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*Man sagt, der König ohne Herz fürchtet nichts. Außer die Geister der Toten beim Veri.* Aufgewachsen in einer psychiatrischen Anstalt, verkauft an einen Zirkus, ist die Menschenfrau Tule gezwungen, den unsterblichen Wycca zur Unterhaltung zu dienen. Ausgerechnet als der Blutmond am Himmel leuchtet, befindet sie sich in der Stadt Avastone. Der rote Mond kündigt das Veri an: ein Fest, das die Jagd auf Menschen feiert, bei der die Wycca die Eleganz des Tötens zur Schau stellen. Veranstaltet von niemand anderem als dem Wycca-König ohne Herz. Tule findet sich inmitten des Veri wieder. Um zu überleben, ist sie gezwungen, sich von dem Wycca Rusc ausbilden zu lassen. Doch die beiden fügen sich mehr als nur fatale Wunden zu. Wenn Tule nicht aufpasst, hinterlässt Rusc Narben in ihrem Herzen. Sie muss bei Verstand bleiben. Doch die Stimmen in ihrem Kopf werden mit jedem Tropfen Blut, den sie vergießt, lauter. Stimmen, die ihr befehlen zu töten.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Sandy Brandt
The Legacy of Wycca – Shadows
(Band 1)
The Legacy of Wycca – Shadows
© 2025 VAJONA Verlag GmbH
Originalausgabe bei VAJONA Verlag GmbH
Lektorat: Lara Gathmann
Korrektorat: Anne Masur und Patricia Buchwald
Umschlaggestaltung: Stefanie Saw
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz unter Verwendung von selbstgezeichneten Motiven von Diana Gus
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für alle, die wie Tule die Furcht vor dem eigenen Schatten manchmal auffrisst.
Er ist ein Teil von euch.
Hinweis
The Legacy of Wycca – Shadows ist ein Dark Fantasyroman und für reifere Leser*innen (18+) gedacht. Einige Szenen könnten Unbehagen auslösen. Dazu gehören Gewalt, Prostitution, sexuelle Demütigung, explizite Darstellung vom Tod, Erwähnung von Selbstverletzung und Suizid, Folter und Tentacle Erotica (sexuelle Praktik).
Anmerkung der Autorin
The Legacy of Wycca ist die zweite Reihe im Wycca-Universum. Sie ist unabhängig von der ersten Trilogie The Tale of Wycca (Demons, Hunt, Memories) lesbar und spielt etwa hundert Jahre später. Dennoch ist es ratsam, die Demons Hunt Memories-Reihe vorher zu lesen, wenn du Spoiler vermeiden möchtest. Kennst du die Reihe bereits, erwarten dich in The Legacy of Wycca einige bekannte Gesichter. Aber Vorsicht – manches, was man verloren hat, kommt anders zurück, als man es in Erinnerung hat.
Egal, wie du dich entscheidest: Ich wünsche dir viel Spaß im Wycca-Universum.
Deine Sandy.
Wycca, der, die. [wit͡ʃɐ]
Genmutation. Ein Mensch mit der entsprechenden Genmutation (umgangssprachlich Wycca) unterscheidet sich durch drei Merkmale von einem normalen Menschen:
1. Äußere Mutation
Die Augen eines Wycca können in jeder Farbe auftreten.
2. Innere Mutation
Das Herz des Wycca gleicht von der Form her einem Stern (größeres Zentrum in der Mitte, acht dünne, wegführende Streben). Im Normalzustand ist das Organ zu einem winzigen Punkt zusammengeschrumpft. Bei starken Gefühlen schwillt es an (s. h. Ableben). Herz und Blut eines Wycca sind schwarz.
3. Psychische Mutation
Wycca verfügen über besondere, vom Geist ausgehende Fähigkeiten. Bekannt sind folgende Ausprägungen der Gedankenkontrolle: Pyrokinese (Feuer entzünden), Kryokinese (Wasser gefrieren lassen), Aerokinese (Kontrolle über Luft), Ferrokinese (Kontrolle über Magnetismus und Energie) und Biokinese (Einfluss auf biologische Systeme).
Lebensspanne: Mit der Vollendung des vierundzwanzigsten Lebensjahres ist der Alterungsprozess der Wycca beendet und die Lebensspanne unbegrenzt.
Merkmale des Körpers: Die Magie der Wycca liegt in ihrem Blut und schützt somit Haut, Fleisch und Muskeln vor äußeren Einwirkungen. Die Knochen weisen eine höhere Dichte auf und sind weniger anfällig für Verletzungen.
Ableben: Sollte ein/e Wycca sein/ihr Leben beenden wollen, muss sein/ihr Herz durchbohrt werden. Im Normalzustand ist dies jedoch nicht möglich (s. h. 2. Innere Mutation). Der Tod tritt abgesehen davon nur durch die Einwirkung anderer Wycca-Kräfte ein.
Nachfahren: Wenn zwei Wycca Nachfahren bekommen, wird die Mutation ausnahmslos weitervererbt. Wird ein Wycca mit einem Menschen gepaart, besteht für jedes Blut eine fünfzigprozentige Chance auf Dominanz. Entweder trägt der Nachkomme dominantes Wycca-Blut und besitzt alle Genmutationen wie ein Vollblut-Wycca, oder der Nachkomme besitzt dominantes Menschenblut. Die Genmutation kann jedoch bei folgenden Generationen wieder auftreten, besonders wenn Menschenblut erneut mit Wycca-Blut vermischt wird.
Wenn eines auf der Welt sicher war, dann, dass Tule ihr Ziel immer traf.
Deshalb war es nicht verwunderlich, dass Porter misstrauisch die Augen verengte, als die Klinge sein Ohrläppchen streifte und Blut hervorquoll. Die Zuschauer auf der runden Tribüne bemerkten den Tropfen nicht, und so brandete Applaus auf. Tule bemühte sich um ihr Showlächeln und trat zur Verbeugung an, wobei ihr Zopf über die nackte Haut an ihrem Rücken strich. Die goldenen Ketten, die ihre Brustwarzen bedeckten, klimperten. Ohne auf die Zuschauer zu achten, straffte sie die Schultern und ging zu Porter, der noch immer mit den Lederriemen an die Zielscheibe gefesselt war. Ehe sie die Verschlüsse löste, sammelte sie ihr Messer ein und hängte es an den schmalen Gürtel, mit dem das rote Seidentuch um ihre Hüfte befestigt war.
»Miststück«, murmelte Porter, als sie sich vorbeugte, um die Riemen zu lockern. »Das hast du mit Absicht gemacht.«
Tules Lächeln wankte nicht. Das tat es bei einer Aufführung nie. »Jeder hat mal einen schlechten Tag.«
Porter zog seine Arme und Beine aus den Lederschlaufen und verbeugte sich ebenfalls. Seine langen blonden Haare verdeckten seinen Mund, als er flüsterte: »Das wirst du bereuen.«
Ja, das würde sie.
Aber das änderte nichts daran, dass sie es wieder tun würde.
In Richtung der Zuschauer winkend, richtete Porter sich auf und verließ die Manege. Tule ging mit geübten Schritten in die Mitte des Kreises und wartete ab, bis Ruhe auf den Rängen einkehrte.
»Ich benötige einen Freiwilligen.« Herausfordernd drang ihre Stimme durch das Zirkuszelt.
Sofort ertönten Rufe. Es war immer dasselbe. Wycca-Männer, die sich gegenseitig auf die Schulter klopften, einander vorwärts schubsten und lachend einen Rückzieher machten.
»Ich würde mich dir nur zu gern freiwillig annehmen, Schätzchen.«
Auch die Sprüche waren immer die gleichen, egal, in welcher Stadt sie sich befand. Tule ließ sie an der Mauer abprallen, die sie um sich gezogen hatte, und atmete tief durch die Nase ein.
Als die lautesten Stimmen verklungen waren, sprach sie weiter. »Ich benötige einen Wycca, der Ferrokinese beherrscht.«
Gegröle hallte durchs Zelt, und aus allen Reihen ertönten »Hier!«-Rufe.
Tule unterdrückte ein Augenrollen. Sie hatte vergessen, wo diese Aufführung stattfand. Du befindest dich nicht in einer dieser Hinterweltlerstädte, in der Wycca leben, die gerade mal ein Streichholz entzünden können, dachte sie.
Dies war nicht irgendeine Stadt.
Avastone.
Bei den verfluchten Sternen, wie sie diesen Ort verabscheute.
»Der Kerl hier kann ein ganzes Gewitter heraufbeschwören!«, rief jemand aus der hinteren Reihe.
Ruhig durchatmen, redete sie sich gut zu. Nur noch morgen, und sie würde diese Qual von Stadt wieder verlassen können. Eine Nacht schlafen, und Avastone würde in den Tiefen ihres Geistes versinken wie ein Schiffswrack am Meeresboden.
»Wenn dieser Jemand sich freiwillig meldet«, sagte sie etwas verspätet, »wären wir sicher gespannt auf eine Vorführung.«
Gelächter ertönte. Einer von ihnen rief: »Rusc!«, und andere stimmten auffordernd mit ein.
Tule kniff die Augen zusammen. Da sie in der beleuchteten Manege stand, verschwammen die Zuschauer in den hinteren Reihen zu einer grauen Masse. Eine einzelne Gestalt löste sich aus der Menge und kam zwischen den Sitzen hindurch nach vorne. Jubel brach aus. Tule lief zum Rand der Manege, um den Freiwilligen zu empfangen.
Und erstarrte.
Der Wycca, der vor ihr stand, war riesig. Er überragte sie um mehrere Zentimeter – und das sollte bei ihren ein Meter achtundsiebzig etwas heißen. Abwartend verschränkte er die Arme vor der massiven Brust, wobei die Muskelstränge unter seiner Haut bebten. Er trug eine schwarze Hose mit mehreren Taschen, die an seinen muskulösen Oberschenkeln spannte, und eine hochgeschlossene Jacke, obwohl die Luft im Zelt an eine Tropenhalle erinnerte. Die braunen Haare waren an den Seiten kurz geschoren und oben etwas länger.
Tules Blick fiel auf seine Augen.
Pechschwarz.
Sie schluckte. Ihr waren schon viele Wycca mit ungewöhnlichen Augenfarben begegnet, aber bei diesem Exemplar konnte sie keinen Unterschied zwischen Pupille und Iris ausmachen.
Ein leises Knurren riss sie aus ihrer Erstarrung.
Scheiße, welcher Mann knurrte bitte?
Kein Mann, ertönte eine Stimme in ihrem Kopf. Ein Wycca.
Sie waren keine Menschen.
»Komm rein«, beeilte sie sich zu sagen und öffnete die kleine Pforte zur Manege. Schnell ging sie an die Seite, damit der Wycca eintreten konnte. Seine Bewegungen ähnelten einer Raubkatze und sie unterdrückte einen Schauer. Die Lampen über ihr erinnerten sie daran, dass sie eine Aufführung zu beenden hatte. Sie straffte die Schultern und machte ein paar Schritte auf das Monster vor sich zu.
»Rusc, richtig?«
Er nickte ruckartig. Nicht sonderlich gesprächig. Nun gut.
»Ich möchte dich bitten, diese Klinge unter Strom zu setzen. Kannst du das?« Sie hielt ihm das Messer mit dem Griff voran entgegen. Es war eines der Show-Messer mit einem abgerundeten Blatt, um schwerere Verletzungen zu vermeiden.
Orpheus erlaubte nie, dass sie ihr eigenes Messer verwendete. Vielleicht, weil er sie kannte und die zwei Dinge über sie wusste, die es zu wissen gab: Tule traf immer ihr Ziel.
Und sie war ein rachsüchtiges Biest.
Der Wycca nahm das Messer entgegen. Er betrachtete es kurz, und einen Herzschlag später knisterten Blitze um den Stahl herum, wie Schlangen, die um Beute kämpften.
Die Energie war so stark, dass Tules Haare sich aufrichteten.
»Ausreichend?«, fragte Rusc und hob eine Augenbraue. Sein Mundwinkel zuckte.
Beschissener Angeber.
»Es wird genügen, denke ich.« Der Strom war ohnehin nur für den Nervenkitzel wichtig – die Zuschauer sollten das Gefühl haben, etwas stünde auf dem Spiel. Tule nahm ihre Stellung zwischen Rusc und der Zielscheibe ein und trat ein paar Schritte zurück, bis sie ein Dreieck bildeten. »Jetzt möchte ich, dass du das Messer auf mich wirfst. Du musst nicht großartig zielen. Keine Sorge, der Wurf ist laienerprobt.« Sie lächelte ihm sanft zu. Aus dem Publikum drang ein Hüsteln. Rusc erwiderte ihren Blick ohne eine Regung. »Bereit?«
Wieder nickte er. Tule öffnete den Mund, um anzuzählen, da sauste die Klinge schon auf sie zu.
Ihr blieb nur eine Sekunde, um zu reagieren. Schwungvoll riss sie die flache Hand hoch und winkelte sie an, um den Holzgriff so zu treffen, dass das Messer in Richtung der Zielscheibe flog.
Ihr Körper erzitterte, als ein Stromschlag sie durchfuhr. Der Geruch von verbrannter Haut drang ihr in die Nase und sie schwankte. Hitze schoss ihren Arm hoch.
Ein dumpfer Aufprall ertönte. Die Klinge hatte wie geplant ihr Ziel in der bemalten Holzscheibe gefunden.
Applaus brandete auf. Tule erholte sich von ihrem Schock und trat auf Rusc zu, um sich gemeinsam zu verbeugen. Aber anstatt ihr ins Gesicht zu sehen, neigte er den Kopf in Richtung ihrer Handfläche. Sie sah hinab. Ein Geäst aus roten Blitzen bildete sich auf ihrer Haut, das Brennen zog bis in ihren Arm. Davon ließ sie sich allerdings nichts anmerken.
Schnell schaute sie auf. Rusc verzog den Mund zu einem Grinsen.
Ernsthaft? Das war Absicht gewesen. Aber wie? Der hölzerne Griff leitete den Strom nicht, und sie hatte ihre Hand im richtigen Moment gehoben, um das Messer abzulenken. Sie war sich sicher, keinen Fehler gemacht zu haben.
In Gedanken streckte sie den Arm aus, so wie sie es immer tat, damit sie sich gemeinsam mit dem Freiwilligen verbeugen konnte. Ruscs raue Finger schlossen sich um ihre, und Kälte durchströmte Tule. Hatte der Kerl vorher in einer Wanne mit Eiswürfeln gebadet? Schnell brachte sie die Verbeugung hinter sich und ließ ihn los. Ohne sich noch einmal umzudrehen, marschierte er zurück zu seinem Platz.
Kurz darauf betraten die anderen Schausteller die Manege, um ihren Applaus zu ernten und sich zu verbeugen. Orpheus bedankte sich in seiner Stellung als Direktor beim Publikum, lüftete seinen Hut und erinnerte daran, dass sie nur noch morgen in der Stadt waren.
Das Lächeln auf Tules Gesicht wankte nicht und sie ließ die Prozedur über sich ergehen, obwohl das Brennen auf ihrer Haut einer offenen Flamme glich.
Beim Verlassen der Manege fiel ihr Blick auf Rusc.
Er neigte den Kopf und warf ihr ein fieses Grinsen zu.
So ein Wichser.
Nach der Vorstellung starrte Tule auf die Tür ihres Wohnwagens. Wie gerne würde sie sich darin verkriechen und den kommenden Tag verschlafen, bis sie Avastone verließen.
Stattdessen musste sie sich Orpheus’ Standpauke anhören und Porters gehässigen Blick ertragen.
»… kann dir keine weiteren Auftritte geben, wenn ich um das Leben meiner Akrobaten fürchten muss.«
Sie schnaubte.
Orpheus’ Augen weiteten sich und seine Wangen liefen rot an. »Wie bitte?«
Sie fand schon immer, dass Orpheus einer in die Jahre gekommenen dicken Gans ähnelte. Und wenn er sich so aufplusterte, war die Ähnlichkeit verblüffend.
»Ach komm, Orpheus.« Tule verdrehte die Augen und stützte sich auf dem wackligen Plastiktisch vor sich ab. Sofort bereute sie es – ihre Handfläche brannte, als hätte sie in ein Kaminfeuer gegriffen. Schnell vergrub sie die Hände in den Taschen ihrer Strickjacke, damit Orpheus die Verbrennung nicht sah. »Wenn ich ihn hätte töten wollen, würde er jetzt nicht mehr dämlich grinsend hier stehen. Das wissen wir beide.«
Porter gestikulierte in ihre Richtung. »Soll das eine Entschuldigung sein?«
Sie gab ihm nicht die Genugtuung, ihn anzusehen. Stattdessen starrte sie weiter auf die Tür ihres Wohnwagens und wünschte sich hinein. »In diesem Leben nicht mehr.«
»Siehst du?« Sofort deutete er auf sie. »Keine Reue.«
»Wenn wir schon von Reue reden«, warf Tule ein, »erzähl Orpheus doch, warum ich dich überhaupt mit der Klinge getroffen habe.«
»Ha!«, rief Porter und wedelte mit dem Finger. »Also gibst du zu, dass es Absicht war.«
»Schluss jetzt.« Orpheus schlug mit der Faust auf den Plastiktisch. Die angeschlagenen Kaffeetassen darauf wackelten gefährlich. »Wir wissen alle, dass Tule nicht daneben wirft. Natürlich war es Absicht. Ich will nichts mehr davon hören. Tule, wenn du noch einmal einen von uns verletzt, war’s das. Dann bist du raus. Hast du mich verstanden?«
Einen von uns. Die Worte hallten in ihrem Kopf wider, schlichen sich in ihr Herz und stachen zu.
Die Zirkusfamilie. Die Familie, von der sie ein Teil sein sollte. Immerhin reiste sie mit ihnen durchs Land, seit sie zwölf war. Man könnte meinen, dass vierzehn Jahre zum Knüpfen von familiären Banden ausreichten. Für die anderen war das auch der Fall.
Einen von uns.
Tule würde niemals dazugehören.
»Verstanden?«, wiederholte Orpheus und strich sich erschöpft das blonde, schüttere Haar zurück.
Mit zusammengebissenen Zähnen nickte sie.
»Gut. Genug der Streitereien. Da wartet ein Wycca im hinteren Zelt auf dich. Anschließend will Zara mit dir trainieren und –«
»Das geht nicht.« Sie musste dringend etwas gegen das Brennen ihrer Handfläche unternehmen. Ansonsten wäre sie morgen nicht in der Lage, aufzutreten. Das konnte sie Orpheus allerdings nicht sagen. Wenn er erfuhr, dass sie sich bei ihrem Auftritt verletzt hatte, würde er seine Drohungen, sie rauszuwerfen, wahr machen.
Dann blieb Tule nichts mehr.
»Ich muss noch in die Stadt«, sagte sie.
Orpheus runzelte die Stirn. »Du hasst Avastone.«
Ich weiß, verkniff sie sich zu sagen. »Es gibt Dinge, die man nur hier bekommt. In einer Stunde bin ich wieder da«, fügte sie hinzu, um ihn milde zu stimmen. »Dann trainiere ich mit Zara. Versprochen.« Sie musste ohnehin mit dem Mädchen reden. Mit aller Kraft vermied sie es, Porter anzusehen.
Seufzend nickte Orpheus. »Gut. Aber erst der Wycca. Er hat für dich bezahlt.« Mahnend blickte er sie an, ehe er sich umdrehte.
»Orpheus, deine Federn – äh, Haare sind ganz zerzaust.«
Er warf ihr einen bösen Blick zu, fuhr sich aber mit einer Hand über den Kopf.
Tule entspannte die Fäuste in ihren Taschen und ging zu ihrem Wohnwagen, um sich kurz zu waschen, bevor sie ins Zelt zu dem fremden Wycca musste. Sie hatte gerade ihre Tür geöffnet, da erklang Porters Stimme.
»Wenn du noch keine Zeit für Zara hast, werde ich ihr wohl einen Besuch abstatten müssen.«
Sie knallte die Tür zu, wirbelte herum und stand mit zwei schnellen Schritten so dicht vor Porter, dass er rot anlief. Ohne nachzudenken, zog sie das Messer von ihrem Gürtel.
Ihr Messer. Nicht das stumpfe, das sie für Auftritte benutzte. Sondern die gedrehte Klinge, die sie bei sich trug, seitdem sie denken konnte. Der Stahl glänzte in einem eisigen Blau, und sie presste die Spitze an Porters Kehle. Erschrocken schrie er auf.
»Jetzt hörst du mir zu, Arschloch«, raunte sie. »Mir egal, was Orpheus sagt. Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, wie du Zara zu nahe kommst – ihr oder einem der anderen Mädchen – ist dein Ohr nur der erste Körperteil, den ich dir abschneide. Danach folgt der Wurm zwischen deinen Beinen, der dir so lieb ist. Hast du mich verstanden?«
Porter schluckte und schielte zur Klinge. »Wenn du –«
Sie drückte die Spitze fester gegen seine Haut. Rote Tropfen traten hervor. »Ich habe dir eine Frage gestellt. Und hier ein kleiner Tipp: Ist deine nächste Regung kein Nicken, ramme ich dir das Messer in die Kehle. Also, hast du mich verstanden, Porter?«
Einen Moment herrschte Stille. Unter der Haut an seinem Hals pochte der Puls wie das Herz eines fliehenden Kaninchens. Langsam nickte er.
»Gut.« Sie kratzte mit dem Messer ein Stück an seiner Haut entlang und er wimmerte. Lächelnd trat sie von ihm weg. »Schön, dass wir uns vertragen haben. Bis später.« Und damit wandte sie sich ab.
In ihrem Wohnwagen lehnte Tule sich einen Moment von innen gegen die Tür, ließ das Messer zu Boden fallen und fuhr sich über ihre Stirn. Schweiß klebte an ihren zitternden Händen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie spät dran war. Sie musste dringend ihre Medikamente nehmen. Die Aufregung nach dem Auftritt und Orpheus’ Standpauke hatten ihre Routine durcheinandergebracht. Mit einem tiefen Atemzug stieß sie sich von der Tür ab und ging zu den Schränken über der Küchenzeile, um die Dose mit den Pillen hervorzuholen. Das dezente Klappern ließ sie schlucken, und mit einer dunklen Ahnung öffnete Tule die Medikamentenverpackung.
Die Dose war beinahe leer.
Hatte sie nicht aufgepasst? Sie war sich sicher, dass sich beim letzten Mal mehr Tabletten darin befunden hatten. Oder?
In Gedanken zog sie die Wangen zwischen die Backenzähne und kaute darauf herum. Sie brauchte dringend neue Medikamente. Aber der einzige Arzt, der sie ohne ein Rezept verschrieb, befand sich im Lake District, und es dauerte Wochen, bis sie wieder in die Richtung reisten. Alle anderen würden Untersuchungen anstellen und ihren Geisteszustand testen. Und das war das Letzte, was Tule wollte.
Sie fischte eine der Pillen aus der Dose, füllte sich ein Glas Wasser ein und schluckte sie hinunter. Kurz schloss sie die Augen und wartete darauf, dass die Wirkung einsetzte. Es dauerte wenige Minuten, dann legte sich eine Decke über ihre Nerven. Ihre zitternden Hände kamen zur Ruhe, nur das Brennen blieb. Sie tupfte sich den Schweiß von der Stirn, hob das Messer auf und verstaute es in der Kiste unter der Spüle. In Lyzara war es Menschen verboten, Waffen zu tragen, und Tule hatte nicht vor, den Rest ihres Lebens in einem Gefängnis in Avastone zu verbringen.
Genau genommen wollte sie sich überhaupt nicht hier aufhalten, ob in einer Zelle oder nicht. Aber Lyzaras Hauptstadt war eine Goldgrube für den Zirkus, und so ließ es sich nicht vermeiden.
Nur noch eine Aufführung, dachte sie. Dann hast du es geschafft.
Sie ließ kaltes Wasser über ihre Hand laufen, aber das Brennen flaute nicht ab. Doch bevor sie sich darum kümmern konnte, musste sie den Wycca aufsuchen. Kurz warf sie einen Blick in den Spiegel, zog die schwarze Schleife in ihrem Haar zurecht und die Strickjacke aus und richtete die goldenen Ketten, die ihre Brustwarzen bedeckten. Sie waren schwer, lagen eng an, und der Verschluss in ihrem Rücken sowie das Tape sorgten dafür, dass sie bei akrobatischen Übungen nicht verrutschten. Dennoch würde nichts davon den Wycca, der im Zelt auf sie wartete, abhalten, sie von ihren Brüsten zu schieben. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht, ehe sie ihren Wohnwagen verließ und den vertrauten Weg zu dem kleinen Nebenzelt einschlug. Obwohl die Sonne bereits tief stand, streichelte sommerliche Wärme ihre Haut. Normalerweise genoss Tule solche Abende. Entferntes Lachen der letzten Zuschauer legte sich wie ein ferner Gedanke über die angrenzenden Felder, und im Hintergrund summte die Nacht mit dem Gesang der Grillen. Die anderen Schausteller versammelten sich auf dem Platz zwischen den Wohnwagen für einen geselligen Abend. Doch Tules Arbeit war noch nicht getan.
Sie schob die Vorhänge am Zelteingang beiseite. Sofort richtete der Wycca ihr gegenüber sich auf. Er saß auf dem schwarzen Stoffsessel und beugte sich nach vorne.
»Ich habe gehört, du wartest auf mich«, sagte sie und senkte ihre Stimme. Hinter ihr ließ sie die Vorhänge zufallen und schwere Dunkelheit füllte das Zelt, nur unterbrochen von den bunten Lampen der drapierten Lichterketten.
Der Wycca leckte sich die Lippen. Sein kurz geschorenes blondes Haar glänzte im Schein der Lichter und sein Blick glitt begierig über Tules Körper, tastete ihn ab. Sie unterdrückte einen Schauer, als sie seine Augen sah. Das linke wirkte trüb, verborgen von einer langen Narbe. Das rechte leuchtete in einem intensiven Türkis.
Tule verschwendete keine Zeit und kletterte auf seinen Schoß, strich mit ihrer Hüfte an seiner entlang. Seine Lider flatterten.
»Mein Name ist Tule«, sagte sie und gab sich Mühe, die Stimme zu benutzen, von der Orpheus behauptete, dass sie nicht wie ein herrisches Biest klingen würde. »Wie heißt du?«
»Tarek.« Der Wycca schlang seine großen Hände um Tules Taille. Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus. Egal, wie oft sie das machte, sie würde sich nie daran gewöhnen.
Orpheus hatte sie nicht von Anfang an verkauft. Er war kein schlechter Mensch – nur ein Geschäftsmann. Und Tule hatte ihm eine Menge Geld geschuldet, weshalb er ihr, als sie achtzehn geworden war, diesen Vorschlag unterbreitet hatte. Zu Beginn hatte sie ausschließlich für die Wycca getanzt, sich auf ihrem Schoß lasziv bewegt und ihre Hände auf ihrer Haut erduldet.
Bis jemand so viel Geld bezahlt hatte, dass Orpheus nicht hatte Nein sagen können.
Und Tule ebenfalls nicht, wenn sie bei ihm und dem Zirkus bleiben wollte.
»Es ist nur Sex«, hatte er gesagt und mit den Scheinen vor Tules Nase gewedelt. »Rein geschäftlicher Koitus.«
Sie fragte sich, ob er sich besser fühlte, wenn er solche klinischen Ausdrücke benutzte. Ihr jedenfalls wurde ein wenig übel. Doch sie stimmte zu.
Nach dem ersten Mal hatte sie sich in ihrem Wohnwagen eingeschlossen, fest auf ein Lederband gebissen und geschrien. Sie weinte, bis ihre Tränen versiegten, und dann stand sie auf, packte die wenigen Sachen, die sie besaß, und ging. Sie wusste nicht einmal, in welcher Stadt sie sich gerade befand. Ohne zurückzublicken, irrte sie nachts durch die Straßen, an den Vierteln der Menschen vorbei, in denen Gaslampen und Kaminfeuer brannten, und dann an denen der Wycca, wo elektrisches Licht und Heizungen brummten. Sie sah sich Busfahrpläne und deren Preise an, erkannte, dass sie sich niemals eine Fahrt würde leisten können, und riss an einem Schwarzen Brett einen Flyer von einem Menschen ab, der Kutschfahrten in benachbarte Städte anbot. Sie wanderte zu einer der menschlichen Universitäten und verließ sie direkt wieder, nachdem sie die Liste mit den Einschreibgebühren in einem Kasten am Eingang gefunden hatte.
Sie wusste, dass es kostenlose Universitäten gab, doch die waren den Wycca vorbehalten.
Sie erkundete die Stadt, ging in Bars und Clubs, in denen sowohl Menschen als auch Wycca Zutritt hatten, bekam Drinks ausgegeben und Angebote von Männern, sie mit zu sich nach Hause zu nehmen. Sie fühlte sich wie ein Maulwurf, der sich durch die Stadt grub, immer auf der Suche nach mehr.
Als die Sonne aufging, ging sie zurück zum Zirkus.
Obwohl das Morgengrauen erst an der Dunkelheit zupfte, wartete Orpheus auf der Treppe vor ihrem Wohnwagen auf sie.
»Fündig geworden?«, fragte er.
Kurz überlegte sie. Sie hatte etwas gefunden, ja. Die Erkenntnis, dass das einzige, was ihr ein sicheres Leben bieten konnte, der Zirkus war. Gesucht hatte sie allerdings etwas anderes, auch wenn sie es nicht benennen konnte.
Tule nahm den Rucksack von ihrer Schulter und strich sich die Haare aus der Stirn. »Ich bin müde. Lässt du mich durch?«
Er stand auf und trat zur Seite. Erschöpft stieg Tule die zwei Stufen zu ihrem Wohnwagen hinauf.
»Wenn du hierbleibst«, sagte Orpheus, ehe sie im Inneren verschwinden konnte, »erwarte ich, dass du weiter deine Pflichten erfüllst.«
Sie drehte sich nicht um, nickte lediglich. Danach sprachen sie nie wieder darüber, und Tule suchte nicht noch einmal nach diesem unbekannten Mehr, das sie sich in dieser Nacht gewünscht hatte.
Denn am Ende hatte sie keine Wahl.
So wie jetzt auch. Die Hände des Wycca umfassten ihre Brüste, schoben die Kettenglieder beiseite, rissen sie von dem Tape. Seine Finger gruben sich schmerzhaft in ihr Fleisch, aber sie biss sich auf die Zunge, ließ es über sich ergehen, obwohl sie wusste, dass sie morgen blaue Flecke haben würde. Ihre Hände wanderten zu seiner Hose, doch ehe sie sie öffnen konnte, hielt er sie fest.
»Ich habe für dich bezahlt«, sagte er und drückte ihre Arme nach oben, bis sie über ihrem Kopf waren. »Ich entscheide.«
Kurz bäumte sich etwas in ihr auf und die Muskeln in ihr spannten sich an. Doch dann ließ sie es einfach geschehen.
Tarek öffnete ihren Gürtel, warf das rote Seidentuch weg, das ihre Hüfte bedeckte, und riss den Stoff ihres Slips zur Seite. Er drückte sie von sich weg, sodass er aufstehen konnte, und rieb sich mit einer Hand über die Beule in seinem Schritt. Sein Blick war der eines Raubtiers, als er Tule betrachtete, die direkt vor ihm stand.
»Fass dich an«, sagte er und leckte sich die Lippen. »Fass deine Titten an.«
Mit den Fingerspitzen strich sie sich über ihre Brüste, aber Tarek schüttelte den Kopf. »Die Nippel.«
Sie tat, was er sagte.
»Kneif rein.« Er beobachtete die Bewegung gierig. »Fester.«
Sie kniff zu, und anstatt Schmerz wuchs Übelkeit in ihr an.
»Fester.« Er ließ sie nicht aus den Augen, während er seine Hose öffnete und sie bis zu den Kniekehlen runterzog. »Knie dich hin.«
Sie sank zu Boden, schaute nach unten auf ihre Beine.
»Sieh mich an.«
Langsam hob sie den Blick. Tarek hatte seinen Schwanz hervorgeholt und strich mit der Spitze über ihre Wangen, bis zu ihrem Mund. »Lutsch ihn.«
Normalerweise gelang es Tule, ihre Gedanken abzuschalten und einfach zu agieren. Aber dieser Tarek hatte etwas an sich, bei dem sich ihr Magen verkrampfte. Ihre Lippen schlossen sich um seine Spitze, und ein muffiger, salziger Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Sie atmete durch die Nase, kämpfte gegen die Übelkeit an.
»Du liebst das, oder?«, raunte er und legte einen Finger unter ihr Kinn. »Meinen Schwanz zu lutschen?«
Auffordernd sah er sie an, also nickte sie, fuhr mit der Zunge um ihn herum. Sie hatte das Gefühl, dass Tarek nicht halb so selbstsicher war, wie er tat, und dass er ihre Bestätigung brauchte. Er wartete darauf, dass sie sich bewegte, ihn lutschte und faselte, wie gut ihr das gefiel.
Als seine Bewegungen härter und unkontrollierter wurden, zog er sich aus ihr raus und kam auf ihr, verteilte seinen Samen auf ihrer Brust und ihrem Gesicht.
Die meisten Wycca verschwanden direkt im Anschluss, aber Tarek knöpfte träge seine Hose zu und richtete seine Kleidung. Tule nutzte die Zeit, um sich eines der Tücher zu holen, die sie in der Kommode aufbewahrte. Sobald Tarek das sah, schüttelte er den Kopf.
»Nicht«, sagte er. »Erst wenn ich weg bin.«
Sie ließ das Tuch sinken, wartete, bis er fertig war, während sein Sperma auf ihrer Haut trocknete. Im Vorbeigehen grinste er sie lüstern an.
»Vielleicht kaufe ich dich«, sagte er und legte den Kopf schräg. Er verharrte am Eingang, eine Hand am Vorhang. »Was meinst du, wie viel Geld müsste ich deinem Direktor für dich geben?«
Tule wusste, was Orpheus für sie bezahlt hatte, und ahnte, dass der Preis zwar gestiegen, aber sicher nicht unbezahlbar war. Deshalb zwang sie sich zu einem unverbindlichen Lächeln und hoffte, dass Tarek nur jemand war, der sich selbst gern reden hörte. Und niemand, der Dinge in die Tat umsetzte.
Sobald er verschwunden war, wusch Tule sich in ihrem Wohnwagen und tauschte ihr Bühnenoutfit gegen eine einfache Hose und Strickjacke. Das Outfit würde sie morgen waschen müssen. Zum Glück hatte sie noch einen Ersatz. Bevor sie ging, holte sie ihr Messer unter der Spüle hervor. Waffen waren zwar verboten, aber Avastone und sie standen auf Kriegsfuß, und sie zog nicht unbewaffnet in eine Schlacht. Sorgfältig verbarg sie die Klinge an ihrem Gürtel unter der Jacke, band sich ihren Zopf neu und betrachtete ihre Handfläche. Noch immer leuchteten die Blitze rot, und das Brennen hatte nicht nachgelassen. Im Gegenteil – sie hatte das Gefühl, es war über die letzten Stunden angewachsen.
Sie musste sich dringend darum kümmern. Und möglicherweise erwies sich Avastone in dieser einen Sache als hilfreich.
Ungesehen stahl sie sich vom Gelände. Nicht, dass es ihr verboten gewesen wäre, zu gehen, doch sie hatte keine Lust auf unliebsame Gespräche. Die Dämmerung knabberte an den Ecken und Kanten der umstehenden Gebäude und löste ihre Konturen auf. Tule zog ihre Strickjacke fester um sich und verließ die Felder, bis sie die Innenstadt erreichte und Kopfsteinpflaster den weichen Untergrund ersetzte. Laternen sprangen an, vertrieben die Dunkelheit. Zunächst Gaslaternen mit ihrem diffusen gelben Schimmer, der Tule so vertraut war. Später, als sie die Wohngebiete der Menschen verließ, tauchten elektronische Laternen auf, die ihr bläuliches Licht auf die Gehwege warfen.
Schon von Weitem entdeckte sie die Flagge, die ihr den Kurs zur Sternengasse wies. Der Mond mit dem leuchtenden Stern auf schwarzem Untergrund war nicht zu übersehen. Sie beschleunigte ihre Schritte, das Brennen ihrer Handfläche trieb sie vorwärts, bis Stimmen zu ihr drangen. Kurz darauf erschienen die ersten Ausläufer des magischen Schwarzmarktes – Tische mit samtenen Decken, auf denen Kristalle, Medaillons und Glaskugeln lagen. Holzbuden, aus denen der Geruch von Kräutern drang. Zelte, die von merkwürdigen Rauchwolken umgeben waren.
Dazwischen liefen vereinzelt Menschen, die Köpfe gesenkt, die Schultern hochgezogen. Niemand verweilte länger als nötig, obwohl kein Verbot sie davon abhielt. Immerhin war dies nicht die Sternengasse. In den Nebenstraßen, die allen zugänglich waren, lagen Magiekrümel verteilt, während die Sternengasse selbst in Magie badete. Dort gab es andere Dinge zu kaufen als Kräutersalben, Glücksbringer oder Voodoo-Puppen.
Gefährlichere Gegenstände. Ein Junge in der Anstalt, in der Tule aufgewachsen war, hatte ihr von menschlichen Fingern erzählt, die zu einem Pulver verarbeitet worden waren, das die Wycca gegen nahende Erkältungen einnahmen. Er hatte behauptet, es mit eigenen Augen beobachtet zu haben, was natürlich Blödsinn war.
Hätte er es gesehen, wäre er nicht mehr in der Lage, davon zu berichten.
Menschen waren in der Sternengasse verboten.
Wahrscheinlich war es ein Hirngespinst seiner Fantasie gewesen. Ein harmloses, wenn man es mit Tules eigenen verglich.
Neben den üblichen Dingen entdeckte Tule Stände, die Amulette und Ringe anpriesen, die vorübergehende Stärke verleihen sollten. Auf einem der Tische verkündete ein großes Schild: Ringe mit eingearbeitetem Wycca-Blut! Steigert die eigene Kraft um das Zehnfache und erhöht die Gewinnchancen beim diesjährigen Veri!
Sofort wandte Tule den Blick ab, doch das letzte Wort klammerte sich an ihre Gedanken wie Efeu. Das war einer der Gründe, weshalb sie Avastone dringend verlassen musste. Die Astronomen sagten voraus, dass in wenigen Tagen der Blutmond am Himmel leuchten und das Veri einläuten würde. Bis dahin wäre der Zirkus weitergezogen, aber Tule wollte am liebsten ein halbes Land zwischen sich und der gefeierten Menschenjagd wissen. So viele Kilometer, dass nicht überall Bildschirme mit Liveübertragungen der Morde auf sie warteten.
»Porphyria.« Die Stimme erklang von rechts, doch Tule ignorierte sie. Sie hatte keine Zeit, sich irgendetwas andrehen zu lassen. »Porphyria!« Nachdruck webte sich wie ein leuchtendes Band in das Wort, sodass Tule nun doch stehen blieb und sich umdrehte.
»Du musst auch hören, wenn jemand deinen Namen sagt.« Der Wycca, der mit ihr sprach, stützte sich mit langen dünnen Fingern auf dem leeren Tisch vor sich ab. Sein weißes Haar fiel wie Dominosteine nach hinten, und er sah sie aus goldenen Augen unbekümmert an.
»Meinst du mich?«, fragte Tule misstrauisch.
»Wen denn sonst?«
»Mein Name ist nicht … Was auch immer du gesagt hast.«
»Du bist auf der Suche.« Der Wycca ignorierte ihren Einwand. »Ich kann es in deinen Augen sehen.«
»Was für ein Talent.« Sie strich sich den Zopf über die Schulter und schaute sich um. »Wo ich mich doch auf einem Markt befinde.« Natürlich suchte sie etwas – so wie jeder hier.
Der Wycca lachte leise. »Aber was du suchst, habe ich.«
Sie hob die Augenbrauen und schritt zögerlich auf ihn zu. »Ach ja?«
»Ein Gedicht.«
»Nein, danke.« Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und ging weiter, das Brennen ihrer Hand trieb sie vorwärts.
Hinter ihr rief der Wycca: »Porphyria! Geh nicht ins Haus, hörst du?«
Sie ignorierte ihn und fragte sich, ob Wycca wohl mit der Zeit den Verstand verlieren konnten, wenn sie zu lange lebten. Schnell ließ sie den Weißhaarigen hinter sich und näherte sich einem der Tische, auf dem mehrere Mörserschalen und Phiolen dargeboten wurden und von dem ein herber Geruch nach Kräutern ausging. Dahinter stand ein Wycca mit schwarzen Haaren, die auf einer Seite abrasiert waren.
Er legte den Kopf schräg und musterte sie aus gelben Augen. »Du suchst eine Mondrose, richtig, meine Hübsche?« Mit einer Hand griff er zu einem Bündel getrockneter Blüten, der auf dem Tisch lag. »Nur ein Blatt hiervon, gemischt mit Nelkenwasser und einem Haar deines Angebeteten, und der Liebestrank ist perfekt.«
Das klang für Tule lediglich nach einer problematischen Verdauung, aber gut. Sie wusste, dass die Wycca, die ihre Stände in den Seitenstraßen der Sternengasse betrieben, Magie nicht so beherrschten wie diejenigen, die in der Gasse verkauften. Doch da sie dort keinen Zutritt hatte, blieb ihr nur diese Möglichkeit.
Sie hielt dem Wycca ihre verbrannte Handfläche hin. »Ich brauche etwas, das dagegen hilft.«
Seine Augen weiteten sich. »Oh, das sieht aber gar nicht gut aus.« Er legte beide Hände um ihre und zog sie dichter zu sich heran. Im schwachen Licht der Laterne drehte er sie hin und her. »Das ist keine normale Verbrennung.«
»Ach was. Ein Wycca hat mich mit seiner Ferrokinese erwischt.« Sie widerstand dem Drang, ihre Hand wegzuziehen. »Hast du was dagegen? Eine Salbe?«
»Ich könnte dir Spitzwegerich auftragen.«
Genervt stieß sie die Luft aus. »Das hilft höchstens bei der Berührung einer Brennnessel und ich kann ihn mir auf der nächsten Wiese pflücken. Ich brauche etwas Richtiges.«
Sein Blick huschte zur Seite, zu einer Kiste, die halb verborgen unter dem Tisch stand. »Ich fürchte, ich darf nicht –«
»Ich habe Geld«, sagte sie und griff mit der freien Hand in ihre Tasche, um die Münzen hervorzuholen.
Der Wycca kaute auf seiner Unterlippe. »Es geht nicht ums Geld, sondern um das Gesetz.«
Sie kannte das Gesetz. Jeder kannte es.
Menschen war es verboten, Waffen zu tragen.
Das schloss auch alles Magische ein, das als solche benutzt werden könnte. »Ich sehe nicht, wie eine Salbe gegen das Gesetz verstoßen sollte. Bitte«, sagte sie drängend. »Es tut wirklich weh und –«
Glockenschläge ertönten und hallten in ihrem Körper wider. Verwirrt runzelte Tule die Stirn. War es schon so spät?
Die Glocken schlugen weiter. Sie zählte mit.
Zehn. Elf. Zwölf.
… Dreizehn.
Der letzte Schlag dröhnte in ihren Knochen.
Dreizehn.
O nein, bitte nicht.
Sie sah auf und begegnete dem Blick des Wycca. Er hob beide Augenbrauen.
»Dreizehn«, sagte er. »Das bedeutet …«
»Die Königin ist tot!« Der Ruf erklang aus der Straße hinter ihnen. Andere stimmten mit ein, bis von überall her die gleichen Worte drangen.
»Die Königin ist tot.«
Das durfte nicht wahr sein.
Der Wycca ließ Tules Hand los. Noch immer hallten die Rufe über den Tod der Königin durch die Stadt. »Kann ich dich jetzt vielleicht für dieses Tonikum begeistern?« Er griff nach einer Flasche und hielt sie ihr vor die Nase. »Innerhalb von Sekunden bekommst du einen fiesen Ausschlag, der deine ganze Haut betrifft.«
Ihr Herz vibrierte in der Brust. Die Königin war tot. Das bedeutete, dass in diesem Moment der Blutrat des Königs tagte. In wenigen Stunden würden sie eine Auswahl treffen.
Warum musste sie sich gerade jetzt in Avastone befinden? Nicht, dass sie woanders vor der Wahl des Rats sicher gewesen wäre. Aber in der Vergangenheit hatte es doch am häufigsten Frauen aus der Hauptstadt getroffen.
»Behalte dein Gift«, sagte Tule abwehrend und schob die ausgestreckte Hand des Wycca beiseite. »Ich brauche es nicht.« Sie hatte keinen hochtrabenden Namen und war nicht außergewöhnlich schön, also hatte sie nichts zu befürchten. Die letzten Königinnen hatten mindestens eins von beiden aufweisen können.
»Sicher?«, fragte der Wycca und lehnte sich vor. »Ich habe gehört, die vorletzte Königin hat sich die Fingernägel an der verschlossenen Tür zu den Gemächern des Königs blutig gekratzt. Sie soll ihn angefleht haben, sie anzuhören, bis sie rote Schlieren auf dem Holz hinterlassen hat. Aber er hat sie ignoriert. Am nächsten Tag haben sie ihr den Kopf mit dem Schwert abgetrennt.«
Tule schluckte. Sie kannte diese Geschichte. Die Frau – eigentlich eher ein Mädchen, sie war erst achtzehn gewesen – war die fünfte Ehefrau des Königs gewesen. Und die zweite, die er öffentlich hatte hinrichten lassen.
Die anderen drei waren unter unbekannten Umständen verstorben.
Und nun war die sechste tot.
»Lass mich in Ruhe mit deinem Hokuspokus«, sagte Tule fest, obwohl sie einen Moment lang das Gefühl hatte, zu schwanken. »Ich will nur etwas für die Verbrennung.«
Er schnalzte mit der Zunge. »Das ist aussichtslos. Nichts, das ich dir verkaufen dürfte, hilft gegen diese Art von Magie.«
»Aber –«
»Olly.« Jemand trat neben Tule und sah den Wycca vor ihnen an. Ein Mann mit Korkenzieherlocken, die seinen Kopf wie einen riesigen schwarzen Heiligenschein umrahmten. Darauf thronte ein Zylinder, bei dem der obere Teil aus silbernen Ornamenten bestand, die einen Totenschädel bildeten. Tule konnte ihren Blick nicht von dem Totenkopf abwenden, doch der Fremde beachtete sie gar nicht. »Wir müssen los. Befehl vom Boss.«
»Wren, der Abend hat erst angefangen und deine Worte waren –«
»Sag mir, Olly, brauche ich jemanden, der mich daran erinnert, was ich gesagt habe?«
Der Wycca mit den gelben Augen senkte den Kopf. »Gut. Ich komme.« Sofort packte er seine Waren ein.
»Hey.« Tule griff nach seinem Arm. »Wir sind noch nicht fertig.«
»Du hast ihn doch gehört«, grunzte Olly und nickte zu dem anderen Mann, Wren. »Ich muss gehen.«
»Und ich brauche etwas gegen diese Verbrennung.«
Wren trat einen Schritt vor. »Lass ihn los.« Wind peitschte durch Tules Haare und stieß sie von Olly weg.
Noch ein Wycca. Natürlich. Sofort griff Tule nach dem Messer an ihrem Gürtel, doch Wren war schneller. Er packte ihr Handgelenk, drehte es um. Vor Schmerz stieß sie einen Fluch aus.
»Was soll das werden?«, fragte Wren. An seinen Fingern glänzten mehrere totenkopfförmige Ringe.
»Ich will keinen Ärger«, keuchte sie. »Ich brauche nur etwas für meine Hand.«
Er ließ sie los und packte ihre Handfläche, um sie sich anzusehen. »Ferrokinese«, murmelte er. »Ich hasse Ferrokinese. Die meisten mit dieser Kraft sind miese Wichser.«
Alle Wycca sind miese Wichser, wollte sie sagen, biss sich aber auf die Zunge.
Er ließ ihre Hand los. »Das heilt nicht von allein. Du wirst dein Leben lang damit zu kämpfen haben.« Schulterzuckend wandte er sich ab und sah zu Olly, der mittlerweile seinen Tisch leer geräumt hatte.
Ihr Leben lang? Sie wollte nicht für den Rest ihrer Tage die blitzartigen Narben auf ihrer Handfläche anstarren und durch sie und das Brennen an diesen arroganten Wycca Rusc erinnert werden. Ausgeschlossen.
Sie sah sich in der Straße um. Viele der Händler unterhielten sich angeregt über die Neuigkeiten, waren abgelenkt. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Tules Hand wanderte zu ihrem Gürtel, weiter zu der Klinge …
»Das willst du nicht erneut versuchen.« Wrens Blick lag auf ihr, und er verengte die durchdringend weißen Augen zu Schlitzen.
Tule ließ die Hand sinken. »Gib mir einfach etwas gegen die Verbrennung, und ich bin weg.«
Grinsend betrachtete er sie und bekam dadurch eine Gänsehaut erregende Ähnlichkeit mit dem Totenschädel auf seinem Zylinder. »Du bist hartnäckig.« Er deutete mit dem Kinn auf Olly. »Bist du so weit?« Dieser nickte. »Gut. Komm.« Sie kehrten ihr den Rücken zu.
»Aber –«
»Hier.« Wren warf etwas über seine Schulter und sie fing es auf. »Hilft bei Verbrennungen, aber nicht gegen den Dickschädel.«
Verblüfft betrachtete Tule das Döschen in ihrer Hand. »Was ist das? Ist das echt?«, fragte sie, doch die beiden Wycca waren schon auf dem Weg in die andere Richtung. »Hey! Was kostet das?« Sie wollte niemandem etwas schuldig sein.
Wren drehte sich um und lief rückwärts weiter. Sein breites Grinsen zeichnete sich deutlich von der dunklen Haut ab. »Das ist Bestechung!«, rief er. »Damit du aufhörst, uns auf die Nerven zu gehen, Messermädchen. Und jetzt verschwinde.«
Sie starrte ihnen hinterher, unsicher, ob sie es wirklich annehmen sollte. Aber in der nächsten Sekunde verschwanden Wren und sein Begleiter hinter der Ecke.
Gut. Vielleicht wirkte das Mittel ohnehin nicht. Sicher hatte der Wycca sie nur loswerden wollen. Sie steckte das Döschen in die Tasche und machte kehrt. Auf dem Weg aus der Straße starrte sie stur nach vorne und nicht zu den Verkäufern, die ihr ihre Angebote unter die Nase hielten.
»Ein Amulett, das den Träger für jeden aussehen lässt wie ein altes Weib. Sichere Sache, um der Auswahl des Blutrats zu entgehen.«
»Nimm nur zwei Schlucke, und deine Haut wirft Pusteln wie ein Warzenschwein – aber nur für eine Nacht, keine Sorge.«
»Du solltest dieses Pulver nehmen, um deine Haare zu färben, Mädchen. Jeder weiß, dass der König ohne Herz Brünette bevorzugt.«
Sie schluckte, senkte den Kopf und beschleunigte ihre Schritte. Als sie den Rand der Stadt erreichte und das Feld in Sicht kam, auf dem das Zirkuszelt stand, atmete sie erleichtert auf. Im Vorbeigehen ignorierte sie die aufgeregten Stimmen der anderen und schloss sich in ihrem Wohnwagen ein.
Von draußen ertönten immer wieder Rufe.
Die Königin ist tot.
Wie konnte es sein, dass sie sich jedes Mal, wenn die Königin starb, in dieser verdammten Stadt befand? Tule erinnerte sich an das letzte Mal, als die Glocken dreizehn Mal geläutet hatten. Es war Jahre her, und sie war erst seit Kurzem ein Teil vom Zirkus gewesen und hatte zum ersten Mal mit ihnen in Avastone Halt gemacht. Damals war Orpheus davon ausgegangen, ihr einen Gefallen zu tun, indem er sie zurück in ihre Heimatstadt brachte, und Tule war zu verängstigt gewesen, um ihm die Wahrheit zu sagen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sie nicht gewusst, was die dreizehn Glockenschläge bedeuteten. Und auch die anderen schienen verwirrt. Sie erinnerte sich an Rubys faltiges Gesicht, das sich fragend verzogen hatte, als sie zu Orpheus blickte.
»Das kann nicht sein«, hatte Ruby gemurmelt. »Das Mädchen ist doch erst seit einem Jahr Königin.«
Die Worte hatten sich in Tules Gedächtnis gebrannt. Das Mädchen. Sie hatte Bilder der Königin gesehen – die rotblonden Locken, die vollen rosa Lippen, die Sommersprossen auf ihren blassen Wangen.
Keine Frau. Ein Mädchen. Gerade achtzehn Jahre alt, als sie auserwählt wurde, den König zu heiraten.
Und ein Jahr später hatten die Glocken zu ihrem Tod geläutet. Königin Viola war hingerichtet worden, weil sie das Gesetz gebrochen hatte.
Für Tule gab es nur ein wichtiges Gesetz, das sie befolgen musste. Oder besser – das sie vorgeben musste, zu befolgen: die Vorschrift, keine Waffen zu tragen. Doch es gab eines, das jeder im Land kannte, obwohl es nur zwei lebende Personen in Lyzara betraf. Das Gesetz der Spezies. Tule hatte sich bis dahin nie mit dem Wortlaut beschäftigt. Bei der Wahl der letzten Königin war sie zu jung gewesen, um in Betracht gezogen zu werden, und somit spielte es für sie keine Rolle. Doch am Tag von Königin Violas Hinrichtung hatte sie sich in ihrem Wohnwagen eingeschlossen und alles zu dem Gesetz der Spezies durchgelesen, was sie finden konnte.
Es war nicht viel, aber die Worte waren eindeutig.
War ein Wycca an der Macht, musste er einen Menschen heiraten und andersherum. Der Beischlaf mit der eigenen Spezies außerhalb der Ehe war verboten und wurde mit dem Tode bestraft. Das ergab Sinn, um sicherzustellen, dass die Chancen auf Wycca- oder Menschenblut beim Erben gleichmäßig verteilt blieben.
Doch es gab einen Zusatz, der neuer war als das ursprüngliche Gesetz. Tule hatte nachgeforscht und herausgefunden, dass dieser zwischen der ersten und zweiten Frau des Königs in Kraft getreten war, also vor über achtzig Jahren. Der Zusatz besagte, dass es beiden Eheleuten ebenfalls untersagt war, außerhalb der Ehe Beischlaf zu haben – egal, mit welcher Spezies. Auch hierauf stand die Todesstrafe.
Dagegen hatte Königin Viola verstoßen. Sie war nicht die Erste gewesen – schon vorher hatte die zweite Ehefrau desselben Wycca-Königs das Gesetz der Spezies gebrochen und war dafür hingerichtet worden. Jedes Mal, wenn die Königin starb, hatte der menschliche Teil des Blutrats das Recht, eine neue Königin zu wählen.
Und diese Auswahl schloss alle Frauen des Landes Lyzara ab einem Alter von achtzehn Jahren ein.
Sechs Ehefrauen waren schon tot, und jetzt, nach dem Verscheiden der letzten, war Tule erstmals alt genug, um ausgewählt zu werden.
Doch sie musste sich nicht sorgen. Ja, es war bekannt, dass der König Brünette bevorzugte – zumindest legte das die vergangene Auswahl nahe –, aber das traf auf einen Großteil der Frauen im Land zu. Anders war es bei der Herkunft der Frauen. Alle bisherigen Königinnen hatten die Namen alter Adelshäuser getragen: Stuart, Blackwall, Pierce …
Nein, Tule musste sich nicht fürchten. Sie besaß ja nicht einmal einen Nachnamen. Zumindest hatten ihre Eltern keinen angegeben, als sie sie auf den Treppen der Anstalt ausgesetzt hatten, in der Tule aufgewachsen war. Alles, was sie besaß, war das Symbol, das ihr in den Nacken direkt unter den Haaransatz gebrannt worden war.
Niemand bei Verstand würde sie auswählen. Sie sollte unbesorgt sein. Und dennoch alles tun, um in diesem Moment nicht in Avastone zu sein. Nicht in der Nähe des berüchtigten Königs ohne Herz. Nicht dort, wo sie die schlimmsten Jahre ihres Lebens verbracht hatte.
Einfach weg.
Doch sie war an den Zirkus gebunden. Orpheus hatte für sie bezahlt, und auch, wenn die Schuld beglichen war, war dies ihr Zuhause.
Nur noch morgen, erinnerte sie sich. Dann wäre die letzte Vorstellung, danach würde sie ihre Sachen packen und verschwinden.
Als sie schon lange im Bett lag, drangen noch immer die Rufe von draußen zu ihr.
Die Königin ist tot.
Die Königin ist tot.
Sie drückte sich ein Kissen aufs Ohr, versuchte, sie auszublenden und nicht daran zu denken, dass der Blutrat in diesem Moment das Schicksal einer weiteren Frau besiegelte. Denn jeder wusste, dass die Ehefrauen von König Raevan Tennyson eine grausame Zukunft erwarteten.
Der nächste Tag sollte eine Erlösung für Tule sein. Stattdessen erwies er sich als Verlängerung der Albträume, die sie in der Nacht geplagt hatten.
Sie hatte schlecht geschlafen und benötigte dementsprechend mehrere Versuche in den Trainingsstunden am Morgen, um zu ihrer alten Form zurückzufinden. Aus dem Augenwinkel sah sie Porter grinsen und es kostete sie ihre gesamte Kraft, ihm nicht das Messer ins Auge zu bohren.
Am Morgen war ihr wieder eingefallen, dass sie vergessen hatte, auf dem Schwarzmarkt nach den Medikamenten zu fragen. Die Salbe hatte ihr in der Nacht Linderung verschafft, nur die roten Blitze auf ihrer Haut waren geblieben. Das ließ sie vermuten, dass dieser Wren auch Medikamente besaß, die ihren Geist beruhigen konnten. Vielleicht konnte sie nach der Vorstellung noch einmal in die Stadt und ihn aufsuchen? Ihr Vorrat neigte sich dem Ende zu, weshalb sie heute Morgen nur eine halbe Tablette genommen hatte. Die Wirkung – oder besser, die fehlende Wirkung – zeigte sich bereits im leichten Zittern ihrer Hände. Auch Porters dämliches Grinsen trug nicht zur Besserung bei.
Tule war mordlustig.
Ihr Körper vibrierte vor Anspannung.
Immer wieder verschwamm ihre Sicht und sie blinzelte, fokussierte sich auf die Zielscheibe vor sich, auf die Manege, die Beleuchtung, das Publikum. Alles, was sie von dem heißen Pumpen ihres Bluts ablenkte. Doch die Lichter blendeten sie heute mehr als sonst und die Menge war lauter – selbst das Kauen von Popcorn bohrte sich in Tules Ohren, während sie mit aller Kraft versuchte, sich zu konzentrieren.
Nichts funktionierte.
Bis sie dem Blick der Frau begegnete.
Tule stand gerade auf dem Trapez, zwei Messerklingen zwischen den Lippen, die dritte zwischen den Zehen des rechten Fußes, als sie sie bemerkte.
Tule schwankte.
Das Messer im Griff ihres Fußes fiel zu Boden und kam mit einem dumpfen Laut auf.
Zum Glück war das Publikum eher auf die Klingen in ihrem Mund konzentriert. Nur Orpheus würde es nicht entgangen sein. Aber darauf konnte sie sich nicht konzentrieren. Nicht, wenn der Blick der Frau auf ihr lag und das eingeritzte Symbol in ihrem Nacken kribbelte.
Reiß dich zusammen, beschwor sie sich. Du bist erwachsen. Kein Kind mehr. Du befindest dich nicht in ihrer Obhut. Ihre Anwesenheit ändert nichts.
Doch sie konnte sich nicht belügen. Halbherzig brachte sie die Nummer zu Ende und dankte den verdammten Sternen dafür, dass nach ihrem Auftritt eine fünfzehnminütige Pause eingeplant war.
Fünfzehn Minuten, in denen sie sich Orpheus’ Standpauke über die verpatzte Nummer anhören durfte, ohne Zweifel. Aber besser, als ihren Blicken ausgesetzt zu sein.
Schnell verbeugte sich und verschwand durch das Zelt ins Freie, lief zu dem Platz zwischen den Wohnwagen. Gierig saugte sie die Luft ein, befahl dem Schwindel, sie in Frieden zu lassen. Die Welt drehte sich und sie starrte zu Boden, über den zwei schwarze Spinnen huschten und unter dem Wohnwagen verschwanden.
Sicher hat sie dich nicht einmal erkannt. Sie zog den Gedanken wie eine schützende Decke über ihren Verstand. Immerhin war es vierzehn Jahre her, dass die Anstalt, in der sie aufgewachsen war, sie an den Zirkus verkauft hatte. Damals war sie ein dürres, zwölfjähriges Mädchen gewesen, zu verängstigt und eingeschüchtert von der Welt, um den Mund aufzumachen.
Heute hatte sie nichts mehr mit diesem Mädchen gemeinsam. Nichts, außer dem Symbol in ihrem Nacken.
»Man sagte mir, dass ich dich hier finden würde.«
Ein Albtraum, redete sie sich ein. Du träumst im Stehen. Das ist nicht real.
Doch als sie die Augen öffnete, stand sie vor ihr.
»Madame Vyra.«
Die Wycca lächelte. Sie sah genauso aus wie vor vierzehn Jahren. Wycca alterten bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag, danach manifestierte sich die Unsterblichkeit auch im Äußeren und sie veränderten sich nicht mehr. Madame Vyra war schon weit über achtzig. Doch weder die bernsteinfarbenen Augen noch die kurzen blonden Haare verrieten ihr Alter.
»Tulip. Lass dich ansehen.« Madame Vyra trat vor, und sofort stolperte Tule zurück. »Immer noch so ein ängstliches Ding wie früher.« Sie schnalzte mit der Zunge und warf einen Blick hinter sich. Erst jetzt entdeckte Tule die Mädchen und Jungen, die dort aufgereiht standen. Sie alle hatten kurz geschorene Haare, und obwohl Tule es nicht sah, wusste sie, dass in ihren Nacken das gleiche Symbol prangte wie bei ihr.
»Was tun Sie hier?« Tule verfluchte ihre brüchige Stimme und räusperte sich.
»Als ich auf dem Plakat deinen Namen gesehen habe, konnte ich meinen Augen kaum trauen.« Madame Vyra lächelte. »Vierzehn Jahre sind vergangen und du reist noch immer durch die Städte. Müssten deine Schulden nicht längst abbezahlt sein?«
Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Das sind sie.« Schulden, die Madame Vyra gemacht hatte. In ihrem Namen. Sie hatte Tule an Orpheus verkauft und sie hatte arbeiten müssen, damit der Zirkusdirektor sein Geld zurückerhielt. Ansonsten hätte sie bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr in der Anstalt bleiben müssen – und wahrscheinlich noch darüber hinaus.
»Dir muss dieser bunte Käfig gefallen, wenn du weiterhin hierbleibst, kleine Blume.«
Es ist kein Käfig, wollte sie sagen. Mir steht es frei, zu gehen, wann immer ich will. Aber die Worte blieben ihr im Hals stecken.
»Schaut, Kinder«, sagte Madame Vyra und machte eine ausladende Geste in Richtung ihrer Schützlinge. »Tulip war einmal eine von euch. Wir haben sie gesund gepflegt, und jetzt unterhält sie die Allgemeinheit mit ihren Aufführungen.«
Das heiße Blut in Tules Adern und das Zittern ihrer Hände straften Madame Vyras Worte Lügen. Tule war nicht gesund. Die halbe Dosis ihrer Medikamente reichte gerade aus, dass sie nicht den Verstand verlor. Sie wusste, dass sie die Anstalt damals nicht hatte verlassen dürfen, weil man sie für gesund erklärt hatte.
Im Gegenteil.
Doch keines dieser Worte schaffte es über ihre Lippen. Stattdessen fiel ihr Blick auf eines der Mädchen in der Reihe.
Sie stand abseits, halb hinter den anderen versteckt, und hatte kurz geschorene braune Haare und riesige blaue Augen, durchscheinend wie die Klinge von Tules gedrehtem Dolch. Es war, als könnte sie mit ihnen geradewegs in ihre Seele blicken.
Sie erinnerte sich an das Mädchen, als dieses noch winzig gewesen war – ein Plagegeist, der oft die Anstalt zusammengeschrien hatte. Sie war acht Jahre jünger als Tule, aber schon damals hatte es selten einen Tag gegeben, an dem Madame Vyra sie nicht in den Isolationsraum gesperrt hatte, weil das Mädchen Ärger gemacht hatte.
Celeste. Das war ihr Name. Sie erinnerte sich auch an den Tag, als sie Celeste weinend in einer Ecke vorgefunden hatte, die blauen Augen des Mädchens riesig und die Wangen tränenverschmiert. Sie hatte zu Tule aufgesehen und gefragt: »Wann kommen meine Eltern mich abholen?«
Und weil Tule sich als Kind immer dieselbe Frage gestellt hatte, kannte sie die Antwort mittlerweile.
»Niemand wird kommen und uns holen.«
Celeste hatte heftiger geweint, und Tule hatte sich neben sie gesetzt, das Mädchen nicht umarmt, aber ihre Schultern hatten einander berührt, bis ihre Tränen versiegt waren.
Madame Vyra hatte sie später entdeckt und sich lächelnd vor die Mädchen gehockt.
»Na, na«, hatte sie gesagt und beim Klang ihrer Stimme – Dornen, überzogen von Karamell – hatte Tule die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt. »Warum seid ihr denn nicht auf euren Zimmern?«
Tule hatte gar nicht bemerkt, wie spät es geworden war, aber in dem Moment wurde ihr bewusst, dass die Sperrstunde bereits begonnen haben musste.
»Celeste war traurig«, sagte Tule. »Aber es geht schon wieder.« Sie wollte aufstehen, doch Madame Vyra legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie wieder nach unten.
»Du kennst die Regeln, Tulip.« Sie bohrte die Finger in Tules Haut. »Und Celeste sollte sie mittlerweile auch kennen. Vielleicht braucht ihr eine Erinnerung.« Sie lächelte. »Folgt mir.«
Sie führte die Mädchen in den Raum mit der Liege, der Tule beinahe so vertraut war wie ihr eigener. Unzählige Male hatte man sie dort festgebunden und Tests an ihr durchgeführt, dass ihr Herz beim Betreten nur einen kurzen Satz machte, als hätte sie eine Treppenstufe übersehen.
Doch Madame Vyra hielt sie fest. »Du nicht, Tulip«, sagte sie und deutete auf das Nebenzimmer. »Geh dort hinein.«
Jetzt pochte ihr Herz schneller. Alles, was ungewohnt war, bedeutete nur schlimmere Schmerzen, das wusste sie mittlerweile. Doch ihr blieb keine Wahl. Also betrat sie den Nebenraum, in dem man durch ein Fenster auf das Behandlungszimmer schauen konnte. Sie fragte sich, ob die Ärzte, die sonst hier standen, auch beim Anblick der OP-Liege schweißnasse Hände bekamen.
Madame Vyra band Celeste an der Liege fest, dann wandte sie sich durchs Fenster an Tule.
»Du wolltest dem Mädchen helfen, Tulip«, sagte sie. Die Scheibe war so dünn, dass Tule sie ohne Weiteres verstand. »Aber das Einzige, das euch hilft, sind die Behandlungen. Ich glaube, das hast du vergessen. Deshalb möchte ich, dass du zusiehst, meine kleine Blume.«
Tules Kehle verengte sich, als Madame Vyra Elektroden an Celestes Haut befestigte und begann, Stromstöße durch ihren Körper zu schicken. Zuerst zitterte das Mädchen nur, aber als Madame Vyra an einem Rädchen drehte, schrie sie aus vollem Leibe.
Tule presste sich die Hände auf die Ohren und sah zur Seite. Madame Vyra musste das bemerkt haben, denn sie drückte einen Knopf, und einen kurzen Moment später betrat einer der Pfleger Tules Raum, fixierte mit einer Hand ihre Handgelenke auf dem Rücken und hielt mit der anderen ihren Kopf fest.
Celeste schrie bei jedem Stromstoß auf. Ihr Körper bebte, und in Tules Geist vermischten sich die Schreie des Mädchens mit ihren eigenen. Ihre Sicht verschwamm.
Kurz darauf hatte Madame Vyra Tule an den Zirkus verkauft, und sie hatte nicht mehr zurückgeblickt.
Nun war Celeste hier und starrte sie an.
Hilf mir.
Sie wusste, dass es nicht Celestes Worte waren – Tule konnte keine Gedanken lesen. Aber sie standen ihr so klar ins Gesicht geschrieben, dass es sich anfühlte, als hätte sie sie herausgeschrien.
Hilf mir.
So hatte Tule auch jedes Mal ausgesehen, wenn Madame Vyra sie durch Avastone geführt hatte. Einmal im Monat hatten sie einen Ausflug unternommen. Manchmal zu Schulen, in Museen, in Parks, an den Fluss Mandalay, in den Zoo. Die Trips dienten nie ihrer Unterhaltung, sondern nur einem Zweck: Ihnen wurde vorgeführt, was geschah, wenn sie ungehorsam waren.
»Seht ihr diese Tiger dort? Sie sind mit Eismagie verändert und darauf abgerichtet, Menschenfleisch zu fressen …«
»Schaut euch das Gemälde an. Es zeigt Azalea Blackwalls Hinrichtung. Ungehorsames kleines Ding.«
»Der rote Fluss ist eine Mahnung. In der Mandalay sammelt sich das Blut der Toten …«
Heute war Tule eine solche Mahnung. Seht sie euch an. Wenn ihr euch gut benehmt, dann könntet auch ihr eines Tages entfliehen. Aber wenn nicht …
Jedes Mal bei einem Ausflug waren sie auf andere Menschen getroffen. Und Tule hatte sich gefragt: Warum tut ihr nichts? Warum helft ihr uns nicht? Ihr seht, wie wir leiden. Und ihr ignoriert es einfach.
Hilf mir.
In diesem Moment könnte sie genauso gut in einen verzerrten Spiegel blicken. Celestes Gesicht war runder als Tules und ihre eigenen Augen dunkelbraun. Dennoch wusste sie, dass sie in ihre eigene Vergangenheit starrte.
Hilf mir.
Wie sollte sie Celeste helfen? Sie hatte Geld, aber nicht genug, um sie freizukaufen. Und Madame Vyra würde sie niemals ohne einen Vorteil gehen lassen.
Eine Glocke ertönte. Das Signal, dass die Vorführung weiterging.
»Nun gut«, sagte sie und scheuchte ihre Schützlinge zurück ins Zelt. »Vielleicht sprechen wir uns später noch, Tulip.« Madame Vyra wandte sich ab.
Doch ehe sie verschwand, fand Tule ihre Stimme wieder. »Tule«, krächzte sie.
Verwirrt drehte Madame Vyra sich um. »Was?«
»So heiße ich jetzt. Tule. Nicht mehr Tulip.«
Kurz runzelte Madame Vyra die Stirn, doch dann setzte sie das strahlende Lächeln wieder auf. »Aber für mich wirst du immer Tulip bleiben, meine kleine Blume. Das Mädchen, das selbst vor dem Schatten eines Vogels erschrickt. Ich hoffe, wir sehen uns wieder.«
Tule brauchte einen Moment, ehe sie den Schwindel verdrängen konnte. Erbärmlich. Du bist erbärmlich.
Sie hatte nicht die Kraft, der Stimme in ihrem Kopf zu widersprechen. Sie wollte zu Madame Vyra gehen, sie an der Schulter packen und schütteln. Sie anschreien, dass sie nicht grundlos vor den Schatten der Vögel Angst hatte, sondern weil man sie mit diesen Biestern in eine Kammer gesperrt und ihnen den Sauerstoff entzogen hatte. Die Vögel hatten ihre Krallen panisch in Tules Haut geschlagen, und das Flattern ihrer Flügel gegen die Wände verfolgte Tule bis heute.
Die Vögel waren gestorben.
Sie nicht.
Doch Madame Vyra war im Zelt verschwunden, und Tule kämpfte gegen die Erinnerungen an. Sie musste sich zusammenreißen.
Bevor sie zurückging, machte sie einen Abstecher in ihren Wagen, um ihre Handfläche mit der Salbe einzucremen. Ihr Blick fiel auf die halb gerauchte Zigarette in ihrer Spüle, und schnell schnappte sie sich ihr Feuerzeug und nahm einen tiefen Zug. Das Pulver in dem Tabak beruhigte ihre angespannten Nerven, und auch ihre Hand fühlte sich besser an. Was immer Wren ihr da gegeben hatte – es wirkte. Ein Glück. Die zweite Hälfte der Vorstellung beanspruchte ihre Hände mehr als die erste, und ohne die Salbe wäre sie nicht in der Lage, die Messer ordentlich zu werfen. Sicherheitshalber befestigte sie das Döschen zwischen ihrem Gürtel und dem Seidentuch, ehe sie den Wohnwagen verließ. Mit einem tiefen Atemzug betrat sie das Zelt und wartete darauf, bis die Musik sie ankündigte. Sie trat in die Manege, blendete aus, dass Madame Vyra im Publikum saß, konzentrierte sich stattdessen auf ihre Klingen und auf das Ziel und –
Blaue Augen.
Sie spürte Celestes Blick auf sich wie Dolche in ihrem Herzen.
Hilf mir, hilf mir, hilf mir.
Sie kniff die Lider zusammen, biss sich auf die Innenseite der Wange. Konzentration. Sie musste die Aufführung zu Ende bringen. Orpheus wäre wegen des verpatzten Tricks in der ersten Hälfte schon wütend genug. Sie konnte sich keine weiteren Fehler erlauben.
Es war an der Zeit für die brennenden Klingen, und die benötigten all ihre Aufmerksamkeit. Langsam tauchte sie eines der Messer in die Flammen.
Da ertönte ein Ruf.
»Im Namen des Königs – stopp!«
Abrupt hielt sie inne. Das Zelt verstummte, und alle sahen zu den Wycca, die durch den Eingang strömten. Sie waren zu sechst, vier Männer und zwei Frauen, und trugen eng anliegende, schwarze Rüstungen mit blauem Schimmer.
Die Soldaten des Königs.
Wegen der blauen Substanz, mit der die Rüstungen verstärkt waren, nannte man sie auch die Gläserne Garde. Es handelte sich um Cruas – den Edelstein, dessen Härte selbst Diamant übertraf.
Das einzige Material, das der Haut eines Wycca etwas anhaben konnte und auch das, aus dem die Klinge von Tules Dolch bestand.
Die Gläserne Garde. Was tat sie hier?
Ohne auf Tule zu achten, marschierten sie in die Manege und sahen sich um. Einer von ihnen trat vor, und Tule traute ihren Augen kaum.
Vor ihr stand Rusc, der Kerl, der ihr gestern bei der Aufführung geholfen hatte. Offensichtlich war er Teil der Garde.
»Wir kommen im Namen des Blutrats des Königs.« Seine dunkle Stimme senkte sich auf sie herab, und jedes Wort ließ Tules Herz schneller schlagen.
Der Blutrat. Das bedeutete, sie hatten ihre Wahl getroffen.
Und diese hatte sie hierhergeführt.