The Knight and the Moth - Rachel Gillig - E-Book
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The Knight and the Moth E-Book

Rachel Gillig

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Beschreibung

»Du könntest mich verhöhnen, Sybil Delling. Mich niederwerfen, bis ich Staub bin. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, aber ich will es. Ich will dich.«

Schon seit neun Jahren dient Sybil Delling zusammen mit ihren Schwestern in der Kathedrale von Aisling als Weissagerin. Doch als eines Tages der geheimnisvolle Ritter Rodrick Myndacious nach Aisling kommt, ändert sich ihr Leben schlagartig. Obwohl der attraktive Rory ihr bei jeder Begegnung zeigt, dass er nicht an Sybils Visionen glaubt, sagt sie auch sein Schicksal vorher - und sieht dort ein mysteriöses Omen, das sie nicht zu deuten weiß. Sybils düstere Vorahnung scheint sich zu bewahrheiten, als ihre Schwestern nach und nach verschwinden. In ihrer Verzweiflung kann sie sich nur an Rory wenden, denn Sybil spürt, dass sie allein mithilfe dieses unverschämten Ketzers die Götter herausfordern kann, die ihr eigenes Schicksal so lange bestimmt haben.

»Macht euch bereit für eure nächste Obsession! THE KNIGHT AND THE MOTH ist eines der besten Bücher, das ich in diesem Jahr gelesen habe.« REBECCA ROSS

Der Auftakt der neuen düster-romantischen Dilogie von TIKTOK-Star Rachel Gillig

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Seitenzahl: 598

Veröffentlichungsjahr: 2025

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INHALT

Titel

Über das Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Aisling-Kathedrale

1

2

3

4

Coulsons Markt

5

6

7

8

9

Die Seacht

10

11

12

13

14

Die Glühenden Gipfel

15

16

17

18

19

20

Der Klingende Wald

21

22

23

24

25

Die Klippen von Bellidine

26

27

28

29

Zurück in der Aisling-Kathedrale

30

31

Danksagung

Die Bücher von Rachel Gillig bei LYX

Die Autorin

Impressum

RACHEL GILLIG

The Knight and the Moth

Roman

Ins Deutsche übertragen von Sabrina Železný

ÜBER DAS BUCH

Seit neun Jahren dient Sybil Delling gemeinsam mit anderen Findelkindern in der Kathedrale von Aisling als Weissagerin. In ihren Träumen empfängt sie Zeichen der sechs Omen, die wie Götter verehrt werden. Damit sagt sie den Menschen ihre Zukunft voraus. Als eines Tages der neue König mit seinen Rittern ihre Dienste in Anspruch nehmen will, befindet sich in dessen Gefolge auch der geheimnisvolle Rodrick Myndacious. Rory ist grimmig und attraktiv, doch er lässt Sybil bei jeder Begegnung deutlich spüren, dass er nicht an ihre Visionen glaubt. Trotz seiner Unverschämtheiten sagt sie auch sein Schicksal vorher – und sieht dort ein mysteriöses Omen, das sie nicht zu deuten weiß. Sybils düstere Vorahnung scheint sich zu bewahrheiten, als ihre Schwestern nach und nach verschwinden. Um herauszufinden, was mit ihnen geschehen ist, muss Sybil sich in die gefährliche Welt außerhalb des Konvents wagen. Eine Aufgabe, bei der ihr allein Rory helfen kann – egal, wie gern Sybil dem Sog seiner dunklen Augen und seiner scharfen Zunge auch aus dem Weg gehen möchte.

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

Für das Kind in uns allen, das sich danach sehnt, etwas Besonderes zu sein. Nimm meine Hand, du merkwürdiges kleines Wesen, und lass uns zusammen jenseits der Mauer gehen.

AISLING-KATHEDRALE

Du kennst diese Geschichte, Bartholomew, auch wenn du dich nicht an sie erinnerst. Ich werde sie dir erzählen, so gut ich es vermag, und ich verspreche, in meiner Schilderung aufrichtig zu sein. Und wenn nicht, ist es wohl kaum meine Schuld. Eine Geschichte zu erzählen bedeutet, ein Stück weit zu lügen, oder nicht?

Einst kamst du auf Traums höchsten Felshügel, wo der Wind eine Melodie wisperte. Die Gänseblümchen dort waren weiß und die Steine grau, und beide stahlen die Wärme aus deinen bloßen Füßen.

Eine Kathedrale war dort errichtet worden, und du schrittest auf Zehenspitzen – klein wie ein Insekt – durch die Vorhalle und ins Kirchenschiff, den Mittelgang hinunter. Blut färbte deine Lippen, und du fielst in die Quelle, die jenem uralten Stein im Altarraum entsprang. Als du aufblicktest zum Rosettenfenster, küsste das Licht buntes Glas. Dein Handwerk war Gehorsam. Du benanntest die Gottheiten und wie man ihre Zeichen zu lesen hätte. Du lerntest, wie man träumt …

Und wie man ertrinkt.

Es tut mir leid. Ich möchte auch nicht unbedingt zu diesem Teil der Geschichte zurückkehren, Bartholomew. Aber ich frage mich so oft …

Könnte ohne ihn der Rest existieren?

1

SECHS MAIDEN AUF EINER MAUER

Der merkwürdige Gargoyle, der zumeist in gebrochenen Gleichnissen sprach, schlurfte in die schummrige Ecke des Wandelgangs. Dort hing in einem Spinnennetz, gewebt zwischen eisernen Kerzenhaltern, eine Fliege fest.

»Ständig dieses Gesumme.« Der Gargoyle drohte der Fliege mit einem Kalksteinfinger. Seine raue Stimme hallte durch die Kathedrale. »Geschieht dir recht. Schließlich hab ich dir einmal, tausendmal gesagt, pass auf, wo du hinfliegst. Jetzt …« Er beugte sich vor und beäugte das Netz. »Halt still. Ich werde dich aus dieser Schlinge befreien.«

Er befreite die Fliege nicht. Er fuhr fort, das arme Insekt über die Gefahren des Fliegens zu belehren. Wäre die Fliege vernunftbegabt gewesen, hätte sie womöglich geschlussfolgert, dass es besser war, in den Fängen einer Spinne zu sterben, als der Aufmerksamkeit dieses speziellen Gargoyles ausgesetzt zu sein. Aber die Fliege konnte nicht sprechen und äußerte daher keine Beschwerde. Sie summte nur immer weiter, und der Gargoyle redete weiter …

Und darum gelang es mir, von der Kirchenbank, die ich gerade abstaubte, wegzuhuschen, um zu sehen, wie der König den Hügel heraufritt.

Ins Kirchenschiff rannte ich, bloße Füße trommelten auf steinernen Boden, und dann trat ich aus der Kathedrale. Sofort behelligte mich der Sonnenuntergang: Sein Licht drang durch den hauchdünnen Schleier, den ich über den Augen trug.

Der kiesbedeckte Hof war leer, die Besuchszeit vorüber. Die einzigen anwesenden Gestalten waren fünf Kalksteinstatuen. Fünf gesichtslose, mit Kapuzen bedeckte Gestalten. Sie ragten beinahe zehn Handspann hoch auf, die uralten Arme einladend ausgebreitet.Alle fünf glichen einander vollkommen, mit Ausnahme der linken Hand: Jede von ihnen hielt einen anderen steinernen Gegenstand. Eine Statue hielt eine Münze, eine andere ein Tintenfass. Eine hielt ein Ruder, eine weitere ein Windspiel und die letzte ein Webgewicht.

Auf Zehenspitzen schlängelte ich mich zwischen den Statuen hindurch, von der tiefen Furcht erfasst, dass ich sie verärgern würde, wenn ich mich zu laut bewegte. Aber sie waren nur aus Stein und zeigten weder Zorn noch Liebe. Dennoch beobachteten sie mich aus der Dunkelheit ihrer Kapuzen hervor, raubtierhaft in ihrer Reglosigkeit. Ich spürte sie, so wie ich den Blick der Aisling-Kathedrale mit ihren Augen aus Buntglas spürte: stumm und uralt und missbilligend in meinem Rücken.

Ich eilte weiter.

Der Innenhof wich einer Wiese, und ein Hain knorriger Obstbäume trat an die Stelle des Steins. Es war Spätsommer, und blutrote Äpfel hingen dicht an dicht.Ich fasste mit einer Hand nach oben und riss einen von seinem Ast, ohne meine Schritte zu verlangsamen. Als ich den Obstgarten durchquert hatte, ragte vor mir eine lange Steinmauer empor. Auf ihr …

… warteten fünf Maiden.

Sie waren in den gleichen fahlen Stoff gehüllt wie ich, ihre Augen mit den gleichen hauchzarten Schleiern bedeckt. Gebadet im Licht der sinkenden Sonne hockten sie auf altem Stein, ihre Kleider flatterten im Wind. Sie sahen aus wie fünf Fahnen der Kapitulation dort oben auf der Mauer.

Als spürten sie ihre fehlende Kameradin,wandten die Frauen sich um, als ich näher kam. Die größte, die mir von der Kathedralentür aus zugewinkt und gezischt hatte EsistderverflixteKönig!,hielt die hohlen Hände vor den Mund und schrie: »Beeilung!«

Ich grub meine Zähne in den Apfel und presste schwielige Finger auf alte Steine. Zwölf Handspann hoch und voller Flechten, war die Mauer schwer zu erklimmen. Aber beinahe zehn Jahre hätten aus jeder eine Meisterin gemacht – das Mauerwerk war mir ein vertrauter Gegner.

Ich hievte mich in die Höhe. Die Frauen machten mir Platz, und ich schwang ein Bein über die Mauer, sodass ich rittlings auf ihr saß. »Ihr seid sicher, dass er es ist?«

Zwei – ich kannte ihren Namen nicht, nur ihre Nummer –, groß und ernst, wies mit einem Finger auf den Ausblick. »Ich habe purpurneBanner jenseits des Felsvorsprungs gesehen. Schwör ich bei meiner Mutter.«

»Hätte ein bisschen mehr Gewicht, wenn du eine Mutter hättest«, murmelte Drei.

»Wart noch einen Moment«, sagte Zwei, der Rücken starr wie ein Stock. »Ihr werdet sehen, dass ich recht habe.«

Neben mir strich sich Fünf orangefarbenes Haar aus dem Gesicht. »Teilst du?«, fragte sie und nickte in Richtung meines Apfels.

Ich bot ihn dar. »Er ist nicht sehr süß.«

»Igitt.« Sie verzog das Gesicht und warf den Apfel über die Mauer. Mit einem dumpfen Aufprall landete er am Straßenrand – ein roter Nadelstich im Grün. »Wie kannst du so was essen?«

»Ich schätze, das werden wir nie erfahren.«

Auf meiner anderen Seite zwirbelte Vier eine Handvoll wilder schwarzer Locken zwischen den Fingern. Sie stützte einen Arm auf meine Schulter, und unsere Blicke trafen sich. Oder zumindest nahm ich an, dass sie es taten. Durch die Schleier, die ihre Gesichter von der Stirn bis zum Nasenrücken verdeckten, ließ sich unmöglich sicher sagen, wo irgendeine der Frauen wirklich hinschaute. Ich kannte ihre Namen nicht, und ich kannte die Farbe ihrer Augen nicht.

Ich kannte die Farbe meiner Augen nicht.

»Das gibt’s doch gar nicht.« Ein Lächeln kroch über Viers Lippen. »Da kommt er.«

Wir wandten die Köpfe. Da, von Osten her, lugten über die grünen Anhöhen …

Purpurne Banner.

Ich blinzelte. Durch meinen Schleier zu sehen war, als starrte ich durch die Dampfwolke eines Teekessels. Aber der Felshügel, auf dem die Kathedrale stand, war so hoch und die Landschaft von Traumso weit und die Luft so klar, dass es nicht weiter schwerfiel, die Einzelheiten von König Castors Prozession auszumachen, sobald die Hügel sie in unser Sichtfeld spien.

Es waren fast zwei Dutzend – Bannerträger und Knappen und Ritter. Was für einen Anblick sie boten. Tageslicht tanzte auf ihren Rüstungen, und der Wind trug ihren Lärm über den Felshügel, verzerrte ihre Worte in einer falschen Übersetzung. Selbst aus der Entfernung konnte ich sehen, welcher von ihnen König Benedict Castor war. Seine Rüstung war nicht aus dem gleichen silbrigen Stahl wie die seiner Ritter, sondern vergoldet, als sei er die Sonne und sie ein minderer Sternenhaufen.

Es war das erste Mal, dass ich den Knabenkönig sah.

Die Prozession verschwand hinter einer Hügelkuppe. In zehn Minuten würde sie direkt unter der Mauer vorbeiziehen, auf der wir saßen wie wartende Spatzen.

Eins tippte sich ans Kinn. »Das sind viele Ritter nur für eine Weissagung.«

Vier grinste. »Unser Glück.«

»Ich hörte, dieser König sei ein Kind«, sagte Drei in ihrem üblichen monotonen Tonfall, als lese sie die Worte ab, anstatt sie zu sprechen. »Dass er sich vor seinem eigenen Schatten fürchtet. Vielleicht wünscht er Schutz, wenn er die schaurige alte Aisling besucht.«

»Schwerter und Rüstungen bedeuten hier nichts«, flüsterte ich dem Wind zu.

Die anderen nickten.

»Apropos …« Eins fasste in die formlosen Faltenihres Kleids und zog sechs Strohhalme hervor. »Versammelt euch, Kratzbürsten.«

Wir seufzten und rutschten auf der Mauer herum. Als wir fertig waren, stand Zwei direkt vor Eins und ihrer Handvoll Stroh. Das Spiel war simpel: nicht den kurzen Strohhalm ziehen.

Zwei untersuchte die Halme und zog einen langen aus der Mitte des Bündels. Eins zog einen vom Rand – noch ein langer Halm. Sie zogen weiter, bis nur noch ein Paar Strohhalme übrig war. Nach einem kurzen Innehalten zog Eins. Sie riss den gewählten Halm zwischen ihren Fingern hervor …

Und grinste. »Du kriegst den kurzen, Zwei.«

Zwei hielt das Kinn hoch erhoben, als sie unsere Reihe entlangblickte. »Komm her, Drei.«

Die nächsten Runden folgten. Zwei besiegte Drei und stellte sich selbstgefällig neben Eins, während wir übrigen auf unseren Nägeln kauten und warteten, bis wir an der Reihe waren. Drei besiegte Vier, und Fünf tat das ebenfalls.

Als Vier schließlich mir, ihrer letzten Gegnerin, gegenüberstand, war sie starr wie ein Zinnsoldat.

In einem schlurfenden Tanz, den nur wir allein kannten, wechselten wir entlang der Mauer unsere Positionen, während die Geräusche der königlichen Prozession lauter wurden. Vier hielt die Strohhalme in festem Griff und nickte mir zu. »Du zuerst.«

Ich musterte die ausgefransten gelben Ränder und wählte einen langen Halm.

Vier ebenfalls. In einiger Entfernung wieherten Pferde, und Ritter lachten. Ich wählte wieder, noch ein langer Halm. Und für Vier ebenfalls.

»Die letzten Halme.« Drei pfiff leise. »Hast du Angst, dass dir zu übel sein wird für Tändeleien, Vier?«

»Sei still.« Vier reckte das Kinn in meine Richtung. »Mach weiter.«

Ich wusste, woran sie dachte. Es war, woran wir alle dachten. Weshalb wir das gleiche Spiel schon hundertfach gespielt hatten.

Ich will nicht diejenige sein, die träumt.

Wind zauste mein kurzgeschnittenes silberblondes Haar, aber ich löste den Blick nicht von den Strohhalmen. Von den ungleichen Mustern ihrer ausgefransten gelben Spitzen. »Der da.«

Die Frauen beugten sich alle vor, und die Halme wurden aufgedeckt.

Zwei lachte auf. »Du hast vielleicht ein Glück, Vier.«

Ich hatte den kurzen Strohhalm gewählt.

Viers Lachen trug Erleichterung mit sich. »Auch gut, Sechs. Du bist der Liebling. Du zappelst nie im Wasser.«

Ich nahm den Halm in meine verhärtete Handfläche – das kleine Ding war hässlich und spröde – und ließ mich auf die Mauer plumpsen, gerade als die ersten Reiter der Prozession in Sichtweite kamen.

Der Erste, auf einem fahlen Schlachtross ohne einen Grasfleck an den Flanken, war der König.

Benedict Castor ritt nicht mit so eisernem Rückgrat, wie ich es bei seinem Vorgänger König Augur – graue Augen, graues Haar, kalt und desinteressiert – gesehen hatte. Tatsächlich schien König Castor leicht gebeugt im Sattel zu sitzen, und seine Rüstung ächzte, als sei er ihr Gewichtnicht gewohnt, wie ein Knappe, der sich zum Spaß verkleidet hatte. Seine Wangen waren rund und sein Kiefer glatt. Ich fragte mich, ob er sich überhaupt rasieren musste.

»Stellt euch das vor«, sagte Fünf, »siebzehn und von der Ritterschaft auserkoren, den Glauben zu schützen. Siebzehn und schon ein König.«

»Er hat alles in der Welt zu beweisen«, murmelte Eins und blickte auf ihn hinab.

König Castor ritt unter uns vorbei und blickte nicht auf, bemerkte nicht, dass er beobachtet wurde. Doch als Vier seufzte, sah der Bannerträger des Königs hoch. Als er uns auf der Mauer entdeckte, weiteten sich seine Augen. Weissagerinnen, formte er mit dem Mund, auch wenn kein Ton herauskam. Dann, kühner, rief er den Rittern hinter ihm zu: »Sechs Maiden auf der Mauer. Weissagerinnen!«

Es gab hörbare Unruhe, und Pferde wieherten.

Die Ritter kamen in Sicht. Es gab Frauen wie Männer in ihren Rängen, und sie alle unterschieden sich in ihrem Aussehen. Einige hatten das markante helle Haar, verbreitet an den Klippen von Bellidine, oder die scharfen, kantigen Züge jener, die nahe der Glühenden Gipfellebten. Eine Ritterin mit einer Axt über der Schulter hatte ihre Augen mit Kohle umrandet, wie es im Klingenden Wald üblich war.

»Weissagerin«, rief ein Ritter und schob das Visier seines Helms hoch. Er blickte zu Vier empor. »Schöne Mystikerin. Ich habe Anderwesenerschlagen, die Omen und den Glauben verteidigt. Ich bitte dich, für meine freudige Ergebenheit, gewähre mir einen Kuss.«

Weitere Ritter reckten die Hälse, nahmen ihre Helme ab, um uns besser betrachten zu können. Einige sagten als Gruß das Ritterbekenntnis auf, andere warfen Gänseblümchen und flehten – oh, wie sie flehten! – um unsere Aufmerksamkeit, unsere Worte, unsere Küsse; obwohl die Mauer zu hoch war und wir mehr als zufrieden damit, sie betteln zu sehen, statt unsere Lippen darzubieten.

Ich beugte mich vor und versuchte, ihre Augen zu erkennen. Die Äbtissin und die fünf Frauen bei mir auf der Mauer trugen allesamt Schleier. Mit Ausnahme der Kathedralenbesucher gehörten jegliche Augen, die ich regelmäßig zu sehen bekam, den Gargoyles. Und bei denen, aus Stein gemeißelt, war es, als blicke man auf die Kathedrale selbst: beeindruckend – und vollkommen leblos.

Die Glocken begannen zu läuten.

Die Prozession des Königs lichtete sich, die letzten Ritter ritten unter uns vorbei. Die Weissagerinnen bewegten sich mit geübter Balance über die Mauer, um ihnen zu folgen, aber ich blieb sitzen.

Ich öffnete meine Hand und ließ die zerrupften Reste des kurzen Strohhalms forttanzen, erfasst vom launischen Nordwind. Die Glocken der Kathedrale dröhnten weiter beharrlich. Ich erhob mich, um ihrem Ruf Folge zu leisten, wappnete mich für das, was als Nächstes kommen würde …

Unter mir wieherte ein Pferd.

Ein einziger Ritter, ein Nachzügler, war noch auf der Straße. Sein Pferd war stehen geblieben und kaute laut auf etwas, das es im Grün am Straßenrand gefunden hatte.

Mein Apfel.

Der Ritter versuchte, das Tier anzutreiben, aber das zufrieden brummelnde Pferd war ganz verliebt in den Apfel. Es bewegte sich kein Stück.

Unter dem Helm erklang gedämpft eine Reihe von Verwünschungen. Bei dem Getöse der Kathedralenglocken rutschte der Ritter im Sattel hin und her, hob den Kopf und gewährte mir einen Blick auf den dunklen Schlitz in seinem Visier, durch den er die Welt beobachtete.

Ich konnte seine Augen nicht sehen. Und für ihn war es unmöglich, meine durch den Schleier zu erkennen. Dennoch spürte ich, irgendwo zwischen Magen und Kehle, ganz genau, in welchem Moment er mich auf der Mauer entdeckte.

Seine Schultern versteiften sich. Langsam griff er nach seinem Helm. Nahm ihn ab. Ein Wirrwarr aus schwarzem Haar. Er strich es sich aus dem Gesicht, und ich sog die Luft ein.

Strenge Gesichtszüge. Dunkle Brauen. Eine markante Nase. Seine Haut war olivfarben, golden von der Sonne, und doch war da keine Wärme in seinem Gesicht. Licht brachte die drei Goldringe an seinem rechten Ohr zum Glänzen. Ernst und mit Kohle umrandet, waren seine Augen so braun, dass man sie leicht für schwarz hätte halten können.

Auch in ihnen stand keinerlei Wärme.

Er betrachtete mich aus geweiteten Augen, die sich dann sofort verengten. Langsam verzog er den Mund zu einem spöttischen Lächeln, dessen Bedeutung unmissverständlich war: Wo zur Hölle schaust du hin?

Die anderen Ritter hatten mir zugelächelt, ohne Herausforderung und ehrfürchtig und andächtig. Dieser aber, so schien es, verspürte keinerlei Drang dazu.

»Ritter«, rief ich. »Euer Haufen veranstaltet ja ein ziemliches Spektakel. Ist der König dermaßen beunruhigt, dass er seine gesamte Ritterschaft für eine Weissagung benötigt?«

Der Ritter starrte unverwandt und sagte nichts.

»Ich fragte, ob Euer König –«

»Von unseren beiden Haufenveranstaltet wohl kaum meiner das Spektakel.«

Ich blinzelte. »Bitte?«

Er lieferte keine Erläuterung. Seine Rüstung ächzte, während er mich weiterhin aus unfreundlichen Augen betrachtete.

Ich straffte mich, sodass ich wie eine der Kathedralenspitzen über ihm aufragte. »Ein respektabler Ritter würde sich eher die Zunge abbeißen, als so mit einer Tochter von Aisling zu sprechen.«

Er presste die Lippen aufeinander, als hätte ich ihm einen Witz auf meine Kosten erzählt.

Eine raue Stimme erklang hinter mir. »Bartholomew!«

Ich fuhr herum. Im Obstgarten, wo sich der Schatten der Kathedrale abzeichnete, stand derselbe seltsame Gargoyle, den ich im Wandelgang zurückgelassen hatte. Er rief erneut: »Komm sofort da runter, Bartholomew. Wir werden drinnen gebraucht.«

Ich warf einen Blick zurück auf die Straße. Dem Ritter war es gelungen, sein Pferd anzutreiben, und er ritt, um die anderen einzuholen.

Stirnrunzelnd sah ich der sich entfernenden Gestalt nach.

»He, Bartholomew, kannst du mich hören?« Der Gargoyle hob anklagend einen Finger. »Komm auf der Stelle da runter –«

»Jaja, ich hab dich gehört.« Ich umfasste die Mauerkante und ließ mich hinabrutschen, bis meine bloßen Füße Gras berührten.

Es gab dreiundzwanzig Gargoyles in der Aisling-Kathedrale, und keine zwei glichen einander. Sie bestanden aus Kalkstein und wiesen verstörende Mischungen menschlicher und tierischer Eigenschaften auf. Die meisten hatten Flügel und vermochten zu fliegen. Dieser hatte eine vorstehende Stirn, Fangzähne, Klauen und in den Rücken gemeißelte Flügel wie eine Fledermaus, auch wenn ich ihn noch nie hatte fliegen sehen. Denn anscheinend warder Himmel nutzlos, und es wäre eine nicht wiedergutzumachende Beleidigung, für einen Vogel gehalten zu werden.

Doch sosehr sie sich auch voneinander unterschieden, so waren die Gargoyles einander doch auch gleich. Sie alle legten eine seltsame Treue gegenüber der Aisling-Kathedrale an den Tag, waren dem Felshügel verbunden und hörten stets auf die Äbtissin, als seien sie Geschöpfe der Kathedrale. Sie grunzten, sprachen aber selten.

Bis auf diesen einen.

Ich schritt näher, die Hände flehend ausgestreckt. Bei diesem besonderen Gargoyle, der alles und jeden ohne ersichtlichen Grund Bartholomew nannte, war es besser, sich reumütig zu zeigen. Wenn er schmollte, konnte das Tage anhalten. »Entschuldigung«, sagte ich. Wenn ich neben ihm stand, reichte seine Stirn mir bis zur Schulter. »Ich musste einen Idioten schelten.«

»Ein erbaulicher Zeitvertreib, wie du mir oft genug bewiesen hast. Aber der König ist fast da, ohne jede Vorwarnung. Die Unverfrorenheit der Menschen!« Er rollte mit den Steinaugen. »Habt ihr untereinander gewählt, wer in der Quelle träumen wird?«

»Ich werde das machen.«

»Sehr gut.« Er streckte seine klauenbesetzte Hand aus. »Beeilung.«

Er führte mich zurück, zwischen den knorrigen Apfelbäumen hindurch. Wir eilten durch den Innenhof, vorbei an den Statuen und kehrten – wie von einem Köder angelockt – in die Kathedrale zurück.

Der Tag wich schon der Nacht, als wir die hohen Eichentüren erreichten. Dort wartete die Äbtissin. Ich konnte weder ihr Gesicht noch sonst auch nur das kleinste Stückchen ihrer Haut sehen. Ihr Schleier – bleicher Stoff, der ihr bis ans Kinn reichte – bedeckte ihr Gesicht vollkommen, und ihre Hände wurden von weißen Seidenhandschuhen geschützt. Einzig die Art, wie heftig sie die Fäuste an ihren Seiten geballt hielt, und die Spur von Eis in ihrer Stimme verrieten ihre Unzufriedenheit. »Wie es scheint, ist der König für eine unerwartete Weissagung gekommen. Benedict Castor der Dritte.«

Sie sagte seinen Namen rasch, wie etwas Bitteres, das sie ausspucken wollte. Anscheinend hielt die Äbtissin nicht viel vom neuen Knabenkönig. »Du wirst träumen, Sechs?«

»Ja.«

Sie summte zustimmend – leise und kehlig –, und ich spürte Stolz in mir aufwallen.Die Äbtissin berührte meine Wange und trat beiseite, sodass der Gargoyle und ich in den Wandelgang treten konnten. Dann schloss sie die Türen hinter uns.

Die Aisling-Kathedrale war dunkel. Kalt. Die abgestandene Luft roch nach Kalkstein und Mahagoni – aber nicht genug, um den kränklich-süßen Geruch verrottender Blumen aus dem Inneren zu überdecken.

»Ich habe die Weissagungsroben heute Morgen gewaschen.« Der Gargoyle führte mich durch das Hauptschiff. Auf der letzten Kirchenbank warteten sechs Seidenroben. »Es war ganz schön anstrengend. Ich bin ganz in mir vor Erschöpfung.«

»Außer mir«, murmelte ich, während ich meine Kleidung ablegte. »Außer mir vor Erschöpfung ist der richtige Ausdruck.«

Der Gargoyle runzelte die steinerne Stirn. »Wenn ich außer mir wäre, dann gäbe es mich zweimal, und das Waschen hätte nur halb so lang gedauert.«

Er wandte mir den Rücken zu, bevor ich antworten konnte, und ließ mich in Ruhe meine Sachen aufknöpfen. Als Erstes war das wogende, hauchzarte Übergewand an der Reihe. Dann das Unterkleid aus Flachs. Ich trug keinen Schmuck, keine gestrickten Beinlinge, keine Schuhe. Ich löste meine Unterhose und ließ sie an meinen Beinen hinabfallen. Als ich fertig war, blieb als einziger Stoff noch mein Schleier an meinem Körper.

Nackt erzitterte ich.

Die Weissagungsroben waren noch warm von der Wäscheleine. Ich nahm die, in deren Ärmelaufschlag VIeingestickt war. Weiß, makellos und seiden, so viel feiner als die Sachen, die ich gerade ausgezogen hatte, fühlte die Robe sich dekadent an, aber nicht tröstlich.

»Ich bin bereit.«

Ich bin bereit,spottete mein Echo, das von den Steinmauern der Kathedrale widerhallte.

Der Gargoyle drehte sich um. Er sah mich aus Steinaugen an und reichte mir erneut die Hand, führte mich ins Kreuzschiff. Dort, im Herzen der Kathedrale …

War die Quelle.

Vor langer Zeit war ein großer Kalkstein zersprungen, und Aisling war um ihn herum erbaut worden. Aus dem breiten Spalt entsprang eine uralte Quelle wie eine lange, enge Wanne. Ihr Wasser war ölig und dunkel und roch nach verrottenden Blumen.

Die Glocken der Kathedrale läuteten wieder. Etwas in meiner Brust zog sich zusammen. Etwas in meiner Kehle. Langsam näherte ich mich der Quelle, hob den Saum meiner Robe.

Der Gargoyle half mir hinein.

Das zähflüssige Wasser reichte mir gerade bis über den Nabel. Es war, wie alles in der Kathedrale, kalt. Ich zitterte, als die Quelle mich in ihrem eisigen Schoß aufnahm, an der Seide meiner Robe leckte und sie durchscheinend werden ließ.

Ich blickte auf. Über mir, hoch im Kreuzgang der Kathedrale, saßen fünf Buntglasfenster, und jedes zeigte einen steinernen Gegenstand – die gleichen wie in den Händen der Statuen im Innenhof.

Eine Münze, ein Tintenfass, ein Ruder, ein Windspiel und ein Webgewicht.

Das sechste und letzte Fenster saß mittig in der östlichen Wand – eine gewaltige Fensterrose aus Tausenden Buntglasstücken. Ihre Gestaltung unterschied sich von den übrigen und zeigte keinen steinernen Gegenstand, sondern eine Blume mit fünf eigenartigen Blütenblättern, die, wenn ich sie genauer studierte, aussahen wie die feinen Flügel einer Motte.

Die letzten Strahlen des Tageslichts ließen die Fenster aufleuchten, aber dieses Licht blieb hoch oben – außer Reichweite. Die Quelle, in der ich stand, war der heiligste Ort von ganz Traum, und doch befand ich mich in Dunkelheit.

Still traten sie aus den Schatten des Kreuzschiffs: sechs weitere Gargoyles. Sie marschierten, bis sie sich um die Quelle herum angeordnet hatten wie die Stundenzeichen einer Sonnenuhr.

Die Türen der Kathedrale flogen auf.

Die Ritter des Königs traten in den Wandelgang. Sie sprachen jetzt mit gedämpften Stimmen, als habe die Aisling-Kathedrale ihnen die Worte aus dem Mund gesogen. Die Helme hatten sie abgenommen, und sie hoben die Köpfe, während sie die Kunstwerke auf sich wirken ließen – den feinen Marmorfußboden, die geschnitzten Reliefs und gewölbten Decken und Buntglasfenster.

Das Glockenläuten verstummte.

Hinter seinen Rittern kam König Castor, schritt dahin an der Seite der Äbtissin. Mit seiner schimmernden Rüstung und ihrer fahlen Robe, ihrem Schleier, hätten sie Braut und Bräutigam sein können, die den langen Weg durch das Kirchenschiff auf sich nahmen, um vor dem Altar ihr Gelübde abzulegen. Der Unterschied bestand darin …

Dass eine Braut kein Messer hielt.

Die Ritter nahmen auf den Kirchenbänken Platz. Als Äbtissin und König den Stein im Herzen der Kathedrale erreichten, standen sie einander gegenüber – direkt vor mir.

Die Äbtissin sprach, wie sie während einer Weissagung immer sprach: gefühllos. »Dies ist das erste Mal, dass Euch geweissagt wird, Benedict Castor. Habt Ihr Eure Opfergabe mitgebracht?«

Der König stand vor mir, seine blauen Augen groß und glasig. »Zwanzig Goldstücke.«

»Und was wollt Ihr aus dem Traum dieser Weissagerin erfahren?«

»Nichts.« Ein Hauch von Röte überzog das Gesicht des Königs, seine Stimme klang gereizt. »Das heißt, ich möchte wissen, ob sie mir gewogen sind, schätze ich, jetzt, da ich der neue König von Traum bin.«

Er zitterte, und ich stand vollkommen still. Der arme Junge hatte Angst und wirkte dadurch noch jünger, trotz seiner vornehmen Rüstung. Ich fragte mich, ob ich in diesem Moment Benedict Castor klarer sah, als es je zuvor jemand getan hatte. Aus diesem Grund liebte ich es, eine Weissagerin zu sein. Ich fühlte mich so viel weiser, stärker, wenn ich in der Quelle von Aisling stand. Es war grotesk, aber es riss mich aus meiner Apathie.

Auch wenn ich hasste, was als Nächstes kam.

Die Äbtissin schwieg für eine lange Weile. Langsam reichte sie dem König von Traum das Messer. »Dann fangt an.«

2

OMEN

Die Klinge wurde lautlos geführt, als König Castor sich selbst schnitt. Er tat es über der Herzlinie seiner Handfläche und krümmte dann seine Finger, hielt das hervorquellende Blut in der Hand wie ein Kelch den Wein. Es war ein heiliger Akt: dass man ein wenig von sich selbst aufgab für die Weissagekunst.

Die Äbtissin fasste König Castor am Handgelenk und führte seine blutige Hand an meinen Mund. Der König wurde blass und drehte den Kopf zur Wand, als könne er den Anblick von Blut nicht ertragen – oder meinen.

»Trink«, befahl die Äbtissin.

Ich öffnete den Mund, und das Blut des Königs floss über meine Zunge, zähflüssig und warm. Es schmeckte widerlich. Blut tat das immer.

Ich schluckte und stemmte mich gegen den aufkommenden Brechreiz.

Die Äbtissin begann mit ihrer Ansprache. »Traum ist ein alter Name für ein noch älteres Land. Seine Historie ist so befremdlich und schrecklich wie ein Traum. Doch in vielerlei Hinsicht begann seine wahre Geschichte auf eben dieser Anhöhe …« Sie hielt inne und wandte sich an den König. »Auch wenn vielleicht ein Castor wie Ihr die Geschichte gar nicht hören will, die ich vor einer Weissagung erzähle. Sollen wir einfach mit dem Traum weitermachen?«

König Castor scharrte mit den Füßen. »Ich möchte die Dinge gern auf die angemessene Art vollführen. Bitte, fahrt fort.«

Die Äbtissin berührte meine Wange, eine vertraute Geste wortloser Zuneigung, und sprach dann weiter. »Wir kennen Traum und seine Weiler wie unsere eigenen fünf Finger einer Hand. Coulsons Markt, der Weiler der Händler. Das gebildete Stadtherz – die Seacht –, der Weiler der Schriftgelehrten. Die Glühenden Gipfel, nah der Mündung unseres Flusses, der Weiler der Fischer. Der verwöhnte Birkenwald, der Klingende Wald, wo die Förster leben. Die blühenden Klippen von Bellidine, besiedelt von Webern.« Die Äbtissin seufzte. »Die alten Geschichten unterscheiden sich natürlich voneinander, aber in einer Hinsicht gleichen sie sich alle: Traum war voller monströser Kreaturen – Anderwesen, die durch die Weiler zogen. Die Leute versuchten, sie zu bekämpfen, aber die Weiler standen nicht geeint, taumelten ohne Gottheiten, ohne göttliche Prinzipien, ohne Führung. Und wenn es das alles nicht gibt …«

Dann sind Tragödien unausweichlich,sprach ich mir selbst vor.

»Dann sind Tragödien unausweichlich«, echote die Stimme der Äbtissin. »Die Anderwesen stahlen Essen und Münzen und Kinderaus den Weilern. Morde wurden begangen. Ernten verdarben, Boote sanken, Ungeziefer befiel die Wolle. Schon bald waren die Menschen von Traum selbst wie Anderwesen – wild, seltsam und gefräßig und vollkommen ohne Tugend.«

»Klingt doch nach einer guten Zeit«, murmelte einer der Ritter.

König Castor gelang ein zittriges Grinsen. Unter meinem Schleier hervor warf ich ihm einen finsteren Blick zu.

Die Äbtissin fuhr fort: »Es gab immer mehr Todesfälle, und ebenso herrschte Zwietracht zwischen den Weilern.«

Bis eines Nachts.

»Bis eines Nachts – in einer dunklen, einsamen Nacht, die so kalt war, dass die Luft den Himmel in einem einzigartigen Purpurton zeichnete – sechs Gottheiten Traum besuchten.«

Ein höhnisches Schnauben hallte durch die Kathedrale.

Rüstung rasselte, leise Stimmen erklangen, dann stapfte einer der Ritter fort von den Kirchenbänken. Seine Schritte waren laut auf dem Steinboden. Er stieß die Kathedralentür auf, Abendlicht flackerte über dunkles Haar und drei Goldringe an seinem rechten Ohr.

Der Ritter von der Straße. Er warf noch einen unheilvollen Blick über die Schulter zurück …

Dann trat er die uralte Holztür hinter sich zu.

Die Äbtissin wartete, bis sich das Echo seines Abgangs gelegt hatte, dann sprach sie ungerührt weiter: »In einer dunklen, einsamen Nacht verließ ein Findelkind seinen Weiler und erklomm einen hoch aufragenden Felshügel auf der Suche nach Essen. Dort oben fand sich nicht viel Lebendiges außer flüsterndem Gras und Gänseblümchen und fahlen Motten. Aber dann … eine Quelle! Eine seltsame Quelle ganz oben auf der Anhöhe, die aus einem großen Stein hervorsickerte. Das Kind trat an den Rand des Wassers – es trank in tiefen Zügen.« Sie zog dramatischdie Luft ein. »Und wurde in einen Traum gerissen.«

Ich hatte die Geschichte so oft gehört, dass ich sie vor meinem inneren Auge sah. Ein Kind, wie ich eines gewesen war, als ich in die Aisling-Kathedrale gekommen war, lag vor erstarrtem Publikum in dunklem Wasser. Es machte mich stolz, dass ein Findelkind – wie ich – die wichtigste Gestalt in Traums heiligster Erzählung sein sollte.

Selbst wenn jenes Kind keinen Namen hatte.

Die Äbtissin fuhr fort: »Als das Kind schwach und krank erwachte, erzählte es Passanten eine lebhafte Geschichte von sechs überirdischen Gestalten, die seinen schlafenden Geist besucht hatten – schattenhafte Gestalten, die Gegenstände aus Stein trugen, von denen jeder einzigartige Macht besaß. Die Schilderung des Kindes sprach sich herum, und Bewohner aus den Weilern kamen auf die Anhöhe, um die Quelle zu sehen. Wieder und wieder trank das Kind von dem Wasser und träumte. Nach einer Weile verstand das Kind, dass die Bewegungen der Steingegenstände Prophezeiungen waren. Und so erhielten die Gottheiten, die sie führten, ihre Namen.«

»Omen«, flüsterte ich.

»Omen«, wiederholte die Äbtissin. Sie hob einen Finger und zeigte auf die Fenster in der Höhe, und alle Anwesenden in der Kathedrale hoben den Blick zum Buntglas empor. »Das Omen mit der Steinmünze nannte das Kind den Fintenreichen Banditen. Das Omen mit dem Tintenfass wurde als der Gepeinigte Schreiber bezeichnet. Das Omen mit dem steinernen Ruder rief man den Eifrigen Ruderer. Die Getreue Försterinträgt das Windspiel.« Sie zeigte auf das letzte Spitzbogenfenster. »Und die Gramvolle Weberin gebraucht ihr heiliges Webgewicht.« Die Äbtissin wies auf das letzte Fenster – die große Glasrosette. »Doch das sechste Omen trug keinen steinernen Gegenstand. Es gab rein gar nichts von sich preis und erschien einzig als fahle Motte mit zarten Flügeln. Manche sagen, dass es sich im Moment unserer Geburt zeigt; andere glauben, dass es just vor unserem Tod erscheint. Was davon wahr ist …« Sie öffnete ihre Hände wie zwei Waagschalen. »… können wir nicht wissen. Wir mögen ihre Zeichen lesen, doch es ist nicht an uns, die Gottheiten zu hinterfragen. Die Motte ist launenhaft und fern, offenbart sich niemals, nicht einmal den Weissagerinnen.« Sie legte behandschuhte Finger auf ihre Brust. »Natürlich gibt es unter uns jene, die schon seit Langem glauben, dass die Omen größer sind als die Traumlandschaft, die sie bewohnen. Dass die Motte und die übrigen existieren – verborgen in den Weilern, wo sie furchtbare Anderwesentöten und mit ihren magischen Steingegenständen Traums Schicksal lenken. Stets anwesend und allzeit wachsam.«

Speichel sammelte sich in meinem Mund, schwer und nach Eisen schmeckend. Es war beinahe so weit.

»Und so«, sagte die Äbtissin, »finden wir uns selbst im Herzen von Traums größter Geschichte wieder. Eine gewaltige Kathedrale wurde auf dem Felshügel mit der Quelle errichtet, und mehr Findelkinder wurden zum Träumen hierhergebracht, und sie wurden die Töchter von Aisling – verehrte Weissagerinnen. Ein König wurde gekrönt, und Traums fünf Weiler wurden im Glauben vereint und daher das Steinwasserkönigreich genannt. Den Rittern des Königs fiel die Aufgabe zu, den Glauben ebenso zu verteidigen, wie sie die Weiler gegen Anderwesenverteidigten.«

Sie hielt inne, ragte vor dem jungen Benedict Castor auf, dessen Blick auf seine Füße geheftet war. »Und der König schwor, mehr Bittsteller denn Herrscher zu sein. Dass er niezum eigenen Vorteil das Zepter seines Glaubens übernehmen würde; nie zum Mehren seiner eigenen Macht oder aus Eitelkeit nach den Omen und ihren Steingegenständen suchen würde. Denn schlussendlich«, verkündete die Äbtissin, »sind wir allesamt Bittsteller. Ob nun Handwerker oder König, Ritter oder Findelkind oder Weissagerin – der Glaube ist derselbe. Wie die Aisling-Kathedrale erhält er die Weiler. Und wenn wir auch alle unseren eigenen Überzeugungen folgen, dürfen wir niemals vergessen, dass es die Omen sind, die über Traum herrschen. Dass es die Omen sind, deren Zeichen wir zu entziffern suchen. Wir sind nichts als Zeugen ihrer Wunder. Zöglinge ihrer Zeichen.« Sie hob die Hände. »Allzeit nur vergänglich vor ihrer Macht.«

»Allzeit nur vergänglich«, rief ich.

»Allzeit nur vergänglich«, murmelte der König.

»Allzeit nur vergänglich«, echoten die Ritter.

Die Gargoyles traten näher an die Quelle heran.

Mein Atem entwich mir zittrig. »Welchen Namen, mit Blut, wollt Ihr den Omen darbieten?«, fragte ich den König.

Er zuckte zusammen, als hätte er mich vergessen. »Benedict Castor der Dritte.«

Die Äbtissin legte mir die Hände auf die Schultern. »Leg dich hin«, wies sie mich an.

Der Geruch verrottender Blumen, der Geschmack von Blut, der Glanz öligen Wassers waren überall. Ich legte mich rücklings in die Quelle, blickte empor in Aislings hohen Kreuzgang und die Fenster darin – sie im Licht, ich in Dunkelheit.

Die Äbtissin beugte sich über mich. »Träum«, kam ihr abschließender, entschiedener Befehl.

Sie drückte hart genug auf mein Schlüsselbein, dass Blutergüsse zurückbleiben würden.

Ich sank in kaltes, furchtbares Wasser.

Ich schloss die Augen, öffnete den Mund. Sog Wasser in meine Lunge und erstickte. Mein Körper krampfte einmal, zweimal – ein Kräuseln an der Wasseroberfläche. Dann tat ich, was ich seit jenem allerersten Tag in der Aisling-Kathedrale immer tat.

Ich ertrank.

Da war Schmerz, Schmerz, dann …

Nichts. Helles, fahles Nichts.

Ich lag auf sauberem Steinboden und blickte zu denselben Fenstern empor wie zuvor. Nur dass sie jetzt noch viel höher wirkten, die gewölbte Kathedralendecke wolkenverhangen, als ragte sie weit über mir in den Himmel.

Gargoyles, Weissagerinnen, die Äbtissin, der König und seine Ritter – sie waren fort. Nicht einmal die Mahagonibänke waren noch da. Ich war allein in einer fahlen, zwischenweltlichen Version von Aisling, die niemals existierte, wenn ich wach war.

Ich stand auf. Meine Robe war verschwunden. Das einzige bisschen Stoff, das ich noch am Körper trug, war mein Schleier. Ich blickte auf meine Nacktheit – Haare und Fleisch, Fett, Muskeln und Knochen. Ein seltsames Lachen kribbelte in meiner Kehle. Ich fühlte mich stets eine Meile breit, nachdem ich Blut und Wasser geschluckt hatte und in der Quelle ertrunken war. Als sei ich unendlich und halte all das Unbehagen so leicht in meinem Körper. Es erfüllte mich mit Selbsthass, der mir Übelkeit verursachte – und flutete mich mit Stolz.

Ein Schatten bewegte sich am Rand meines Blickfelds. Ich wandte mich um, aber der Schatten flackerte und verschwand dann.

Ich war klein in einem weiten Raum.

»Omen«, rief ich. »Ich bin eure Heroldin, eure Träumerin – allzeit nur vergänglich.Ich bin gekommen, um zu weissagen.«

Stille. Dann …

… begann sich die Kathedrale zu kräuseln. Licht ließ die Einzelheiten verschwimmen, erfasste Säulen und Fenster und Gewölbepfeiler in einem seltsamen, wogenden Leuchten. Ich schritt durch das fahle Nichts, die Welt schwerfällig, aber mein Herz hämmerte wie das eines Kolibris.

Ein heftiges Beben lief durch die Kathedrale.Dunkle Flecken, wie Schmutz auf Stoff, durchlöcherten den weiten weißen Raum. »Ich habe das Blut von Benedict Castor dem Dritten gekostet.« Noch einmal sagte ich: »Ich bin gekommen, um zu weissagen.«

Die Kathedrale schlug Wellen, Wellen …

Und verschwand vollständig.

Der Boden unter meinen Füßen gab nach, und ich stürzte zwischen Nähten aus Licht in die Finsternis. Mein Magen drehte sich, Hände und Füße wie ausgehöhlt, als mein Körper dem Gefühl des Fallens nachgab.

Ein silbernes Aufblitzen in der Dunkelheit.

Meine Knie schlugen als Erstes auf, dann meine Hände, der Boden unter ihnen kalt und hart und unstet. Ich hielt ein Stöhnen zurück und taumelte. Kippte, fiel hin, drehte mich um mich selbst wie ein Nudelholz im Teig.

Es klimperte, und als ich zum Stillstand kam, verdreht und nackt und schon zerschrammt, nahm ich meine Kraft zusammen und setzte mich auf.

Münzen. Ich war auf ein Bett aus Münzen gefallen. Hunderte, Tausende von Münzen, aufgeschichtet in einem dunklen Raum.

Ich suchte meine Umgebung ab. Blickte auf. Da waren purpurne Banner, hohe Fenster, ein leuchtend blauer Himmel. Noch immer sah ich geisterhaft Aislings Stützpfeiler, ihre gewölbte Decke – ihre kalten Eingeweide aus Stein.

Mittlerweile mussten sie mich aus der Quelle gezerrt haben. Sobald eine Weissagerin beim Ertränken das Bewusstsein verlor, wurde sie stets aus dem Wasser gezogen und zum Träumen auf den Altar gelegt, auf dem Rücken und mit offenen Armen. Wie eine Opfergabe.

Ich konnte immer noch hören, was außerhalb meines Traums geschah, doch die Geräusche klangen verworren.

»Nun?«, rief die Stimme der Äbtissin von weit her.

Ich öffnete den Mund, um zu antworten …

Da sah ich sie.

Eine Münze, anders als die übrigen, schwebte in der Luft. Auf einer Seite war sie aus glattem Stein, die andere war dunkel und zerfurcht und rau.

»Die Münze des Fintenreichen Banditen«, rief ich. »Ich sehe sie. Die raue Seite ist oben.« Ich stieß die Luft aus. »Ein schlechtes Vorzeichen.«

Falls die Äbtissin antwortete, hörte ich es nicht. Der Boden unter meinen Füßen verschwand, Münzen regneten in die Dunkelheit und ich mit ihnen. Ich schlug dumpf auf wollenem Teppichboden auf. Die Münzen waren fort. Ich befand mich in einem neuen Raum – ein dunkler Gang mit hohen Wänden, die mit Gemälden bedeckt waren, die ich nicht erkennen konnte, so angestrengt ich auch blinzelte. Sie sahen aus wie Körper, nackt wie ich, zu allen möglichen Formen verdreht.

Hoch über uns, nahezu durchsichtig, ragte Aislings Decke auf.

Meine Schritte waren lautlos auf dem Teppich, aber mein Herz trommelte. In der magischen Quelle der Aisling-Kathedrale zu ertrinken und von den Omen zu träumen war immer so: schmerzhaft. Unheimlich. Egal, wie oft ich träumte, ich konnte nie das ausgeprägte Gefühl abschütteln, in eine Falle geraten zu sein. Als ob jemand, den ich nicht sehen konnte – vielleicht eine Kapuzengestalt –, mich beobachtete und den Rand meines Blickfelds verdunkelte.

Mein unterer Rücken, meine Unterarme, meine bloßen Füße, alle schweißnass.

Und dann war es nicht nur Schweiß. Etwas Nasses sickerte auf meine Füße und kalt zwischen meine Zehen.

Da sah ich es: Am Rand des Gangs lag ein Tintenfass, aus dem schwarze Tinte auf den Teppich troff wie aus einer blutenden Wunde.

»Das Tintenfass des Gepeinigten Schreibers«, sagte ich, so laut ich nur konnte. »Es ist umgefallen. Schwarze Tinte sickert heraus. Ein schreckliches Zeichen.«

Über mir erklang Flüstern. Dann stürzten Tinte, Teppich und Korridor in die Tiefe und ich auch. Ich fiel durch Finsternis, durch Nichts, in blasses graues Licht. Ein Luftzug schlug mir ins Gesicht. Diesmal warteten unter mir weder Münzen noch ein Teppich. Nur zerklüfteter, gnadenloser Schiefer und berghoher Stein. Ich streckte die Hände aus, um meinen Fall abzufangen – und prallte auf einen Felsen, der mein Schlüsselbein zertrümmerte.

»Wo bist du jetzt, Sechs?«

Ich knirschte mit den Zähnen, wand mich, kämpfte gegen den überwältigenden Brechreiz an, während mich qualvoll heißer Schmerz flutete.

»Sechs?« Die Stimme der Äbtissin war ein bloßer Nachhall, aber dadurch nicht weniger befehlend.

Ich hatte einmal Vier beim Träumen zugesehen. Ich war jung gewesen und neugierig, zu erfahren, wie ich wohl aussah, während ich weissagte. Doch Vier ertrinken zu sehen hatte mich so heftig verstört, dass ich beinahe fortgelaufen wäre. Dann hatte die Äbtissin, die so viel stärker war, als ich gedacht hätte, Vier aus der Quelle gezogen, als wöge sie nicht mehr als ein Besen, und sie auf dem Rücken auf den Altar gebettet. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass man strampelte, sich vielleicht sogar wand, wenn man die Kunst der Weissagung ausübte. Von den Omen zu träumen bedeutete, in Albträume zu stürzen, und der Schmerz während meiner Bewusstlosigkeit fühlte sich für mich so echt wie jener an, den ich wach empfand.

Doch Vier hatte einfach nur … dort gelegen und friedlich ausgesehen; ihre Stimme, die zwischen ihren leicht geöffneten Lippen hervordrang, der einzige Hinweis auf ihr Unbehagen. Sie hatte gestöhnt – geschrien. Später hatte sie mir erzählt, dass sie auf dem Rücken auf dem Münzberg des Fintenreichen Banditen gelandet war und durch den Aufprall keine Luft mehr bekommen hatte.Ich aber hatte einzig ein Aufkeuchen gehört und nichts gesehen als ein regloses Mädchen, das in einer nassen Seidenrobe auf dem Altar lag, die Arme einladend ausgebreitet.

Und aus irgendeinem perversen Grund gefiel mir das. Zu wissen, dass ich so viel Schmerz erleiden konnte, ohne dass es irgendjemand mitbekam – ich fühlte mich stark dadurch.

Auch wenn mein gebrochenes Schlüsselbein verdammt wehtat.

Mit meinem unverletzten Arm stemmte ich mich auf die Knie. Meine Brust und mein Bauch waren mit Kratzern von den Felsen überzogen. Als ich mich umsah, entdeckte ich ein Wasserbecken, umgeben von sieben Berggipfeln, jeder so steil, so zerklüftet, dass sie wie die Klauen eines uralten Felsriesen aus einem Märchenbuch aussahen.

Aber ich schaute nicht auf die Gipfel. Ich schaute aufs Wasser. Das kristallklar blaue Wasser in jenem Becken – und das große Steinruder, das darüber lag. »Ich bin in den Bergen«, sagte ich durch zusammengebissene Zähne. »Das Ruder des Eifrigen Ruderersberührt nicht das Wasser. Es gibt keine Strömung – ein weiteres schlechtes Zeichen für den König.«

Ein flauer Ruck in meinem Magen – weiter geht’s –, und dann stand ich nicht länger auf felsigem Grund oder schaute auf Wasser. Stattdessen war ich allein in einem Wald.

Mein Schlüsselbein war nicht mehr gebrochen, die Schnitte auf meiner Haut verschwunden. Ich stand in einem Wald bleicher Birken, keine Seele zu sehen.

Doch ich war nicht allein.

Warmes Licht flackerte durch ein gelbes Blätterdach. Die Birken hatten keine Äste und wiegten sich im Wind wie fahle Arme, die sich nach dem blassen Abbild von Aislings Decke reckten.

Ich lauschte.

Da. Ein Windspiel, das im Baum vor mir hing. Ein Windspiel aus Stein, das mehrere hohe, unstete Noten spielte.

»Das Windspiel der Getreuen Försterin spielt Missklänge«, rief ich. »Ein übles Vorzeichen.«

Ich konnte die Stimme der Äbtissin nicht hören. Ich stellte mir vor, wie sie König Castor hinter ihrem Schleier mit einem schadenfrohen Grinsen bedachte. Vier steinerne Gegenstände – vier schlechte Zeichen.

Fehlte nur noch eines.

Das Windspiel verstummte abrupt.

Stille legte sich über den Wald. Und die Birken, die Bäume standen dicht beieinander, näher an mir als zuvor. Wie ein Wolfsrudel, das sich um ein verirrtes Reh zusammenrottete. Aus der Nähe konnte ich sehen, dass ihre bleiche Rinde nicht durchscheinend oder papierartig war wie für gewöhnlich die einer Birke. Nein. Diese Rinde war fleckig. Schwer. Wie altes Fleisch. Und die Borken an den Stämmen, dunkle Spalten in all der bleichen, verkrusteten Rinde … waren Augen.

Hunderte schwarzer, lidloser Augen, die mich beobachteten.

Der Wald verschwand. Als die Welt sich wieder fing, lag ich auf hartem, kaltem und schleimigem Erdreich. Die Luft war eisig feucht und stickig, und ich konnte kaum meine eigene Nacktheit sehen – alles war schwarz.

»Ich bin in der Dunkelheit«, rief ich.

Ich bin in der Dunkelheit, wiederholte mein fernes Echo.

Ich wusste, was als Nächstes kam. Ich hatte schon hundertfach von all den Orten geträumt, die ich besucht hatte – der Raum voller Münzen, der mit Teppich ausgekleidete Gang, die Berge, der Birkenwald, und jetzt die nasskalte Dunkelheit. Und ich wusste, welche Steingegenstände auf mich warteten und wie ich sie zu deuten hatte. Ich war gut darin, die Zeichen zu lesen. Weswegen ich mich dafür schämte, dass ich es – nach all dieser Zeit – so dermaßen widerwillig tat.

Dass ich immer noch Angst vor dem Träumen hatte.

Ich kam auf die Füße und schlurfte vorwärts, hielt die Hände vor mir ausgestreckt. Für eine Weile war da nichts, nur Schwärze und der Klang meines Pulses in meinen Ohren. Dann silbernes Licht. Hoch über mir drang Mondlicht durch schmale Ritzen. Als betrachtete ich den Nachthimmel aus einem riesigen, dunklen Ei heraus.

Es war nur spärliches Licht. Gerade genug, dass ich mir nicht das Schienbein an der Steinbank stieß, die an der Wand stand. Darauf lag ein Wandteppich, verblichen und ausgefranst. Festgebunden am Ende seiner Fäden – ein Gewicht, das sie niederhielt – war ein steinernes Webgewicht.

»Das Webgewicht der Gramvollen Weberin«, rief ich, stemmte mich gegen den Drang, nur zu flüstern. »Es hängt an zerschlissenen Fäden. Das fünfte schlechte Zeichen.« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist die Antwort auf König Castors Frage. Die Omen sind ihm nicht gewogen.«

Aus der Ferne hallten Stimmen wider.

Der Traum hatte seinen Zweck erfüllt. Jetzt würde die Äbtissin mich wecken …

Ein Geräusch ertönte. Schritte im Dunkel. Nicht das dumpfe Geräusch, das ein geflickter Schuh oder Stiefel oder sogar ein bloßer Fuß gemacht hätte, sondern ein harsches. Wie Stein auf Stein. Klack, klack,machte es. Klack, klack, direkt hinter mir.

Ich fuhr herum.

Da war niemand.

Meine Haut kribbelte; das widerliche Gefühl, dass ich beobachtet wurde, schärfte all meine Sinne.

Klack, klack,nah und fern.

Das silberne Mondlicht erlosch und stürzte mich in echte Finsternis. Ich verkniff mir einen Aufschrei und tat, was ich an dieser Stelle des Traums immer tat.

Ich rannte.

Ich floh durch die dunklen Eingeweide des Traums, bis ich fiel, in bodenlose Schwärze stürzte – ins Nichts. Ich fiel und fiel …

»Sechs«, erklang die Stimme der Äbtissin.

Keuchend fuhr ich hoch.

3

DER ABSCHEULICHSTE RITTER VON GANZ TRAUM

Mein Name ist übrigens Sybil Delling. WarSybil Delling. Ich erinnere mich nicht daran, wer mir diesen Namen gegeben hat, aber ich erinnere mich an den Tag, an dem ich ihn verlor.

Ich war ein Findelkind, gehalten von starken Armen, und hustete Wasser, das nach verrottenden Blumen schmeckte. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, dass ich mich in Aislings Quelle wiederfand – und ich weiß nichts mehr aus meinem Leben vor jenem Moment. Aber ich erinnere mich, dass ich schluchzte und dass mein Weinen nah und fern widerhallte, als wehklagten einhundert Mädchen.

Die Frau, die mich hielt, trug einen Schleier und sprach mit jener Stimme, die ich später als die der Äbtissin kennen sollte. Sie ragte über mir auf und sagte mir, dass es das kranke Mädchen, das ich bisher gewesen war – die kleine Sybil Delling –, nicht mehr gab. Sie fragte mich, ob ich die göttliche Führung über Traum sichern wollte. Ob ich ihr zehn Jahre meiner Zeit im Tausch gegen ihre Liebe und Fürsorge geben würde. Wie hätte ich anders darauf antworten sollen als mit Ja?

Und dann ertränkte sie mich.

Danach ging es mir schlecht. Die Äbtissin hielt mich in ihren Armen und erzählte mir, die Quelle sei heilig und magisch und dass ich durch das Ertrinken darin ebenfalls heilig und magisch geworden war. Vollkommen verändert. Dass meine Erinnerung in jenem Moment von mir abgewaschen worden war, in dem das Wasser meine Lippen berührt hatte – als sei ich wiedergeboren worden. Sie nannte mich merkwürdig, besonders, neu. Doch wichtiger als das – sie nannte mich ihres, und sagte es mit solchem Stolz, dass ich meine Tage in der Folge damit zubrachte, ihrer Anerkennung nachzujagen in der Hoffnung, es noch einmal zu hören. Sie strich mir mein strähniges Silberhaar aus den Augen und befestigte einen hauchzarten Stoffstreifen darüber. Sie sagte mir, dass ich außerhalb der Kathedrale nicht sicher sein würde, weil die Menschen in Traum heilige Dinge für sich selbst haben wollten. Sie gebot mir, mein Gesicht, meinen Namen verhüllt zu lassen, bis meine zehn Jahre in der Aisling-Kathedrale vorüber waren.

Ich wurde eine Zahl. Sechs. Aber ich versprach mir, nicht zu vergessen, dass ich einst eine Person mit einem Namen – Sybil Delling – gewesen war und dass ich mich selbst wieder bei diesem Namen nennen würde, wenn meine Dienstzeit in der Aisling-Kathedrale vorüber war.

Es gab fünf andere Mädchen, alle genauso wie ich: eine Zahl. Die Äbtissin brachte Männer und Frauen in die Kathedrale, um uns zu sehen. Lords und Bürgerliche, Adelige und Ritter. Sie stellten uns Fragen, und in der Quelle, mit dem Blut Fremder auf unseren Lippen, zeigten die Omen uns die Antworten – gute oder schlechte.

Weissagerinnen waren wir. Heilige Töchter der Aisling-Kathedrale. Heroldinnen der Gottheiten.

Die Jahre kamen und gingen. Ein ums andere Mal trat ich in kaltes, öliges Wasser. Blickte auf zu den Buntglasfenstern, wo Blütenblätter und Flügel zu einer bizarren Fratze verschwammen. Ein ums andere Mal ertrank ich und träumte.

Und über all das Träumen, über all die heiligen Dinge, die es mit sich brachte, brach ich mein Versprechen.

Ich vergaß Sybil Delling vollkommen.

* * *

»Beruhig dich, Bartholomew. Dein Traum ist vorbei.«

In der Sakristei lag ich auf einer Bank hinter einem Samtvorhang und hustete. Ich war wieder in Aisling, wieder in meiner nassen Weissagungsrobe. Die Kathedrale war nun dunkel, ihre Fenster tintenschwarz. Es war Nacht, und ich war allein. Allein, mit Ausnahme von –

»Fünf schlechte Zeichen.« Das war wieder dieser fledermausartige Gargoyle. »Ich bin ja erschüttert, dass der junge König sich nicht eingemacht hat. Ich erfreue mich normalerweise an bitterenDemütigungen, aber zu sehen, wie der junge Castor … oh je. Du reiherst.«

Das tat ich. Die Hände zu Fäusten geballt rollte ich mich auf den Bauch und verteilte meinen kläglichen Mageninhalt auf dem Boden der Sakristei.

Der Gargoyle gab einen schrillen Laut von sich. »Ich habe diese Steine heute Morgen geschrubbt.«

»Ich …« Ich schloss die Augen und atmete schwer. »… bin diejenige, die sie geschrubbt hat.«

»Es war harte Arbeit, dich dabei zu beaufsichtigen.«

Nachdem die Äbtissin mich wachgerüttelt hatte, war der Traum so abrupt vorbeiwie eine Flamme, die erlosch. Aber ich war nach Weissagungen wie benebelt – manchmal noch stundenlang. Dann trug mich ein Gargoyle von neugierigen Blicken weg in die Sakristei, wo ich eine Weile benommen und verschlafen lag. Wenn meine Gedanken sich wieder klärten, war mir immer übel.

Ich stützte mich auf die Knie. »Wie spät ist es?«

»Nachts«, sagte der Gargoyle.

»Das sehe ich. Schlafen die anderen schon?«

»So ist es.« Er schnitt eine Grimasse. »Auch die Ritter.«

Ich hustete. »Der König ist noch da?«

»Die Äbtissin hat ihm den Schlafsaal angeboten. Vielleicht hatte sie Mitleid mit ihm. Und wie sinnlos Mitleid doch ist! Schließlich ist ein Gast auch immer eine Art Eindringling. Tja, während du hier in der Sakristei gefaulenzt hast, hab ich ein paar verirrte Ritter an der Quelle herumlungern sehen. Keine Sorge – ich habe sie eines Besseren belehrt.« Er schnaubte missbilligendund griff dann nach einem Leinentuch, mit dem er mir grob die Galle vom Mund tupfte. »Fühlst du dich besser?«

Alles tat weh. Die Muskeln in meiner Stirn, meinem Kiefer, meinem Bauch – alle schmerzten, weil ich das Quellwasser getrunken hatte. Ich wies keine Spur der Verletzungen auf, die ich mir im Traum zugezogen hatte. Aber der Schmerz meines gebrochenen Schlüsselbeins und meiner gequälten Muskeln saß immer noch wie ein Phantom in meinem Körper.

»Ich habe Durst«, sagte ich rau.

Der Gargoyle warf einen Blick auf den Fußboden, entweiht von meinem Erbrochenen. »Ich würde dich zu deiner Hütte begleiten, aber wie es scheint, sollte ich wischen.«

Ich erhob mich auf wackelige Beine. »Tut mir leid für die Umstände.«

Er rümpfte die Nase und wünschte mir keine gute Nacht.

Die Luft draußen war kühl. Nicht süßlich und faulig wie verrottende Blumen, sondern frisch, und sie fühlte sich reinigend an. Auf der Anhöhe wuchsen keine Bäume – es gab nur Kies und Stein und Grasflecken mit Gänseblümchen. Über mir war der Mond ein bleicher Fingernagel am Himmel, dem nicht daran gelegen schien, meinen Weg zu beleuchten. Es spielte keine Rolle. Selbst mit einem feuchten Schleier um die Augen und ohne Laterne fand ich den Pfad, der hinüber zu den steinernen Nebengebäuden im immerwährenden Schatten der Aisling-Kathedrale führte.

Es gab auf der Anhöhe sechs Gebäude außer der Kathedrale. Das größte war ein zweistöckiger Schlafsaal mit einem angeschlossenen Stall, der oft leer stand, jetzt aber nach dem Mist der Ritterpferde roch. Das zweitgrößte war die mit Efeu bewachsene Hütte, in der die Äbtissin lebte. Direkt dahinter lagen der Speisesaal und zwei weitere Hütten. Eine für die Gargoyles, die weder aßen noch tranken, aber gern schliefen, und eine für die Weissagerinnen.

Das letzte Gebäude war eine winzige Steinhütte, die weit weg auf der Südseite der Anhöhe lag – dort, wo der Wind am lautesten war. Dort ging nie jemand hin. Jene Hütte hatte keine Fenster, nur eine uralte Eisentür. Ein trauriger Abklatsch von Architektur und deshalb komplett verlassen.

Ich marschierte in Stille über das Gelände, bewegte mich vorbei an Stall und Schlafsaal. Alle Fenster waren dunkel. Entweder betrauerten die Ritter die bösen Vorzeichen ihres Königs, oder sie schliefen schon. Doch dann umrundete ich die Hütte der Äbtissin, und der Speisesaal kam in Sichtweite.

Ich blinzelte.

Die Fenster des Speisesaals waren erleuchtet. Und eine Ritterin, bis an die Zähne bewaffnet, stand an der Tür und sah mich direkt an, als ich aus der Dunkelheit trat.

»Oi!«

Stolpernd kam ich zum Stehen.

Die Ritterin, mit einem Schwert am Gürtel und einer tödlich wirkenden Axt in der linken Hand, kam auf mich zu und blinzelte gegen das Licht ihrer Fackel an. »Wer ist da?«

Meine Stimme war nur ein Krächzen. »Sechs.«

»Wer?«

»Sechs.«

Die Ritterin kam näher, leuchtete im gelben Fackelschein. Sie trug kunstvolle Ringe aus Bronze, Gold und Silber in ihrem dunklen kurz geschnittenen Haar. Eine spitze Nase. Runzeln zwischen ihren Brauen und um ihre verengten Augen versicherten mir, dass sie älter war als ich. Ihre grünen Augen waren mit Kohle umrandet; sie weiteten sich, als sie mich musterte. »Verflucht noch mal, Weissagerin.« Sie senkte die Fackel. »Ihr seht aus wie ein Geist in diesem … diesem …«

Ich folgte ihrem Blick auf meine Weissagungsrobe. Die weiße Seide, immer noch nass, überließ kein Stück meines Körpers der Vorstellungskraft. »Ich bin unterwegs in mein Zimmer«, sagte ich abgehackt.

»Um diese Uhrzeit?«

»Ich habe geträumt. Oder habt Ihr die Weissagung vergessen?«

Die Ritterin starrte. Nicht auf die ehrfürchtige Art, wie es Fremde oft taten, wenn sie nach Aisling kamen, sondern eher gründlich prüfend. »Ich habe es nicht vergessen. Aber es sind schon alle zu Bett gegangen. Auch Ihr Weissagerinnen und die Äbtissin.«

»Der Gargoyle hat mich in der Kathedrale ausruhen lassen.«

Sie hob eine Augenbraue. »Ihr müsst Euch nach dem Träumen ausruhen?«

»Ich bezweifle, dass eine einfache Soldatin begreift, wie komplex das Weissagen ist.«

Die Ritterin hob die Braue noch weiter. Für den Bruchteil einer Sekunde schämte ich mich dafür, so von oben herab mit ihr zu sprechen. Aber dann setzte mein gesunder Menschenverstand wieder ein. Schließlich war sie eine Ritterin, die einem König diente, welchem die Omen eindeutig nicht gewogen waren. Da war Reue unangebracht.

»Ich habe Durst«, sagte ich.

»Nun.« Sie tippte mit der Stiefelspitze in den Dreck. »Es wäre dieser einfachen Soldatin eine Ehre, Euch zurück zu Eurer Wohnstätte zu begleiten.«

Ich nickte in Richtung des Gebäudes hinter ihr. »Die Küche ist gleich dadrinnen. Da hole ich mir Wasser.«

»Ich bringe Euch welches.«

»Aufmerksam.« Ich schlüpfte an ihr vorbei. »Aber unnötig.«

»Wartet, Weissagerin.« Sie griff nach meinem Arm. »Wartet –«

Ich riss die Tür zum Speisesaal auf.

Vornübergebeugt und mit offenen Stiefeln saß ein weiterer Ritter auf einem langen Holztisch. Er trug keine Rüstung. Oder ein Kettenhemd. Oder eine Tunika. Er trug gar nichts über den wirren Schnürbändern, die seine Hose oben hielten.

Beim Geräusch der Tür wandte er sich um, und der Blick seiner dunklen Augen blieb an mir hängen. Feuerschein blitzte in den drei Goldringen an seinem rechten Ohr.

Der Ritter von der Straße.

Er rauchte etwas, einen kleinen, glimmenden Zweig, der scharf roch – wie Nesseln. Genau wie vorhin, als wir einander angestarrt hatten – ich auf der Mauer, er auf seinem Pferd –, stand keine Wärme in seinen Augen.

Dann sprach er. Nicht in knappen Rufen wie zuvor auf der Straße, sondern leiser. Und ich dachte: Vielleicht wohnt darin all seine Wärme. In der glühenden, kohlengeschürten Tiefe seiner Stimme. »Was soll das denn, Maude?«

Die Ritterin hinter mir – offenbar Maude – verlagerte ihr Gewicht. Ich war unvermittelt noch halb auf der Schwelle stehen geblieben, sodass sie halb im Türrahmen feststeckte. »Ich hab sie im Dunkeln herumstolpernd gefunden.« Die nächsten Worte sagte sie langsam. Betont. »Sie will sich etwas Wasser holen.«

»He«, rief eine weitere Stimme.

Ich fuhr zusammen. Ich hatte die zweite Gestalt im Raum nicht bemerkt, die am Feuer saß und mich breit grinsendansah. »Das ist meine Weissagerin.«

König Benedict Castor.

Er nickte mir zum Gruß zu und lächelte strahlend und jungenhaft.

Keine Spur mehr von dem zitternden König – dieser hier wirkte, ungeachtet der entsetzlichen Vorzeichen, die sein Traum offenbart hatte, vollkommen gelassen. »Eine besondere Erfahrung, die Weissagung«, sagte er. Er hielt eine große Flasche in den Händen, die er nicht ganz hinter seinem Rücken zu verstecken vermochte. »Danke dafür.«

»Gern … geschehen.« Vielleicht war er betrunken. Kein nüchterner Mann an seiner Stelle hätte so dümmlich gelächelt. Ich wandte meine Aufmerksamkeit Maude zu. »Ich bin nicht im Dunkeln umhergestolpert. Ich war auf dem Gelände unterwegs. Weil ich hier wohne. Ihr seid die Gäste.«

Der halbnackte Ritter glitt vom Tisch. Ich hielt den Blick stur auf sein Gesicht gerichtet und kein bisschen tiefer. Nicht auf seine schlanken Bauchmuskeln, nicht auf das scharfe V, das sie oberhalb seiner Hüfte formten, nicht auf die Linie aus dunklem Haar, die von seinem Nabel zu seinem Hosenbund führte …

»Muss was Besonderes sein.« Rauch drang zwischen seinen geöffneten Lippen hervor. »Eine Weissagerin zu sein.«

Er klang nicht so, als halte er es für etwas Besonderes.

»Zu weissagen ist ein Privileg. Und eine Weissagung zu erhalten ebenfalls. Ihr wüsstet das vielleicht, wenn Ihr der Zeremonie beigewohnt hättet.«

»Ihr habt mich weggehen sehen, oder?«

»Ließ sich kaum vermeiden bei der Schau, die Ihr da abgezogen habt.«

Maude räusperte sich. Der Ritter drehte sich um, und die beiden wechselten einen Blick, den ich nicht deuten konnte. Und dann sah ich es.

Das, was mir entgangen war, solange er mir auf dem Tisch nur halb zugewandt gewesen war.

Der Grund, warum er kein Hemd trug.

Eine Ansammlung dunkler, heftiger Blutergüsse zierte seine rechte Seite. Wunde, fleckige Haut über gewiss mindestens einer gebrochenen Rippe.

»Was ist passiert?«, platzte ich heraus.

Er blickte an seiner Seite hinunter. Betrachtete mich durch eine weitere Rauchwolke. »Geht Euch nichts an.«

König Castor lachte erzwungen. »Kann ich etwas für Euch tun, Weissagerin? Euch vielleicht dieses Wasser bringen?« Er eilte durch den Saal und legte die Flasche, die er hinter seinem Rücken versteckt hatte, auf dem Tisch neben einem schäbigen alten Notizbuch ab. Ich hörte die Flüssigkeit im Inneren glucksen und schwappen.

Ein vertrauter Geruch stieg in die Luft.

Ich schnupperte wie ein Hund. Ich kannte diesen verdammten Geruch. Er füllte den Raum – stieg aus der Flasche auf. Nicht Wein, wie ich angenommen hatte, und auch nicht scharf wie der Rauch des Ritters, sondern süßer. Fauliger.

Wie verrottende Blumen.

Aislings Quellwasser.

Der hemdlose Ritter bedachte mich mit einem finsteren Blick. »Weissagerin?«

Mir drehte sich der Magen um. Galle, die ich gänzlich auf dem Kathedralenboden verteilt geglaubt hatte, stieg erneut in mir auf, und bevor ich auf die Dreistigkeit des Ritters mit meiner eigenen antworten konnte, presste ich eine Hand auf meinen Bauch. Beugte mich vor.

Und übergab mich auf seine Stiefel.

* * *

Ich rannte.

Maude taumelte noch mitten in ihrem alarmierten Aufschrei rückwärts. »Was zur –«