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Für Mercy ist Vergeltung ein zweischneidiges Schwert. Während ihre Familie die Welt aus den Angeln heben kann, beschränkt sich Mai Redstones Kraft darauf, ihre Gestalt nach Belieben zu verändern. Doch als Mercy – ein Chamäleon mit tausend Gesichtern, scheinbar neun Leben und dem Ziel, die Stadt zu beschützen – fühlt sie sich unverwundbar. Nach der Ermordung eines Politikers bittet die Polizei sie um Mithilfe. Auf einmal droht Mais hart erarbeitete Unabhängigkeit zu zerbrechen. Bei dem Toten handelt es sich um den Mann, der ihre Kindheit in eine Hölle verwandelt hat. Ihr Onkel. Zerrissen zwischen bitterer Genugtuung über den gewaltsamen Tod ihres Peinigers und der Forderung, im Namen ihrer Familie den Mörder zu stellen, muss Mai eine unmögliche Entscheidung zwischen Loyalität oder Selbstschutz treffen.
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Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Über Fiona Zedde
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Zum Anbeißen
Als die Mädchen zu Wölfen wurden
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KAPITEL 1
Der Schatten ihrer Rastlosigkeit war Mais einzige Bekleidung, als sie auf dem Dach des mehrstöckigen Gebäudes stand. Ein matter Schmerz pochte in ihrem Rücken – Kratzspuren der namenlosen Frau, die sie vor nicht einmal zwei Stunden mit ins Bett genommen hatte. Ihre Oberschenkel schmerzten von der Bemühung, ihnen beiden Lust zu verschaffen. Auch die Muskeln ihrer Arme brannten noch immer.
Mais nackter Körper wurde zärtlich vom Wind geküsst, der über den Dächern von Atlanta wehte.
Von oben mit Sternenlicht geschmückt und von unten mit hellen Lichtern bedeckt, summte die Stadt ihre unverkennbaren Abendlieder. Straßenlärm wurde zu Flüstern. Ein Helikopter in der Ferne. Tiefer Bass drang aus der Anlage eines vorbeifahrenden Autos.
Die Frau, mit der Mai nach Hause gegangen war, schlief noch immer ein Stockwerk tiefer im Bett. Diese Art Frieden war Mai nicht vergönnt.
Eine vertraute Unruhe hatte sie früher am Abend in ihre gewohnte Bar getrieben. Ein Ort, der verrucht genug war für private Vergnügen, zugleich jedoch eine weitläufige Veranda besaß, auf der man frische Luft schnappen konnte. Dazu gab es eine Bar, die gut genug bestückt war, um auch die tiefsten Sorgen zu ertränken.
Weder Kummer, noch frische Luft waren der Grund für Mais Anwesenheit auf dem Dach.
Die Frau, die sie gefunden hatte, war nicht exakt, wonach sie sich sehnte. Doch in dem Moment, als die vertrauten Dämonen an ihr zerrten, waren die üppigen Kurven der Unbekannten und deren Kopf voll wippender Locken ausreichend gewesen. Sie schmeckte nach Vergessen, nach verblassendem Schmerz und nach Vergnügen ohne Konsequenzen. Hungrig auf das, was die Fremde ihr anbot, hatte Mai sie verschlungen – das nasse Fleisch zwischen ihren Beinen, den einladenden Mund und die Brüste, die Mai an sonnengeküsste Mangos erinnerten.
Trotz einer wunderbaren, ekstatischen Zeit war Mais Anspannung nicht gewichen. Im Gegenteil. Die Muskeln ihrer Arme und Schenkel bebten unter ihrer Haut, als kündigten sie eine nahende Implosion an. Etwas, das Mai nicht zulassen konnte. Und so fand sie sich wenig später auf dem Dach des mehrstöckigen Gebäudes wieder.
Sie rollte ihre Schultern, streckte den Nacken und öffnete ihre Sinne, um zu spüren, was in der Stadt unter ihr vor sich ging. Eine Welle aus Geräuschen und Farben drang auf sie ein: Paare, vertraut miteinander flüsternd, während die Laken unter ihnen zu ihrem gemeinsamen Rhythmus raschelten. Ein Polizeiauto, das mit kreischender Sirene und grellem Blaulicht die Straßen hinunter raste. Selbst junge Kinder waren noch wach und spielten in einem nahen Innenhof, was für den frühen Herbst ungewöhnlich war, da das Schuljahr bereits begonnen hatte. Und es war immer und immer wieder das Gleiche, ein gewaltiger Strom an Eindrücken von Mord, Sex, Grausamkeit und Gelächter drang auf Mai ein. All das formte das chaotische Geflecht einer Großstadt.
Und sie spürte alles. Die unaufhörliche Bewegung Atlantas – ein wilder Organismus, der im ständigen Fluss war. Unbezähmbar. Alle Geschehnisse, die sich unter ihr ausbreiteten, waren entweder zu weit weg oder es war zu spät, um sie noch zu ändern. Andere Dinge jedoch … Mai neigte ihren Kopf in Richtung des Geräuschs, das unter ihrer bewussten Wahrnehmung pulsierte.
Da war mehr.
Schreie der Angst. Ein Feuer.
Ihr Atem stockte. Ihr Körper lehnte sich unbewusst dem Bild der sengenden Hitze entgegen, das kaum zwei Meilen entfernt auf sie eindrang. Sie richtete ihren Blick konzentriert auf das Feuer und schärfte ihr Gehör. Keine Sirenen hielten darauf zu. Noch nicht. Sie verschwendete einen Augenblick an den Wunsch, ihr Handy bei sich zu haben, das in der Tasche ihrer abgestreiften Jacke auf dem Fußboden der Fremden lag.
Dann sprang Mai.
Wind schlug ihr entgegen, strich über ihr Gesicht und den nackten Körper. Er kühlte und erhitzte sie zugleich. Das Adrenalin ließ ihre Körpertemperatur rapide ansteigen. Alles war laut. Schreie läuteten wie Kirchenglocken und ihr Körper pochte unter der Hitze, die das außer Kontrolle geratene Feuer in ihrer Vorstellung ausstrahlte.
Fallend griff Mai nach der Steinfassade des angrenzenden Gebäudes, als diese auf sie zukam – nur wenige Zentimeter davon entfernt, äußerst schmerzhaft mit ihr zu kollidieren, wenn sie ihren Kopfsprung falsch eingeschätzt hätte. Sie war weit davon entfernt, unverwundbar zu sein, aber manchmal war es eben diese Verwundbarkeit und das damit verbundene Risiko, die sie sich lebendig fühlen ließen.
Als sie sich dem Feuer näherte, zitterte Mai unter dem Eindruck der Hitze und der Aufregung, die durch ihren Körper pulsierte. Sie rannte über ein Flachdach. Sprang auf ein nächstes. Sie flog an einem Pärchen vorbei, das aneinander gepresst auf einer Decke lag. Das Mädchen hatte ihre Bluse ausgezogen, ihre wunderschönen Brüste sichtbar, während ihr Liebhaber seinen Mund eifrig zwischen ihren gespreizten Beinen bewegte.
»Mensch! Hast du das gesehen?«
»Was?« Ihr Liebhaber blickte auf, mit feuchtem Gesicht und nur Augen für die Geliebte unter sich.
»Eine nackte Frau. Sie ist gerade an uns vorbeigerannt.«
Nackt. Richtig. Mai verwandelte sich, spürte, wie sich ihre Haut wellte, verhärtete und an verschiedenen Stellen dehnte. Es war nur eine äußerliche Veränderung. Noch immer fühlte sie den Wind, der über ihre nackte Haut strich. Im Gegensatz zu der Illusion, die sie gewoben hatte, trug sie keine Handschuhe, als sie nach dem nächsten Dach griff und sich über einen schiefen Fahnenmast schwang. In der Realität gab es keinen geschmeidigen Catsuit, der sie von Kopf bis Fuß bedeckte. Keine hohen Stiefel. Und keine Maske über ihrem Gesicht, die alles außer der Linie ihres Mundes verdeckte. Jeder potentielle Augenzeuge würde bloß das sehen, was sie zuließ und keine nackte Frau, die über die Skyline von Atlanta rannte.
Stattdessen war sie zu Mercy geworden. Das Gesicht maskiert. Der Körper verhüllt. Keine Geheimnisse entblößend.
Sie rannte auf das Feuer zu, durch Hinterhöfe und dunkle Nebenstraßen, wenn ihr die Dächer ausgingen – das war der Fluch, in einer Stadt zu leben, die eine so unvorhersehbare und zerklüftete Skyline hatte.
Schon bald war sie dem Feuer nah genug, um die Flammen zu spüren, die wie unsichtbare Zungen an ihrer Haut leckten.
Das Gebäude war ein Neubau. Groß und entflammbar, verführerisch für jeden Pyromanen. Mai konnte die Absicht hinter der Tat riechen. Der Geruch von Brandbeschleuniger und das geschmolzene Plastik eines billigen Feuerzeugs, versetzt mit einer Schicht Angstschweiß und Reue, stiegen in ihre Nase. Vermutlich war jemand einfach neugierig gewesen und musste nun geschockt feststellen, wie schnell alles schief gegangen war.
Der Anblick war überwältigend. Gelbe und orange Flammen wirbelten in den Ecken und Spalten des Gebäudes, umklammerten es wie ein zu leidenschaftlicher Liebhaber. Mai nahm alles in sich auf – die panischen Schreie und die Sirenen. Die Menschen, die aus den rauchenden Mündern der offenen Fenster heraushingen. Ihre geflüsterten oder geschrienen Gebete nach Rettung.
Sie lauschte, ließ sich zu Boden fallen und rannte, sodass ihre Füße auf dem Asphalt trommelten, bevor sie absprang. Hitze umfing ihre Haut und es war schwer, dagegen anzukämpfen, dass die Hitze nicht nur ihre Haut, sondern auch ihre Seele berührte. Die Außenwand des Gebäudes fühlte sich unter ihren Händen und Füßen heiß an.
»Mercy!«, schrie jemand unter ihr.
Anfeuerungsrufe erhoben sich – Laute der Erleichterung, Seufzen und Lob. Ihre Stimmen waren eine süße Verlockung.
Ein Kind war auf eine Fensterbank geklettert, seine Augen waren panisch geweitet. Doch es schien mehr Angst davor zu haben, die sieben Stockwerke nach unten zu stürzen, als vor dem Feuer, das sich unbarmherzig in seinem Zimmer ausbreitete. Außerhalb des Raumes versuchte eine panisch schreiende Frau – vermutlich seine Mutter – die Tür einzubrechen. Sie schlug mit einem Stuhl, der bereits in Flammen stand, darauf ein. Rauch drohte sie und die gesamte Wohnung zu ersticken.
Mercy spürte, wie sie bereits schwächer wurde und kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren.
Mai sprang durch ein nahe gelegenes Fenster und kämpfte sich in die Wohnung vor. Dann packte sie die Frau.
»Nein! Mein Sohn!« Sie wirbelte zu Mai herum und versuchte, an der Tür zu bleiben, hinter der ihr Kind sich befand. Ihre Fäuste landeten in Mais Gesichts.
Diese zuckte zusammen, schluckte den Schmerz aber herunter. Eine Flammenzunge schlug gegen ihren Rücken. Mai zischte, schützte die Frau jedoch vor dem Feuer, während ihre eigene Haut immer heißer wurde. Der Schmerz war sonderbar süß.
Sie packte die Arme der Frau und hielt sie hinter ihrem Rücken zusammen. »Ich hole ihn als nächstes, wenn Sie sich beruhigen.« Sie schrie nicht. »Wenn Sie nicht aufhören, sich gegen mich zu wehren, schaffe ich das nicht.«
Augenblicklich hielt die Frau still.
Mai warf sie sich über die Schulter und bedeckte den Kopf der Frau mit einem nassen Handtuch, das sie auf dem Weg aus dem Badezimmer hatte mitgehen lassen. Dann rannte sie den Weg zurück, den sie gekommen war, während das Gewicht auf ihren Rücken drückte.
Sie hastete durch das Feuer und das Fenster hinaus, ehe sie die Frau auf der anderen Straßenseite absetzte. Dort hatte sich bereits eine Menschenmenge gebildet.
»Ty! Mein Sohn!« Die Mutter stolperte zurück in Richtung des Hauses, aber die Nachbarn hielten sie zurück.
Mai lauschte den Lebenszeichen aus dem Inneren des Gebäudes, während sie gleichzeitig versuchte, das Ausmaß des Feuers zu beurteilen. Eine Frau in einem der höher gelegenen Stockwerke drohte, in ihrem Kleiderschrank zu ersticken. Noch weiter oben klammerte sich ein älteres Paar aneinander. Ihre Atmung war zu schwach.
Mai rannte auf ein nahes Gebäude zu, das auf wundersame Weise vom Inferno verschont geblieben war, vermaß mit den Augen die Außenwand und stieß sich davon ab, zu dem vom Feuer eingehüllten Wohnkomplex.
Sie fand die Frau im Schrank schnell, bewusstlos und eine Bibel mit verbrannten Fingern umklammernd. Mai hob sie hoch, legte sie sich über die Schulter und brachte sie in Sicherheit. Noch fünf Mal wiederholte Mai die Prozedur. Mit jeder Rettung drohte der Rauch sie zu übermannen. Das Feuer schwächte und stärkte sie gleichermaßen, als sie sich ihren Weg durch das Gebäude kämpfte und dabei schlaffe, sich wehrende, noch lebende Körper aufsammelte. Es war fast wie Fließbandarbeit, einen nach dem anderen.
Die Toten ließ sie liegen.
»Mercy! Mercy!« Die Schreie der Menschen vor dem Haus ließen nicht nach.
»Mein Sohn! Sie haben gesagt, Sie würden meinen Sohn retten!« Die Frau kämpfte noch immer gegen ihre Nachbarn an. Das dünne Nachthemd war rußgeschwärzt und rutschte von ihren schmalen Schultern. Ihre Zähne wirkten scharf und wild in ihrem Gesicht, reduziert auf den elementaren Instinkt einer Mutter, ihr Kind zu beschützen.
Scham durchströmte Mai. Höher und höher, ganz oben kauerte der vor Angst erstarrte Junge. Alles, was er tun musste, war zu springen, aber das würde nicht passieren. Er war zu ängstlich.
Scheiße. Sie hatte sich ablenken lassen.
Feuerwehrmänner trafen ein. Sie würden den Jungen nicht rechtzeitig erreichen.
»Spring!«, schrie die Frau ihrem Sohn zu, obwohl der sie gar nicht hören konnte. »Ty! Bitte, spring einfach!«
Mehr Menschen sammelten sich unter dem Fenster, obwohl die Flammen aus dem Dach des Gebäudes drangen und ermutigten ihn, in die Sicherheit ihrer ausgestreckten Arme zu springen.
Nicht unbedingt die brillanteste Idee.
Mai fluchte erneut und rannte schließlich zurück in das Gebäude.
Hustend.
Würgend.
Ihre Lungen wurden eng und waren versengt, weil sie zu wenig Sauerstoff einatmete. Ihre Sinne schwanden. Es war zu spät. Als sie durch das Feuer griff und die überhitzen Backsteine hinaufkletterte, befürchtete sie, dass es nichts mehr für sie zu tun gab. Die Hitze ließ Schmerz in ihren nackten Handflächen aufflammen. Sie hatte es versaut und den Jungen zu lange warten lassen.
Seine Zimmertür war nur noch Asche. Die Flammen breiteten sich rasend auf dem Teppich seines Zimmers aus und verschlangen alles, was ihnen in den Weg kam. Laken. Spielzeug. Poster von Rennwagen. Sein Fleisch lockte das Feuer. Es würde ebenso leicht brennen. Alles an ihm würde brennen.
Das Fenster erschien ihr noch weiter entfernt als zuvor, während der Sims praktisch vor Hitze glühte. Wie konnte der Junge bei einer so intensiven Temperatur sitzen bleiben? Als sie ihn schließlich erreichte, wusste sie wie. Er war zu einer Statue erstarrt, aus Angst verwandelt in ein keuchendes, aber sonst festgefrorenes Objekt.
»Es ist okay.« Sie sprach die Worte aus, obwohl sie sie selbst kaum glaubte. Dann schlang sie ihren Körper schützend um den Jungen und sprang nach kurzem Luftholen durch das Fenster, gerade als ein Feuerball hinter ihnen explodierte und sie hinaus in die kühle Luft katapultierte.
Mai umklammerte den Jungen. Er wimmerte, als sie durch die Luft flogen. Sie hörte die Menge unter ihnen nach Luft schnappen und kontrollierte ihre eigene Atmung, ehe sie den Druck der Explosion nutzte, um sich im Fallen zu drehen und den Körper des Jungen dabei so gut wie möglich mit ihrem eigenen zu bedecken. Etwas Hartes prallte gegen ihren Rücken und presste ihr die Luft aus den Lungen. Die Fassade des Nachbargebäudes. Sie klammerte sich an den Rest ihres Verstands, um sich herumzurollen und den Sturz mit ihrem eigenen Körper abzufangen, damit der Junge unverletzt blieb.
Mai spürte die besorgt zu ihnen strömenden Menschen eher, als dass sie sie hörte. Sie stand auf, verfluchte ihre eigene Dummheit und hob den Jungen auf, der kaum etwas wog. Wo war seine Mutter?
»Gott sei Dank!« Die Frau schrie den Namen ihres Sohnes und griff nach ihm. Die Sehnen in ihrem Hals zuckten vor Erleichterung. Ihre Nägel kratzten über Mais Hände, als sie ihren Sohn packte.
Mai blieb stehen, bis sie sicher war, dass die Frau das Gewicht des Jungen tragen konnte. Dann wirbelte sie herum und ignorierte die Beifallrufe der Menge, um sich endlich den Schmerzen und Wunden ihres eigenen Körpers zu widmen. Sie lief durch eine Gasse, dann durch eine zweite. Ihre Arme spannten sich brennend an, als sie nach oben griff, um sich selbst höher und höher zu ziehen. Als sie das Dach des zehnstöckigen Gebäudes erreichte, fühlte sie sich besser. Der Junge lebte. Traumatisiert zwar, aber sie schob das mehr auf das Feuer als auf ihre Achtlosigkeit.
Bald war sie wieder da, wo der verrückte Ausflug angefangen hatte – auf einem Dach in der Innenstadt.
Ihr Atem ging schwer. Ihre Muskeln waren weich und warm. Beides Folgen des Feuers. Adrenalin sang in ihren Adern. Das war, was sie gebraucht hatte. Diese Kombination aus dem Fakt, gebraucht zu werden und der Gefahr, die sie reizte. Sie liebte die Mischung von beschleunigtem Herzschlag und gelösten Ängsten.
Nach Hause in ihr eigenes Bett zu gehen, würde ein weiterer Genuss sein. Aber erst, nachdem sie eine andere Art von Vergnügen mit der Fremden im unteren Stockwerk geteilt hatte. Sie stellte sich vor, neben dem weichen Körper der Frau aufzuwachen. Eine gestöhnte Begrüßung, gefolgt von einem explosiven Höhepunkt in der heißen Umarmung ihrer Liebhaberin. Ein perfektes Ende für diese Nacht.
Eilig begab sich Mai zurück zu dem Zimmer, das sie vor einigen Stunden verlassen hatte. So leise sie konnte wusch sie den Gestank von Adrenalin und Rauch von ihrer Haut, ehe sie unter die Decke glitt und sich an die schlafende Frau schmiegte. Der Schlaf kam so schnell wie der nächste Atemzug.
KAPITEL 2
»Und das ist alles, was Sie über den Inzest in den europäischen Königsfamilien wissen müssen, meine Damen und andere Anwesende. Wir sehen uns nächste Woche.« Mai nahm die Brille ab, die sie nicht brauchte – das Äquivalent dazu, ihre Unterrichtsausgabe des Lehrbuches zu schließen – und gab ihren Studenten damit das Signal, zu gehen.
Die Gruppe, die hauptsächlich aus Studenten des zweiten Studienjahrs bestand, sammelte schnell ihre Bücher zusammen und hastete in Richtung Tür. Sie waren offensichtlich froh darüber, dass das Seminar am Freitagabend endlich vorbei war. Zwei oder drei Nachzügler blieben zurück und unterhielten sich. Ein paar weitere kamen geradewegs auf Mais Tisch zu, nackte Verehrung und tiefe Hoffnung in ihren Blicken.
Mais Ausdruck blieb professionell und doch gelassen, ohne den verführerischen Ton anzunehmen, den einige ihrer Kollegen regelmäßig an der beeinflussbaren Gruppe von Studenten übten.
»Darf ich zu Ihrer Sprechstunde kommen, Professor Redstone?« fragte Beatrice Aarondale, ein honigsüßes Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie war eine von Mais intelligenteren Studentinnen und zufälligerweise auch eine ihrer glühendsten Verehrerinnen. Blauer Lippenstift und Smokey-Eye Make-up betonten ihr ohnehin schon hübsches Gesicht. Ein weißes, schulterfreies Kleid umspielte ihre großen Brüste und kurvigen Hüften. »Ein paar Punkte der Stunde sind mir nicht ganz klar geworden.«
Mai widerstand dem Drang, ihre Augen zu verdrehen. »Natürlich. Sie können sich für freie Termine an meine Lehrassistentin wenden.« Mit dem Kinn deutete sie auf Carol, die im hinterer Teil des Raums saß und sich bereits den Arbeiten widmete, die sie zu Beginn des Unterrichts von den Studenten eingesammelt hatte.
»Alles klar, danke.« Aber Beatrice stand noch immer da; offensiv sexy, mit einem herausfordernden Blick in den Augen.
Einer ihrer Freunde stieß sie von hinten an und drängte sich vor sie, um Mai ein Buch zurückzugeben, das er sich während der letzten Stunde ausgeborgt hatte.
Lächelnd nahm Mai das Buch entgegen und ließ es in ihre Ledertasche gleiten. Als sie den Blick wieder hob, wurde ihre Aufmerksamkeit von einer Person gefesselt, die an der offenen Tür des Seminarraums vorbeiging. Ihr Magen machte einen Salto.
Xóchitl Bentley. Ein angemessen komplizierter Name für eine scheinbar komplizierte Frau, die im vorigen Semester von einer der größten und besten Privatuniversitäten Atlantas auf Mais Campus gewechselt war. Mai hatte gehört, dass sie die erste Stunde in jedem Semester damit zubrachte, den Studenten ihren Namen beizubringen.
Xóchitl. Schow-tschiel.
An dem Tag, an dem Mai über Xóchitl Bentley gestolpert war, hatte es ihr wortwörtlich den Atem geraubt. Der sowohl unerwartete, wie auch kraftvolle Stoß des Verlangens in ihrem Körper hatte sie damals leise keuchend zurückgelassen.
Im Flur vor Mais Seminarraum schritt die Frau durch die Menge der Studenten, als wären sie überhaupt nicht da. Sie war kühl und anmutig wie ein Eisberg auf hoher See, unbekümmert von sich nähernden Schiffen oder Flutwellen. Mai wurde schon bei ihrem puren Anblick schwach.
An diesem Abend trug Xóchitl ein Kleid – locker sitzende Baumwolle, ganz in weiß. Eine Tasche über ihrer Schulter, die mit südamerikanischen Mustern unterschiedlichster Farbtöne bestickt war. Ihre leuchtend gelben High Heels schlugen einen nachdrücklichen Rhythmus auf dem Boden, der in Mais Magen widerhallte.
Xóchitl war elegant, grazil und umwerfend. Und sie war nicht im geringsten an Mai interessiert.
Nachdem Mai ihr Interesse bekannt gemacht und keine offenkundig erwidernde Reaktion von Xóchitl darauf erhalten hatte, war sie davon ausgegangen, dass die Professorin nicht an Frauen interessiert war. Ihre Facebook-Seite hatte das Gegenteil bewiesen und hatte Mai dazu gebracht für einen Moment zu überlegen, eine Kleinigkeit an sich selbst zu verändern, wie ihr Gesicht, ihre Figur. Oder ihre feminine Art, sich zu bewegen, abzuschwächen und so etwas mehr wie die Butch zu werden, die sie online an Xóchitls Seite gesehen hatte. So etwas war ein leichtes für Mai als Meta-Wesen. Eine unbedeutende Manipulationstat im Vergleich zu dem, was sie andere hatte tun sehen.
Doch der Gedanke daran widerte Mai an und ängstigte sie zugleich. Sie wollte nicht so sein, wie die meisten Metas, die sie kannte: Skrupellos, andere ausnutzend und erbarmungslos. Also hatte sie Xóchitl von diesem Tag an gemieden. Allerdings hielt es sie nicht davon ab, zu starren.
Blinzelnd riss Mai ihren Blick von dem verführerischen Bild im Flur los, als jemand ihren Arm berührte und dann abrupt wieder losließ.
»Ihre Haut ist so warm!« Beatrice sah auf ihre eigene Hand, als erwartete sie, dort eine Verbrennung zu sehen. »Haben Sie Fieber oder so?«
Mai war noch immer von Xóchitl abgelenkt. Das war der einzige Grund, aus dem sie ihre Vorsicht schleifen ließ und mit »Ich bin einfach ein bisschen heißblütig, das ist alles« antwortete.
»Darauf wette ich.«
Sie verzog die Lippen, genervt davon, dass sie der schamlosen Beatrice eine so einfache Vorlage gegeben hatte. Mit einem leicht tadelnden Kopfschütteln begegnete sie dem Blick ihrer Studentin. »Wenn das dann alles wäre, sehe ich Sie in meinem Büro.«
Bevor Beatrice auf die eine oder andere Weise antworten konnte, zirpte Mais Handy. Ein Geräusch, das nur sie mit ihren übermenschlichen Sinnen hören konnte.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte sie an die kleine Studentengruppe gewandt und hob ihre Aktentasche auf. Gleichzeitig griff sie geschickt nach ihrem Handy, den Autoschlüsseln und einem Proteinriegel aus ihrer Schreibtischschublade. »Wir sehen uns alle beim nächsten Mal. Falls sie bis dahin etwas brauchen, rufen Sie in meinem Büro an oder schreiben Sie mir eine E-Mail.«
Mai verstaute ihre Habseligkeiten in den verschiedenen Fächern ihrer Tasche, als sie das Gebäude in Richtung Parkplatz verließ, die klirrenden Schlüssel in der Hand. Sie hatte bereits eine Vermutung, was die Person am anderen Ende der Leitung zu sagen hatte. Der Anruf war allerdings zu einem guten Zeitpunkt gekommen.
»Ja?«, sagte sie in ihr Telefon.
»Kannst du am Montag auf dem Revier vorbeikommen?«, fragte eine vertraute Stimme an Stelle einer Begrüßung.
»Ja.«
»Achtzehn Uhr?«
»Ja.«
»Gut.«
Sie steckte das Handy wieder ein und trat hinaus in die Umarmung des lauen Septemberabends. Ihre Absätze klangen wie gedämpfte Pistolenschüsse auf dem noch immer warmen Beton des Parkplatzes. Ihr Auto piepte, als sie den Alarm deaktivierte. Die Erleichterung, endlich den unzähligen Augen entkommen und zurück in einem privaten Umfeld zu sein, ließ sie leise dankbar aufseufzen. Sie legte ihre Tasche auf dem Beifahrersitz ab.
»Du hättest viel mehr Spaß, wenn du in der Firma deiner Mutter arbeiten würdest.«
Nur angestrengte Willenskraft hielt sie davon ab, zu ihrem eigenen Schutz um sich zu schlagen. Ihr Griff um den Autoschlüssel wurde fester. Sie fühlte das hauchzarte Seufzen des Leders, als sie die Zehen in den Stilettos anspannte und spreizte. Ihr Körper bereitete sich darauf vor, anzugreifen. Ihr Kampfinstinkt hatte nie gelernt, sich in Gegenwart ihrer Familie zu entspannen. »Was willst du, Ethan?«
Ihr Cousin saß auf dem Rücksitz und wirkte selbstgefällig in seinem dreiteiligen Tom Ford Anzug und dem altbekannten Haifischgrinsen auf dem Gesicht. »Dich, wie immer.«
Ein Muskel in Mais Wange zuckte, während sie darauf wartete, dass er den Grund seines Besuchs nannte.
»Nettes Auto«, sagte er und überspannte ihre Geduld damit noch weiter. Obszön bewegte er sich hinter ihr auf dem Polster und streichelte mit den Händen über die Ledersitze zu beiden Seiten seiner gespreizten Beine.
Ihre Mutter hatte Ethan die Macht gegeben, zu tun, was immer er wollte, solange er ihre Befehle ausführte. Leider nahm er sich allzu oft die Freiheit heraus, ein Arschloch zu sein. Das beinhaltete auch das Flirten mit Mai, obwohl er verdammt gut wusste, dass sie sich nichts aus Männern machte. Er war überzeugt, dass er die Ausnahme für Mais keine-Männer-Regel war. Doch ungeachtet der angespannten Beziehung zwischen Mai und ihrer mächtigen Mutter würde Mandaia Redstone einer Ehe zwischen Mai und Ethan niemals zustimmen.
Also wartete sie schweigend ab, während Ethan das Nappa-Leder ihres geliebten Mercedes befühlte. Mai startete den Wagen und spielte Nicki Minaj über die Bluetooth-Verbindung ihres Handys ab. Als Anaconda zu spielen begann, fing ihr Cousin endlich an zu reden, aber Mai drehte die Musik nicht leiser. Keiner von ihnen brauchte Stille, um den anderen zu verstehen.
»Deine Mutter möchte, dass ich dich an die Konklave der Familien morgen Nachmittag erinnere.«
Mai verdrehte die Augen. Als könnte sie das vergessen. An jedem einzelnen Tag der letzten Woche hatte es sich ihre Mutter zur Aufgabe gemacht, ihr verschiedene Informationen der Versammlung zukommen zu lassen – wann sie begann, wo sie während der offiziellen Ankündigungen sitzen würde, was sie anziehen sollte.
Seit Mai es versäumt hatte, zur letzten Konklave zu erscheinen – die nicht mehr als eine völlig überzogene Geburtstagsfeier für ein verwöhntes Meta-Kind gewesen war – waren Mandaias Nachrichten an ihre Tochter mit noch mehr Enttäuschung als üblich gespickt gewesen. Mai tat gern so, als wäre es ihr egal.
»Okay«, sagte Mai mit einem abweisenden Blick auf ihren Cousin. »Du hast mich daran erinnert. Jetzt verschwinde.«
