The Last Wish of Bristol Keats - Mary E. Pearson - E-Book

The Last Wish of Bristol Keats E-Book

Mary E. Pearson

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Beschreibung

Das Schicksal Elfheims liegt in ihren Händen

Fast hätte Bristol ihren Geliebten, den Feenkönig Tyghan, an die Monster verloren, die ihre Mutter auf ihn losgelassen hat. Doch ihre Liebe wurde durch die überstandenen Gefahren nur noch stärker. Gemeinsam setzen sie alles daran, die Bedrohung für Elfheim abzuwenden. Als eine Rettungsmission scheitert und das Leben eines Gefährten kostet, wird Bristol klar, wie gefährlich ihre Mutter wirklich ist. Sie und Tyghan stehen vor einem Scheideweg: Der Feenkönig muss sich endlich Bristols Vater stellen, der einst sein bester Freund war und ihn in seiner dunkelsten Stunde verraten hatte, und Bristol kämpft mit der Erkenntnis, dass die Magie, die in ihr schlummert, sie in ein Monster verwandeln könnte. Beide müssen eine Wahl treffen, die sie alles kosten könnte, was ihnen lieb und teuer ist.

»Atmosphärisch, voller Romantik und Action. Man will Elfheim und Bristols wunderbare Found Family gar nicht mehr verlassen.« Library Journal

»Mary E. Pearson ist die neue Königin von Faerie!« STEPHANIE GARBER

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Seitenzahl: 718

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Motto

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Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Mary E. Pearson bei LYX

Impressum

Mary E. Pearson

The Last Wish of Bristol Keats

Roman

Ins Deutsche übertragen von Ulrike Raimer-Nolte

Zu diesem Buch

Fast hätte Bristol ihren Geliebten, den Feenkönig Tyghan, an die Kreaturen verloren, die ihre Mutter auf ihn losgelassen hat, doch ihre Liebe wurde dadurch nur noch stärker. Gemeinsam setzen sie alles daran, zu verhindern, dass der König von Fomoria mit der Hilfe von Bristols Mutter Maire die Macht an sich reißt. Als eine Rettungsmission scheitert und ein Leben kostet, wird Bristol klar, wie gefährlich Maire ist und dass sie den Namen »Das Monster der Dunkellande« wirklich verdient hat. Bristol und Tyghan stehen vor einem Scheideweg: Der Feenkönig muss sich endlich Bristols Vater stellen, der einst sein bester Freund war und ihn in seiner dunkelsten Stunde verraten hatte, und Bristol sucht verzweifelt einen Weg, nicht nur Elfheim, sondern auch Maire zu retten. Denn sie ist nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben, dass die liebevolle und lebensfrohe Mutter, die sie einst kannte, noch in der dunklen Kreatur steckt. Und als wäre das alles noch nicht genug, kämpft Bristol mit der Wahrheit, dass die Magie, die in ihr schlummert, sie in ein Monster verwandeln könnte … Beide müssen eine Wahl treffen, die sie alles kosten könnte, was ihnen lieb und teuer ist.

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr auf hier eine Contentwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle

das bestmögliche Leseerlebnis.

Für meinen Mann.

Ich habe mit dir eine Tür durchschritten

und dort Magie gefunden.

Seitdem habe ich nie zurückgeschaut.

Es war der Stoff von Legenden: Die Amour fou zwischen der Königin von Elfheim und dem Prinzen der Danu, die am Ende erbitterte Feinde wurden. In einem Anfall von ungezügeltem Zorn verwandelte der Prinz die junge, liebreizende Königin in einen Frosch, und sie wurde von einer vorbeiflatternden Krähe im Schnabel davongetragen. Niemand hat sie je wiedergesehen. Die Geschichte trieb vielerlei Blüten, wie üblich unter den gelangweilten, untätigen Höflingen, und es mangelte nicht an Spekulationen, sodass bald niemand mehr zu sagen vermochte, welche Version der Geschichte die Wahrheit war. Aber das spielte auch kaum eine Rolle, denn wie wir alle wissen, führen Legenden immer ein Eigenleben.

Anastasia Wiggins

Enzyklopädie des Feenlands

1

Vier rosa Blütenblätter lagen nebeneinander auf Bristols Fensterbrett, seidenweich und wie dazu geschaffen, noch den dunkelsten Tag zu erhellen.

»Mehr«, wisperte Deek. Er und die anderen Nymphen verschwanden in einer wirbelnden Wolke und kehrten in den Garten zurück, bis die Rose leer gezupft und das breite, steinerne Fensterbrett übersät war.

Ob das genügen würde?

Deek hatte die anderen Nymphen schon über den Anlass aufgeklärt. Am Ende des Tages wird dieses Zimmer voller Schmerz sein. Er hatte zukünftige Tränen in der Luft geschmeckt, wie es nur Nymphen konnten. Die salzige Süße wärmte ihm die Haut, aber brach ihm das Herz.

Und er wollte nicht, dass es der Sterblichen ebenso erging. Ihr Herz war schon wund genug, daher fürchtete er, es könne womöglich ganz aufhören zu schlagen. Auch diese Möglichkeit schmeckte er im Wind.

Bristols Zimmer war makellos und jede Spur ihrer wütenden Raserei beseitigt. Eine neue Vase mit Hyazinthen stand auf dem Frühstückstisch, und der Fußboden war gänzlich frei von zerbrochenem Geschirr. Schmetterlinge gaukelten wieder über den Teppich mit dem Waldbodenmuster, und die grünen Augen ihres Fuchses lugten aus dem gewebten Bau in der Ecke. Sogar die rauchgeschwärzte Decke über der Badewanne war nun weiß und fleckenfrei. Jedes Indiz für den erbitterten Streit war verschwunden, doch die verletzenden Worte klangen in ihrem Inneren nach und würden sich nicht so schnell fortwischen lassen.

Bristol ließ den Gedanken vorbeidriften, anstatt sich darin zu verlieren, denn jetzt hatte sie Wichtigeres zu tun. Sie hastete durch ihr Zimmer, tauschte die Kleidung des gestrigen Tages gegen ihre Reitausrüstung samt der Lederstiefel. Das Gleiche tat Tyghan in seinen Gemächern, denn er hatte es ebenso eilig, sich auf den Ausritt vorzubereiten. Nachdem ihre Pläne fast gescheitert waren, hatte das Schicksal ihnen eine zweite Chance beschert. Heute würde es ihnen und dem Rettungstrupp gelingen, Cael zu befreien. Bristol hallten noch die Jubelrufe während der Beltane-Feier auf Schloss Forstgrat in den Ohren, als die Vision im Rauch enthüllt hatte, dass Cael am Leben war. Auch wenn Tyghan ungern zugab, dass er seinen Bruder liebte, war doch merkbare Erleichterung über sein Gesicht gehuscht. Niemand, nicht einmal ein König, sollte gezwungen sein, zwischen Pflichterfüllung und dem Leben des Bruders zu wählen. Heute würden sie Cael nach Hause bringen.

Bristol setzte sich auf die Chaiselongue, um ihre Stiefel zuzuschnüren, doch dann lenkte die offene Schranktür sie ab. Sie spürte ein Flattern in ihrem Magen. Tyghans Kleidung hing wieder neben ihrer. Wahrscheinlich hatten die ordnungsfanatischen Hobs die verstreuten Sachen im Flur entdeckt und nicht gewusst, wohin damit. Bristol war selbst überrascht, dass sich ein Gefühl der Leichtigkeit in ihr ausbreitete, als würde sich eine Faust um ihr Herz lösen. Seine Kleidung war wieder da – und sie war froh darüber.

Was sich vergeben lässt, ist eine Frage des Herzens …

Hatte sie ihm vergeben?

Heute Morgen in der Dämmerungsstunde, als sie noch unter der Bettdecke lagen und ihre Beine ineinander verflochten waren, hatte Tyghan sie zu sich herangezogen und ihre Handfläche geküsst. Wir bringen das wieder in Ordnung, Bri, versprochen, hatte er geflüstert. Allerdings hatte er offengelassen, was genau er mit das meinte. Vielleicht machte es Sinn, erst einmal vage zu bleiben. So konnten sie schrittweise einen Teil ihres Lebens zusammenflicken und sich dann an das nächste Problem wagen. Wie Tyghan erzählt hatte, führte Eris bereits seinen Befehl aus, auf die Ratsversammlung einzuwirken. Briefe befanden sich auf dem Weg zu ihren weit verstreuten Heimstätten, um sie zurück in den Palast zu rufen und noch einmal über das Schicksal ihres Vaters abzustimmen. Tyghan selbst hatte den Tötungsbefehl für ihre Mutter widerrufen. Aber nicht ihre Gefangennahme. Man wird sie einsperren.

Dafür hatte Bristol Verständnis, zumindest vorerst. Wenigstens würde ihre Mutter als Gefangene die Atempause bekommen, die sie brauchte, um Kormicks verführerischen Einfluss abzuschütteln. Überraschenderweise machte Bristol sich inzwischen weniger Sorgen um ihren Vater. Immerhin war er nicht wirklich von den Drauw entführt worden, Kormick hielt ihn weiterhin für tot, und Tyghan arbeitete daran, die Menschenjagd auf ihn abzublasen. Also würde ihr Vater wohl heil aus der Sache herauskommen. Logan Keats, Rían Kumar, Kierus der Schlächter von Celwyth war ein Mann der tausend Gesichter und Leben. Er landete immer auf den Füßen, hatte immer einen Plan und ein festes Ziel vor Augen. So war es ihm gelungen, seine Familie zwei Jahrzehnte lang zu beschützen. Dafür hatte er mehrere Königreiche an der Nase herumgeführt … und das mit drei Kindern im Schlepptau.

Aber vielleicht war der Hauptgrund für ihre mangelnde Besorgnis, dass er sich so barsch geweigert hatte, ihre Hilfe oder ihren Rat anzunehmen. Nach allem, was sie für ihn getan hatte, tat diese Ablehnung immer noch weh. Du solltest nach Hause gehen. Als sei ihr Versuch zu helfen nur eine unerwünschte Einmischung. Sein Ziel war jetzt ausschließlich ihre Mutter, und er fokussierte sich ganz auf seine eigenen Pläne, sie zu finden. Bristol dämpfte ihre Sorge und den Schmerz damit, dass Logan Keats nicht nur ein Künstler, sondern auch ein begnadeter Krieger war. Ein wahrer Meister des Taktierens, auch ohne ihre Hilfe. Bestimmt würde er seinen Feinden noch eine Weile länger ausweichen können.

Seinen Feinden. Der Gedanke bohrte sich in sie hinein wie Katzenkrallen, als ihr schmerzhaft bewusst wurde, welche Kluft noch immer zwischen Tyghan und ihr lag. Einerseits die Wut über all die schweren Jahre der Flucht, die hinter ihrer Familie lagen, aber gleichzeitig ihr schlechtes Gewissen wegen der schrecklichen Tortur, die Tyghan hatte ertragen müssen. Irgendwann würden sie darüber reden müssen, damit aus den harten Worten und Entscheidungen etwas wurde, mit dem sie beide leben konnten. Aber wenigstens bemühte er sich, ihre Forderungen zu erfüllen, was kein kleines Zugeständnis war. Julias Worte klangen ihr wieder klar und deutlich in den Ohren: Jede verwundete Seele heilt auf eigene Weise. Tyghans blutete noch immer wegen des Verrats ihres Vaters. Er hatte zu sehr gelitten, um irgendwo in seinem Herzen dafür Vergebung zu finden. Aber hätte Logan Keats ihn damals vor vielen Jahren nicht verraten …

Die brutale Wahrheit lautete: Nur durch die schreckliche Tat ihres Vaters war Bristol auf der Welt. Ihr lautstarker Streit mit Tyghan im Pantheon echote noch immer in ihr nach.

Du wolltest meine Mutter töten!

Da war sie noch nicht deine Mutter! Sie war ein Monster, das ganz Elfheim terrorisiert hat!

Die widersprüchlichen Fakten brachten ihren Kopf fast zum Zerspringen. Tyghan hatte seinen besten Freund verloren und eine unvorstellbare Hölle durchlebt, doch nur wegen dieses Verrats gab es sie überhaupt. Die Vergangenheit war wie ein dunkles Puzzle aus tausend Teilen, die alle nicht zusammenpassten.

Morgenlicht blinzelte durch ihre Vorhänge. Bristol stand von der Chaiselongue auf, nahm ihren Dolch vom Regal und steckte ihn in den Gürtel. Dieser Akt war inzwischen so selbstverständlich wie Zähneputzen. Was war aus ihr geworden? Hatte sie sich völlig neu erfunden, genau wie ihr Vater damals? Sie warf einen Seitenblick in den Spiegel und erkannte sich kaum wieder. Reitstiefel, lederne Armstulpen mit eingesetzten Amuletten und eine Waffe, die lässig von ihrer Hüfte baumelte … und die sie ohne Zögern benutzen würde, wenn nötig. Sie schüttelte den Kopf. Mut entsprang den seltsamsten Quellen, in ihrem Fall der Furcht. Angst war das mächtige Elixier, das sie nach Elfheim versetzt hatte … denn die Vorstellung, für immer auf der Flucht zu sein, hatte ihr den Atem verschlagen.

Sie hatte nie ein Leben führen wollen wie ihre Eltern, und für ihre Schwestern hatte sie das auch nicht gewollt – besonders für Harper, die an Happy Ends glaubte. Vielleicht wollte sie das noch immer für ihre kleine Schwester erreichen. Ein glückliches Ende. Bristol hatte hier und jetzt die Chance, für Harper ein echtes Zuhause zu erkämpfen. Einen Ort, wo Harper zuschauen konnte, wie die Jahreszeiten wechselten, wie der Ulmenbaum im Vorgarten bis übers Dach wuchs, wie die Eingangstreppe allmählich immer ausgetretener wurde. Wo Harper im selben Bett schlafen konnte, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Sie würde ihre Lebensgeschichte als etwas Solides und Kontinuierliches in sich herumtragen, das sie in der Welt verankerte. So etwas hatte Bristol nie gekannt.

Sie nahm das keltische Kurzschwert vom Schrank und schob es in seine Scheide. Mut hatte für sie nichts mit Stärke oder Weisheit zu tun, sondern fühlte sich bloß wie unschöne Notwendigkeit an. Sie würde nie wieder die Macht der Angst unterschätzen.

Auch gestern hatte sie sich von Angst treiben lassen, als sie in Tyghans Gemächer geplatzt war. Sie hatte sich so sehr um ihn geängstigt, dass ihre Wut dagegen verblasst war. Weil sie gefürchtet hatte, dass Tyghan aufgeben könnte, dass diesmal die Dämonen gewinnen würden und sie ihn für immer an die Monster verlor, die ihre Mutter zu entfesseln pflegte.

»Darf ich eintreten?«

Bristol wirbelte herum. Tyghan lehnte am Türrahmen, gesunde Farbe im Gesicht und das vertraute eisklare Glitzern in den Augen. Dieser kurze Blick auf ihn genügte, um zu wissen, dass sie ihn tatsächlich gerettet hatte, und unverhofft begannen ihre Augen zu brennen. Vielleicht lag es daran, dass sie so kurz davor gewesen war, ihn zu verlieren, oder an all den Worten, die sie einander ins Gesicht geworfen hatten und nicht mehr zurücknehmen konnten. Ja, dachte sie, Ich will, dass du bei mir eintrittst. Damit ich dich in den Armen halten und küssen kann und dein Herz kräftig an meinem schlägt. Komm herein, als hätte es die letzten zwei Tage nie gegeben.

»Natürlich«, sagte sie.

Zu ihrer Verwunderung blieb er an der Tür stehen, und sein stoppeliger Viertagebart machte ihn noch attraktiver als sonst, falls das überhaupt möglich war. »Wieso bist du gestern zurückgekommen und hast mir geholfen?«, fragte er.

Er sah aus wie das Urbild eines Kriegers – selbstbewusst und tödlich, mit breiten Schultern und griffbereitem Schwert. Äußerlich. Aber sie sah auch die steile Falte zwischen seinen Brauen, den unbehaglich gespannten Kiefer, die Unsicherheit hinter der arroganten Fassade. Sie sah den Prinzen, der er vor Kurzem noch gewesen war. Bis vor wenigen Monaten hatte er Befehlen und einem Plan gehorcht, den ihr Vater ausgeheckt hatte. Und dann hatte sich das Schicksal eingemischt. Liebe. Die unerwartete und doch beständige Liebe zwischen Kierus und Maire hatte alle Pläne auf den Kopf gestellt.

»Ich bin zurückgekommen, weil ich eine zweite Chance noch kostbarer finde als eine erste«, sagte Bristol und bemühte sich, ihre Stimme nicht zittern zu lassen. »Weil ich dich gestern mehr geliebt als gehasst habe. Weil es mir weh tat, wie viel du erleiden musstest, und auch, wie viel ich selbst erleiden musste. Ich wollte nicht, dass wir beide an Entscheidungen zugrunde gehen, die nur zum Teil unsere eigenen waren. Ich wollte dich nicht verlieren. Dann hätten wir nie eine Gelegenheit bekommen, alles wieder in Ordnung zu bringen.«

Alles. Was zwischen ihnen lag. Ihre Beziehung war es wert, gerettet zu werden.

»Also ist das hier ein Neuanfang?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das hier ist die Chance, uns an allem festzuklammern, was noch zwischen uns besteht. Gemeinsam die Knoten zu entwirren und von diesem Punkt vorwärts in die Zukunft zu gehen.«

Er betrat das Zimmer, als habe sie eine unsichtbare Tür geöffnet, und zog Bristol in die Arme. »Ich wünschte, wir müssten nicht fort«, flüsterte er.

Sie schob ihn energisch zurück. »Müssen wir aber. Diese Mission ist ebenfalls eine zweite Chance. Jetzt können wir zu Ende bringen, was wir angefangen haben. Ich habe Kormick ja nicht zum Spaß die Haare ausgerissen.«

»Du hast breit gelächelt, als du sie aus der Tasche gezogen hast.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Okay, vielleicht hat es doch ein bisschen Spaß gemacht.«

Sie ließ noch einmal den Blick durch den Raum schweifen, um sicherzugehen, dass sie nichts vergessen hatte. Dabei bemerkte sie den Streifen aus rosa Blütenblättern auf dem Fensterbrett. Sie lächelte und fragte sich, warum Deek sie dort platziert hatte.

»Lass uns gehen«, sagte sie, und dann verließen Tyghan und sie Hand in Hand das Zimmer.

2

Meister Holzbock hatte die Pferde bereits gesattelt. Ihr Fell schimmerte im nebeligen Morgenlicht, und der Atem der Tiere kringelte sich in der kühlen Luft. Sie stampften und schnaubten ungeduldig und wollten aufbrechen – alle, bis auf Augustus, der beleidigt im Stall stand. Er musste zurückbleiben, weil der König unpässlich war und Bettruhe brauchte. Augustus nahm es nicht gut auf, dass er auf das Abenteuer und den Ruhm dieser Rettungsmission verzichten sollte.

»Mach dir nichts draus, alter Junge«, tröstete Meister Holzbock ihn. »Nächstes Mal –«

»Sind alle bereit?«

Meister Holzbock drehte sich hinkend in Richtung der Stimme um.

In der Stalltür stand Tyghan mit Bristol an seiner Seite. Drei Rekrutinnen folgten ihnen auf den Fersen. Der alte Stallmeister überschlug sich fast vor Entschuldigungen, weil er den königlichen Hengst noch nicht reitfertig hatte. »Eure Majestät! Anscheinend habe ich Kastas Befehle missverstanden.«

Tyghan marschierte am Stallmeister vorbei. »Kein Problem, ich sattele Augustus selbst.«

So sprachlos Meister Holzbock auch war, wurde er noch von Kasta übertroffen, die gerade aus dem Raum mit dem Reitzeug kam. Das Seil, das sie über die Schulter geworfen hatte, rutschte zu Boden. »Was machst du denn hier? Ich dachte –«

»Mir geht es wieder besser.« Er warf einen Seitenblick auf Bristol. »Die Nachtruhe hat mir gutgetan, schätze ich.«

»Nachtruhe?«, wiederholte Kasta verwirrt. Erst gestern war Tyghan rasend zornig auf Bristol gewesen. Und als er letztes Mal von Dämonen geplagt worden war, hatte er Wochen gebraucht, um sich zu erholen. »In Ordnung«, sagte sie zögernd, »aber warum sind sie hier?« Kasta machte eine Handbewegung in Richtung der Rekrutinnen, die noch immer wartend im offenen Stalltor standen. »So hat der Plan nicht gelautet –«

»Jetzt schon«, gab Tyghan zurück und sammelte Augustus’ Zaumzeug zusammen. Er schnappte sich die Reitdecke und den Sattel, um sie zur Pferdebox zu tragen. »Die Rekrutinnen sollten zusammenbleiben«, erklärte er. »Olivia und Esmee haben betont, welche Stärke sie gemeinsam als Team entwickeln können. Ihre Magie unterstützt sich gegenseitig. Erkläre den Übrigen die Pläne.« Womit er Julia, Sascha und Avery meinte, die eigentlich nicht hatten mitkommen sollen … und natürlich Bristol. »Außerdem werden wir auf dem Weg den Zwischenstopp einlegen«, fügte er hinzu, »den wir ursprünglich geplant hatten.«

Tyghan sprühte so sehr vor Energie, dass er die Kälte in Kastas dunklen Augen nicht bemerkte. Zumindest hatte Bristol diesen Eindruck. Der Blick der Kommandantin glitt schneidend über sie hinweg, als würde sie ihr die Schuld für die Planänderung geben. Aber Kasta riss sich schnell zusammen, hob das zusammengeringelte Seil auf, das ihr heruntergefallen war, und fuhr mit ihren Vorbereitungen fort. Wie immer benahm sie sich als Soldatin vorbildhaft, blickte nach vorn und folgte den Befehlen ihres Freundes und Vorgesetzten. Bristol bewunderte, wie messerscharf sie sich fokussieren konnte, keine Zeit auf ihre Gefühle verschwendete und allein der Pflicht diente. Am heutigen Tag ging es nicht um persönliches Ego, auch nicht um Kastas, sondern um das gemeinsame Ziel, das sie hatten. Vergangene Verletzungen mussten beiseitegeschoben werden, denn es gab davon nur allzu viele, gleichmäßig verteilt auf alle Seiten. Aber heute spielte nur eines eine Rolle, und zwar das zukünftige Überleben von ganz Elfheim … und der Menschenwelt. Enttäuschungen und harsche Forderungen mussten warten, Streitereien galt es später zu schlichten. Inzwischen blieben weniger als drei Wochen bis zur Wahlzeremonie, und die Zeit lief ihnen davon.

Und dennoch, als Tyghan sie sanft am Nacken berührte, wandte Kasta scharf den Kopf ab. Unausgesprochene Fragen knisterten in der Luft. Seit dem gestrigen Tag hatte sich alles drastisch verändert.

Bristol spürte vage Schuldgefühle, als habe sie die Stellung der Kommandantin untergraben … ausgerechnet Kastas, die ihrem Vater insgeheim eine zweite Chance gegeben hatte. Insgeheim. Und was für ein großes Geheimnis das war. Kasta hatte damals Kierus und Maire im Wald entdeckt, aber war tatenlos gegangen, ganz im Gegensatz zu Tyghan. Warum?, fragte Bristol sich nun. Wenigstens ließ die Kommandantin sich keinen weiteren Ärger wegen der Planänderung anmerken. Sie war nun zu beschäftigt, alle auf den aktuellen Stand zu bringen, wie der König befohlen hatte.

Diesmal ging es nicht um eine militärische Übung, sondern eine echte Mission. Schritt eins: unbemerkt bleiben. Schritt zwei: Cael befreien. Schritt drei: lebend zurückkehren. Dazwischen gab es noch eine Unzahl anderer Schritte, Regeln und Aufgaben, die Kasta mit ihnen durchging, aber diese drei waren die Hauptsache. Sie betonte, dass völlige Lautlosigkeit entscheidend war, wenn sie auf dem Boden aufsetzten, sogar unter dem Schleier der Unsichtbarkeit. Die Magie verbarg keine Geräusche. Ein Flüstern, ein unter der Sohle knackender Zweig oder zurückschnappende Äste, die unvorsichtig mit der Schulter gestreift wurden … all das konnte vom Feind gehört werden. Ganz davon abgesehen, dass Kormick mächtige Magier in seinen Diensten hatte. Wenn jemand von ihnen misstrauisch wurde, konnte er einen Erkennungszauber über sie hinwegfegen lassen und ihre Position enthüllen.

»Aber wir werden ihnen keinen Grund für Misstrauen geben, klar?«, fragte Kasta.

Die Rekrutinnen nickten.

»Nur auf mein Kommando werden wir die Unsichtbarkeit abstreifen, damit wir unsere vollen Kräfte entfalten können. Verstanden?«

»Verstanden«, antwortete Julia für sie alle.

Bei ihren Drills hatte unauffälliges Anschleichen auf dem Lehrplan gestanden, aber nun ging es nicht länger um Theorie, sondern ums Überleben. Sie würden sich bald in feindlichem Territorium befinden … dort, wo Bristols Mutter gemeinsam mit Kormick hauste. Wo sie mit ihm zusammenarbeitete. Bristols Mund wurde trocken, und sie warf einen unauffälligen Blick auf die befreundeten Rekrutinnen. Für den Flug waren sie jeweils einem Danu-Ritter mit Pferd zugeteilt. Rose und Hollis waren sichtlich erleichtert, dass sie nicht als Einzige an der Mission teilnehmen würden, sondern die anderen nun auch dabei waren. Sie glühten vor Eifer. Aber Bristol sah die Szene und ihre Freundinnen anders.

Wenn es bedeutet, dass deshalb mehr von unseren Rittern sterben müssen.

Nie zuvor war ihr so deutlich bewusst gewesen, wie verletzlich sie waren. Meine Mutter wird ihnen nichts tun, sagte sie sich, bis es wie ein Mantra klang. Meine Mutter würde niemals –

Nein, aber die Ruhelosen.

Kormicks entsetzliche Krieger.

Und Kormick selbst.

Wie weit wirst du noch gehen?, hatte sie Kormick gefragt, und er hatte ohne Zögern geantwortet: So weit, wie es eben nötig ist. Er würde absolut alles tun, um der Herrscher von Elfheim zu werden und den Füllhornkessel zu kontrollieren, der die Reiche unter seine Knute zwang.

Bristol schloss die Augen und sah wieder seinen gefühllosen Blick, als er sie in die dunkle Gasse gedrängt hatte. Unseelie. Die Verzweiflung ihres Vaters schwappte über sie hinweg. Bei ihm ist sie nicht länger sie selbst. Aber wer war sie dann? Hatte Bristol ihre Mutter jemals wirklich gekannt? Die Antwort war offensichtlich. Nein. Ihre Mutter war zu geübt darin, Geheimnisse zu haben und Rollen zu spielen. Vielleicht war sie bei Kormick die Person, die sie sein wollte, nämlich mächtiger als jeder Albtraum.

»Das hier solltet ihr nicht vergessen«, sagte Cully und reichte Kasta einen kleinen Hasen, der magisch in einen ruhigen Schlaf versetzt worden war. Kasta legte ihn in ihre Satteltasche. Er sollte als Wechselbalg dienen. Für die Verwandlung war ein mächtiger Glamour nötig gewesen, der lange Zeit überdauerte. Mit gewöhnlichen Zaubern dieser Art hatte er so viel Ähnlichkeit wie eine Sandburg mit einer Festung aus Granit. Der Hase konnte nun wochenlang die Stelle von Cael einnehmen. Solch eine Magie hatte Bristol noch nie gesehen. Nur die stärksten Zauberkundigen waren dazu fähig, und glücklicherweise gehörte Olivia zu ihnen.

Julia stellte sich unauffällig neben Bristol. »Ich nehme also an, ihr beiden habt eure Differenzen beigelegt?«

Bristol nickte. »Bisher blieb uns nicht viel Zeit für klärende Gespräche, aber wir arbeiten daran.«

»Gut«, sagte Julia. »Das solltet ihr wirklich tun, sonst holen euch die Differenzen irgendwann wieder ein.«

»Ja, weiß ich. Danke, Julia. Auch dafür, dass ich in deinem Zimmer schlafen und mich an deiner Schulter ausweinen durfte.«

Sie lächelte, und um ihre schönen Katzenaugen bildeten sich Lachfältchen. »Dafür sind Freundinnen und Schultern schließlich da.«

Dann gingen sie zusammen mit den anderen zu den wartenden Pferden.

Averys neues Selbstbewusstsein strahlte auf ihrem von der Sonne geküssten Gesicht, Sommersprossen waren wie Sterne über ihre Wangen gestäubt. Rose und Hollis plauderten aufgeregt miteinander. In Bristols Brust flatterte der Atem kaum merklich. Niemand wird bei dieser Mission sterben, versprach sie sich. Niemand.

Sie wünschte, Glennis wäre endlich von ihrer Patrouille zurück. Die Faunin fand immer die richtigen Worte für die Rekrutinnen, verbreitete Ruhe und Zuversicht. Das hätten sie jetzt alle dringend gebraucht. Manchmal konnte ein einziges Wort mehr Kraft entfesseln als jede Magie und Macht des Universums.

Augustus beugte die Knie, damit Bristol und Tyghan sich leichter auf seinen Rücken schwingen konnten. Von hinten legte Tyghan die Arme um sie und nahm die Zügel in die Hand. »Aufwärts, marsch!«, rief er, die Danu-Rösser preschten gleichzeitig los und erhoben sich in den Himmel.

3

Die Grenze des Königreichs Danu war nur noch eine Anmutung von Grün, als sie hinter dem Rittertrupp verschwand. Tyghan hob die Hand zum Signal, dass sie sich alle in Dunkel hüllen sollten. Einer nach dem anderen verblassten Ross und Reiter und verschmolzen mit dem Himmel, bis sie für jeden Späherblick von unten oder oben unsichtbar waren. Da Bristol diese Fähigkeit noch nicht erworben hatte – und vielleicht nie besitzen würde –, hüllte Tyghan sie in seinen eigenen Kreis der Unsichtbarkeit. Nur dank eines Amuletts von Meister Reuben konnten sie einander noch erahnen.

Der Trupp hielt sich in Zugvogel-Formation hinter Augustus, ein Ballett aus weißen Schwänen. Sie stiegen und sanken, wendeten im Gleichklang, ein majestätischer Anblick, ein mörderisches Wunder. Bei ihrer Eleganz vergaß man fast, wie tödlich diese Schlachtrösser sein konnten.

Tyghan schaute über die Schulter und gab ein weiteres Signal. Es hieß, dass Kasta die Führung übernehmen sollte. Sie musterte ihn verunsichert, bis er die Handbewegung wiederholte. Erst dann kam sie zur Spitze des Trupps geflogen, und er ließ sich mit Bristol zurückfallen. Ihm war klar, was er seiner Kommandantin zugemutet hatte, als er in letzter Minute mit vier Rekrutinnen im Schlepptau aufgetaucht war. Besonders mit Bristol an seiner Seite. So etwas passte nicht zu Kastas Strategiestil. Es war nicht seine Absicht gewesen, sie vor allen Leuten auf dem falschen Fuß zu erwischen. Im Übrigen hatte sie die Rekrutinnen gedrillt und auf diese Mission vorbereitet, also übernahm sie am besten auch die Führung. Aber die Geste besagte noch mehr. Kasta war nicht nur eine kluge, umsichtige Kommandantin … sie war seine loyale, lebenslange Freundin. Er war ihr ein Zeichen des Vertrauens schuldig.

Davon abgesehen hatte er ein weiteres Motiv. Ein egoistisches. Er wollte sich ganz und gar auf Bristol und ihre Sicherheit konzentrieren können. Sie würden gleich in einem Gebiet landen, das ein Dutzend Spähertrupps als wahrscheinlichsten Ort des Dämonenportals ausgemacht hatten – eine tiefe, schmale Schlucht von einer halben Meile Länge. Die Grenzwachen in Nebelbruch hatten nahe dem östlichen Schluchtende häufig Schwärme der Ruhelosen am Himmel beobachtet, allerdings war der exakte Ort weiterhin unklar. Überhaupt wirkte die Stelle seltsam gewählt für das Portal. War es denn wahrscheinlich, dass es sich am Rand von Fomoria befand anstatt tief im Landesinneren? Falls sie sich hinsichtlich der Schlucht irrten, würden sie das Portal auf keinen Fall rechtzeitig vor der Wahlzeremonie finden. Das hieß, sie würden Kormick nicht davon abhalten können, den Thron von Elfheim zu beanspruchen.

Falls das Portal jedoch dort war –

Tyghan spürte, wie seine Brust sich in einer Mischung aus Hoffen und Bangen verengte. Als Krieger sollte man sich nicht auf die Hoffnung verlassen, und für Angst war kein Platz, wenn man sich auf dem Weg in die Schlacht befand. Berechnung und Selbstgewissheit pochten für gewöhnlich fiebrig durch seine Adern, bevor er auf den Feind traf. Nun griff er nach Logik, um die ungewohnten Gefühle abzuschütteln: Für diesen Moment hatten sie alle trainiert. Ganz besonders Bristol. Also würde ihr nichts passieren.

Die Schlucht kam in Sicht, und Tyghans Puls begann feurig zu rasen. »Wir gehen in den Sinkflug«, flüsterte er Bristol ins Ohr. »Behalte das Ostende im Auge. Das hier ist vermutlich unsere letzte Chance, das Portal zu finden. Am Tag der Zeremonie werden wir keine Zeit dazu haben.«

»Unsere letzte Chance. Bloß kein Druck, ja? Danke vielmals, Eure Majestät.« Obwohl sie versuchte, ihre Stimme beiläufig klingen zu lassen, hörte er das nervöse Flattern darin.

»Du schaffst das schon. Lass dir einfach Zeit und denk daran, dass wir heute nichts weiter mit dem Portal vorhaben, als es zu finden.«

Die Reihenfolge war strategisch wichtig. Wenn sie das Portal jetzt schon schlossen, würde das Misstrauen wecken, und Kormick würde natürlich die Tuatha de Danann als Hauptverdächtige betrachten. Er würde Maire einfach befehlen, das Portal wieder zu öffnen, und dann sämtliche Dämonen der Hölle auf sie loslassen. Also mussten sie bis zur allerletzten Minute warten, sodass Maire keine Gelegenheit mehr hatte, etwas zu unternehmen. Ein Portal zu schließen dauerte nicht lange. Eines zu öffnen war hingegen viel zeitaufwendiger und glich eher der komplizierten Umsetzung eines Bauprojektes. Die historischen Quellen berichteten, dass dafür mehrere Tage nötig sein konnten. Vielleicht würde das Dämonentor sogar noch mehr Zeit erfordern. Erst wenn Kormick und sein Tross zur Königswahl eingetroffen waren und der ganze Pomp und Prunk begann … dann würde Bristol das Portal schließen.

Tyghan war froh, dass sie sich wegen dieser Aufgabe nicht in der Nähe des Schlachtfelds befinden würde. Während sie weit entfernt war, würden die Danu-Ritter und die Truppen ihrer heimlichen Verbündeten in Elfheim um den Schicksalsstein herum ausschwärmen und Cael den Weg freikämpfen, damit er seinen Thron besteigen konnte. Eine Schlacht war unvermeidlich, aber dafür waren sowohl Danu als auch die anderen Königreiche gerüstet. Sobald Cael den Titel errungen hatte, waren Kormicks Pläne gescheitert … und der Füllhornkessel außer Reichweite seiner gierigen Hände.

Augustus zog Kreise am Himmel, und Bristol musterte die Landschaft.

»Etwas Auffälliges?«, fragte Tyghan.

»Bisher nicht.«

Sie flogen noch eine Runde. Nichts. »Vielleicht sollten wir ein bisschen weiter östlich nachschauen –«

Kasta näherte sich ihnen. »Oder vielleicht muss sie ihre Unsichtbarkeit abwerfen, um ihre volle Magie zur Verfügung zu haben.«

Sie schien Tyghans Gedanken gelesen zu haben, aber er zögerte trotzdem.

»Wir bilden einen Schutzkreis um euch. Niemand wird an uns vorbeikommen«, fügte Kasta hinzu.

»Okay, machen wir es«, entschied Bristol. Daraufhin ließ Tyghan den Schleier verwehen, der sie verborgen gehalten hatte.

Sofort zuckte Bristol sichtbar zusammen.

»Was ist?«, fragte er.

Sie presste die Hand auf ihren Brustkorb. »Es fühlt sich so eng an.«

»Sollten wir lieber fortfliegen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist hier. Irgendwo ganz in der Nähe.« Sie richtete den Blick nach Süden. »Dort entlang.«

Tyghan blickte verwirrt in die Richtung, in die ihr Finger wies. Die Späherberichte hatten anders gelautet. »Bist du sicher –« Natürlich, dachte er dann. Süden. Möglichst dicht hinter der Bergkette. Dort lag der direkteste Weg von Fomoria zum Schicksalsstein. Nur einen kurzen Ritt entfernt, wenn Kormick bei der Zeremonie auf Widerstand traf und Maire in letzter Minute weitere Dämonen herbeirufen musste.

Sie flogen noch einmal in Richtung der Schlucht, und beim Näherkommen hob Bristol die ausgestreckte Hand, als würde sie nach etwas greifen. Ihr Schenkeldruck ließ Augustus ein Stück nach Westen abschwenken. Keine Meile weiter spürte Tyghan, wie Bristol den Rücken anspannte.

»Anhalten«, befahl sie, und Augustus verharrte schwebend, wobei sich seine Beine immer noch kräftig bewegten.

Bristol starrte auf den Boden vor einer Klippenwand, den Kopf lauschend zur Seite geneigt. Tyghan wagte weder sich zu bewegen, noch einen Laut von sich zu geben, um den Magiestrom in ihr nicht zu unterbrechen.

Sie streckte die Hand aus und versuchte sich mit etwas zu verbinden, wie es auch aussehen mochte. Und dann erstarrte sie. »Dort. Unten an der Klippe. Die Felswand. Ich spüre …« Sie riss die Hand zurück und presste sie zusammengekrampft gegen den Bauch wie nach einem stechenden Schmerz. »Dort ist es«, sagte sie. »Das Portal fühlt sich nicht wie die anderen an. Der Unterschied ist deutlich.«

Sekunden später wand sich ein Dämon aus der soliden Felswand, nur um von einem Tentakel zurückgerissen zu werden, der sich um seine Kehle schnürte. Der Dämon kreischte und schlug mit den Krallen nach seinem Gegner, bis er wieder im Gestein verschwand.

Bristol überlief spürbar ein Schaudern. Sie hielt noch immer die Hand geballt und gegen den Magen gepresst.

»Lass mich sehen«, sagte Tyhan. Als er ihre Finger öffnete, war die Handfläche von blutigen Blasen übersät.

Tyghan fluchte. Etwas Bösartiges im Portal hatte nach Bristol gegriffen und sie verbrannt. Er flüsterte heilende Worte und vorsichtshalber auch noch Zauber gegen verschiedene Gifte, während er ihre offene Hand hielt. »Miche obray«, murmelte er, um die Magie zu versiegeln. »Doman fi.« Es brannte, wo ihre Hand seine berührte, wie von tausend kleinen messerscharfen Schnitten, doch dann kühlte sich die Stelle allmählich ab. Als er seine Hand fortzog, waren die Blasen verschwunden.

Er warf noch einen Blick auf das Portal, dessen Bösartigkeit sich sogar aus dieser Entfernung wie Säure in den Leib fressen konnte. Je schneller es ausgetilgt wurde, desto besser. Hätte er nur seine Bogenschützen auf Maire ansetzen dürfen, dann würden sie jetzt nicht warten müssen, sondern Bristol hätte sofort versuchen können, das Portal zu schließen. Wäre Maire nur schon tot und unfähig, es wieder zu öffnen. Aber er hatte Bristol versprochen, den Mordbefehl zurückzunehmen. Nun fragte er sich, ob seine Entscheidung richtig gewesen war.

Wenigstens hatten sie das Portal endlich gefunden, und dieser kleine Triumph musste für heute reichen.

»Lasst uns verschwinden«, sagte er und lenkte Augustus zurück in die Richtung von Fürstinnenfels. »Jetzt ist die Zeit gekommen, Cael zu holen.«

4

Fürstinnenfels gehörte niemandem. So war es immer gewesen. Nicht einmal einer Fürstin. Das lag vor allem daran, dass niemand diesen Ort haben wollte. In lang vergangener Zeit hatte einst eine alte Hexenmeisterin die Klippeninsel für sich beansprucht, um dort ihre Ruhe zu haben. Sie hatte aus der Bergkuppe eine Festung herausgehauen. Der Name stammte vermutlich von der fürstlichen Bezahlung, die verschiedene Königshäuser in Goldmünzen herausrücken mussten, damit sie ihnen als Wächterin diente und vor nahenden Gefahren aus dem Nordmeer warnte. Damit waren damals die Großen Drachen und ihre kleinen, intelligenteren Verwandten gemeint. SoleichtverdienteMünzenhatteichnochnie.MonarchensinddochalleNarren,hatte die Alte angeblich jedes Mal verkündet, wenn sie ihre Bezahlung einsammelte. Aber nun waren die Drachen schon seit Jahrhunderten auf den Nördlichen Inseln geblieben, ringelten sich in ihren Eishöhlen ein und zogen die Gesellschaft ihrer Artgenossen der übrigen Feenwelt vor. Das Einkommen der Hexenmeisterin hatte sich in Luft aufgelöst und sie selbst gleich mit. Manche behaupteten, sie sei von den Bestien gefressen worden, die sie ausgespäht hatte, andere meinten, sie habe einfach ihr Gold in eine Kiste gepackt und sei fortgezogen, um anderswo noch mehr Reichtümer zu scheffeln.

Da Fürstinnenfels an Fomoria grenzte, wurde die Fjordinsel inzwischen mehr oder weniger zum Königreich gezählt, was niemanden scherte. Schließlich war sie nicht gerade ein Touristenziel, wie Sascha murmelte, bevor Kasta sie zum Schweigen ermahnte.

Ihr Trupp schwebte ein Stück über dem Meer und wartete darauf, das Dalagorn mit Hilfe der veralteten Karten den besten Landepunkt bestimmte. Ihre Blicke wanderten über die steile Felseninsel, die sich aus der Glücklosen See erhob wie eine hungrige Sirene, gekrönt von geisterblassen Wolken und auf mittlerer Höhe in dichten Wald gekleidet.

Rose verzog verächtlich die Lippen. »Schwer zu glauben, dass man auf diesem grässlichen Steinklotz wohnen kann.«

»Und genau deshalb ist es der perfekte Ort, um jemanden zu verstecken«, gab Julia zurück.

Avery atmete durch wie vor einem Sprung in viel zu tiefes Wasser. Vielleicht lag sie damit gar nicht falsch.

Bristols Herz verkrampfte sich. Abergenaudafürhabenwirtrainiert, dachte sie und versuchte sich zu sagen, dass schließlich alle aus freiem Willen hier waren. Trotzdem nagte das schlechte Gewissen an ihr, denn Rose wäre beinah von der Hand eines Dämons gestorben, den ihre Mutter heraufbeschworen hatte. Und nun würde vielleicht ihre ganze Freundinnentruppe –

»Dort entlang«, sagte Dalagorn mit gesenkter Stimme und unterbrach ihre Gedanken. Er befahl mit einem Handsignal, ihm zu folgen. Gleich darauf landeten sie auf einem schmalen, flachen Felsplateau direkt unter der Waldgrenze. Der Nordwind heulte durch die Bäume weiter oben, Bristols Haare peitschten ihr ins Gesicht, und eisige Luft pfiff beißend um ihre Wangen.

Sie blickte nach Norden, über die See, wo entfernt die Inseln von Himmelssplitter zu erahnen waren: dem Reich der Drachen. Morgenrote Wolkenstreifen drifteten darüber hinweg. Die Inseln machten einen friedlichen Eindruck, obwohl dort nur die Großen Drachen und die verbannten Avydra lebten – machthungrige Gestaltwandler wie Pengary, der eine Königin samt ihrer Kinder mit Feueratem geröstet und gefressen hatte. Trotzdem wünschte sich Bristol für einen winzigen Augenblick, lieber dort zu sein anstatt auf diesem Klippenberg, wo es überhaupt kein Leben zu geben schien.

Beim Blick durch den magischen Rauch hatten Cully und Quin nur zwei Wachen in der Festung gesehen, aber genau wie Rose konnte sich Bristol kaum vorstellen, dass hier überhaupt jemand hauste. Ihr war schleierhaft, wie Cael die Gefangenschaft überlebt hatte. Auf Kastas Handsignal hin stiegen sie ab, und der Trupp bewegte sich in einer präzisen Reihenformation vorwärts, jeweils acht Fuß hintereinander und mit gezogenen Waffen. Sobald sie in den Wald eingetaucht waren, warfen sie ihre Unsichtbarkeit ab. Hier würden sie jedes bisschen Magie brauchen, das ihnen zur Verfügung stand. Der Wind zischelte durch die verkrümmten Nadelbäume und übertönte ihre Schritte. Es war schwer zu schätzen, wie schnell sie vorankamen, denn rundherum war nichts zu sehen außer dicken Baumstämmen und einem Unterholz aus Farnen und parasitären Fächerpilzen. Ab und zu gab es auch Stechpalmensträucher mit so langen Dornen, dass sie Eindringlinge wirksamer aufspießen konnten als jeder Dolch.

In den Bäumen waren weder Vögel noch anderes Leben zu hören, nur das Heulen des Windes, aber als sie abbogen, vibrierte ein tiefes, bedrohliches Grollen durch die Luft. Kasta hob die Hand, und sie alle erstarrten. Ein Raubtier? Eine Sturmböe? Dalagorns hungriger Ogermagen?

Ein lautes Rascheln ertönte, der scharfe Klang eines brechenden Astes, und die Bäume rechts von Sascha wurden durchgeschüttelt. Bevor jemand von der Ritterschaft reagieren konnte, klaffte die Erde auf, und eine brodelnde Sandgrube öffnete sich direkt vor Saschas blauen Füßen. Der Sand griff nach ihr, packte erst den einen Fuß und dann den anderen, warf sie zu Boden und zog sie in die Tiefe. Sascha blieb nicht einmal Zeit zu schreien.

Doch Avery reagierte genauso schnell. »Haltet meine Beine!«, rief die Ästel den anderen zu. Sie ließ sich neben die Grube fallen und griff hinein, sodass Kopf, Schultern und Brust verschwanden. Tyghan, Bri und Julia warfen sich auf Averys Beine und hielten sie fest, während ihre Gliedmaßen sich zu langen, haltbaren Ranken verdrehten und verlängerten. Avery verschwand immer tiefer in der Grube, in der ihr schlanker Baumstammkörper vor- und zurückschnellte, als würde sie unter der Sandfläche einen brutalen Kampf austragen. Nun hatte auch Olivia den Aufruhr bemerkt, kam auf dem Pfad zurückgelaufen und zog eine Phiole aus der Tasche. Sie schüttete den Inhalt in den Sand und singsangte einen Schlafzauber. Fast augenblicklich hörte das Grubeninnere zu brodeln auf und das Tauziehen endete. Averys Beine verkürzten sich in Windeseile, bis sie aus dem Sand auftauchte. Sie hielt Sascha fest gepackt, und beide japsten nach Luft. Quin mit seinem Bizeps aus Stahl hievte sie das letzte Stück aus der Grube heraus. Dann lagen sie Seite an Seite auf dem Waldboden, und ihre Lungen arbeiteten wie Blasebälge.

»Heilige Scheiße«, sagte Sascha, während sie noch immer nach Luft schnappte. »Ich wusste nicht, dass du sowas kannst.«

Ein nervöses Lachen durchbebte Averys Brust. »Ich auch nicht.«

Olivia kniete neben ihnen und rieb Heilsalbe auf die blutigen Striemen auf ihren Gesichtern und Händen. Tyghan gesellte sich dazu. »Gut gemacht, Avery. Müsst ihr beide umkehren? Oder schafft ihr es noch weiter?«

Als Antwort kamen sie beide auf die Füße. In ihrer zerrissenen Kleidung wirkten sie ganz wie kampferprobte Kriegerinnen, mit denen man sich besser nicht anlegte. »Weiter«, sagten sie.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich für die Drills mal so dankbar sein würde«, flüsterte Rose.

Wortlos gab Bristol ihr recht.

Sie setzten ihren Weg ohne weitere Zwischenfälle fort, auch wenn alle nervös um sich spähten. Als sie die letzte Wegkehre erreichten, die zur Festung führte, lichtete sich der Wald. Nun gab es keine Deckung mehr. Von hier aus sollten Kasta, Cully, Hollis und Olivia sich wieder unter dem Schleier der Unsichtbarkeit bewegen, mit Hollis als Vorhut, da sie das letzte schmale Wegstück in Mausgestalt zurücklegen konnte. In ihrem Tierkörper sollte sie unter den Zellentüren hindurchschlüpfen und herausfinden, wo Cael sich befand und ob es Wachen gab. Die Mausgestalt war für sie so natürlich, dass selbst ein unerwarteter Abwehrzauber nicht enthüllen würde, wer sie wirklich war. Kasta trug in einem Sack über der Schulter den schlafenden Hasen, den sie gegen Cael austauschen wollten. Falls nötig, sollten Quin, Julia und Dalagorn mögliche Wachen ablenken, während Tyghan, Avery, Sascha und Bristol die Aufgabe hatten, die Fluchtroute zu sichern, damit Cael möglichst schnell zu den Pferden gelangen konnte, die auf dem Plateau warteten. Rose war ihre Späherin in der Luft und kreiste bereits als Habicht über ihnen, um alles Verdächtige zu melden. Aber als Erstes hing die ganze Mission daran, was Hollis herausfand.

Kasta, Cully, Olivia und Hollis verschwanden auf dem steilen Klippenpfad, während der Rest auf Position blieb und auf Nachricht wartete. Minuten verstrichen. Dehnten sich. Tyghan schüttelte den Kopf. Bristol suchte den Himmel ab. Rose kreiste dort noch immer, also war anscheinend alles in Ordnung. Schließlich winkte Tyghan den Habicht herunter und gab Quin ein Zeichen, voranzugehen und nach Kasta und den anderen zu schauen. Der Pfad verschluckte ihn, als er außer Sicht kletterte.

Rose landete und verwandelte sich zurück.

»Warum brauchen sie so lange?«, fragte Tyghan. »Hast du etwas gesehen?«

»Ich habe verfolgt, wie Hollis die Festung betreten hat und Kasta, Cully und Olivia ihr ein paar Minuten später gefolgt sind.«

»Irgendwelche Wachen?«

»Nein. Nichts weit und breit.«

»Vielleicht hat Olivia Probleme mit dem Wechselbalg-Hasen«, schlug Bristol vor.

»Oder mit Cael«, sagte Tyghan. »Wir warten noch ein bisschen länger und dann –«

In diesem Moment kam Quin den Pfad heruntergestolpert, und alle rannten ihm entgegen.

»Man hat sie gefangen«, flüsterte er außer Atem. »Ein ganzer Kriegertrupp. Kasta, Cully, Olivia …« Er keuchte. »Sie liegen alle auf dem Boden ausgestreckt, gespannte Armbrüste sind auf ihre Rücken gerichtet. Cully hat einen Pfeil in der Schulter und blutet stark. Olivia regt sich nicht … entweder ist sie bewusstlos oder tot.«

Tot?, dachte Bristol. Ihr Schockzustand dauerte nicht lange, denn seine nächsten Worte rissen sie unsanft heraus. »Und einer der Krieger lässt Hollis am Schwanz über den Jagdhunden baumeln, als wolle er sie verfüttern.« Quin zerrte Tyghan ein Stück von der Gruppe fort und senkte die Stimme noch mehr. Das Einzige, was Bristol in Bruchstücken auffing, war: »Sie ist dort oben … bei ihnen! Es ist Zeit! Du musst Keats benutzen! Sie alle werden sterben!«

Der verzweifelte Klang seiner Stimme, als er ihren Namen aussprach, ließ ihr das Blut gerinnen. Aber noch furchterregender war Tyghans Miene, als er sich zu ihr umdrehte und sie mit stahlkalten Augen musterte. Er zog den Dolch und kam auf sie zu. Seine Schritte waren überlegt und entschlossen. Mit der freien Hand zog er sie an sich, während er die Klinge mit der anderen umfasst hielt. Dann flüsterte er genauso eindringlich und verzweifelt wie Quin: »Du weißt, dass ich dich liebe. Ich würde dir nie etwas zuleide tun. Aber jetzt musst du mich fürchten. Von ganzem Herzen. Du musst dich sträuben und mich hassen. Aber vertrau mir bitte, oder Hollis wird sterben. Sie werden alle sterben.«

Mit diesen Worten wirbelte er sie herum, setzte ihr die Klinge an die Kehle und schleifte sie den Pfad hinauf. »Du bist ab jetzt unsere Geisel.«

5

»Tyghan –«, schrie Bristol und versuchte, sich loszureißen.

»Still!«, befahl er, während er sie den Klippenpfad entlangzerrte, sodass ihre Füße kaum den steinigen Boden berührten. Das Blut pochte dröhnend in ihrem Schädel, und nichts ergab Sinn. Du musst mich fürchten. Und das tat sie! Das alles war so nicht geplant … oder zumindest gehörte es nicht zu den Plänen, die sie kannte. Aber gleichzeitig pulsierten auch Quins Worte durch ihren Kopf. Es ist Zeit. Es ist Zeit. Quin hatte von dem Plan gewusst.

Die Welt verschwamm um sie herum, ihre Haare peitschten ihr in die Augen und salziger Blutgeschmack füllte ihren Mund. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie sich auf die Lippe gebissen hatte, aber es schmerzte. Sie erreichten ein kleines Hochplateau, und Tyghan riss sie brutal an sich. Mit einem Arm hielt er sie an seiner Brust festgenagelt und presste die Dolchklinge immer noch entschlossen gegen ihre Kehle. Das hier war blutiger Ernst.

»Maire!«, schrie er. »Ich habe hier jemanden, den du lieber nicht tot sehen willst!«

Maire. Der Name war fremd und vertraut zugleich. Maire. Das Monstrum von Dunkelgrund. Leanna.

Bristol blinzelte durch die wild flatternden Haarsträhnen vor ihrem Gesicht. Zwischen sechs bewaffneten Kriegern stand eine Frau. Ihre Mutter. Genauer gesagt, die Version ihrer Mutter, die sie vor zwanzig Jahren aus Versehen im Badezimmer eines schäbigen Motels erspäht hatte. Das ist nur ein Kostüm, Schätzchen. Mama spielt Verkleiden.

Aber so war es nicht gewesen.

Ihre Augen waren glühende Jade, ihre Haut von einem Alabasterweiß, das sich kalt leuchtend gegen ihr indigoblaues Gewand abhob. Und sie hatte Hörner. Tief eingekerbte, gedrehte Hörner, die aussahen, als seien die Spitzen in Gold getaucht. Sie umwanden ihren Kopf wie eine Dornenkrone, und ihre langen kupferroten Haare flatterten im Wind, umwehten ihren Körper wie ein königliches Banner. Nicht zuletzt war da ihre rechte Hand – die sich immer kälter angefühlt hatte als der Rest von ihr. Sie bestand aus purem Silber und war so filigran gefertigt, dass sie wie eleganter Schmuck wirkte.

»Gib alle frei, dann muss ich deiner Tochter nicht weh tun!«, rief Tyghan.

»Meiner was?«, gab ihre Mutter zurück. Ihre Stimme klang aristokratisch und befehlsgewohnt. Bristol kannte diese Stimme nicht.

Als ihr Blick auf Bristol fiel, lag darin kein Erkennen.

»Deiner Tochter Bristol!«, rief Tyghan noch einmal.

Maire lächelte, als sie ihn ins Auge fasste, unbeeindruckt von seiner Drohung. »Solche Tricks sind doch wohl unter Eurer Würde, Prinz Trénallis. Los, tötet die Kreatur. Sie bedeutet mir nichts.«

Bristol stockte der Atem. War das wirklich ihre Mutter? Aber sie erkannte die nervöse Geste, mit der Maire sich den Daumen rieb. Anscheinend juckte es sie in den Fingern, Magie zu benutzen. Früher hatte Bristol das nur für einen seltsamen Tick gehalten.

Tyghan rührte sich nicht, und Maire lachte. »Wie es aussieht, stecken wir in einem Patt, und ich habe die weitaus besseren Karten. Überlegt Euch das nächste Mal genauer, mit wem Ihr euch anlegt.« Maire blickte auf Kasta, Cully und Olivia hinunter, die noch immer besiegt auf dem Boden lagen. Die Pfeile aus Cullys Köcher waren über die Felsen zerstreut und von den Stiefeln der Wachen zertrampelt worden. Olivia rührte sich nicht und hatte die Augen geschlossen. Hollis baumelte in Mäusegestalt in der Hand eines Kriegers direkt über den geifernd zuschnappenden Kiefern eines Jagdhunds. »Diese Leute haben unsere Grenze verletzt und eine unserer Wachen getötet. Dafür müssen sie bezahlen. Wen sollen wir denn als Ersten töten? Den Elfenjungen? Er sieht ja schon halb tot aus. Ein Jammer, dass der erste Schuss ihn nicht erledigt hat.«

Der Krieger, der seine Armbrust zwischen Cullys Schulterblätter presste, verlagerte das Gewicht, als wolle er einen weiteren Bolzen abfeuern.

»Ein Schuss mehr, und sie ist tot!!«, schrie Tyghan.

»Mutter!«, flehte Bristol. »Bitte! Ich schwöre dir, ich bin es wirklich! Deine Brije. Ich flehe dich an! Lass sie gehen, sonst bringt er mich um!«

Maires Augen wurden schmal, das Lächeln verschwand und verwandelte sich in eine rasende Wut, die Bristol noch nie an ihr gesehen hatte. Ihre Nasenflügel bebten, und ihre Augen sprühten Funken. »Mach schon, junger Prinz«, forderte sie ihn heraus. »Töte sie! Worauf wartest du noch?«

Bristol spürte, wie sich Tyghans Arm um ihre Schulter spannte, während er die scharfe Klinge mit Mühe so hielt, dass sie um Haaresbreite nicht ihre Kehle ritzte. Sie musste etwas tun und hatte nur den Bruchteil einer Sekunde für eine Entscheidung.

Bristol lehnte sich kaum sichtbar vor, während sie zum Schein gegen Tyghans Griff ankämpfte, und schnitt sich mit der scharfen Klinge selbst den Hals auf. Kalter Stahl ritzte schmerzhaft ihre Haut und ließ sie zusammenzucken. Die Wunde war tiefer als geplant, denn der Dolch schnitt durch ihr Fleisch wie durch Butter. Sofort begannen warme Rinnsale aus Blut ihren Hals hinunterzuperlen. Die Tropfen verliehen Tyghans Drohung echtes Gewicht und beendeten den Bluff ihrer Mutter.

Maires Pupillen zogen sich zu nadelspitzen Punkten zusammen, als der Anblick des Blutes sie durchzuckte. Lange, angespannte Sekunden blieb sie wie erstarrt, doch dann zischte sie: »Genug!«, und trat drohend einen Schritt vor. »Ihr alle seid es gar nicht wert, dass ich meine Zeit mit euch verschwende! Also verschwindet! Nehmt Eure wertlosen Untergebenen mit, Trénallis, bevor ich meine Legionen herbeirufe. Ich kann ihnen befehlen, euch allen das Fleisch von den Knochen zu reißen wie verwestem Aas! Euch bleiben fünf Minuten, bevor ich meine Schoßtierchen auf euch hetze.« Ihre Hand schnitt durch die Luft, und ein Schwall aus dickem, heißem Dunst explodierte um sie herum. Als der Nebel sich verzog, waren Maire, ihre Krieger und die Jagdhunde verschwunden.

Kasta hastete zu Olivia und versuchte sie wieder zu Bewusstsein zu bringen, während Dalagorn den jungen Cully einfach aufhob und mit ihm zu den Pferden rannte. »Fünf Minuten! Ihr habt sie gehört!« Tyghan hob die ohnmächtige Olivia auf und warf sie sich über die Schulter, während Quin sich Hollis schnappte, die immer noch als Maus auf dem Boden kauerte. Anscheinend war sie zu panisch, um sich zurückzuverwandeln. Quin verstaute sie sicher in seiner Westentasche.

Julia nahm Löwengestalt an und verkündete, sie würde die Nachhut bilden. Sie war am besten dafür gerüstet, die Hundemeute zurückzuschlagen, falls sie ihnen folgte. Aber Bristol war ziemlich sicher, dass ihre Mutter mit Schoßtierchen nicht die Jagdhunde gemeint hatte, sondern die Legionen der Ruhelosen aus dem Ewigen Abgrund.

Kasta blieb hinten bei Julia und rief einen Nebel herbei, der dem Trupp wie eine massige, dunkle Wand folgte und über ihren Köpfen einen wabernden Schutzwall bildete wie eine brechende Welle.

So rannten sie, stolperten Hals über Kopf den felsigen Pfad hinunter. Niemand bezweifelte, dass Maire ihre Drohung wahr machen würde. Fünf Minuten. Und die Pferde warteten noch ein langes Wegstück unten am Fuße des Berges. Tyghan hielt mit einer Hand die schlaffe Olivia auf seiner Schulter fest, während er mit der anderen seine Magie heraufbeschwor. Diesmal scherte er sich nicht um den Lärm, sondern räumte mit mächtigen Energieschwüngen sämtliche Felsbrocken, Äste und Dornenbüsche aus dem Weg. »Dein Hals«, rief er gegen das Getöse an. »Press die Hand auf deinen –«

»Die Wunde ist nicht tief«, schrie Bristol zurück. »Pass lieber auf deine Füße auf! Mir geht es bestens.«

Aber in Wirklichkeit wusste sie nicht, ob die Wunde gefährlich war. Sie wusste nur eins: Ihre Kleidung war von Blut durchtränkt, während sie um ihr Leben rennen musste, weil ihre eigene Mutter gedroht hatte, sie alle abzuschlachten.

6

Die Stadt wurde abgeriegelt. Es gab keine Nachtfeste mehr auf den Sommerterrassen, weil sich alle auf einen Gegenschlag vorbereiteten. Sämtliche Wachtürme waren bemannt, und aus der Garnison wurden Einheiten zu den Grenzdörfern geschickt, um nach Ärger Ausschau zu halten. Es kam selten vor, dass im Palast nirgendwo Musik erklang. Nun schien die Luft stattdessen vor Anspannung zu vibrieren.

Kormick musste inzwischen wissen, dass es ihnen beinah gelungen wäre, in die Festung von Fürstinnenfels einzudringen.

Beinah.

Cully, Bristol und Olivia wurden von Heilkundigen versorgt, und Hollis blieb unter Beobachtung. Sie hatte sich immer noch nicht zurückverwandelt, nachdem man sie buchstäblich dem Schlund des Todes entrissen hatte. Esmee vermutete, dass sie für ihre menschliche Form noch zu aufgewühlt war. Sie schien keine gebrochenen Knochen zu haben, aber dafür ein Stück Ohr weniger. Sascha und Rose blieben an ihrer Seite und versuchten, sie aus ihrer Tiergestalt zu locken.

Der Rest hatte sich im fensterlosen Ebenholzsalon versammelt, der in den warmen Jahreszeiten gewöhnlich kaum benutzt wurde. Nun saßen dort Rekrutinnen und Offiziere beisammen, während Ivy für alle Essen und Trinken auftischen ließ. Im Kamin loderte ein Feuer, das im Frühsommer eigentlich unnötig war, dem dunkel getäfelten Raum jedoch eine beruhigende Atmosphäre gab. Es war gut, den Blick auf etwas Helles richten zu können, und das Knistern der Glut wirkte als willkommene Ablenkung.

»Die Jagdhunde waren schuld«, schnaubte Kasta wütend. »Zwei verdammte Gestaltwandler, die ihr als Wachen dienen.« Quin und Cully hatten recht gehabt, dass es nur ein Paar schläfrig wirkende Wachleute gab, aber leider hatte es sich um Hundewandler gehandelt. In ihrer flohstichigen Form hatten sie die Danu-Ritter schon meilenweit gewittert und Maire mitsamt ihren Kriegern gewarnt. Einen schrecklichen Moment lang hatte einer der Jagdhunde Hollis zwischen den Zähnen gehabt. Als Cully nach einem Pfeil gegriffen hatte, um auf ihn zu schießen, hatte ihn ein Armbrustbolzen von hinten getroffen. Danach war die Hölle losgebrochen, von allen Seiten waren Krieger herbeigeströmt, und Olivia war von einem magischen Blitz getroffen worden, noch bevor sie sich umdrehen und ihn abwehren konnte. Kasta war es gelungen, eine einzige Wache zu töten, dann wurde auch sie überwältigt.

»Ein Hinterhalt«, sagte Tyghan.

»Ganz recht«, bestätigte Kasta. »Maire hat die ganze Zeit lächelnd zugeschaut.«

Dalagorn rieb sich die stoppelige Wange. »Ich hab sie heute das erste Mal gesehen. Sie ist nicht, wie ich erwartet hatte. Sieht ihrer Tochter kein bisschen ähnlich.«

Für Tyghan war es die zweite Begegnung gewesen. Beim ersten Mal hatte sie auf der Schwelle der Waldhütte gestanden und einige leise Worte mit Kierus gewechselt. Damals war sie ihm überwindbar vorgekommen. Heute war das anders.

Als es eine Gesprächspause gab, gesellte sich Eris unauffällig dazu. »Mir ist klar, dass gerade ein ungünstiger Zeitpunkt ist«, wandte er sich an Tyghan, »aber ich muss Euch etwas berichten.« Damit zog er ihn in eine Ecke mit mehr Privatsphäre. »Niemand ist meinem Ruf zur Ratsversammlung gefolgt. Es kam keine einzige Antwort.«

Tyghan war abgelenkt, weil er in Gedanken nur bei Bristol war. Gerade war wirklich ein ungünstiger Zeitpunkt. »Die meisten sind so kurz nach Beltane sicher noch auf Reisen«, erwiderte er.

Eris schüttelte den Kopf. »Nein, an den Feiertagen liegt es nicht. Ihr Nichterscheinen ist Antwort genug. Es wird keine Wiederholung der Abstimmung geben. Der Befehl, Kierus tot oder lebendig zur Strecke zu bringen, hat immer noch Bestand.«

In seiner Doppelrolle als König und Gardekommandant konnte Tyghan im Alleingang über fast alles bestimmen: Kriegstaktiken, Staatssicherheit und vieles mehr, aber wenn Bürger von Danu des Hochverrats angeklagt waren, war die Entscheidung des Rats unwiderruflich. »Schicken Sie noch eine Einladung. Fügen Sie ein paar unauffällige Drohungen hinzu«, erwiderte er.

»Wie Ihr wünscht«, sagte Eris, blickte jedoch wenig hoffnungsvoll drein. »Um eine frohere Kunde zu überbringen: Das Gemälde ist auf dem Weg hierher. Wegen der Größe wird es allerdings eine Weile dauern.«

Es hatte bereits eine Weile gedauert, und um frohe Kunde handelte es sich auch nicht gerade, eher um eine Kuriosität aus dunkler Wissbegier. Tyghan wusste, dass der Königliche Berater ihn nur ablenken wollte, damit seine kreisenden Gedanken zur Ruhe kamen, aber darauf legte er gar keinen Wert. Er nickte zur Antwort kurz und suchte sich dann eine andere private Ecke, um auf Nachricht von Bristol und den anderen zu warten.

Quin kam herein, nachdem er die Wachposten überprüft hatte, und ließ sich auf den Ledersessel neben Tyghan sinken. Ein Schimmer wie von dunklem Gold fiel vom Kaminfeuer auf seine nackten, muskulösen Arme. »Bislang ist noch alles ruhig«, berichtete er und schenkte sich aus dem Krug auf dem Tisch ein. Er starrte ins Feuer, bis das Schweigen zwischen ihm und Tyghan zu viel Raum einnahm. »Du hast das Richtige getan«, sagte er schließlich.

Tyghan gab keine Antwort.

Quin bewegte sich unbehaglich auf seinem Sessel. »Hast du es ihr erklärt?«

»Dazu blieb keine Zeit.« Das wusste Quin selbst. Die Zeit war nie genug und reichte kaum zum Atemholen. Tyghan war mit der besinnungslosen Olivia in den Armen zurückgeprescht, und kaum hatten sie den Palast erreicht, waren Cully, Bristol und Hollis eilig in die Spitalräume gebracht worden. Gleich im Anschluss war Tyghan aufgebrochen, um mit Garnisonskommandant Sloan zu sprechen und Wachposten in der Stadt und der Umgebung zu postieren. Natürlich hatte es keine Zeit für Erklärungen gegeben.

»Sie wusste es trotzdem«, fuhr Quin tastend fort. »Ihr war klar, was du vorhattest. Als Beweis braucht man nur zu sehen, was sie mit dem Dolch –«

Tyghan stellte sein Whiskeyglas auf den Tisch. »Verdammt, Quin, soll ich mich dadurch besser fühlen? Oder willst du dich bloß selbst beruhigen? Ja, ihr war klar, worum es ging. Wird es dadurch weniger verwerflich?«

»Du hast getan, was nötig war. Sonst wären alle getötet worden.«

Und darin lag das Dilemma. Als Gardekommandant hatte er solche Entscheidungen unzählige Male treffen müssen, aber diesmal war alles anders. Diesmal füllte ihn die Erinnerung mit Schrecken. Er hatte die Klinge so reglos, so vorsichtig gehalten … und gleichzeitig so nah an ihrer Kehle. Damit es überzeugend wirkte. Er hatte gefühlt, wie Bristol unter seinem Arm vor Furcht bebte. Er wird mich umbringen. Überzeugend. Noch immer war er nicht sicher, ob sein Griff verrutscht war oder ob sie sich absichtlich gegen die Schneide gepresst hatte.

Er ließ sich zurück gegen die Lehne sinken und betrachtete das Holzscheit auf dem Kamingitter, dessen Überreste in die Glut rieselten. »Wie viel kann ein Mensch ertragen, Quin? Den Verrat ihres Vaters. Den ihrer Mutter. Und meinen.«

»Auf mich wirkt sie zäh genug.«

»Ja, sie ist zäh«, fauchte Tyghan zwischen den Zähnen hindurch. »Aber es gibt immer einen Punkt, an dem man irgendwann zerbricht. Sie musste ihre eigene Mutter anbetteln, ihr Leben zu schonen, während ihr Liebhaber ihr eine Klinge an die Kehle hielt!« Das Gemurmel auf der anderen Seite des Raums ebbte ab. Leiser fügte er hinzu: »Uns ist erst letzte Nacht eine Versöhnung gelungen. Das wird uns wieder auseinanderreißen.«

»Es tut mir leid, wenn ich dich zu etwas gedrängt habe –«

Tyghan schnitt die Hand durch die Luft, um ihn zu bremsen, während seine Frustration nur weiter wuchs. »Ich werfe dir nichts vor. Schließlich war ich es selbst, der –«

Schritte erklangen im Korridor vor dem Salon. Leichte, feminine Schritte. Tyghan und Quin sprangen auf die Füße, als Bristol eintrat. Der ganze Raum verstummte, und alle Augen richteten sich auf sie. Ein Verband umschloss ihren Hals. Ein zweiter war um ihre Hand gewickelt. Obwohl das Salonzimmer groß war und die Leute darin verstreut standen, fanden Bristols Augen instinktiv seine.

Sie lächelte. Nur ein kleines Lächeln, das in den Augenwinkeln saß und leicht zu übersehen war – aber der Anblick war für Tyghan wie heilende Magie, ging ihm unter die Haut, wärmte sein Inneres und milderte die Anspannung in seinen Schultern. Bristol war froh, ihn zu sehen.

Julia und Avery gingen ihr entgegen und zogen sie in die Arme, während die anderen sich abwartend zurückhielten. Nach einem kurzen, leisen Wortwechsel mit ihren Freundinnen wandte Bristol sich dem Rest des Salons zu und sagte: »Bestimmt wird es alle freuen zu hören, dass Hollis wieder auf den Beinen ist – zwei anstatt vier – und dass Olivia sich aufrichten und Tee trinken kann. Cully ist wach, und Madame Chastain muss ihn ausschimpfen, damit er im Bett bleibt.« Bei dem letzten Satz brach Ivy in Tränen aus und rannte mit wehenden Flügeln aus dem Salon, vermutlich geradewegs zu dem jungen Offizier. Gemurmel waberte durch die Luft. Das Paar dachte vielleicht, sie hätten ihre Beziehung geheim gehalten – zumindest vor den Eltern der Pixie –, aber wer Augen im Kopf hatte, konnte kaum übersehen, wie verliebt sie waren.

»Und was ist mit der Halswunde?«, fragte Eris etwas zögernd.

»Nur ein oberflächlicher Schnitt. Da habe ich schon Schlimmeres erlebt«, gab Bristol zurück. Sie berührte den Verband um ihre Kehle, als sei er ein dekorativer Halsschmuck. »Morgen früh bin ich das Ding wieder los.«

Aber Tyghan war klar, dass bei einer oberflächlichen Wunde gar kein Verband nötig gewesen wäre. Die anderen wussten es ebenfalls, trotzdem kehrte eine etwas gelöstere Stimmung im Salon ein, als würde sich ein verkrampfter Muskel entspannen. Auf den ersten Blick schien Bristol die Geiselnahme gut verkraftet zu haben. Tyghan spürte, dass trotzdem etwas nicht stimmte, und seine Nervosität kehrte zurück. Bristol wirkte zu gut gelaunt. Jetzt kam sie durch den Raum und sagte mit gesenkter Stimme zu Quin: »Hollis hat mich gebeten, dir eine Entschuldigung zu überbringen. Sie schämt sich in Grund und Boden, weil sie ziemlich sicher ist, dass sie während der Flucht deine Westentasche … verunreinigt hat. Deshalb soll ich dir ausrichten, dass eine Maus ihre Körperfunktionen leider nicht im Griff hat, besonders in gefahrvollen Situationen.«

»Ist mir gar nicht aufgefallen«, antwortete Quin. »Teufel noch mal, wahrscheinlich habe ich mir selbst in die Hose gepisst. Wie geht es ihrem Ohr?«

»Sieht angenagt aus wie bei einem alten Straßenkater, aber anscheinend stört sie das nicht. Madame Chastain hat ihr etwas gegen die Schmerzen gegeben. Dadurch ist sie ein bisschen durch den Wind.«

Also versorgte die Hohezauberin wenigstens manche ihrer Patienten mit Schmerzmitteln, dachte Tyghan.

»Kann man sie besuchen?«, fragte Quin.

Bristol lächelte. »Ich denke, zu einem Besuch von dir würde sie nicht Nein sagen.«

Zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, sah Tyghan seinen Offizier erröten. Die dunkle Haut verfärbte sich eindeutig oben an den Schläfen. Quin und Hollis? Wann war denn das passiert? Wieso hatte er nichts davon bemerkt? Quin verabschiedete sich eilig, und Bristol wandte sich wieder Tyghan zu. Er sah die Erschöpfung auf ihrem Gesicht, die schweren Lider und eine mühsam verborgene Traurigkeit in ihrem Blick. Dieser Tag hatte etwas in ihr zerstört. Kaum zu glauben, dass sie überhaupt noch in seiner Nähe sein wollte. Sahen die anderen im Salon es auch? Oder meldete sich nur sein schlechtes Gewissen und ließ ihn Dinge heraufbeschwören, die gar nicht da waren?

Er streckte die Hand aus und nahm ihre verbundenen Finger in seine. »Was ist denn damit geschehen? Habe ich die Brandblasen nicht geheilt?«