling!«

George griff nach einer Tasse auf einem der Tabletts. »Möchtest du auch einen Tee, Lee Fan?«

Lee Fan lachte. »Ach, Georgie! Nenn mich doch endlich Lulu!«

Seit Kurzem nannte Lee Fan sich Lulu, nach Louise Brooks. Ein affektiertes Gehabe, das für Ling genauso schwer zu ertragen war wie die Unsitte, andere zur Begrüßung zu umarmen. Ling umarmte niemanden zur Begrüßung. George warf Lee Fan verstohlene Blicke zu, während er ihr Tee eingoss. Ling wusste ganz genau, dass Lee Fan sich vor Verehrern kaum retten konnte. Jemanden wie den übereifrigen, schlaksigen George Huang würde sie sich ganz bestimmt nicht aussuchen. Jungs konnten manchmal so dumm sein und George war da keine Ausnahme.

Lee Fan gab vor, sich für den Stapel Bücher zu interessieren, die Ling sich aus der Bücherei ausgeliehen hatte. »Was liest du denn gerade?«

»Wie begehe ich einen Giftmord, ohne dass es herauskommt«, murmelte Ling.

Lee Fan ging die Bücher einzeln durch: Einführung in das Studium der Physik. Das ABC der Atome. Atom und Radioaktivität. »Aaah, Jake Marlowe, der größte Amerikaner der Gegenwart«, rief sie und hielt das letzte Buch hoch.

»Lings Held. Sie will eines Tages für ihn arbeiten.« George versuchte ein Lachen, brachte aber nur ein heiseres Schnauben zustande. Ling hätte ihm am liebsten gesagt, dass man damit ganz bestimmt nicht das Herz eines Mädchens gewann, egal um welches Mädchen es sich dabei handelte.

»Was willst du, Lee Fan?«, fragte Ling.

Lee Fan beugte sich vor. »Ich brauche deine Hilfe. Mein blaues Kleid ist verschwunden.«

Ling zog eine Augenbraue hoch und wartete auf etwas, das ihr Interesse zu wecken vermochte.

»Meine Tante und mein Onkel haben es in Shanghai für mich nähen lassen«, sagte Lee Fan. »Es ist mein bestes Kleid.«

Ling bemühte sich, geduldig zu bleiben. »Glaubst du, du hast es im Traum verloren?«

»Nein, natürlich nicht!«, erwiderte Lee Fan unwirsch. Sie schielte zu den Mädchen zurück, die in der Nähe des Eingangs standen und wie ein treuer kleiner Hofstaat auf sie warteten. »Aber vor ein paar Tagen, weißt du, da war Gracie bei mir, um sich meine Jazzplatten anzuhören, und du kennst sie ja: Dauernd bettelt sie mich an und will sich meine Sachen ausleihen. Ich hab genau gemerkt, wie sie die ganze Zeit das Kleid angestarrt hat, obwohl es natürlich viel zu klein für sie ist, bei ihren breiten Schultern. Na, nicht weiter wichtig. Als ich es am Abend anziehen wollte, war es jedenfalls nicht mehr da.« Lee Fan zog ihren verrutschten Schal zurecht, ganz so als wäre ein perfekt drapierter Schal das Wichtigste auf der Welt. »Natürlich streitet sie es ab, aber ich bin mir sicher, dass Gracie sich das Kleid heimlich geborgt hat.«

In der Nähe der Eingangstür musterte die breitschultrige Gracie Leung ihre Fingernägel.

»Und was soll ich da deiner Meinung nach tun?«, fragte Ling.

»Ich will, dass du bei einer deiner kleinen Traumwandeleien mit meiner Großmutter redest. Ich will die Wahrheit wissen.«

»Du willst, dass ich versuche, mit deiner Großmutter Kontakt aufzunehmen?«, fragte Ling. »Wegen einem Kleid?«

»Es war sehr teuer.« Lee Fan ließ nicht locker.

»Na gut, wie du meinst«, antwortete Ling leicht gequält. »Aber ich sag dir gleich, dass die Toten nicht immer mit mir reden. Ich kann es höchstens versuchen. Und außerdem wissen sie auch nicht alles, ihre Antworten sind manchmal recht vage. Akzeptierst du diese Bedingungen?«

Lee Fan wischte Lings Bedenken fort. »Ja, ja, alles bestens.«

»Macht fünf Dollar.«

Lee Fans Kirschmund öffnete sich empört. »Das ist ja ungeheuerlich!«

Es war tatsächlich ungeheuer viel. Aber Ling stieg immer mit einer hohen Forderung in die Verhandlungen ein – und umso höher, je dümmer die Aufgabe war. Und was Lee Fan von ihr wollte, war dumm. »An einem Abend im Fallen Angel gibst du doch genauso viel aus«, meinte sie ungerührt.

»Ja, aber im Fallen Angel weiß ich, was ich dafür bekomme«, murrte Lee Fan.

Ling strich mit dem Daumen langsam den Saum einer Stoffserviette glatt. »Entscheide dich.«

»Nicht nur den Tod gibt es nicht umsonst«, warf George ein, der verzweifelt einen Witz zu machen versuchte.

Lee Fan funkelte Ling an. »Wahrscheinlich hast du das alles nur erfunden, um dich interessant zu machen.«

»Wie du meinst. Dann wird es wohl so sein«, sagte Ling.

Lee Fan setzte sich und schob einen Dollar über die Tischplatte. Ling rührte ihn nicht an.

»Ich habe Ausgaben, die gedeckt werden müssen. Ich muss die richtigen Gebete aussuchen. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich Unglück über dich brächte, Lee Fan.« Ling rang sich die Andeutung eines Lächelns ab, von dem sie hoffte, dass es aufrichtig wirkte.

Lee Fan blätterte noch einen Dollarschein hin. »Zwei Dollar. Mein letztes Angebot.«

Ling steckte die beiden Scheine ein. »Ich brauche etwas von deiner Großmutter, um sie in der Traumwelt ausfindig machen zu können.«

»Warum?«

»Das ist wie bei einem Spürhund, der einen bestimmten Geruch in der Nase haben muss. Damit kann ich ihren Geist leichter finden.«

Mit einem theatralischen Seufzer zog Lee Fan sich einen goldenen Ring vom Finger und schob ihn in Lings Richtung. »Aber verlier ihn nicht.«

»Ich bin nicht diejenige, die öfter mal was wo vergisst«, murmelte Ling.

Lee Fan stand auf. Sie blickte auf ihren Mantel und dann zu George, der sofort herbeisprang, um ihr hineinzuhelfen. »Sei vorsichtig, Georgie«, flüsterte Lee Fan ihm laut vernehmlich zu. »Sonst verflucht sie dich noch. Und eh du dich versiehst, hast du die Schlafkrankheit.«

Das Lächeln auf Georges Gesicht verschwand. »Darüber macht man keine Witze.«

»Warum nicht?«

»Das bringt Unglück.«

»Pah, das ist doch nur Aberglaube. Wir sind jetzt Amerikaner.« Lee Fan stolzierte so langsam durchs Restaurant zum Ausgang, dass alle Gäste sie reichlich bestaunen konnten. Durch die Schnitzereien des Wandschirms beobachtete Ling, wie Lee Fan und ihr Hofstaat in die Winternacht hinausspazierten. Am liebsten hätte sie ihnen die Wahrheit hinterhergerufen: Mit den Toten zu reden fiel ihr leicht. Mit den Lebenden war das eine ganz andere Sache.

***

Der Wind, der um die Straßenecke der Doyers Street blies, fuhr Ling so eiskalt ins Gesicht, dass ihr die Zähne klapperten. George und sie waren gemeinsam auf dem Weg nach Hause in die Mulberry Street. Die Wäschereien, Juweliere, Lebensmittelläden und anderen kleinen Geschäfte waren bereits geschlossen. Aber alle möglichen Versammlungsstätten und Clubs hatten geöffnet, ihre rauchgeschwängerten Hinterzimmer waren mit Geschäftsleuten, Stammgästen, Neuankömmlingen und ungeduldigen jungen Männern gefüllt, die Domino oder Fan-Tan spielten, sich Geschichten und Witze erzählten, Geld und Ehrgeiz in die Runde warfen. Hinter den Hausdächern ragte am Rand des Viertels der Giebel der Church of the Transfiguration auf, wie ein schweigender Richter dieses Treibens. Drei angetrunkene Touristen torkelten aus einem Restaurant heraus und unterhielten sich mit lauter Stimme. Sie wollten noch einen Ausflug in die Bowery unternehmen, wo sie sich im Schattenreich unter den Hochbahngleisen der Third Avenue El verbotene Genüsse erhofften.

George sprintete immer ein Stück voraus und kehrte dann zu Ling zurück, ganz wie ein echter Leichtathlet beim Training. Für einen so schmalen Jungen hatte er überraschend viel Kraft. Ling hatte ihn schon problemlos die schwersten Tabletts tragen sehen, und er konnte meilenweit rennen, worum sie ihn beneidete.

»Du verlangst zu viel. Das ist nicht richtig«, sagte er atemlos. »Andere Diviner verlangen viel weniger.«

»Dann soll Lee Fan doch zu einem von ihnen gehen«, sagte Ling. »Soll sie doch zu dieser Nervensäge im Radio gehen, wie heißt sie noch mal? Ach ja – die Herzblatt-Seherin.« Ling wusste ganz genau, dass Lee Fan das nie tun würde. Sie vergnügte sich zwar gern in den Nachtclubs uptown, aber sie würde niemals zu einer Wahrsagerin außerhalb Chinatowns gehen.

»Wofür sparst du eigentlich das ganze Geld?«, fragte George.

»Fürs College.«

»Warum willst du unbedingt aufs College?«

»Warum lässt du zu, dass Lee Fan dich wie einen Hund behandelt?«, gab Ling zurück, die mit ihrer Geduld am Ende war.

»Das tut sie nicht«, antwortete George trotzig.

Darauf gab Ling nur ein entnervtes »Pffff!« von sich. George und sie waren lange Zeit sehr eng befreundet gewesen. Sie hatte ihn beschützt, als sie beide noch klein waren. Damals, als die Bande Italienerjungen aus der Mulberry Street auf dem Schulweg George immer schikanierte, hatte Ling ihnen weisgemacht, sie sei eine Hexe und würde alle verfluchen, wenn sie ihn nicht in Ruhe ließen – und ob sie ihr das nun abgenommen hatten oder nicht, sie ärgerten ihn danach jedenfalls nicht mehr. George hatte sich dafür bei Ling mit einer der leckeren Mohntaschen aus Gerties Bäckerei in der Ludlow Street bedankt. Lachend hatten sie sich danach die winzigen Mohnkörner zwischen den Zähnen herausgepult. Aber im Laufe des vergangenen Jahres hatte Ling bemerkt, wie George immer launischer und unruhiger wurde, wie er Dingen nachjagte, die er nicht bekommen konnte. Wie er heimlich Lee Fan und ihrem Hofstaat hinterhertrottete, wenn diese im Strand ins Kino gingen oder bei einem Picknick mitmachen, das von irgendeiner Kirchengemeinde veranstaltet wurde. Wie er auf den Rücksitz gequetscht unbedingt an einem Sonntagsausflug in Tom Kees Auto teilnehmen wollte. Immer mit einem Fuß in Chinatown und einem Fuß draußen, nach einem Platz in der Welt suchend, von dem er glaubte, dass er besser sei; nach einem Platz, zu dem Ling jedenfalls nicht gehörte.

»Sie hat dich verändert!«, rief Ling.

»Hat sie nicht! Du hast dich verändert. Früher war es mit dir immer so lustig und jetzt –«

George biss sich auf die Zunge, aber er brauchte den Satz gar nicht zu Ende zu bringen. Ling wusste auch so Bescheid. Sie blickte zur Seite.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich hab es nicht so gemeint.«

»Weiß ich.«

»Ich bin wahrscheinlich einfach nur müde. Ich hab letzte Nacht nicht besonders gut geschlafen.«

Ling sog scharf die Luft ein.

»Nein, nicht die Schlafkrankheit!«, erwiderte George hastig. Er streckte die Hände aus. »Schau: keine Verbrennungen. Keine Blasen.«

»Was war dann der Grund?«

»Ich hatte einen seltsamen Traum.«

»Wahrscheinlich weil du selber seltsam geworden bist.«

»Willst du ihn hören oder nicht?«

»Erzähl!«

»Es war so unglaublich!«, sagte George, immer noch staunend. »Ich war in einer großen Villa, so einer wie sie die Millionäre auf Long Island haben. Nur dass sie mir gehört hat und die Party war meine Party. Ich war reich und ein wichtiger Mann. Die Gäste haben mich voller Respekt angesehen, Ling. Nicht so wie hier jetzt.« Dann fügte er noch schüchtern hinzu. »Und Lee Fan war auch dort.«

»Dann muss es ein Albtraum gewesen sein«, murmelte Ling.

George ging nicht darauf ein. »Es war alles so wirklich. Als hätte man es anfassen und mitnehmen können.«

Ling hielt den Blick auf die Kanten der Gehsteigplatten gerichtet. »Viele Dinge erscheinen einem im Traum ganz wirklich. So lange, bis man aufwacht.«

»Aber das hier war anders. Vielleicht hat es mit dem neuen Jahr zu tun? Vielleicht ist es ein gutes Omen!«

»Woher soll ich das wissen?«

»Weil du dich mit Träumen auskennst!«, rief George. »Du kannst einfach so darin herumspazieren. Ach, komm schon, der Traum muss doch etwas bedeuten!«

Er flehte Ling förmlich an, ihm unbedingt zu bestätigen, ja, so sei es, und in diesem Moment hasste sie George beinahe dafür, dass er so naiv war zu glauben, ein schöner Traum könnte etwas anderes bedeuten als die nächtliche Flucht vor der Wirklichkeit. Zu glauben, wenn man sich etwas über alle Maßen wünschte, dann würde es eines Tages auch wahr werden.

»Ich sag dir, was es bedeutet: Es bedeutet, dass du ein Narr bist, wenn du glaubst, dass Lee Fan auch nur so viel für dich übrighaben wird, sobald Tom Kee wieder aus Chicago zurück ist. Du kannst dich noch so sehr an sie ranschmeißen, sie wird dich niemals erhören, George. Niemals.«

George blieb stocksteif stehen. An seiner Miene konnte sie ablesen, dass ihre Worte ihn verletzt hatten. Dabei hatte sie nicht grausam sein, sondern ihm nur die Wahrheit sagen wollen.

In Georges Augen flackerte es auf. »Wer dich einmal heiratet, ist echt zu bemitleiden, Ling«, sagte er. »Kein Mann will jede Nacht die Toten mit im Bett haben.« Damit ließ er Ling in der Nähe ihres Hauses einfach stehen.

Ling versuchte, es sich nicht zu Herzen zu nehmen. Aber seine Worte sickerten bereits in sie ein. Warum hatte sie George nicht in Ruhe lassen können? Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihn zurückrufen und ihm sagen sollte, dass es ihr leidtat. Aber sie wusste, dass George jetzt zu wütend war, um sich eine Entschuldigung anzuhören. Morgen. Sie würde es ihm morgen sagen. Jetzt hatte sie erst einmal einen Auftrag zu erledigen. Sie betastete die Geldscheine in ihrer Manteltasche. Langsam ging Ling weiter. Sie spürte jede Unebenheit und jede einzelne Gehwegplatte in der Wirbelsäule. Über ihr waren die Fassaden der Häuser mit gelb erleuchteten Fenstern gesprenkelt, die für sie so etwas wie die Sternbilder der Großstadt waren. Andere Fenster waren dunkel. Die Menschen schliefen. Sie schliefen und träumten und hofften, dass sie am nächsten Morgen wieder aufwachen würden.

Und eh du dich versiehst, hast du die Schlafkrankheit.

Es hatte mit einer Gruppe von Tunnelgräbern angefangen, die sich ein Zimmer in der Mott Street als Schlafstätte teilten. Mehrere Tage lang lagen die drei Männer schlafend in ihren Betten. Man hatte es mit Ohrfeigen versucht, sie mit kaltem Wasser übergossen, ihre Fußsohlen gekitzelt. Nichts hatte geholfen. Die Männer wachten einfach nicht auf. Blasen und nässende rote Flecken erschienen überall an ihren Körpern, als würden sie von innen ausgezehrt. Und dann waren sie tot. Die Ärzte waren verwirrt – und verstört. In Chinatown hatte die »Schlafkrankheit« bereits weitere fünf Todesopfer gefordert. Und erst an diesem Vormittag war bekannt geworden, dass im italienischen Teil der Mulberry Street und im jüdischen Viertel zwischen Orchard Street und Ludlow Street ebenfalls neue Fälle aufgetreten waren.

Eine Gruppe fröhlicher junger Mädchen spazierte die Straße entlang, Arm in Arm, lachend und sorglos, was Ling an einen Traum erinnerte, in dem sie vor ein paar Monaten gewandelt war. Dort war sie einem blonden Mädchen begegnet, einem typischen Flapper. Das Mädchen schlief tief und fest, schien aber Lings Anwesenheit zu spüren. Ling fühlte sich zu ihr hingezogen und hatte gleichzeitig Angst, so als wären sie beide Verwandte, die sich seit Langem aus den Augen verloren hatten und nun unverhofft wiedertrafen.

»Du hast hier nichts zu suchen! Wach auf!«, hatte Ling gerufen. Und dann war sie plötzlich im Traum durch den leeren Raum gestürzt, bis sie in einen Wald gelangte, in dem zwischen den Bäumen gespenstische Soldaten ein fahles Licht verströmten. Auf den Ärmeln ihrer Uniformen trugen sie ein seltsames Abzeichen: ein goldenes Sonnenauge mit einem Blitz darunter. Oder war es eine Träne? In ihren Träumen sprach Ling oft mit den Toten, aber diese Männer waren anders als alle Toten, die sie dort jemals angetroffen hatte.

»Was wollt ihr?«, rief sie angsterfüllt.

»Hilf uns«, antworteten sie – und dann explodierte der Himmel zu gleißendem Licht.

Danach hatte Ling noch ein paarmal von diesem Symbol geträumt. Sie wusste nicht, was es bedeutete. Aber sie wusste inzwischen, wer das blonde Mädchen gewesen war. Jeder in New York kannte sie: Miss Evie O’Neill, die Herzblatt-Seherin.

Mit einer Mischung aus Neid und Missgunst blickte Ling den lachenden Partymädchen nach. Dann betrat sie das Mietshaus. In der Wohnung schlich sie auf Zehenspitzen in ihr Zimmer und deponierte Lee Fans Dollarscheine in der Zigarrenkiste, die sie in einer Schublade unter ihrer Unterwäsche versteckt hatte. Sie hatte darin bereits hundertfünfundzwanzig Dollar fürs College gespart, zu denen jetzt zwei weitere hinzukamen.

Im Wohnzimmer war Onkel Eddie in seinem Lieblingssessel eingeschlafen. Auf dem Grammophon drehte sich lautlos eine seiner Schellackplatten mit chinesischer Opernmusik. Ling hob den Tonarm an und legte ihn auf die Gabel zurück. Dann deckte sie ihren Onkel mit einer Decke zu. Ihre Mutter war immer noch auf einem Treffen der Frauen ihrer Kirchengemeinde, wo sie miteinander Quilts nähten, und ihr Vater würde das Restaurant erst in einer Stunde zusperren. Was bedeutete, dass Ling so lange ungestört Radio hören konnte. Bald ertönte das vertraute Knistern des Radioapparats und vertrieb Lings schlechte Laune. Die Stimme des Ansagers drang aus dem Lautsprecher und wurde lauter:

»Guten Abend, verehrte Damen und Herren vor den Radiogeräten zu Hause. Es ist jetzt auf den Glockenschlag genau neun Uhr – Zeit für unsere Stunde mit dem fabelhaften Flapper für Schicksalsfragen, wie immer präsentiert von der Seifenmarke Pears. Darf ich ankündigen: die Herzblatt-Seherin, Miss Evie O’Neill…«

DIE HERZBLATT-SEHERIN

»…Miss Evie O’Neill!«

Der Radiosprecher, ein großer Mann mit schütterem Schnurrbart, ließ sein Manuskript sinken. Hinter der Glasscheibe des Kontrollraums deutete der Tontechniker auf das männliche Gesangsquartett, das jetzt schmachtend in das Mikrofon sang:

»She’s the apple of the Big Apple’s eye.

She’s finer – Diviner – and we know why.

Sie ist die Herzblatt-Seherin von W … G … I…«

»Ja, ausgestattet mit übersinnlichen Fähigkeiten«, übertönte der Sprecher säuselnd das gedämpfte Summen der vier Sänger, »bezeichnet sie sich selbst als Diviner wie die Seher von einst. Dennoch ist sie ein modernes Mädchen durch und durch. Wer konnte ahnen, dass ein solches Talent im Herzen von Manhattan lebt – noch dazu in Gestalt eines traumhaft hübschen, elfenhaften Mädchens?«

»Oh, Evie, won’t you tell us true?

What would fate have us do?

Whether watch or hat or band,

You hold our secrets in your hand.

Revealing mysteries, pulled from the sky!

Du bist die Herzblatt-Seherin von W … G … I.«

Das Orchester machte eine Pause. Mit dem Skript in der Hand trat Evie vor das Mikrofon und zwitscherte hinein: »Hallo allerseits. Sie hören Evie O’Neill, Ihre Herzblatt-Seherin, die für Sie einen Blick in das fantastische Reich des Jenseits werfen und Ihre tiefsten Geheimnisse enthüllen wird. Ich hoffe also, Sie haben heute Abend etwas absolut Skandalöses für mich!«

»Aber Miss O’Neill!«, ereiferte sich der Sprecher.

Das Studiopublikum kicherte, sodass nicht zu hören war, wie Evie und Mr Forman die Seiten ihres Skripts umblätterten.

»Aber, aber, Mr Forman, nur keine Aufregung«, beschwichtigte Evie ihn in beschwingtem Tonfall. »Denn wenn irgendetwas die schmutzigen Folgen eines Skandals bereinigen kann, so ist es Pears-Seife. Weil keine Seife dieser Welt ein Schlamassel besser in den Griff bekommt als Pears!«

»Da sind wir ganz einer Meinung, Miss O’Neill. Wenn Sie Wert auf Ihren Teint legen, meine sehr verehrten Zuhörerinnen und Zuhörer, ist Pears-Seife die einzige Seife, die Sie je…«

»Aber bitte, Mr Forman, wollen Sie etwa die ganze Nacht lang das Wort führen? Oder darf ich unseren großartigen Besuchern hier im Studio jetzt ein wenig weissagen?«, neckte Evie.

Die Studiohörer kicherten, wie abgesprochen, aufs Neue.

»Aber gerne, Miss O’Neill. Begrüßen Sie unseren ersten Gast. Mrs Charles Rutherford, ich glaube, Sie möchten uns an etwas Anteil nehmen lassen?«

»Ja, gerne!« Mrs Rutherford erhob sich von ihrem Platz und strich sich, während sie auf Evie zuging, das Kleid zurecht, obwohl es außer den wenigen Zuschauern in dem kleinen Tonstudio ja niemand sehen konnte. »Ich habe diese Geldscheinklammer hier mitgebracht.«

»Herzlich willkommen, Mrs Rutherford. Wir danken Ihnen, dass Sie zur Pears-Seifenstundemit unserer Herzblatt-Seheringekommen sind – Pears, die Seife mit der optimalen Reinheit für die Haut. Nun, Mrs Rutherford, verraten Sie Miss O’Neill bitte nichts über Ihren persönlichen Gegenstand. Sie wird ihre übersinnlichen Fähigkeiten nutzen, um ihm seine Geheimnisse zu entlocken.«

»Wenn es irgendetwas gibt, das Sie Mr Rutherford bisher verschwiegen haben, sollten Sie es ihn vielleicht jetzt wissen lassen«, scherzte Evie. Eine durchaus freche Eingangsbemerkung, aber das hielt die Hörer bei der Stange.

»Ach du liebe Zeit«, kicherte Mrs Rutherford nervös.

»Und wem gehört die Geldscheinklammer?«, fragte Evie.

Mrs Rutherford errötete. »Die … nun, die … gehört meinem Mann.«

Evie musste kein Diviner sein, um darauf zu kommen. Verheiratete Frauen wollten nahezu immer etwas über ihre Ehemänner erfahren, zum Beispiel, ob sie ihnen untreu waren.

»Nun, Mrs Rutherford, von Frau zu Frau gefragt: Um was geht es denn genau?«

»Tja, wissen Sie, Charles hat in der letzten Zeit so viel zu tun, er war jeden Abend noch lange im Büro und außer ihm nur seine Sekretärin. Und ich … ich habe die Befürchtung, dass…«

Evie nickte mitfühlend. »Nur keine Bange, Mrs Rutherford. Der Sache gehen wir auf den Grund. Wenn Sie den Gegenstand jetzt bitte auf meine rechte Handfläche legen würden. Vielen Dank.«

Mit der Eleganz eines Profizauberers legte Evie ihre linke Hand auf die rechte und drückte auf die Geldscheinklammer dazwischen, damit sie ihr ihre Geheimnisse preisgab.

»Ach je«, sagte Evie, als sie aus ihrer leichten Trance zurückkam.

»Was ist los? Was haben Sie gesehen?«, fragte Mrs Rutherford unruhig.

»Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen soll, Mrs Rutherford«, sagte Evie, um die Spannung bei den Zuhörern zu steigern.

»Bitte, Miss O’Neill, wenn es da etwas gibt, das ich wissen sollte…«

»Nun ja…« Evies Stimme klang ernst. »Sie wissen schon, die Gegenstände lügen nie.«

Unter den Studiogästen griff erwartungsvolles Gemurmel um sich. Ich hab sie!, dachte Evie.

Sie senkte den Kopf wie eine Ärztin, die eine schlimme Nachricht zu überbringen hat. »Ihr Ehemann und seine Sekretärin … die beiden stecken wirklich unter einer Decke…« Evie hielt den Kopf weiter gesenkt, zählte stillschweigend bis drei, dann sah sie mit einem triumphierenden Grinsen auf. »Um Ihre Geburtstagsparty vorzubereiten!«

Das Studiopublikum reagierte mit erleichtertem Gelächter und donnerndem Applaus.

»Leider ist es nun keine Überraschung mehr«, sagte Evie. »Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie sich wie ein nichts ahnendes, dummes Gänschen verhalten werden. Und das gilt übrigens für alle, die hier zuhören.«

»Oh, danke! Vielen Dank, Miss O’Neill!«

Mrs Rutherford wurde zu ihrem Platz zurückbegleitet und der Sprecher trat wieder vor sein Mikrofon. »Und jetzt bitte ich um einen herzlichen Applaus für die mutige Mrs Rutherford.«

Als der Beifall abgeebbt war, begrüßte Evie ihren zweiten Gast. Sie teilte ihm mit, an welcher Stelle des Hauses sein Großvater alte Kriegsanleihen versteckt hatte, und er setzte sich unter höflichem Applaus auf seinen Platz. Evie wartete ab, bis die Sänger ihren Pears-Seifen-Song geträllert hatten, und trat dann wieder ans Mikrofon. Ihre Augen brannten vom grellen Licht der Studioscheinwerfer. Aber sie lächelte. Denn obwohl die Zuhörer zu Hause sie nicht sehen konnten, wusste sie aus ihrem täglichen Sprechunterricht, dass sich ein Lächeln sehr wohl über Funk übertrug, und so lächelte sie umso strahlender.

»Ladies und Gentlemen, nach meiner Sendung genieße ich nichts mehr, als mich bei einem schönen heißen Bad zu entspannen. Aber wenn ich bade, bin ich nicht allein.«

»Sie sind nicht allein?«, fragte der Sprecher in schockiertem Ton.

»Oh nein! Ich habe Gesellschaft in meiner Badewanne.«

»Aber Miss O’Neill!«

»Um Himmels willen, Mr Forman! Selbstverständlich spreche ich von Pears-Seife! Pears sorgt dafür, dass junge Haut weich und gepflegt bleibt, auch wenn die Winterwinde wie eine Jazzband heulen. Ja, Pears-Seife ist so rein, dass selbst ich kein Geheimnis in ihr entdecken kann.«

»Das nenne ich wahrhaft rein! Kaufen Sie Pears – die moderne Wahl für Sie und Ihre Lieben. Nun, Miss O’Neill, können Sie denn unseren verehrten Zuhörern zu Hause noch sagen, was Sie für den verbleibenden Abend vorhersehen, bevor wir ihnen eine gute Nacht wünschen?«

»Mit Vergnügen.« Evie Stimme nahm jetzt einen abwesenden Tonfall an. »Ja … ich kann in die Zukunft blicken und sehe« – wieder zählte sie bis drei, um die Spannung zu erhöhen –, »dass Sie hier auf WGI noch einen grandiosen Abend vor sich haben, also bleiben Sie dran! Hier ist Evie O’Neill, Amerikas Herzblatt-Seherin, die sich bei Ihnen bedankt, Gute Nacht sagt und Ihnen wünscht, dass Sie nur angenehme Geheimnisse mit sich tragen!«

***

Als Evie den langen Art-déco-Flur des Radiosenders hinunterging, riefen ihr die Mitarbeiter von allen Seiten Glückwünsche zu: »Bombige Sendung, Evie!« – »Mensch, das war grandios!« – »Du bist ’ne Wucht, Mädchen!«

Evie genoss das Lob wie einen Champagnercocktail. Im Vorraum eines großzügigen, holzverkleideten Büros mit glänzendem schwarz-weißen Marmorboden blieb sie kurz stehen. Hinter einem Mahagonischreibtisch saß eine Sekretärin und winkte ihr zu.

»Großartige Sendung, Evie!«

»Danke, Kaye!«, sagte Evie mit stolzgeschwellter Brust.

In ihrer Sendung hielt sie sich lediglich an zwei Regeln. Erstens ging sie nie zu tief in die Trance hinein. So konnte sie ihre Kopfschmerzen einigermaßen kontrollieren. Zweitens überbrachte sie keine schlechten Nachrichten. Evie erzählte den Besitzern der Gegenstände nur das, was sie hören wollten. Die Leute wollten unterhalten werden, ja, aber vor allem wollten sie Hoffnung: Sagen Sie mir, dass er mich immer noch liebt. Sagen Sie mir, dass ich kein Versager bin. Sagen Sie mir, dass ich mich meiner verstorbenen Mutter gegenüber anständig verhalten habe, obwohl ich sie nie besucht habe, auch nicht, als sie im Sterben lag und nach mir rief. Sagen Sie mir, dass alles gut wird.

»Wunderbar, wie Sie die Nummer mit der Geldscheinklammer hinbekommen haben«, fuhr die Sekretärin fort. »Da habe ich ja schon etwas mit dieser Mrs Rutherford gezittert.«

Evie reckte den Hals, um einen Blick an der Sekretärin vorbei in das Büro dahinter zu werfen, aber die blank polierte, goldene Tür war verschlossen. »Hat es … hat es Mr Phillips auch gefallen?«

Die Sekretärin lächelte ihr mitfühlend zu. »Ach, Süße, Sie kennen doch den großen Zampano: Er zeigt sich nur bei den ganz großen Namen. Oh!«, sagte sie, als sie ihren Fauxpas bemerkte. »Du meine Güte, so hab ich’s nicht gemeint, Evie. Ihre Sendung ist sehr populär.«

Aber eben nicht populär genug, um die volle Beachtung des Eigentümers von WGI zu finden. Evie versuchte, nicht länger darüber nachzudenken, nahm ihren neuen Waschbärmantel und den Glockenhut aus grauer Wolle von der Garderobenfrau entgegen und ging zum Vordereingang, wo schon eine kleine, aber enthusiastische Schar im nieseligen Januarregen auf sie wartete. Als sie die Tür öffnete, drängten sie mit ihren Schirmen, die wie große schwarze Blütenblätter einer sich dem Licht entgegenreckenden Blume wirkten, auf sie zu.

»Miss O’Neill! Miss O’Neill!«

Die Leute winkten ihr mit Zetteln und Poesiealben zu und sie signierte alles mit überschwänglicher Geste, bevor sie eilig die Zufahrt zu einem wartenden Taxi hinunterlief.

»Wohin soll’s denn gehen, Miss?«, fragte der Taxifahrer.

»Zum Grant Hotel, bitte.«

Regen prasselte herab; die Scheibenwischer des Taxis wischten im regelmäßigen Takt eines unsichtbaren Metronoms über die beschlagene Windschutzscheibe. Evie starrte durch das Seitenfenster auf das nächtliche Bild von Rauch, Nebel, Schnee und Neonlicht des Theaterviertels von Manhattan. Ein mit Glühbirnen eingefasstes Theaterplakat zeigte einen Mann in Smoking und Turban, der seine Hände wie ein Wahrsager ausstreckte und kraft seines Zaubers anmutige Chormädchen tanzen ließ. Darüber stand: DEMNÄCHST IN DIESEM THEATER – DIE ZIEGFELD FOLLIES IM DIVINER-FIEBER! EINE MAGISCHE MUSIKREVUE!

Diviner waren in aller Munde und wurden immer populärer, aber kein Diviner war so gefragt wie Evie O’Neill. Wenn nur James sie so sehen könnte. Reflexartig fasste Evie an die Stelle an ihrem Hals, wo vor nicht allzu langer Zeit noch ein Anhänger in Form einer Halbdollarmünze hing, den ihr Bruder ihr geschenkt hatte.

Als das sich durch den Verkehr schlängelnde Taxi einen Moment lang vor einer roten Ampel hielt, ragte plötzlich eine Werbetafel über ihnen auf. Auf ihr war die Silhouette von Mr Marlowe höchstpersönlich abgebildet, der mit dem Arm in eine nebulöse Zukunft wies, die lediglich durch einige Sonnenstrahlen angedeutet wurde. Marlowe Industries. Die Zukunft Amerikas.

»Er kommt bald in die Stadt, wissen Sie«, sagte der Taxifahrer.

Evie rieb sich die Schläfen, um ihre Kopfschmerzen in Schach zu halten. »Wer?«

»Mr Marlowe.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Doch, doch. Er macht in Queens draußen den ersten Spatenstich für diese Dingsda … diese Ausstellung, die er da plant. Der Verkehr wird an dem Tag mörderisch sein. Ich sag Ihnen, der hat unser Leben schon jetzt gewaltig verbessert – mit seinen Automobilen, den Flugzeugen, der Medizin und was weiß ich noch alles. Das ist mal ein richtiger Vorzeige-Amerikaner.«

Der Taxifahrer räusperte sich. »Sagen Sie mal, äh … sind Sie nicht die Herzblatt-Seherin?«

Evie straffte sich, hocherfreut darüber, dass man sie erkannt hatte. »Erwischt.«

»Hab ich’s mir doch gedacht! Meine Frau is ja ganz hin und weg von Ihrer Radiosendung! Wenn ich ihr erzähle, dass ich Sie gefahren habe. Die kriegt sich nicht mehr ein!«

»Jesus Maria, hoffentlich doch.«

Die Ampel schaltete auf Grün und das Taxi bog von dem verkehrsreichen Broadway auf die schmalere 47th Street und folgte ihr in Richtung Beekman Place und Grant Hotel.

»Sie sind doch die junge Dame, die der Polizei dabei geholfen hat, den Pentakelmörder zu fassen.« Der Taxifahrer pfiff durch die Zähne. »Wie der all die Leute abgeschlachtet hat. Dem armen Mädel hat er die Augen genommen. Diesen jungen Burschen hat er mit rausgeschnittener Zunge im Trinity Cemetery aufgeknüpft. Dem Revuemädel hat er die Haut abgezogen und…«

»Ja, ja, ich erinnere mich«, unterbrach Evie ihn und hoffte, er würde den Hinweis verstehen.

»Was für ein Mensch muss einer sein, der so was tut? Wo soll es mit dieser Welt noch enden?« Der Taxifahrer schüttelte den Kopf. »Die Fremden, die hierherkommen, machen den ganzen Ärger. Schleppen Krankheiten ein. Ham Sie gehört, dass jetzt so ’ne Schlafkrankheit grassiert? Zehn Fälle ham wir schon und täglich kommen neue dazu. Soll wohl in Chinatown als Erstes aufgetreten sein und sich dann auf die Italiener und die Juden übertragen haben.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Ausländer. Ausrotten sollte man die, allesamt, wenn Sie mich fragen.«

Ich frage dich aber nicht, dachte Evie.

»Gibt Gerüchte, dass dieser Mörder – dieser John Hobbes – gar kein Mensch war. Sondern so ’ne Art Geist.« Der Taxifahrer suchte im Rückspiegel Evies Blick, um darin Zustimmung oder Ablehnung zu finden.

Evie fragte sich, was der Taxifahrer wohl sagen würde, wenn sie ihm die Wahrheit erzählte – dass John Hobbes mit größter Wahrscheinlichkeit nicht von dieser Welt war. Er war böser als jeder vorstellbare Dämon, und sie war nur knapp mit dem Leben davongekommen.

Evie wandte den Blick ab. »Die Leute reden viel, nicht wahr? Oh, sehen Sie mal, da sind wir ja schon!«

Der Fahrer hielt vor der monumentalen Pracht des Grant. Durch das Taxifenster sah Evie eine Schar Reporter, die sich auf der Treppe des Hotels drängelten, rauchten und den neuesten Klatsch und Tratsch austauschten. Als sie aus dem Taxi stieg, ließen sie nicht nur eiligst ihre Zigaretten fallen, sondern auch jegliches Interesse am aktuellen Tagesgeschwätz, drängten auf sie zu, um sie zu begrüßen, und riefen wild durcheinander: »Miss O’Neill! Miss O’Neill! Evie, seien Sie ein Schatz und schauen Sie in diese Richtung!«

Evie kam ihrer Bitte nach und stellte sich lächelnd in Pose.

»Wie war Ihre Sendung heute Abend, Miss O’Neill?«, fragte einer von ihnen.

»Sagen Sie es mir!«

»Irgendwas Spannendes herausgefunden?«

»Oh, jede Menge. Aber eine Dame schweigt und genießt – es sei denn im Radio und für Geld«, sagte Evie, was allgemeines Gelächter auslöste.

Einer der schmunzelnden Reporter, der an der Seitenwand des Hotels lehnte, rief Evie zu: »Was halten Sie davon, dass plötzlich lauter Diviner auftauchen, nachdem Sie das Geheimnis Ihres eigenen Talents gelüftet haben?«

Evie lächelte etwas angespannt. »Ich finde es großartig, Mr Woodhouse.«

T.S.Woodhouse hob eine Augenbraue. »Tatsächlich?«

Evie fixierte ihn mit ihrem Blick. »Aber sicher doch. Vielleicht machen wir alle zusammen einen neuen Nachtclub auf – die Hokuspokus-Tanzbar. Wenn Sie sich gut benehmen, lassen wir Sie vielleicht auch rein.«

»Vielleicht gründen Sie sogar Ihre eigene Gewerkschaft«, scherzte ein anderer Reporter.

»Manche Leute sind ja der Meinung, Diviner sind nichts anderes als Zirkus-Freaks. Gefährlich. Unamerikanisch«, setzte ihr T.S.Woodhouse weiter zu.

»Ich bin ebenso amerikanisch wie Apple Pie und Korruption«, sagte Evie gurrend, was ihr noch mehr Lacher einbrachte.

»Ich liebe diese Sheba«, murmelte der zweite Reporter und machte sich eilig ein paar Notizen. »Macht mir den Job leicht.«

Woodhouse gab nicht auf. »Sarah Snow, die ja wie Sie eine eigene Sendung im Radio hat, hat die Diviner als ›das Symptom einer Nation‹ bezeichnet, ›die sich von Gott und allen amerikanischen Werten abgewandt hat‹. Was sagen Sie dazu, Miss O’Neill?«

Sarah Snow. Diese armselige, prüde Nervensäge, die auf die Diviner im Allgemeinen und auf Evie im Besonderen herabsah. Dieser billigen Bibelverfechterin würde sie zu gern mal einen Tritt in den Hintern versetzen. Aber diese Art von öffentlicher Aufmerksamkeit hatte Evie nicht nötig. Und sie würde auch Sarah Snow nicht dazu verhelfen, indem sie einen Krieg mit ihr anzettelte.

»Ach, Sarah Snow hat eine eigene Sendung? Hab ich gar nicht mitbekommen«, sagte Evie augenzwinkernd. »Und wenn ich darüber nachdenke, auch sonst niemand.«

Als Evie die Hoteltreppe hinaufeilte, pirschte sich T.S.Woodhouse an sie heran. »Jetzt sind Sie mich aber gerade ein bisschen hart angegangen, Woody«, sagte Evie leicht verschnupft.

»Macht die Sache doch interessanter, Sheba. Und verhindert außerdem, dass jemand hinter unser kleines Arrangement kommt. Wo wir schon davon sprechen, meine Brieftasche fühlt sich gerade ein bisschen leicht an, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Mit einem vorsichtigen Blick auf die anderen Reporter schob Evie Woodhouse einen Dollar zu. Woodhouse hielt den Schein gegens Licht.

»Ich will nur sichergehen, dass Sie nicht schon Ihr eigenes Geld drucken«, sagte er. Zufrieden steckte er den Schein in seine Hosentasche und tippte grüßend an seinen Hut. »Ist mir ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen, Herzblatt-Seherin.«

»Seien Sie ein braver Junge und setzen Sie was Bombiges über mich in die Zeitung, ja?«, entgegnete Evie.

Mit einem Winken über die Schulter ließ sie sich vom Hotelpagen die vergoldete Eingangstür öffnen, während die Reporter noch immer ihren Namen riefen.

UND WIR SIND VORNE MIT DABEI

Im Foyer des Grant Hotel herrschte Partytrubel. Partygänger verschiedenster Couleur – Flapper, Tänzer und Tänzerinnen, Goldgräber, Jungs von der Wall Street und aufstrebende Filmsternchen – drapierten sich malerisch auf jedem verfügbaren Millimeter des Mobiliars, während verdutzte Hotelgäste sich fragten, ob sie versehentlich in einen Wanderzirkus geraten waren. Auf der anderen Seite des Foyers stand der erboste Hotelmanager und gestikulierte wild in der Luft herum, um Evie auf sich aufmerksam zu machen.

»Bockmist!«, zischte Evie, drehte in die entgegengesetzte Richtung ab und drängte sich durch die Feiernden in Richtung Overland Room, wo sie Henry und Theta in einer Ecke sitzen sah. Während sie sich seitlich durch die Crème de la Crème und an einem Akkordeonspieler mit traurigen Augen vorbeischob, der etwas Melancholisches auf Italienisch sang, drehten sich die Leute nach ihr um und drängten näher an sie heran.

»Hören Sie, ich muss mit Ihnen reden, Süße«, säuselte ein gut aussehender Junge mit Cowboyhut. »Ich habe da nämlich eine Beteiligung bei einer Ölspekulation in Oklahoma und will wissen, ob sie sich auch lohnt.«

»In die Zukunft kann ich nicht sehen, nur in die Vergangenheit«, wandte Evie ein und schob sich weiter vorwärts.

»Evie, DAAAARLING!«, flötete eine Rothaarige, die ein langes, mit Pfauenfedern besetztes Silbercape trug. Evie hatte die Frau noch nie im Leben gesehen. »Wir müssen uns UNBEDINGT miteinander unterhalten! Es ist wirklich dringend, mein Täubchen.«

»Na, dann will ich doch mal gleich meine Laufschuhe anziehen«, rief Evie ihr im Vorbeigehen zu und stieß im selben Moment mit jemandem zusammen. »Verzeihung, ich…« Evie kniff die Augen zusammen. »Sam Lloyd.«

»Hallöchen, Baby Vamp«, sagte er und setzte sein allzeit abrufbares Lächeln auf. »Fehl ich dir?«

Evie stemmt die Hände in die Hüften. »Was für ein Verbrechen habe ich nur begangen, dass ausgerechnet du vor meinen Füßen landest?«

»Glück gehabt, würde ich sagen.« Er stibitzte sich ein Kanapee von einem Tablett, das einer der Kellner gerade vorbeitrug, schob es sich in den Mund, verdrehte entzückt die Augen und sagte: »Kaviar! Junge, Junge, was liebe ich Kaviar.«

Evie versuchte, um Sam herumzugehen, aber er drehte sich mit ihr.

»Würdest du mir bitte aus dem Weg gehen?«, sagte sie.

»Ach, Süße. Bist du immer noch beleidigt, weil ich der Daily News verraten habe, dass meine Detektivarbeit dir dabei geholfen hat, den Pentakelmörder zu fassen? Und dass du nicht mehr ins Gruselkabinett kommst, weil du sooo verrückt nach mir bist, dass du dich von mir fernhalten musst?«

»Ja, Sam. Ich bin beleidigt.«

Sam breitete entschuldigend die Arme aus. »Aber das war doch nur eine wohltätige Handlung!«

Evie hob eine Augenbraue.

»Das Museum brauchte dringend Reklame und diese Story hat ein bisschen Wirbel gemacht. Hat mir außerdem zu einem Rendezvous mit einer Revuetänzerin verholfen. Einer Blondine namens Sylvia. Du glaubst nicht, was dieses Mädchen alles mit einem….«

»Wiedersehen, Sam.« Evie versuchte, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, blieb aber im Gedränge stecken. Sam kam ihr nach.

»Ach, komm schon, Süße. Lass doch die Vergangenheit Vergangenheit sein. Bin ich vielleicht wütend geworden, als du verbreitet hast, dass ich ein … wie hast du’s noch mal ausgedrückt?«

»Ein Lügner, ein Betrüger und die Art Abschaum bist, vor dem die anderen Schleimschichten auf dem Teich am liebsten davonschwimmen würden?«

»Das war’s, genau. Prima, dich wiederzusehen, Sheba. Sag mal, warum suchen wir uns nicht ein ruhiges Eckchen und erzählen uns bei einem Sloe Gin Fizz, was inzwischen so alles passiert ist?«

»Heiliger Strohsack!« Evie riss die Augen auf und zeigte quer durch den Raum. »Ist das da drüben nicht Buster Keaton?«

Sam fuhr herum. »Wo?«

Evie duckte sich an ihm vorbei und drängte sich durch die Menge. Sie hörte, wie Sam ihr nachrief: »War das etwa nett von dir?«

Endlich schaffte sie es, sich in einen Sessel neben Theta fallen zu lassen. Die stieß gerade Rauch aus einer Zigarette aus, die in einer langen Zigarettenspitze aus Ebenholz steckte. »Na, wenn das nicht die Herzblatt-Seherin höchstpersönlich ist. War das eben Sam?«, fragte sie.

»Ja. Jedes Mal, wenn er mir begegnet, muss ich mir in Erinnerung rufen, dass Mord ein Verbrechen ist.«

»Ich weiß ja nicht, Evil. Er sieht doch gut aus, oder?«, frotzelte Henry.

Evie warf ihm einen finsteren Blick zu. »Er macht nichts als Ärger. Und die zwanzig Dollar schuldet er mir auch immer noch.«

»Sag mal«, begann Henry, »wie war eigentlich die Party letzte Woche im Egyptian Palace Room? Haben die da im Foyer wirklich lebende Robben im Springbrunnen?«

»Zeitweilig. Wenn die Gäste sie nicht gerade für ihre eigenen Badewannen mitgehen lassen. Oh, Daaahlings, wenn die mal wieder eine Party geben, müsst ihr unbedingt kommen!«

»Daaahlings, ihr müüüüst kommmm«, äffte Theta sie nach. »Dein Sprechunterricht verwandelt dich langsam in eine regelrechte Prinzessin, Evil.«

Evie reagierte gereizt. »Na ja, im Radio kann ich ja wohl kaum wie eine Landpomeranze aus Ohio klingen.«

»Werd nicht gleich sauer, Evil. Ich würde dich auch noch mögen, wenn du ein ganzes Netz Murmeln im Mund hättest. Nur vergiss nicht, wer deine Freunde sind.«

Evie legte ihre Hand auf Thetas. »Nie und nimmer.«

Plötzlich war ein lautes Krachen zu hören, weil ein Affe, der eine Leine hinter sich herschleifte, eine Vase von einem Tisch herunterstieß. Er machte einen Satz auf die Glatze eines sehr überraschten Mannes und sprang von dort auf eine Vorhangstange, an die er sich laut kreischend klammerte. Ein Mädchen mit flauschiger Federboa sprach beschwichtigend auf das Tier ein, aber der Affe hielt sich weiter an der Stange fest und schrie und fauchte die Leute an.

»Wo kommen die denn her?«, fragte Henry.

Evie sah zur Decke und versuchte sich zu erinnern. »Ich glaube, sie sind mit einem Zirkus aus Budapest hier. Ich habe sie auf dem Times Square gesehen und zur Party eingeladen. Aber sagt mal, habt ihr auch gehört, was Sarah Snow über Diviner von sich gegeben hat?«

»Wer ist denn Sarah Snow?«, fragte Theta und stieß einen Schwall Rauch aus.

»Genau das ist der Punkt«, sagte Evie triumphierend. »Wie auch immer, jedenfalls hat sie behauptet, Diviner seien unamerikanisch.«

»Darüber würde ich mir mal keine Gedanken machen, Darling«, sagte Henry. »Im Moment hast du andere Probleme.«

»Was meinst du?«

Henry deutete mit dem Kopf in Richtung des Hoteldirektors, der mit finsterer Miene und entschlossenen Schrittes auf ihren Tisch zukam.

Eiligst schob Evie den Flachmann unter ihr Strumpfband. »Schei…benkleister. Hier kommt Mr Miesmacher.«

»Miss O’Neill! Was geht hier vor sich?«, donnerte der Hoteldirektor.

Evie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Lieben Sie Partys nicht auch über alles?«

Die Lippen des Direktors zuckten. »Miss O’Neill, was ich als Direktor dieses Hotels liebe – nein, verlange –, ist, dass dieser nächtliche Tumult sofort aufhört. Sie haben eine angesehene New Yorker Institution zum Gespött der Leute gemacht. Inzwischen kampieren Nacht für Nacht Reporter draußen vor unserem Grundstück und lauern darauf, welcher Wahnsinn wohl als Nächstes ausbricht…«

»Ist das denn nicht faaaabelhaft?« Evie zog das Wort genüsslich in die Länge. »Bedenken Sie nur, welch öffentliche Aufmerksamkeit das Hotel bekommt – und auch noch umsonst.«

»Diese Art von Aufmerksamkeit hat das Grant nicht nötig, Miss O’Neill. Ihr Verhalten ist untragbar. Die Party hier im Overland Room genau wie die im Foyer ist auf der Stelle zu Ende. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Evie furchte sorgenvoll die Stirn und nickte. »Vollkommen.« Sie schob zwei Finger zwischen ihre Zähne und gab einen durchdringenden Pfiff von sich. »Meine Süßen, die Party im Foyer ist leider absolut tödlich. Wir können hier nicht länger feiern.«

Der Hoteldirektor nickte kurz zustimmend.

»Und deshalb gehen wir alle jetzt nach oben in mein Zimmer!«, rief Evie, und schon begann der Massenaufbruch. Das ungarische Mädchen mit der Federboa drückte dem unglücklichen Direktor, der wie gelähmt zusah, wie die Partybesucher in die Aufzüge und das Treppenhaus ausschwärmten, die Affenleine in die Hand.

»Du legst es mal wieder auf einen Rausschmiss an, was, Evil«, sagte Theta, als sie die glänzende Holztreppe hinaufliefen. »Das wievielte Hotel ist es, das zweite?«

»Das dritte, aber wer zählt da schon mit? Außerdem werden sie mich hier nicht rauswerfen. Hier liebt man mich!«

Theta warf einen Blick zurück auf den Hoteldirektor im Foyer. Er schrie gerade einen Hotelpagen an, der sich damit abmühte, dem kreischenden Tier mit einem Besen beizukommen, während eine Telefonistin verzweifelt ihre Kabel umsteckte, um jemanden zu erreichen, der in der Lage dazu war, einen Affen aus dem Grant zu entfernen.

Theta schüttelte den Kopf. »Den Blick kenne ich, Süße. Liebe sieht anders aus.«

Evies Hotelzimmer war so voller Menschen, dass sie die Türe einfach offen stehen ließen und die Leute auf die mit Damast tapezierten Flure der zweiten Etage des Grant hinausströmten. Evie, Theta und Henry suchten im Bad in der auf Krallenfüßen stehenden Badewanne Zuflucht. Sie lehnten sich mit dem Rücken gegen die Wand und legten die Beine über den Rand der Wanne. Im Zimmer nebenan setzte der Akkordeonspieler zu derselben melancholischen Melodie an, die er zuvor schon zweimal gespielt hatte.

»Nein, nicht schon wieder!«, brummte Evie und nahm einen Schluck aus ihrem Flachmann. »Wir sollten ihn dazu kriegen, einen deiner Songs zu spielen, Henry. Du solltest fürs Akkordeon komponieren. Eine komplette Akkordeonrevue – das wäre eine Sensation.«

»Meine Güte, warum ist mir das nicht längst eingefallen? Henry DuBois’ Akkordeon Follies! Alles über die Liebe…«, sagte Henry seufzend. »Fast so übel wie ein Herbert-Allen-Song.«

»Herbert Allen! Den hab ich schon öfter im Radio gehört!«, sagte Evie. »Mir gefällt dieser Song hier: ›I love your hair / I love your nose / I love you from your head to toes, My daaaaarling girl!‹ Oder der: ›Daaaarling, you’re top banana / Baaaby, you’re my peaches and cream / Orange you gonna be my Sherbet…‹«

»Um Himmels willen, Evie, hör bitte auf damit«, stöhnte Henry und hielt sich die Ohren zu.

Theta goss den Rest aus ihrem Flachmann in Henrys Glas. »Herbert schafft es immer wieder, seine miesen Songs an Henry vorbei in der Revue unterzubringen. Nur weil er schon was veröffentlicht hat«, erklärte sie. »Es ist aber immer derselbe Song. Immer ein und derselbe grässliche Song.«

Evie überlegte und sagte: »Meine Güte, ja, jetzt wo du es sagst, finde ich auch, dass sie alle mehr oder weniger gleich klingen.«

»Jedes Mal, wenn ich Wally etwas vorspiele, schafft Herbert es irgendwie, mich zu sabotieren«, sagte Henry. Er griff wieder nach seinem Glas. »Wenn Herbie Allen morgen von einem Lastwagen fallen würde, ich würde keine Träne um ihn weinen, das sage ich dir.«

»Na schön, dann hassen wir Herbert Allen eben«, sagte Evie. »Ich bin sicher, was immer du komponierst, Hen, es wird traumhaft schön sein. Und dann singen wir deine Songs in den Badezimmern der Hotels.«

Theta musterte Evie durch den Dunst ihrer Zigarette. »Jericho hat sich nach dir erkundigt.«

»Ach ja? Und wie geht’s dem guten alten Jericho?« Evie bemühte sich, gleichmütig zu klingen, obwohl ihr Herz zu rasen anfing.

»Er ist immer noch groß. Und blond. Und ernst«, sagte Theta. »Und wenn ich’s nicht besser wüsste, könnte ich schwören, dass dieser lange Lulatsch völlig vernarrt in dich ist. Und du in ihn.«

»Du weißt es aber nicht besser!«, murmelte Evie leise vor sich hin. »Du hast keine Ahnung.«

»Du kannst das Bennington doch nicht ewig meiden, Evie.«

»Das kann ich sehr wohl! Darf ich dich daran erinnern, dass Onkel Will mich dazu verpflichten wollte, mein Talent hinter Schloss und Riegel zu halten? Hätte ich auf ihn gehört, gäbe es das hier alles nicht«, sagte sie. Sie machte eine ausladende Armbewegung und hätte Henry dabei beinahe das Glas aus der Hand geschlagen.

»Wir sitzen in einer Badewanne, Evie«, sagte Theta.

»Aber in einer riesigen.« Evie nahm einen weiteren Schluck Gin. Ein leichter Rausch linderte allmählich das Kopfweh, das sich jedes Mal einstellte, wenn sie einem Gegenstand das Geheimnis seines Besitzers entlockt hatte, und sie wollte, dass es so blieb. »Jetzt mach mir doch bitte keine schlechte Laune! Das hier ist eine Party. Erzähl mir was Schönes.«

»Flo beruft nächste Woche eine Pressekonferenz ein, um unsere neue Revue anzukündigen, und ich darf mein erstes Interview geben: als Theta St.Petersburg, die während der Russischen Revolution von treu ergebenen Dienern außer Landes geschmuggelt und nach Amerika gebracht wurde«, sagte Theta mit übertrieben russischem Akzent. Sie lachte spöttisch. »Was für ein Nonsens. Und diese Nummer soll ich den Schakalen von der Klatschpresse verkaufen.«

»Sie müssen erst mal das Gegenteil beweisen. Du könntest durchaus eine russische Aristokratin sein. Stimmt’s, Henry?«

»Stimmt«, sagte Henry. Er starrte auf sein Glas.

Evie warf Henry einen Blick zu. Diese ernste Miene war gar nicht seine Art. »Henry, du bist so still heute Abend.« Sie schob ihr Gesicht vor seins. »Liegt es daran, dass du Künstler bist? Sind Künstler so? Hocken sie still und traurig in Party-Badewannen?«

»Normalerweise baden wir in Badewannen.«

»Du bist aber traurig. Ist es wegen Herbert Sherbert?«

Henry setzte ein Lächeln auf. »Nur müde.«

Ein Mädchen und ihr Begleiter wankten ins Badezimmer. »Wann sind diese Räume wieder verfügbar?«, lallte das Mädchen. Ihr Begleiter stützte sie. »Ich würde gerne eine Re-scher-vie-rung machen.«

»Leider ist dieses Separee bis auf unbestimmte Zeit ausgebucht«, sagte Henry und neigte entschuldigend den Kopf.

Das Mädchen starrte Henry aus Make-up-verschmierten Augen an. »Wie?«

»Verschwinde!«, herrschte Theta sie an.

Das Mädel zog den verrutschten Träger ihres Kleids mit so viel Würde, wie sie aufbringen konnte, hoch. »Ich werde mich bei dem Direktor dieses Hotels über Sie beschweren«, entgegnete sie und schlug die Tür hinter sich zu.

»Ich denke, das ist mein Stichwort«, sagte Henry. Er stemmte sich aus der Badewanne. »Danke für diese grandiose Party, Evie.«

»Oh Henry. Du verlässt uns doch nicht etwa schon, oder?«

»Verzeih’s mir, Darlin’. Ich habe einen dringenden Termin. Mit meinem Schlaf.«

»Henry«, sagte Theta. In ihrer Stimme schwang eine leise Warnung mit. »Aber nicht wieder so lang.«

»Sei unbesorgt.«

»Besorgt? Worüber?« Evie blickte von Henry zu Theta und wieder zurück.

»Was auch immer«, sagte Henry und deutete eine kleine höfische Verbeugung an. »Ladys, ich sehe euch in meinen Träumen wieder.«

»Was hatte das denn zu bedeuten?«, fragte Evie, nachdem Henry gegangen war.

»Ach nichts«, antwortete Theta.

»Oh, oh. Die Miene kenne ich doch. Und es ist nicht Thetas Gute-Laune-Miene«, sagte Evie und richtete sich so ruckartig auf, dass sie ihren Drink über ihrem Kleid verschüttete. Theta nahm ihr den Flachmann ab.