The Night Ends With Fire - K. X. Song - E-Book
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The Night Ends With Fire E-Book

K. X. Song

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Beschreibung

Verkleidet als Junge. Auserkoren vom Prinzen. Bestimmt, zu rebellieren. Die drei Königreiche befinden sich in einem tödlichen Krieg. Für Meilin die Chance, einer Zwangsehe zu entgehen. Als Junge verkleidet, kämpft sie fortan in der Armee. Ihre Begabung auf dem Schlachtfeld wird bald von Sky entdeckt, dem Prinzen der Armee, der sie persönlich trainiert. Meilin aber verbirgt nicht nur ihre Identität vor Sky, sondern auch ihre magischen Kräfte. Denn sie hat Zugang zu der verbotenen Magie eines Drachengeists. Ein Wesen, das ihr unendliche Macht verspricht – jedoch zu einem tödlichen Preis. Als das Schicksal der drei Königreiche in der Schwebe hängt, muss Meilin sich entscheiden: Soll sie Sky vertrauen, der ihre Liebe und Gefolgschaft hervorruft, dem undurchschaubaren Drachengeist oder dem verfeindeten Prinzen Lei, der ihre Loyalität, ihr Königreich und ihr Herz auf die Probe stellt … Furios, atemberaubend, romantisch: Der Auftakt der überragenden New-York-Times-Bestseller-Dilogie für alle Fans von »Ein Kleid aus Sternen und Seide« und »Das Mädchen, das in den Wellen verschwand«

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Seitenzahl: 594

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


K. X. Song

The Night Ends With Fire

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Katja Hald

 

Biografie

 

 

K. X. Song ist eine in den USA lebende Schriftstellerin mit Wurzeln in Hongkong und Shanghai. Sie wuchs in unterschiedlichen Kulturen und mit verschiedenen Sprachen auf. Ihr erster Fantasy-Roman, »The Night Ends With Fire«, erklomm sofort nach Erscheinen die Bestsellerlisten der New York Times, USA Today und der Sunday Times. Momentan lebt und arbeitet sie in San Francisco, Kalifornien.

Impressum

 

 

Erschienen bei Fischer Sauerländer E-Book

 

Copyright © 2024 by K.X. Song

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »The Night Ends With Fire« bei Ace Books,

einem Imprint von Penguin Random House LLC, New York. 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2025, Fischer Sauerländer GmbH,

Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main

Lektorat: Dr. Katharina Theml

Covergestaltung: Dahlhaus und Blommel unter Verwendung eines Coverdesigns von Victo Ngai

ISBN 978-3-7336-0932-0

 

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Inhalt

[Widmung]

[Motto]

Karte

Teil I

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Teil II

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Teil III

Siebenundvierzig

Achtundvierzig

Neunundvierzig

Fünfzig

Einundfünfzig

Zweiundfünfzig

Dreiundfünfzig

Vierundfünfzig

Fünfundfünfzig

Anmerkung der Autorin

Dank

Für meinen Großvater, der über die Geschichten von 三国演义 geweint hat und gelacht. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass auch ich diese Geschichten liebe.

 

致我的外公: 我多想告诉您,曾经让您热泪盈眶的《三

国演义》里的每个故事,如今也一样触动着我。

问古来将相可还存?也只是虚名儿与后人钦敬。

 

All jene, welche die Geschichte groß nannte, hinterließen nichts als leere Namen, die wir verehren könnten.

– CAO XUEQIN, DER TRAUM DER ROTEN KAMMER

Teil I

Eins

Ein Kaiserreich ist wie ein Kirschbaum; blüht es, werden seine Blüten eines Tages fallen; ist es kahl, wird es eines Tages erblühen. So ist es schon immer gewesen.

– BUCH DER LIEDER, 856

Es wird Krieg geben …

Die Gerüchte schwangen sich auf und segelten durch die Hauptstadt, wo sie Erstaunen, Angst und in manchen Fällen einen beunruhigenden Hunger nach Ruhm und Ehre weckten. Nur im Haus meines Vaters begegnete man ihnen mit Gleichgültigkeit.

»Ich werde nicht gehen«, erklärte er, das Gesicht umnebelt von einer Rauchwolke. Der ungelüftete Raum stank nach Schweiß und Opium, aber Vater gestattete uns noch nicht einmal, ein Fenster zu öffnen. Er behauptete, die Sonne schmerze ihn in den Augen. Aber wahrscheinlich wollte er nur nicht sehen, wie weit es schon mit ihm gekommen war.

Seine Frau Xiuying stand neben ihm und zitterte. Sie war meine Stiefmutter, obwohl uns nur sieben Jahre trennten. Als sie zu uns kam, dachten die Bediensteten, ich würde sie hassen, aber Vaters zunehmender Zorn und Wahnsinn machte uns zu Verbündeten gegen einen gemeinsamen Feind, und im Laufe der Jahre wurde mehr daraus. Wir waren Laotong. Seelenverwandte.

Xiuying ballte die Hände zu Fäusten, bemüht, ihre Gefühle nicht zu zeigen. »Eine Einberufung ist das Mandat des Himmels. Wer den Kommandanten des Reichs belügt, wird mit dem Tod bestraft –«

»Meine Güte, sag ihnen einfach, ich sei krank! Denk dir was aus. Wenn es darum geht, Geld auszugeben, kennt dein Einfallsreichtum keine Grenzen. Benutze ein wenig davon, um zu lügen.«

Seine Bemerkung war so ungerecht, dass mir die Luft wegblieb. Wie konnte er es wagen, ihr vorzuwerfen, unser Geld zu verschwenden? »Es ist deine Spielsucht, die uns –«

Xiuying legte mir die Hand auf den Mund. »Nicht, Meilin«, flüsterte sie.

Vater blies einen feinen Rauchring aus seiner Pfeife in die Luft. Er hatte mich noch nicht einmal gehört. »Ich werde nicht in den Krieg ziehen«, murmelte er gedankenverloren. »Ich weigere mich. Einem Mann in meinem Zustand ist das nicht zuzumuten.« Seine Hand zitterte, als er die Pfeife an seinem alten Porzellanaschenbecher ausklopfte. Meine Mutter hatte ihn einst mit in die Ehe gebracht. Nun war er fleckig und angeschlagen, wie alles in diesem Haushalt.

»Warum schickt ihr nicht den alten Diener an meiner Stelle?«, schlug Vater vor und kicherte bei dem Gedanken. Endlich legte er die Pfeife ab und schenkte uns seine volle Aufmerksamkeit. »Er könnte gut für mich durchgehen.«

»Vater«, protestierte ich laut, nicht in der Lage, meine Zunge im Zaum zu halten. »Zhou wird nicht mehr lange leben.«

»Habe ich dir erlaubt zu sprechen?«, knurrte er und funkelte mich an. Xiuying warf mir einen verängstigten Blick zu, aber ich beruhigte sie mit einem leichten Kopfschütteln. Vater lachte.

»Umso besser«, meinte er. »Dann töten wir gleich zwei Vögel mit einem Stein, wie die Gelehrten sagen. Wenn er dort draußen stirbt, liegt er unserem Haushalt nicht länger auf der Tasche. Mittlerweile tragen die Hunde mehr bei als dieser –«

»Onkel Zhou hat mehr für dieses Haus getan als du in deinem ganzen Leben.«

Die Worte waren mir einfach so herausgerutscht. Xiuying schnappte nach Luft. Vater kniff die Augen zusammen und hievte sich auf die Beine, wobei er sich am Tisch festhielt. Er war zwar schon alt, aber immer noch ein stattlicher Mann und mehrere Köpfe größer als ich. Es heißt, früher, als das Opium ihn noch nicht in den Klauen hatte, habe er einen Raum allein durch seine Anwesenheit beherrscht.

Er kam auf mich zu. Die langen Haare hingen ihm offen auf die Schultern, sein Gang war unsicher und krumm. Wütend packte er mich am Kinn und zwang mich, ihm in die wässrigen Augen zu sehen.

Unsere Gesichter waren nur eine Handbreit voneinander entfernt. So nahe war ich ihm seit Jahren nicht mehr gewesen.

Xiuying hatte mir einmal gestanden, dass sie ihn bei ihrer ersten Begegnung für einen attraktiven Mann gehalten hatte, mit seinen dunklen, leuchtenden Augen, der geraden Nase und den hohen Wangenknochen. »Du bist mit derselben Schönheit gesegnet wie er«, hatte sie gesagt. Sie wollte mir damit ein Kompliment machen, aber für mich war es eine Beleidigung, was ich ihr allerdings verschwieg.

»Deine Unverschämtheit haben wir der Erziehung dieses Zhou zu verdanken«, knurrte Vater. »Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er sich nach dem Tod deiner Mutter hier einmischt.« Wie ein Metzger, der ein Schwein vor dem Schlachten inspiziert, drehte er mein Gesicht von einer Seite zur anderen. Ich wollte mich losreißen, aber er packte nur noch fester zu.

»Wie alt ist sie?«, wollte er wissen und sah zu Xiuying. Sein Tonfall ging in einen spöttischen Singsang über. »Nun sag schon. Wie alt ist mein geliebtes Töchterlein?«

»Gerade erst achtzehn geworden.« Xiuyings Stimme zitterte. »Ich muss ihr noch sehr viel beibringen, was das Verhalten von Frauen –«

»Sei still.« Vater ließ mich los, und sein Blick glitt über meinen Körper. »Achtzehn ist viel zu alt, um nicht versprochen zu sein. Sagt Zhou, er soll für morgen die Heiratsvermittlerin herbitten. Ich will noch vor Neumond Brautgeld für sie.«

Neumond war in zwei Wochen. »Nein«, platzte ich heraus. »Ich werde nicht heiraten.«

Ich sah seine Hand erst, als sie so hart gegen meine Wange krachte, dass mein Kopf zur Seite flog. Blinzelnd kämpfte ich mit den Tränen.

»Du wirst tun, was man dir sagt, Hai Meilin«, entgegnete er mit tödlichem Ernst in der Stimme. »Und wenn du kein ordentliches Brautgeld als erste Frau einbringst, werde ich dich als Konkubine verschachern.«

»Oh nein, bitte …« Ich hasste das Flehen in Xiuyings Augen.

»Misch dich nicht ein!« Er hob die Hand, um sie zu schlagen, aber ich packte sie um die Taille und zog sie hinter meinen Rücken. Xiuying zitterte so heftig, dass ich ihr Beben an meinem Körper spürte.

»Das ist mein letztes Wort«, sagte er. »Meilin hat achtzehn Jahre unter meinem Dach gelebt, meinen Namen getragen, an meinem Tisch gesessen. Es ist an der Zeit, dass sie ihre Schulden begleicht.« Er ließ die Hand sinken und tastete nach seiner Pfeife. »Und jetzt geht mir aus den Augen.«

Xiuying öffnete schnell die Tür, um zu fliehen, bevor er seine Meinung noch einmal änderte.

»Und lasst keine Boten des Kriegsführers ins Haus!«

Die Tür schlug hinter uns zu, aber wir wagten nicht stehen zu bleiben, bis wir in den Gemächern der Frauen am anderen Ende des Innenhofs waren. Erst dort gestattete ich mir, in Tränen auszubrechen.

»Mei Mei«, flüsterte Xiuying und zog mein Gesicht an ihre Brust. Sie wiegte mich in ihren Armen, und dann weinten wir beide – leise, denn selbst in unseren Gemächern hatten die Wände Ohren.

»So schlimm ist das nicht«, flüsterte Xiuying. »Die Heiratsvermittlerin findet einen netten, anständigen Mann für dich, der dich schätzen und beschützen wird.«

»Das hat die Heiratsvermittlerin sicher auch über Vater gesagt, als sie dich mit ihm verkuppelt hat. Sie lügen, alle!« Meine Stimme klang rau und kratzig. »Ich hasse ihn!«

»Dein Vater kann nichts dafür«, beschwichtigte mich Xiuying. »Er steht unter großem Druck. Die Schuldeneintreiber kommen mittlerweile jeden Tag.«

Ich hob den Kopf. »Ich dachte, du hast die meisten Bediensteten entlassen.«

Sie seufzte. »So wie die Dinge derzeit stehen, werden wir den Haushalt dennoch nicht mehr lange weiterführen können. Vielleicht hat es sogar sein Gutes, dass ein Krieg vor der Tür steht.« Sie hielt inne und biss sich auf die Lippe. »Der Himmel möge mir verzeihen, dass ich so etwas sage.«

Ich wischte meine Tränen weg. Nun dämmerte mir, was los war. »Ihr braucht mein Brautgeld, habe ich recht?«

Xiuying wollte etwas erwidern, doch dann schloss sie den Mund. »Nun, da Krieg droht«, sagte sie, »werden die Schuldeneintreiber erst einmal mit anderen Dingen beschäftigt sein.«

»Jie!«

Ihre geliebte Stoffpuppe an die Brust gedrückt, kam meine kleine Schwester ins Zimmer gelaufen. Sie war erst fünf Jahre alt, spürte aber instinktiv, wenn sich Ärger zusammenbraute. Bei der unberechenbaren Stimmungslage in dem Haus, in dem sie lebte, war das auch nötig.

»Rouha«, begrüßte ich sie, trocknete mir die Augen und richtete mich auf. Xiuying tätschelte ihr den Kopf und strich ihre Zöpfe glatt.

»Ich habe Lizi gesagt, er soll sich im Kinderzimmer verstecken«, erklärte Rouha. »Ich weiß, dass Vater schlechte Laune hat.«

»Kluges Kind«, lobte sie Xiuying. »Und morgen wirst du auch mit deinem Bruder spielen, und ihr kommt uns nicht in die Quere, in Ordnung? Jie und ich werden sehr beschäftigt sein.«

»Was macht ihr?« Sie umklammerte mein Bein und sah ängstlich zu mir hoch. Sie hatte gelauscht.

»Die Heiratsvermittlerin wird uns einen Besuch abstatten.« Ich entschied, ehrlich mit ihr zu sein. »Ich werde viel Brautgeld für uns bekommen. Dann können wir allen Seide für neue Kleider kaufen!«

»Ich will keine Seide«, maulte Rouha. »Und ich hasse Kleider!«

Xiuying zwang sich zu einem Lachen. »Du fürchtest Kleider so sehr wie der Phönix das Eisen.«

»Und die Heiratsvermittlerin hasse ich auch!« Rouhas Wangen waren dunkelrot, ein sicheres Zeichen, dass sie kurz vor einem Zornausbruch stand.

»Pssst.« Xiuying kniff sie in die Wangen. »Das ist eine nette Frau. Sie liest in den Sternen und bringt den Familien in Anlai Glück.«

»Glück«, schnaubte ich, bemüht, vor Rouha nicht allzu negativ zu klingen. Eines Tages würde sie ebenfalls mit der Heiratsvermittlerin sprechen müssen und mein Schicksal teilen. Allein der Gedanke daran ließ mich fast verzweifeln. Kein Wunder, dass die Mütter in Anlai mit aller Macht versuchten, ihre Töchter nicht zu lieben. Es war, als risse man sich ein Stück des eigenen Herzens aus der Brust.

»Ich bin meiner Heiratsvermittlerin dankbar«, sagte Xiuying leise und sah mich über Rouhas kleinen Kopf hinweg an. »Sie hat mich zu dir gebracht, Schwester.«

Zwei

Männer bauen Städte; Frauen reißen sie ein.

– ANALEKTEN DES ZHU YUAN, 889

Am nächsten Tag machte Xiuying sich aufgeregt ans Werk und steckte mich in eines der wenigen Kleider ihrer Aussteuer, die sie noch nicht verkauft hatte. Es war aus hellblauer Seide und mit wogenden Weidenbäumen bestickt, einst wunderschön, mittlerweile jedoch stark zerschlissen. Die Ärmel waren abgewetzt und fadenscheinig, der Saum trennte sich auf, aber es war unser bestes Stück. Nichtsdestotrotz war Xiuying fest entschlossen, bei der Heiratsvermittlerin einen guten Eindruck zu machen.

Ich hingegen wollte den Tag einfach nur irgendwie überstehen.

Um die Mittagszeit kletterte ich über die Dächer, um nach der Sänfte der Heiratsvermittlerin Ausschau zu halten. In den Straßen außerhalb der Mauern unseres Grundstücks sorgte die Nachricht eines bevorstehenden Krieges für reges Treiben. Unzählige Reisende strömten durch die Tore in die Stadt: Händler, die ihre Waren verhökerten, junge Männer, die sich zum Dienst meldeten, und Kurtisanen, die auf ein letztes gutes Geschäft hofften, bevor alle Soldaten in die Schlacht zogen. Eine nervöse Spannung lag über der Menge, und die Luft flirrte vor großer Erwartung. Nur unser Haus blieb davon unberührt. Hinter seinen Mauern war es still und düster wie in einem Grab. Und ich war kurz davor, meine Zukunft zu verlieren. Nicht, dass ich jemals etwas wie eine Zukunft gehabt hätte.

Als mich die altvertraute Panik ergriff, zwang ich mich, die Augen zu schließen. Dann entspannte ich die Muskeln in meinem Kiefer, meinem Nacken und entlang der Wirbelsäule, während ich ein- und ausatmete. Ich konzentrierte mein Qi, meine Lebensenergie, und hatte dabei Onkel Zhous Stimme im Ohr: Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser, rezitierte ich, wobei ich jedes Element in Einklang mit dem Fluss meines Blutes und Atems brachte. Onkel Zhou hatte mich schon sehr jung in Qigong und Kung Fu unterrichtet, bis meine Fähigkeiten eines Tages die seinen überstiegen und kurz darauf auch die unseres Großmeisters, der dieses Geheimnis jedoch zu wahren wusste. Mein Talent lag nicht in der Kraft meines Körpers, die höchstens mittelmäßig war. Es lag in meiner mentalen Stärke, durch die Kampfkunst geschärft wie Stahl an einem Wetzstein. Ohne Qigong als Ventil hätte ich den Tod meiner Mutter womöglich nicht verwunden.

Mädchen mit einer unglückseligen Mutter, heißt es, seien dazu verdammt, denselben Weg zu nehmen. Um Rouhas Willen hoffte ich, dass an diesem Aberglauben nichts Wahres war. Als unsere Mutter starb, war ich zwölf und Rouha noch zu klein, um sich an sie zu erinnern. Onkel Zhou behauptete, sie hätte ein schwaches Herz gehabt, aber das Getuschel der anderen Bediensteten über ihren Wahnsinn war uns nicht entgangen.

Eine protzige Sänfte in schreienden Farben bog um die Ecke, schaukelte von einer Seite zur anderen und kam schließlich vor unserem Tor zum Stehen. Es stieg eine Frau aus, deren Kleider deutlich teurer waren als meine. Ihr Haar war von grauen Strähnen durchzogen, aber als sie die Sänftenträger, die ihr helfen wollten, beiseitescheuchte und durchs Tor trippelte, strahlte sie die Tatkraft einer Frau in den besten Jahren aus. Plötzlich fiel mir wieder ein, dass sie meinetwegen kam. Ich konnte nicht länger hier sitzen und einfach nur beobachten, was dort unten geschah.

Schnell kletterte ich durchs Fenster zurück ins Haus und rannte die Treppen hinunter, wo ich fast mit Xiuying zusammenstieß.

»Da bist du! Onkel Zhou sagt, die Heiratsvermittlerin sei eingetroffen.«

Xiuying zerrte mich ins Wohnzimmer, das für den Besuch der Heiratsvermittlerin gelüftet worden war. Trotzdem lag noch der ranzige Geruch von Opium in der Luft, den man nie vollständig loswurde. Vater hatte überall seine Spuren hinterlassen.

»Danke, dass Sie sich trotz des langen Weges hierherbemüht haben, Madam Shu«, begrüßte Xiuying die Heiratsvermittlerin, bevor sie ihr einen Oolongtee eingoss.

Madam Shu musterte sie mit einem listigen, abschätzigen Blick. »Um diese Zeit gibt es viele Hochzeiten zu arrangieren. Ich kann meine kostbare Zeit nicht mit Plaudereien vergeuden. Kommen wir also zum Geschäftlichen«, entgegnete sie schroff. Diesen Tonfall hatte ich bei noch nicht vielen Frauen gehört. »Der Zustand Ihres Hauses erstaunt selbst mich. Und mir kommt jedes Gerücht zu Ohren. Es heißt, Lord Hai habe eine Schwäche für das Glücksspiel?«

Xiuying blieb der Mund offen stehen. Madam Shu nahm offensichtlich kein Blatt vor den Mund.

»Bitte setzen Sie sich doch«, forderte ich sie auf und deutete auf das einzige Sofa im Raum. Die meisten Möbel hatten wir schon vor langem an die Schuldeneintreiber verkauft, aber durch Madam Shus Augen sah ich erneut, wie karg und leer unser Haus war.

Es war nicht immer so, wollte ich sagen. Vater war von Adel, der älteste Sohn des Hai-Clans. Aber nach dem Tod meiner Mutter ist er durch seine Spiel- und Opiumsucht tief gesunken. Und der Rest der Familie mit ihm.

Die Heiratsvermittlerin nahm Platz und deutete auf den Fächer, der an der Wand hing. »Ist das ein Konterfei deiner Mutter?«

Ich nickte. Ein alter Freund hatte ein Tintenporträt von ihr auf den Fächer gemalt. Leider war er zu abgenutzt, um noch Geld dafür zu bekommen. Wir wussten das, weil wir versucht hatten, selbst diesen Fächer zu verkaufen.

»Eine wunderschöne Frau«, bemerkte die Heiratsvermittlerin versonnen. »Sehr bedauerlich, was mit ihr geschehen ist.« Sie beugte sich zu mir. »Ich habe gehört, kurz vor ihrem Ende hat sie behauptet, mit Geistern zu sprechen. Ist das wahr?«

Xiuying ging dazwischen. »Natürlich nicht«, entgegnete sie spitz. »Niemand in diesem Haus würde sich durch so etwas Ärger einhandeln.«

»Ein solches Unglück schwebt noch lange über einem«, bemerkte die Heiratsvermittlerin und sah sich mit hochgezogener Augenbraue um, eine unmissverständliche Anspielung auf den Zustand des Hauses. »Und Ihr Ehemann scheint sich von ihrem Tod noch nicht wieder erholt zu haben.«

Xiuyings Wangen nahmen die Farbe einer Neujahrslaterne an.

»Meine Mutter war am Ende sehr krank«, sagte ich leise, »aber wir haben den Befehlen des Kaiserlichen Kommandanten in diesem Haus immer Folge geleistet.«

Die Heiratsvermittlerin nickte. »Gut so«, entgegnete sie. »Komm her.«

Ich warf Xiuying einen unsicheren Blick zu und trat zögernd vor. Ohne viel Umschweife nahm Madam Shu mein Gesicht in beide Hände, bevor sie anfing, mich in alle Körperteile zu kneifen und zu piksen, angefangen bei den Ohrläppchen über meine Brüste bis zu der lockeren Haut an meinen Ellbogen. Sie schnalzte mit der Zunge, wegen meiner fehlenden Kurven, setzte die Untersuchung aber bis zur Wölbung meiner Füße fort. Schließlich ließ sie sich ins Sofa sinken und spitzte die Lippen. Ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

»Ich hätte da einen Mann.« Seufzend blätterte sie durch ihre Bücher. »Er ist das Beste, was ich euch anbieten kann.«

Entgegen aller Vernunft hatte ich gehofft und gebetet, dass sie niemanden für mich finden würde. Dass alle Männer, die infrage kämen, sich zum Dienst gemeldet oder kein Brautgeld zurückgelegt hatten. Ich wollte nur noch ein Jahr. Ein Jahr, um zu leben.

»Es ist ein Kaufmann –«

Xiuying sog hörbar die Luft ein. Der Hai-Clan mag tief gesunken sein, aber wir waren immer noch adelig. Einen gewöhnlichen Kaufmann zu heiraten, würde das endgültige Diulian bedeuten – einen Gesichtsverlust für die gesamte Familie.

»… was jedoch eure kleinste Sorge sein sollte«, fuhr Madam Shu fort. »Entscheidend ist, dass er bereit ist, ein großzügiges Brautgeld für dich zu bezahlen.«

»Natürlich.« Xiuying gewann die Fassung wieder. »Wie die Sterne es bestimmen.«

»Meister Zhu ist schon etwas älter, was dir jedoch entgegenkommen dürfte. Sein Appetit wird nicht mehr allzu groß sein. Zumindest kann man als Frau darauf hoffen.«

Mir schauderte. Die Ränder meines Gesichtsfelds färbten sich schwarz, und plötzlich war es dunkler im Raum.

»Wird Meilin seine erste Frau sein?«, fragte Xiuying blass vor Sorge.

Madam Shu schüttelte den Kopf. »Aber sie hat die Chance, die Mutter seines Erstgeborenen zu werden. Die anderen Frauen konnten keine Söhne gebären.«

»Was ist mit den anderen Frauen geschehen?«, krächzte ich.

»Schwindsucht«, entgegnete sie knapp und vermied es, mir in die Augen zu sehen.

»Alle?«

Meine Zweifel waren offensichtlich. Langsam hob die Heiratsvermittlerin den Blick von ihren Büchern und sah mich an. »Du hast einen scharfen Verstand«, sagte sie. »Aber vergiss nicht: Die Weisheit der Frauen ist ihre Schönheit. Du hast ein hübsches Gesicht. Und wenn du ihn geschlossen hältst, auch einen hübschen Mund. Sei den Göttern dankbar dafür.« Madam Shu bemerkte ihren Ausrutscher. »Dem Kaiserlichen Kommandanten, wollte ich sagen«, verbesserte sie sich schnell. »Möge seine Gunst mit uns sein.«

»Mit ihrem Aussehen«, warf Xiuying dazwischen, »kann sie doch bestimmt mindestens –«

Madame Shu schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Wisst ihr eigentlich, was für ein Glück ihr habt, dass ich mich überhaupt dazu bereit erkläre, mit eurer Familie Geschäfte zu machen? Der Name Ihres Ehemanns ist ein Schandfleck für ganz Anlai. Jeder weiß, dass die Kredithaie hinter ihm her sind.«

»Aber dieser Mann, wird er …« Xiuying verstummte. Die Angst in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Sie befürchtete, dass es mir ergehen könnte wie seinen anderen Frauen.

»Ihnen brauche ich das ja wohl nicht zu erklären«, entgegnete die Heiratsvermittlerin mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck. »Wir Frauen müssen für unsere Familien Opfer bringen.«

Ich wusste nur zu gut, was sie damit meinte. Für unser Haus gab es keine andere Hoffnung mehr. Vaters Sucht war mit dem Alter immer schlimmer geworden, und Rouha und Lizi waren noch so jung. Ich wollte, dass sie lebten. Sie mussten leben.

»Danke, Madam Shu, für die Ehre, die Sie uns erweisen«, sagte ich mit einer tiefen Verbeugung, um meine Tränen zu verbergen. Als ich mich aufrichtete, hatte ich meine Fassung bereits wiedererlangt. »Ich sehe der Begegnung mit meinem Verlobten freudig entgegen.«

»Nun gut.« Madam Shu überreichte mir meinen Ehevertrag. »Gib das deinem Vater. In einer Woche komme ich wieder.«

Ich lächelte die Papiere an, wie man einen Galgen anlächelt.

Drei

Kaiser Wu, den meisten wohl für die Etablierung der kaiserlichen Beamtenprüfung bekannt, leitete für den Stand der Bauern ein Zeitalter neuer Möglichkeiten ein. Ab dem Jahr 825 konnte zwar noch immer jeder, der die oberste Stufe erreichte, ein Jinshi-Gelehrter werden, es ist jedoch bemerkenswert, dass Adelige in jedem Fall berechtigt waren, an der letzten Prüfung teilzunehmen, während Bauern dafür in der Hauptstadt Chuang Ning registriert sein mussten. In dieser Gesetzesänderung sehen die Gelehrten den Auslöser für den Zustrom von Wanderarbeitern sowie die Entstehung der Elendsviertel in Chuang Ning im 9. Jahrhundert.

– ERINNERUNGEN AN DIE WU-DYNASTIE, 913

Nachdem die Heiratsvermittlerin uns verlassen hatte, war ich zu aufgewühlt, um still zu sitzen. Ich wusste, dass für die Hochzeit viele Vorbereitungen getroffen werden mussten. Zuerst wollte ich mich jedoch einer Sache vergewissern.

Ich musste wissen, ob mein zukünftiger Ehemann ein Mörder war. Xiuying würde mir niemals erlauben, zu ihm zu gehen. Das brachte Unglück und war zudem gefährlich. Aber ich hatte das Gefühl, man hatte mir eine Schlinge um den Hals gelegt, die immer enger wurde. Ich musste aus dem Haus. Also wartete ich, bis Xiuying durch einen von Rouhas Wutanfällen ablenkt war, und entwischte durch das Fenster meines Schlafzimmers.

Da ich einen Blick in die Bücher der Heiratsvermittlerin geworfen hatte, wusste ich, wo sich das Haus von Meister Zhu ungefähr befand. Aber wenn ich auf dem Weg ins Wenxiviertel nicht in Schwierigkeiten geraten wollte, konnte ich nicht einfach so die Straßen entlangschlendern. Frauen waren angehalten, nicht allein unterwegs zu sein. Und adeligen Frauen war es schlicht verboten. Dank meiner Kung-Fu-Künste hatte ich aber andere Möglichkeiten. Unbemerkt sprang ich von einem Dach aufs nächste und duckte mich, sobald ein Passant den Blick gen Himmel richtete. Es war ein wunderschöner Tag. Auf den niederen Dachvorsprüngen sonnten sich die Tauben, und über den Straßen schaukelten festliche rote Laternen. Erst vor wenigen Wochen wurde das Neujahrsfest gefeiert, und Xiuying hatte Vater lange genug abgelenkt, dass ich mir mit Rouha und Lizi die Drachentänze ansehen konnte. Lizi hatte sogar versucht, in die Arena zu springen und mit ihnen zu spielen.

Vor den Toren von Meister Zhus Haus versteckte ich mich in einem Dachgarten über der Werkstatt eines Schmieds. Im Wenxiviertel standen die Gebäude dicht gedrängt, um allen verfügbaren Raum zu nutzen. Die Straßen waren eng und überfüllt, und aus einer Spielhalle nebenan stolperten Soldaten in Uniform. Sie waren betrunken und lachten, als drückten sie keinerlei Sorgen.

Meister Zhus Eingangstore waren sehr hoch und kunstvoll bemalt, ein Zeichen für seinen Reichtum und Stand. Von meinem Aussichtspunkt hatte ich aber dennoch einen guten Blick in den Innenhof. Immer wieder eilten Bedienstete durch die offenen Säulengänge, nur mein Verlobter war nirgends zu entdecken. Es vergingen Stunden, ohne dass er auftauchte. Xiuying fing sicher schon an, sich Sorgen zu machen. Wahrscheinlich dachte sie, dass ich im Wald hinter unserem Grundstück Kung Fu trainiere, wie ich es oft tat. Bald würde sie Onkel Zhou schicken, um nach mir zu sehen. Doch der würde mich dort nicht finden.

Es war an der Zeit, aufzugeben und nach Hause zurückzukehren. Ich erhob mich aus der Hocke, streckte mich, und in dem Moment hörte ich den Schrei.

Ein Dienstmädchen wurde in den Hof gestoßen und ließ dabei sein Geschirr fallen, das auf den Steinen zerschlug. Nur wenige Sekunden später betrat ein breitschultriger Mann mit langen grauen Haaren den Säulengang und ging direkt auf das Mädchen zu. Zuerst dachte ich, er würde ihm die Hand reichen. Doch das Mädchen rappelte sich panisch auf, und ich begriff, dass es fliehen wollte. Aber es war zu langsam. Der Mann packte es am Hals, drückte es gegen die Wand und schlug zu.

Instinktiv legte ich die Hand auf meine Wange, wo ich noch den Bluterguss vom Schlag meines Vaters am Vortag spüren konnte. Trotz mehrerer Schichten Perlenpuder war der violett-grüne Fleck noch gut zu erkennen.

Meister Zhu – es musste Meister Zhu sein, denn nur ein Familienoberhaupt konnte es wagen, sich so zu gebärden – knurrte dem Dienstmädchen etwas ins Ohr, und es zitterte so erbärmlich, dass ich mich fragte, was er zu ihm gesagt hatte. Dann ließ er von ihm ab und schüttelte angewidert den Kopf. Er hob den Saum seines Gewands, stieg über das zerschlagene Geschirr und ging.

Als das Mädchen allein im Hof war, schnappte es schluchzend nach Luft. Bot ich auch einen solchen Anblick, wenn ich dachte, dass niemand mich sah? Es war mitleiderregend.

Aber genau so würde es auch mir bald ergehen. Ich würde meinem Vater entkommen, nur um unter dem Joch eines anderen Meisters zu leben. Selbst wenn ich ihm einen gesunden Sohn gebären und mir meinen Platz im Haus verdienen würde, selbst wenn Meister Zhu sterben würde … Dieser Sohn würde zu einem Mann heranwachsen und mich ebenfalls unterdrücken. Er würde bestimmen, was ich aß, wo ich schlief, wohin ich ging, meine Worte und vielleicht sogar meine Gedanken kontrollieren. Ich würde bis ans Ende meiner Tage den Launen von Männern ausgesetzt sein.

Kein Wunder, dass meine Mutter sich dafür entschieden hatte, diese Welt zu verlassen.

Ich versuchte, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken, und sank auf die Knie. Es wäre so einfach. Ich könnte gleich hier von diesem Dach springen. Einfach loslaufen und mir vorstellen, ich könnte fliegen. Vielleich hatte meine Mutter in den letzten Sekunden, bevor sie ertrank, ähnliche Gedanken. Vielleicht bildete sie sich ein, sie könnte unter Wasser atmen. Oder sie wollte wissen, wie weit sie schwimmen konnte. Aber vielleicht wollte sie auch einfach nur frei sein.

Das war selbstsüchtig von ihr, keine Frage. Aber warum sollte eine Sklavin Rücksicht auf andere nehmen?

Ich stand auf. Eine sanfte Frühlingsbrise streifte meine Kleider, blähte die weiten Ärmel und spielte mit meinem Haar. Qi strömte durch meinen Körper, unbelastete, reine Lebensenergie. Ich könnte es tun. Fliegen. Auch ich könnte frei sein.

Plötzlich fiel mir Xiuying ein. Und Rouha und Lizi. Nicht auch sie, dachte ich. Die beiden erinnerten sich nicht an Mutters Tod. Es würde sie zerstören, so wie es mich zerstört hat.

Ich atmete tief durch und beschloss zurückzugehen. Xiuying hatte recht, manchmal war es besser, die Wahrheit nicht zu kennen.

Und dann hörte ich den zweiten Schrei an diesem Abend.

Sehr viel lauter dieses Mal. Dann folgten weitere Schreie. Die Leute riefen Warnungen und stoben auseinander wie Fledermäuse, die vor dem Licht flohen. Von meinem Aussichtspunkt auf dem Dach entdeckte ich die Quelle der Unruhe. Oben auf dem Berg hatte sich ein Wagen abgekoppelt, der die Straße heruntergerumpelt kam. Er wurde mit jeder Sekunde schneller. Ladenbesitzer räumten ihre Waren aus dem Weg. Bettelkinder sprangen vom Boden auf. Tauben schwangen sich kreischend in die Luft. Am Ende der Straße entdeckte ich einen alten Mann, der auf den Pflastersteinen gestolpert war. Sein Gehstock rollte den Hügel hinunter und außer Reichweite.

»Hilfe!«, schrie eine grauhaarige Frau. »Warum hilft denn niemand?« Sie war in seinem Alter, beweglicher als er, aber zu langsam, um ihm noch aufzuhelfen. Brennendes Qi schoss in meine Adern. Ohne zu zögern, rutschte ich an die Dachkante und ließ mich fallen, nicht sicher, was ich tun würde. Genau in diesem Moment rannte ein junger Mann in Soldatenuniform auf die Straße, um dem Alten zu helfen. Wie wollte er das rechtzeitig schaffen? Baichi! Idiot!

Mein Herz hämmerte. Was sollte ich tun? Am Amboss des Schmieds lehnte eine lange Eisenstange. Ich trat dagegen und fing sie auf, bevor sie auf den Boden krachte. Ich fluchte. Sie war viel schwerer, als sie aussah. Ich fokussierte mein Qi, biss die Zähne zusammen und hob die Stange über den Kopf. Ich durfte ihn nicht verfehlen. Der Wagen donnerte die Straße herunter und würde in wenigen Sekunden an mir vorbeischießen. Ich durfte weder zu spät noch zu früh werfen.

Meine Augen verengten sich zu Schlitzen, ich konzentrierte mich, und dann warf ich die Stange in das hintere Wagenrad, wobei ich auf eine Lücke zwischen den Speichen zielte. Ich traf. Die Stange glitt durch die Speichen. Aber trotz meines festen Stands schleuderte die Wucht des Wurfs mich nach vorne auf die Straße, und ich schlug mit der Stirn auf einen Stein.

Aber den Wagen hatte ich gestoppt. Er lag umgekippt vor mir auf der Seite, als wäre er eingeschlafen. Benommen hob ich den Kopf. Hinter dem Wagen stand, ein paar Schritte entfernt, mit weit aufgerissenen Augen der junge Soldat. Als unsere Blicke sich trafen, wurde sein Erstaunen noch größer.

»Du solltest dich schämen!«, rief jemand. Ich drehte mich um.

Ein Mann mit Bart kam jammernd die Straße heruntergerannt, während die Leute, die am Rand standen, ihn beschimpften, weil er nicht auf seinen Wagen achtgegeben hatte. Ein paar hoben die matschigen Früchte auf und warfen sie ihm auf den Rücken. Der Wagenbesitzer verfluchte sie lauthals, dann bemerkte er den blassen jungen Soldaten, der dem Großvater über die Straße half. Sein Gesicht verzerrte sich. Sofort fiel er vor dem jungen Mann auf die Knie und begann, um Gnade zu flehen.

»Ehrenwerter Meister Liu! Möge die Gunst der Geister –«

»Denk an den Erlass!«, zischte jemand am Straßenrand. Der Wagenbesitzer schlug die Hand vor den Mund und katzbuckelte vor dem jungen Meister. Der Erlass des Kaiserlichen Kommandanten war erst vor einem Monat verkündet worden, und die meisten mussten sich an die neuen Bestimmungen erst noch gewöhnen, nach denen jede Erwähnung von Geistern als aufrührerisch galt. Selbst rituelle Opfergaben für die Ahnen waren jetzt illegal, ganz zu schweigen vom Heraufbeschwören der alten Geister oder dem Einsatz schwarzer Magie. Der Kriegsführer von Anlai hatte bekannt gegeben, da er als Kaiserlicher Kommandant das Mandat des Himmels habe, sei ihm zu huldigen von nun an die einzige Religion, die noch erlaubt sei.

»Ich bitte Euch, lasst Milde walten gegenüber einem armen Bettler«, jammerte der Wagenbesitzer, der zunehmend in Panik geriet.

Meister Liu hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Erst jetzt bemerkte ich seine edle Kleidung, die sehr viel vornehmer war als meine, und sogar noch vornehmer als die meines Vaters früher. Das lange Haar hatte er mit einem Ji-Haarteil aus Elfenbein und Perlmutt hochgesteckt, und seine linke Hand zierte ein funkelnder Smaragdring, der mein Haus wahrscheinlich ein Jahr lang hätte ernähren können.

Wen hatte ich da gerade gerettet? Und warum sprachen ihn die einfachen Bürger mit Meister Liu an? Mit diesem Schmuck musste er mindestens ein Lord sein.

»Ich werde den Richter von diesem Vorfall in Kenntnis setzen«, erklärte Meister Liu. »Er wird für deine gerechte Strafe sorgen.«

Jetzt begann der Wagenbesitzer ernstlich zu klagen. Sein einziger Sohn werde in den Krieg ziehen, erklärte er unter Tränen. Doch Meister Liu entgegnete daraufhin nur kühl, er hoffe um seinetwillen, dass der Sohn besonnener sei als der Vater. Dann erschienen die kaiserlichen Wachen, und ich nutzte die Gelegenheit, um mich aus dem Staub zu machen.

Vier

Und in der Lücke nach dem Großen Zusammenbruch hatte der rechtschaffene General Li Zhuo keine andere Wahl, als die Macht zu übernehmen, denn eine Herrschaft der doppelzüngigen Ximing konnte er nicht zulassen.

– ERINNERUNGEN AN DIE WU-DYNASTIE, 913

Ich schlüpfte in die Gasse zwischen Schmiede und angrenzender Spielhalle und hoffte, an deren Ende auf die Dächer zu gelangen. Ich konnte das Opium riechen, das aus der Spielhölle drang. Schwer und süß hing es in der Luft. Dort drin, dachte ich, verspielen sie Geld und Leben. Angewidert verzog ich das Gesicht. Und die Frauen dürfen die Scherben aufsammeln.

Plötzlich schlug eine Hintertür auf, und zwei Männer torkelten in die Gasse. Ich erstarrte. Sie waren nur ein paar Schritte von mir entfernt. Einer der Männer sackte auf die Knie und übergab sich aufs Pflaster, während der andere gelangweilt zusah und weiter seine Pfeife rauchte. Dann entdeckte er mich.

»Hey, meine Hübsche«, sagte er und kam näher. »Was verlangst du für die Nacht?«

»Ich bin keine Kurtisane«, entgegnete ich verächtlich und machte kehrt, um auf die Hauptstraße zu fliehen. Aber er packte mich an der Schulter und schlang von hinten den Arm um mich. Ich wurde stocksteif.

»Missgönnst du einem Soldaten seine letzte Nacht in Freiheit?«, fragte er übertrieben laut und lallend. »Wir müssen uns morgen zum Dienst melden. Hast du kein Mitleid?«

»Es ist das Mandat des Himmels«, presste ich hervor und versuchte, ruhig zu bleiben.

»Dann hast du an uns deine Pflicht für Anlai zu erfüllen.«

Der andere hatte sich erhoben und wischte sich das Erbrochene vom Kinn. »Dunkle Haut«, bemerkte er, als ob ich ihn nicht hören würde, »aber hübsch.«

Der mich festhielt, zog mich enger an seine Brust. »Wir werden auch großzügig sein heute Nacht«, raunte er mir ins Ohr.

Ich würgte.

»Nimm deine Hände von ihr«, ertönte eine Stimme vom Ende der Gasse.

Als die beiden sich zu dem Neuankömmling umdrehten, nutzte ich die Ablenkung und rammte dem Mann den Ellbogen in den Magen. Als ich spürte, wie hinter mir seine Knie nachgaben, trat ich ihm so heftig gegen die Schienbeine, dass er das Gleichgewicht verlor und zu Boden ging. Schnell drehte ich mich um und wich mehrere Schritte zurück, bevor er aufsprang und mich wütend anstarrte.

»Dafür wirst du bezahlen«, knurrte er und stürzte auf mich zu.

Ich verankerte mein Qi, duckte mich und nutzte seinen Schwung, um ihn über meinen Kopf zu werfen. Dumpf schlug sein Körper auf dem Pflaster auf, gefolgt von einem tiefen Stöhnen.

Der Soldat, der sich übergeben hatte, starrte mich an, als hätte ich das Gesicht des weißen Knochendämons. Ihm war anzusehen, dass er sich gar nicht erst mit mir anlegen wollte.

»Alles in Ordnung?« Jemand fasste mich am Ellbogen. Erschrocken drehte ich mich um. Es war Meister Liu, der mir offenbar in die Gasse gefolgt war. Ich wich seinem prüfenden Blick aus und nickte wortlos. Musste ich mich verbeugen oder vor ihm auf die Knie gehen? Die meisten Adeligen kannten den Rang und Status anderer Häuser und wussten, was sich in welcher Situation ziemte. Aber Vater war mit uns seit Jahren nicht mehr im Palast gewesen. Man hatte ihn seit Jahren nicht mehr eingeladen.

»Nennt mir eure Namen«, forderte Meister Liu die beiden Soldaten auf. »Solltet ihr euch morgen nicht zum Dienst melden, werde ich mich an euch erinnern.«

Ich überlegte, einfach davonzulaufen, während er mit ihnen sprach. Meine Kleider waren schmutzig, und die sorgfältig hochgesteckten Haare fielen mir auf die Schultern. Xiuying würde stinkwütend sein, wenn ich nach Hause kam.

Etwas Warmes rann mir über die Augenbraue, und ich fasste mir an die Stirn. Blut. Mit all dem Qi in meinen Adern hatte ich die Verletzung gar nicht bemerkt.

»Ich habe dich gesucht.«

Als ich den Kopf hob, waren die beiden Soldaten gegangen, und vor mir stand Meister Liu, der besorgt die Stirn runzelte. Aus dieser Nähe sah ich, dass er nur wenig älter war als ich. Vielleicht neunzehn oder zwanzig. Er hatte einen sehr hellen Teint, der trotz meiner Schminke heller war als meiner, und mandelförmige Augen. Sein Haar glänzte schwarz, sein Mund war breit, und die Kieferknochen traten kräftig hervor. Er war ausgesprochen gut aussehend. Aber nicht nur das, er war auch Liu Tiantang – was so viel wie Himmel bedeutete –, der siebte und jüngste Sohn des Kriegsführers.

Nun fiel ich tatsächlich auf die Knie. Wie hatte ich ihn nicht erkennen können? Ich hatte ihn doch schon im Palast gesehen. Was hatte er kurz vor Kriegsbeginn auf den Straßen des Wenxiviertels zu suchen? Sollte er nicht im kaiserlichen Palast bei seinem Vater sein, der sich gerade vom Herrscher über das Königreich Anlai zum Herrscher über ganz Tianjia erklärt hatte?

»Verzeiht … Prinz Liu. Ich meine, Eure Hoheit. Dass ich Euch in dem Tumult nicht erkannt habe –«

»Steh auf«, bat er mich und reichte mir die Hand. Ein Lächeln spielte um seine Lippen. »Du ruinierst meine Tarnung.«

»Ihr seid … als Meister Liu hier?«

»Ich will mir einen Eindruck von der Stadt verschaffen«, erklärte er. »Und von den Diskrepanzen zwischen den offiziellen Berichten und den tatsächlichen Erfahrungen meines Volkes.«

Ich nickte, ohne zu verstehen, wie er das meinte. Aber ich wollte nicht neugierig sein. Es ziemte sich nicht für eine Frau, Fragen zu stellen. Mir fiel das alte Sprichwort ein, das Vater immer zitierte: Wenn eine Frau fragt, lächle, aber antworte ihr nicht.

»Du blutest.« Er hob die Hand, und ich zuckte instinktiv zurück. Sein Blick verfinsterte sich. »Ich will dir nicht wehtun.« Seine Stimme war leiser geworden.

Ohne den Blick zu heben, nickte ich. Er zog ein seidenes Taschentuch hervor und drückte es an meine Stirn. Die Berührung war überraschend sanft. Er roch nach Sandelholz. Sandelholz und Rosen. Und ich wahrscheinlich nach Opium.

»Wie heißt du?«

Ängstlich sah ich ihn an. »Warum? Wollt Ihr mich auch melden?«

Als er lachte, wurden seine Augen zu Mondsicheln, und er sah aus wie ein kleiner Junge. »Du hast mir und einigen anderen Leuten das Leben gerettet. Darf ich nicht wissen, wem ich mein Leben verdanke?«

»Ihr schuldet mir nichts«, murmelte ich.

»Ich würde mich aber gerne erkenntlich zeigen«, beharrte er.

Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Es gab so vieles, was ich mir wünschte. Dass Xiuying mir nicht böse war, wenn ich nach Hause kam. Dass Vater sich endlich besann und mit dem Opiumrauchen aufhörte. Dass Lizi zur Schule gehen konnte. Dass Meister Zhu seine Meinung änderte. Dass ich ihn nicht heiraten musste. Dass ich keine Frau wäre.

Aber keinen dieser Wünsche konnte Prinz Liu mir erfüllen.

Ich konnte ihm nicht in die hellen, leuchtenden Augen sehen und verbeugte mich wieder. »Ich bin Euch sehr dankbar, dass Ihr mich vor diesen Soldaten beschützt habt.«

»Ich hatte den Eindruck, du kommst auch ganz gut allein zurecht.« In seiner Stimme klang ein unterdrücktes Lachen. Machte er sich lustig über mich? »Ich wünschte, meine Männer, die morgen in den Krieg reiten, wären nur halb so schnell und klug wie du.«

Ich errötete.

»Und nur halb so charmant.«

Zögernd hob ich den Blick. Mit funkelnden Augen starrte er mich an. Wir waren immer noch in dieser dunklen Gasse, allein und unbeaufsichtigt. Als ich mich umsah, wurde auch er sich der Situation bewusst.

»Lass mich dich zumindest nach Hause begleiten«, bat er. »Es ist gefährlich für eine Frau, nachts allein unterwegs zu sein. Was hattest du hier überhaupt zu tun?«

Hitze schoss mir in die Wangen. »Werdet Ihr auch in den Krieg ziehen?«, wollte ich wissen, in der Hoffnung, ihn von seiner Frage abzulenken.

Er biss an. »Ja, aber für mich ist es keine Last«, sagte er und spielte damit auf die Soldaten aus der Spielhalle an.

»Warum nicht?« Zu spät fiel mir ein, dass es mir nicht zustand, Fragen zu stellen.

Aber ihm schien das nichts auszumachen. »Man hat mich mein ganzes Leben auf diesen Krieg vorbereitet. Ich wusste schon immer, dass dieser Tag kommen würde.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Als die Wu-Dynastie unterging, war ich vier. Ich kann mich noch erinnern, wie die Gongs Alarm schlugen, als sie die Mauern von Chuang Ning niederrissen.«

Die Wu-Dynastie herrschte früher über das geeinte Kaiserreich Tianjia, das nun in seine drei Königreiche unterteilt war. In jedem von ihnen hatte ein anderer Kriegsführer die Lücke genutzt, die der gefallene Kaiser hinterlassen hatte, und die Macht an sich gerissen. Zur Zeit des großen Zusammenbruchs war ich noch ein sehr kleines Kind, zu jung, um mich daran zu erinnern. Aber ich kannte die Geschichten aus jener Zeit – schreckliche Geschichten von unvorstellbarer Gewalt.

»Seit fünfzehn Jahre verbindet die drei Königreiche nichts als eine widerwillig akzeptierte Waffenruhe.« Prinz Liu klang jetzt feindselig. »Ximing ist ein Wurm unter Vögeln, der glaubt, er könne sich Flügel wachsen lassen und fliegen. Obwohl es weder ein Heer noch Gold in der Schatzkammer hat, schreit es nach Krieg. Und Leyuan … Leyuan wird von Narren regiert.«

Mein Herz pochte, als er so zu mir sprach. Ich hatte mich von der Welt der Männer immer ausgeschlossen gefühlt. Vater interessierte sich nicht für Politik, und das Wenige, das er wusste, hätte er niemals mit seinen Töchtern geteilt. Eine glückliche Frau mischt sich nicht in die Angelegenheiten der Männer. Von mir wurde erwartet, dass ich meinem Meister in allen Fragen vertraue. Ich musste die Welt außerhalb meines Haushalts nicht verstehen.

Aber Prinz Liu schien darüber anders zu denken. Vielleicht wurden diese Dinge in der Verbotenen Stadt, dem kaiserlichen Palast im Herzen von Chuang Ning, anders gehandhabt. Oder er konnte es sich als siebter Sohn des Kriegsführers von Anlai leisten, Regeln zu brechen, die sonst keiner zu missachten wagte.

Vor einem schneeweißen Hengst, der so groß war, dass ich ihm kaum bis zur Brust reichte, blieb Prinz Liu stehen. Das Tier hatte einen hellbraunen Streifen auf der Stirn und dunkle intelligente Augen. »Kannst du reiten?«, fragte er, während er den Sattel zurechtrückte.

»Natürlich«, entgegnete ich. »I-Ich wollte sagen, ja«, verbesserte ich mich unsicher.

»Von einer Kung-Fu-Meisterin hätte ich wohl nichts anderes erwarten dürfen. Wer hat dich ausgebildet?«

»Onkel … ein Hausdiener.« Als er mir einen skeptischen Blick zuwarf, fügte ich noch hinzu. »Sein Bruder ist ein Großmeister der Kampfkünste.«

Das erschien ihm offenbar plausibel. »Selbst meine besten Männer hätten Schwierigkeiten, mit deinen Fähigkeiten mitzuhalten«, erklärte er, während er mir auf sein Pferd half und sich kurz darauf hinter mir in den Sattel schwang. Ich erstarrte. Aber was hatte ich erwartet? Dass er mir sein Pferd lieh und mich damit allein davonreiten ließ? Jetzt würde er erfahren, wo ich wohnte.

»Wohin?«

Mir wurde unwohl. »Ins Muchangviertel«, sagte ich und stieß die Luft aus. »Zum Haus der … Hai.«

»Hai?«, wiederholte er. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber seine Überraschung war nicht zu überhören. »Ihr seid ein Mitglied des Hai-Clans?«

Ich rutschte ein wenig hin und her und nickte. Ich war diese Art von Nähe nicht gewohnt, seine Männlichkeit, die nicht von der Hand zu weisen war. Einmal abgesehen von Onkel Zhou hatte ich kaum Erfahrung mit Männern. Und plötzlich war da einer, keine Handbreit von mir entfernt. Seine Brust war stark und warm, er hatte die Schenkel um meine gelegt, und seine Haut duftete erregend nach Sandelholz und einem lauen Spätsommerabend. Ich konnte seinen neugierigen Blick auf mir spüren, wagte aber nicht, ihn anzusehen. Stattdessen starrte ich hinunter auf mein fadenscheiniges Kleid.

»Wie heißt Ihr?«

Mein Hals war unerklärlich trocken. »Hai Meilin.«

»Hai Meilin«, wiederholte er, wobei er die Vokale besonders betonte. Am liebsten hätte ich geweint. In zwei Wochen würde ich diesen Namen nicht mehr tragen und stattdessen dem Zhu-Clan angehören, als Eigentum von Meister Zhu.

Prinz Lius Pferd war so groß und bewegte sich so ruhig, dass ich die Schlaglöcher in der Straße kaum spürte. »Ich hoffe, Euch eines Tages wiederzusehen, Lady Hai. Vielleicht, wenn dieser Krieg vorüber ist?«

Wie kühn er mit seinen Worten war. Was sollte ich darauf antworten? Wenn er zurückkehrte, würde ich eine verheiratete Frau sein. Aber einen Prinzen zurückzuweisen wäre eine schwerwiegende Beleidigung.

Also fragte ich: »Wann glaubt Ihr, wird der Krieg vorüber sein, Eure Hoheit?«

»Wenn ich das wüsste«, entgegnete er mit einem Lachen. »Aber ich glaube nicht, dass er lange dauern wird.«

Ich konnte spüren, wie seine Arme, die er um mich gelegt hatte, sich spannten. »Zu Beginn eines Krieges gibt es immer ein Kräftemessen«, fuhr er fort. »Wer hat die meisten Männer? Wessen Heer ist am besten ausgerüstet? Danach ist es eine einfache Rechnung. Der Kriegsführer mit den besten Karten oder der am besten blufft, schlägt eine Einigung zu seinen Gunsten vor, die anderen gehen entsprechend ihrer Möglichkeiten darauf ein, und wir sind wieder dort, wo wir angefangen haben. Ein neuer Waffenstillstand wird vereinbart, noch mehr ermüdende Empfänge abgehalten, und wir haben unverändert drei Königreiche.«

»Dann glaubt Ihr nicht an die Mission des Kaiserlichen Kommandanten? Tianjia zu einen, meine ich.«

Für einen Moment herrschte Schweigen. Als ich mich schon fragte, ob ich etwas Falsches gesagt hatte, spürte ich, wie er hinter mir die Schultern zuckte. »Als der Kriegsführer von Ximing die Wiedervereinigung ausrief, waren die anderen Kriegsführer gezwungen, darauf zu reagieren. Sie hätten sonst wie Feiglinge dagestanden.«

»Dann hat Ximing den anderen den Krieg erklärt?«, fragte ich erstaunt.

Ich spürte, wie er nickte. »Sie behaupten, die Bedingungen des Drei-Königreiche-Abkommens wären ungerecht. Aber für den letzten Krieg war Ximing verantwortlich, und es hat ihn verloren. Mein Vater muss ein Exempel statuieren. Sie müssen bestraft werden – um der Gerechtigkeit Willen.« Er hielt inne. Als er weitersprach, klang seine Stimme nicht mehr ganz so nachdenklich. »Nichtsdestotrotz glaube ich nicht, dass es wieder einen Herrscher über ganz Tianjia geben wird. Seht uns doch an. Wir sind so verschieden, wir könnten niemals eins werden.«

»Ich habe noch nie jemanden aus Ximing oder Leyuan getroffen«, gestand ich. »Noch nicht einmal die Botschafter.« Denn die hielten sich in der Verbotenen Stadt auf.

»Da habt Ihr nicht viel verpasst, das könnt Ihr mir glauben«, entgegnete er. »Anlai ist der schönste Ort der Welt.« An seiner Stimme erkannte ich, dass er lächelte. »Mit den schönsten Frauen.«

Flirtete er etwa mit mir? Dieses Geplänkel war mir fremd. Ich hatte keine Ahnung, wie man neckisch scherzte oder hinter Federfächern Schmeicheleien austauschte. Onkel Zhou hatte mir Kung Fu beigebracht und Xiuying, wie man aus Kräutern Medizin herstellt. Niemand hat mich auf die Welt bei Hofe vorbereitet oder darauf, hübsche Komplimente zu machen und freundlich zu lächeln. Mein Mund war so trocken, dass ich nicht antworten konnte.

»Ich habe Euch in Verlegenheit gebracht. Bitte entschuldigt.«

»I-Ich bin es nicht gewohnt, Prinzen zu treffen«, gestand ich zerknirscht. Ich klang wie ein törichtes Landei.

»Gut für mich«, meinte er und zog an den Zügeln, weil wir uns einer Menschenmenge näherten. »Dann habe ich weniger Konkurrenz.«

Der Durchgang, der aus dem Wenxiviertel hinausführte, war von zahlreichen Sänften blockiert. Noch ein Grund, weshalb mir die Dächer lieber waren. Dort oben gab es keinen Verkehr. Prinz Liu zischte verärgert. Aber da war kein Durchkommen, es sei denn, er hätte sich zu erkennen gegeben.

»Bitte!«, schrie eine Frau jenseits der Menge, und dann sah ich auch den Grund für den Stau. Die kaiserliche Wache hatte den Platz der Magie umstellt, auf dem normalerweise Zauberkünstler die Touristen unterhielten und Wahrsager mit silbernen Zungen leichtgläubigen Kunden das erzählten, was sie hören wollten.

»Wir haben nichts Falsches getan!«, schrie die Frau. »Helft uns! Sie werden uns an die Hunde verfüttern oder –«

Die Frau verstummte und rang um Atem. Durch einen Spalt in der Menge konnte ich sie schluchzen sehen. Sie wehrte sich gegen die Wachen, die sie in einen Wagen zerrten, der bereits voll war mit anderen Pseudogeisterbeschwörern in ihren typischen bunten Kleidern. Man hatte sie alle gefesselt, geknebelt und ihnen die Augen verbunden, sodass sie weder sehen noch sprechen konnten. Sie saßen da wie leblose Marionetten, denen man die Fäden gekappt hatte.

Der Anblick jagte mir einen Schauder über den Rücken.

»Auf Befehl des Kaiserlichen Kommandanten«, verkündete ein Soldat, »werden alle Geisterbeschwörer weggebracht, um den Staat vor den Übeln der schwarzen Magie zu schützen.«

»Wenn Tantchen Tien schwarze Magie beherrscht, habe ich einen Drachenschwanz«, murmelte ein Passant in der Nähe. »Ich kann mich nicht erinnern, dass auch nur eine ihrer Vorhersagen jemals wahr geworden wäre.«

»Wenn sie Sonnenschein vorhersagt, gehe ich nicht ohne Schirm aus dem Haus«, bemerkte sein Freund.

Ich drehte mich zu Prinz Liu um, der die öffentliche Zurschaustellung mit unergründlicher Miene beobachtete.

»Sie werden die Geisterbeschwörer doch nicht … hinrichten, oder?«, flüsterte ich.

Prinz Liu schüttelte den Kopf. Dann wendete er das Pferd und nahm den langen Weg, der um den Platz der Magie herum durch das Armenviertel führte. Keiner von uns sagte etwas. Ich musste an die Panik der Frau denken, als sie sich gegen die Wachen auflehnte. Aber noch mehr ängstigte mich, wie die anderen Zauberer und Wahrsager sich stumm gefügt hatten und nun blind und gefesselt ihres Schicksals harrten.

Würde man mich so auch zu Meister Zhu karren?

Und weshalb die plötzliche Aufregung wegen der Geisterbeschwörer? Geister wurden zwar häufig für schlechtes Wetter oder Pechsträhnen verantwortlich gemacht, aber die meisten Menschen in Anlai glaubten nicht wirklich an ihre Existenz. Es waren Gruselgeschichten für Kinder.

Die schwarze Magie war samt ihrer Geschichte weitgehend ausgelöscht worden. Dennoch wusste meine Mutter noch vieles, das andere nicht mehr wussten. Sie erzählte mir, Kaiser Wu habe mit der Gründung der Wu-Dynastie vor hundert Jahren die Ausübung schwarzer Magie verboten, da er die Geisterbeschwörer für das blindwütige Chaos während der Zeit der Streitenden Reiche vor seiner Herrschaft verantwortlich gemacht hatte. Laut meiner Mutter lebten damals noch Drachen und Feuervögel auf der Erde. Sie zogen ihre Kreise am Himmel, wo jeder sie sehen konnte, wie die hoch aufragenden Tore des Kaiserpalasts.

Diese Geschichten waren mittlerweile aber fast vollständig in Vergessenheit geraten, und ich habe den Erzählungen meiner Mutter nie recht geglaubt.

Gegen Ende ihres Lebens hatte sie angefangen, merkwürdige Dinge zu sagen. Dinge, die keiner Vernunft folgten und für die sie mit dem Leben bezahlt hätte, wenn der Kaiserliche Kommandant davon Wind bekommen hätte.

»Warum lässt man sie verhaften?«, fragte ich den Prinzen, als ich das Schweigen nicht länger ertrug. »Sie haben keine magischen Kräfte. Sie versuchen nur, sich ein paar Münzen zu verdienen.«

Prinz Liu korrigierte seinen Griff an den Zügeln. »Eigentlich bin ich Eurer Meinung.«

Ich wartete. »Aber …?«, fragte ich, als nichts folgte.

»Im Vorfeld des Krieges bekam mein Vater Besuch von einem alten Seher aus dem Süden. Er gehörte der Minderheit der Ruan an.« Prinz Lius Stimme wurde zornig. »Dieser Seher erzählte meinem Vater, ein Geist würde seinen Untergang heraufbeschwören, und den Untergang von ganz Anlai.«

Ich sog scharf die Luft ein.

»Vater ignorierte die Drohung selbstverständlich und ließ den Seher bestrafen. Ich dachte, damit wäre die Sache erledigt. Aber dann ließ er etwas später zum ersten Mal nach Jahrzehnten einen Raum in der kaiserlichen Schatzkammer überprüfen.« Prinz Liu zögerte und rückte sich hinter mir im Sattel zurecht. »Und dabei entdeckte er, dass ein besonderes Jadesiegel gestohlen worden war.«

»Ein Jadesiegel?« Ich runzelte die Stirn.

»Ist nicht so wichtig.« Prinz Liu schüttelte den Kopf, als wollte er den Gedanken daran vertreiben. »Mit Euch zu plaudern, Lady Hai, ist so leicht, dass ich mich dabei ganz vergesse.«

»Ich … entschuldige mich, Eure Hoheit.«

»Aber nein«, wehrte er ab. »Ich bin es, der sich entschuldigen muss, weil ich Eure Ohren mit solchem Unsinn quäle.«

»Nichts, von dem, was Ihr sagt, ist in meinen Ohren Unsinn«, entgegnete ich ernst und drehte mich im Sattel zu ihm um. Die Art, wie er mich ansah, ließ mich erröten. Mit einem schiefen Lächeln zügelte er das Pferd und streifte dabei meine Hand. Wir standen am Ende meiner Straße. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir schon im Muchangviertel waren.

Von dort, wo wir angehalten hatten, konnte ich ein Stück weiter die Tore unseres Grundstücks sehen. Hier ist es gut, dachte ich. Vielleicht waren ihm die Gerüchte ja noch gar nicht zu Ohren gekommen. Ich würde vor Scham sterben, wenn er Vater in seinem jetzigen Zustand zu Gesicht bekäme.

Ich machte Anstalten abzusteigen, aber er war schneller. Er bot mir den Arm, und in diesem Moment öffneten sich die Tore. »Meilin!«

Xiuying und Onkel Zhou eilten mir entgegen. Xiuying trug ihre Gartenkleidung. Ihr Rock war schmutzig und geflickt. Und Onkel Zhou steckte in einer kunterbunten Ansammlung von Jacken, die er alle übereinander trug, weil er nachts immer fror. Als ich unseren bescheidenen Haushalt durch die Augen des Prinzen sah, errötete ich. Xiuying blieb abrupt stehen. Sie hatte Prinz Liu bemerkte, und auch wenn sie ihn wahrscheinlich nicht erkannte, sah sie, dass er reich war.

Aber Onkel Zhou wusste, wer er war. »Eure Hoheit.« Er verbeugte sich, und Xiuying tat es ihm mit einer eleganten Verneigung gleich.

»Danke, dass Ihr uns Meilin zurückgebracht habt«, sagte Xiuying. »Wir waren in großer Sorge.«

»Es war mir eine Ehre«, entgegnete er und lächelte mir zu. »Ich hoffe –«

Plötzlich kam durch das offene Tor ein Schwein auf die Straße gerannt und rempelte zuerst Xiuying und dann Onkel Zhou an. Als Prinz Liu versuchte, es zu schnappen, erhielt er einen Tritt gegen das Scheinbein. Ich unterdrückte ein Lachen, während Xiuying schrie und sich übermäßig entschuldigte. Aber der Prinz humpelte dem Schwein lachend hinterher, fing es wieder ein und händigte das schicksalsergebene Tier Onkel Zhou aus. Es war fett und fast ausgewachsen, und ich hatte keine Ahnung, wo es herkam.

»Ihr müsst entschuldigen, Eure Hoheit«, sagte Xiuying atemlos lächelnd. »Wir sind lebende Tiere in unserem Haus nicht gewohnt. Heute ist ein Teil der Brautgaben für Meilin eingetroffen.«

Brautgaben. Ich sah, wie die Worte sich setzten und Prinz Lius Gesichtsausdruck von überrascht zu enttäuscht wechselte, um schließlich in höfliche Gleichgültigkeit überzugehen. Er wandte sich mir zu und verbeugte sich, sehr steif dieses Mal.

»Ich entschuldige mich für meine Zudringlichkeit, Lady Hai. Herzlichen Glückwunsch zu Eurer baldigen Vermählung.« Er klang kühl und distanziert. »Ich werde nun gehen.«

Wir verneigten uns alle drei und wagten nicht, den Kopf zu heben, bevor er auf dem Pferd saß und die Straße hinunterritt. Xiuying drehte sich zu mir um, ihre Wangen waren puterrot. »Was war das denn?«

»Er war nur beeindruckt von meinen Kung-Fu-Künsten«, wich ich ihr aus.

Sie bedachte mich mit einem ungläubigen Blick. Onkel Zhou kicherte. »Wie kann man an nur einem Tag in so viele Schwierigkeiten geraten?«, beklagte sich Xiuying. Ich wartete auf ihre Schelte, aber stattdessen schloss sie mich in die Arme und drückte mich ganz fest an sich.

»Oh Meilin«, seufzte sie und vergrub den Kopf an meiner Schulter. »Wie werde ich dich vermissen, wenn du nicht mehr da bist.«

Fünf

Das Tian-Wort für Sklavin setzt sich aus zwei Zeichen zusammen: Mädchen und Hand. Denn das Mädchen ist die Sklavin, und die Hand ist, womit es dient.

– BUCH DER RITEN, 829

In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Wie ein Haixiao türmten sich die Worte Prinz Lius in meinem Kopf zu einer immer mächtigeren Welle auf. Ich wünschte, meine Männer, die morgen in den Krieg reiten, wären nur halb so schnell und klug wie du.

Hier, allein in meinem Zimmer, konnte ich es ja zugeben. Ich war schnell. Und ich war klug. Sicher nicht mit Worten, aber auf andere Arten. Es war mir gelungen, nur mit einer Eisenstange in der Hand diesen Wagen aufzuhalten. Als ich Onkel Zhou das erste Mal im Nahkampf besiegte, war ich noch keine dreizehn. Und auch wenn ich noch nie ein Schwert in der Hand hatte, war ich talentiert mit dem Stock.

Abgesehen davon wusste ich, welche Pflanzen, Wurzeln und Beeren essbar waren und wie man eine Aderpresse anlegte. Xiuying war in einem kleinen Dorf im Süden von Anlai als Tochter eines Kräuterheilers aufgewachsen. Sie hatte mir beigebracht, Gegengifte und Arzneien gegen Schmerzen herzustellen.

Wenn die Soldaten vor der Spielhalle ein Vorgeschmack darauf waren, womit ich es zu tun bekommen würde, wäre alles möglich. Mit Männern wie ihnen konnte ich es aufnehmen.

In der Dunkelheit ließ mich der Gedanke nicht mehr los. Er war so verrückt, dass mir der Schweiß den Rücken hinunterrann. War ich wirklich bereit dazu? Konnte ich dieses Leben und alles, was ich je gekannt habe, hinter mir lassen? Im Spiegel sah ich mein Nachthemd, das mir locker um den schmalen Körper hing. Die Heiratsvermittlerin hatte ob meiner mangelnden Kurven die Nase gerümpft, aber vielleicht waren gerade sie meine Chance zur Flucht in ein anderes Leben.

Ganz leise, um Rouha und Lizi im Zimmer nebenan nicht zu wecken, zog ich die Laken von meinem Bett und breitete sie vor dem Fenster aus. Der Mond nahm gerade ab, und durch das Gitter drang nur wenig Licht. Aber das machte nichts. Mit dem Messer, das ich unter meinem Bett versteckt hatte, begann ich, die Leine in lange, gleich breite Streifen zu schneiden.

Als ich fertig war, dämmerte bereits der Morgen. Mir blieb nur noch wenig Zeit, wenn ich meinen Plan in die Tat umsetzen wollte. Im Dunkel der Nacht war mir die Idee wie ein surrealer Traum erschienen. Als hätte ich die Konsequenzen meines Vorhabens nicht selbst zu tragen. Doch nun, bei Tagesanbruch, wurde mir das Gewicht dessen, was ich zu tun gedachte, voll bewusst. Ich eilte zu Xiuying, das Herz zu gleichen Teilen angefüllt mit Furcht und Vorfreude. Als ich ihre Gemächer betrat, hatte sie noch Schlaf in den Augen, war aber wach.

»Du bist hier«, sagte ich erleichtert. »Ich hatte schon befürchtet, du könntest in Vaters Schlafzimmer sein.«

»Oh, er hat schon seit Monaten nicht mehr nach mir gerufen«, sagte Xiuying und gähnte. »Das Opium macht ihn müde. Warum? Was ist passiert?«

Zögernd ging ich näher ans Fenster, damit sie mich im Licht der Morgendämmerung sehen konnte. Ihr blieb der Mund offen stehen.

»Meilin!«

»Psst«, warnte ich. »Du weckst die Kinder.«

»Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Doch«, sagte ich. »Ich muss hier weg.« Sie sah an meinem Gesicht, dass ich ihr nichts vormachte.

Xiuying stand auf und rieb sich die Augen. »Aber warum? Du hast die Brautgaben gesehen, Meilin. Meister Zhu ist reich. Du wirst nicht mehr hungern müssen.«

Eigentlich hätte ich ihr das gerne erspart, aber … »Ich habe gesehen, wie er ein Dienstmädchen geschlagen hat«, erklärte ich, ohne ins Detail zu gehen. »Er ist wie Vater. Und ich … Ich kann so nicht mehr leben. Ich kann es nicht. Ich will nicht werden wie meine Mutter, die –« Plötzlich bekam ich kaum noch Luft und verstummte.

Xiuyings Züge nahmen einen entschlossenen, beschützenden Ausdruck an. In diesem Moment wusste ich, dass ich sie auf meiner Seite hatte.

»Du bist nicht wie deine Mutter, Meilin. Du hast nicht ihren Wahnsinn.«

»Ich weiß.«

Sie biss sich auf die Lippe. »Wenn sie dich erwischen und glauben, du bist ein Mann, werden sie dich zwangsrekrutieren, sobald du irgendein Dorf betrittst. Onkel Zhou sagt, Deserteure schicken sie direkt an die vorderste Front.«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie werden mich nicht zwangsrekrutieren müssen. Ich melde mich freiwillig.«

Sie starrte mich an.

»Du weißt, dass es der sicherste Weg ist.«

»Sicher?«, wiederholte sie fast schon wütend.

»Wenn ich mich als Mann nicht zum Dienst melde, riskiere ich die Zwangsrekrutierung. Aber als Frau …«

Xiuyings Augen funkelten grimmig. Sie hatte es begriffen. Wenn man mich als Frau aufgriff, dann besser tot. »Du hast ja recht«, räumte sie ein. »Aber Meilin, all die Gefahren –«

»Sie werden mich nicht erwischen«, unterbrach ich sie und versuchte, zuversichtlicher zu klingen, als ich war. »Und Prinz Liu meint, der Krieg wird im Handumdrehen vorbei sein.«

Was ich da sagte, wühlte sie nur noch mehr auf. »Selbst wenn du im Krieg nicht getötet wirst, glaubst du wirklich, sie werden dich am Leben lassen, wenn sie dich entdecken?«, zischte sie. »Niemals werden sie eine Frau mit so etwas davonkommen lassen.«