The Queen Will Rise - Marie Niehoff - E-Book

The Queen Will Rise E-Book

Marie Niehoff

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Beschreibung

Die Fortsetzung des Spiegel-Bestsellers. Das Finale der zweibändigen Vampire-Royals-Reihe. Er ist mein König. Er ist mein Geliebter. Er ist mein Untergang … Londons Straßen werden von Blut regiert. Nach dem gescheiterten Attentat auf Vampirkönig Benedict Tudor schlägt der Hass zwischen Menschen und Vampiren in offene Gewalt um. Florence ist als Blutbraut die menschliche Repräsentantin an Benedicts Seite und könnte eigentlich vermitteln. Doch sie wird im Tower gefangen gehalten. Ursprünglich als Rebellin ins Schloss gekommen, um den König zu töten, hat sie sich gegen ihren Willen in ihn verliebt. Und diese Liebe wird ihr nun zum Verhängnis. Denn Benedict hat von ihren Plänen erfahren, und ihr Verrat hat ihn zu einem Monster gemacht …

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Seitenzahl: 485

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Marie Niehoff

The Queen Will Rise

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Er ist mein König.

Er ist mein Geliebter.

Er ist mein Untergang …

 

Londons Straßen werden von Blut regiert. Nach dem gescheiterten Attentat auf Vampirkönig Benedict Tudor schlägt der Hass zwischen Menschen und Vampiren in offene Gewalt um. Florence ist als Blutbraut die menschliche Repräsentantin an Benedicts Seite und könnte eigentlich vermitteln. Doch sie wird im Tower gefangen gehalten. Ursprünglich als Rebellin ins Schloss gekommen, um den König zu töten, hat sie sich gegen ihren Willen in ihn verliebt. Und diese Liebe wird ihr nun zum Verhängnis. Denn Benedict hat von ihren Plänen erfahren, und ihr Verrat hat ihn zu einem Monster gemacht …

 

Atemberaubend und herzzerreißend.

Das Finale der zweibändigen Vampire-Royals-Reihe.

Vita

Marie Niehoff, geboren 1996, hegt schon seit ihrer Kindheit eine Faszination für fantastische Geschichten. Diesen darf vor allem eines nicht fehlen: Romantik. Wenn sie nicht gerade schreibt, malt sie, kreiert Moodboards, kümmert sich um ihre unzähligen Zimmerpflanzen oder legt Tarotkarten. Unter anderem Namen hat sie bereits Bücher im New-Adult-Genre veröffentlicht, mit «When The King Falls» und «The Queen Will Rise», der Vampire-Royals-Dilogie, legt sie ihr Fantasy-Debüt vor. Band 1 stieg unmittelbar nach Erscheinen auf die Spiegel-Bestsellerliste ein. Auf Instagram und TikTok ist sie unter @marienie.schreibt zu finden.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01642-2

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Anne

Für das hier und noch so viel mehr.

Go forth and set the world on fire.

– St. Ignatius Loyola

Playlist

Ramsey – Black and Blue

Koda – white dove

Madalen Duke – Love into a Weapon

Red Rosamond – In The Blood

Fleurie – Love and War

Jess Benko – Eggshells

PVRIS – Monster

Digital Daggers – In Flames

Ramsey – Bad Bad Bad

Miki Ratsula – Wicked

Ramsey – Love Surrounds You

SOFIA – Evol

Vanbur – Through the Dark

Echos – Running

Roniit, Saint Mesa – Martyr

SOFIA – Deadly

BANKS – Contaminated

Mausio, Bibiane Z – Trapped

The Rigs – The Calling (EPIX Remix)

Lorde – Everybody Wants To Rule the World

Roniit – Somewhere Far Away

Ramsey – Goodbye

Kapitel Eins

Black and Blue

Benedict

Das Knacken von Knochen hallt von den rauen Steinmauern der Zelle wider, dicht gefolgt von einem unterdrückten Wimmern. Das Geräusch ist gleichermaßen befriedigend wie abstoßend, doch ich halte mich nicht damit auf, meine Empfindungen zu hinterfragen. Stattdessen atme ich tief durch.

Die Luft ist stickig. Oder vielleicht kommt es mir auch nur so vor, weil in meiner Brust dieses Feuer lodert, das alles zu verschlingen droht und mir das Atmen schwer macht. Meine Hände finden zitternde Schultern. Ich spüre schweißnasse, kühle Haut unter meinen Fingern und presse meine Daumen mit sanftem Druck in die Stellen zwischen Schulterblättern und Wirbelsäule.

«Du verschwendest meine Zeit», sage ich ruhig und verstärke meinen Griff noch ein wenig. «Fang an zu reden, und das hier hört auf.»

Als Antwort bekomme ich nicht mehr als ein raues Lachen. Es bringt mein Blut nur noch stärker zum Kochen.

«Fick dich», spuckt Valerian aus, und sofort kassiert er von meiner Wache einen weiteren Schlag ins Gesicht. Sein Kopf fliegt zur Seite, doch ich halte seine Schultern eisern fest und lasse in einer stillen Drohung meine Daumen kreisen. Die Berührung ist zu grob, um angenehm zu sein, und dennoch so viel sanfter als alles, was ich ihm gern antun würde.

Ich muss mich bewusst davon abhalten, ihm hier und jetzt das Genick zu brechen. Nur zu gern würde ich meinem Hass auf Valerian freien Lauf lassen. Es bräuchte nicht mehr als das Zucken meiner Finger, um mich zumindest kurzfristig zu fühlen, als hätte ich die Situation unter Kontrolle. Doch was uns dann immer noch fehlen würde, sind Antworten. Antworten, die ich brauche und trotzdem nicht hören will, denn ich möchte alles, was in den letzten sechs Monaten passiert ist, am liebsten verdrängen. Sobald ich auch nur anfange, darüber nachzudenken, kommt es mir vor, als würde ich mich damit selbst von innen heraus in Stücke reißen.

Valerian hebt den Kopf und spuckt Blut aus. Ein angestrengtes Röcheln dringt aus seiner Kehle. Wir sind schon eine ganze Weile hier unten. Dennoch schweigt er. Es ist der vermutlich zweitgrößte Fehler seines Lebens – direkt nach dem Versuch, einen Silberdolch in mein Herz zu rammen. Ich konnte den Kerl noch nie leiden. Gut zu wissen, dass mein Bauchgefühl mich zumindest hier nicht getäuscht hat. Was allerdings eine gewisse andere Person angeht …

Ich atme tief durch und schiebe den Gedanken beiseite.

«Immer noch nichts?», frage ich kühl. «Das bedeutet wohl, du brauchst die Hand nicht mehr.»

Diesmal warten meine Männer keine Antwort ab. Wieder hallt ein Knacken durch das Kellergewölbe, und sie brechen ihm auch den zweiten Finger. Den dritten. Den vierten. Seinen Daumen heben sie sich bis zuletzt auf.

Valerian beißt die Zähne zusammen und atmet gegen den Schmerz an. Meine Daumen streichen über seine Haut, eine trügerisch sanfte Berührung, während ich mich hinunter zu seinem Ohr beuge. «Weißt du, was das Gute an Vampirblut ist?», raune ich ihm zu. «Es heilt euch Menschen. Lässt eure fragilen Knochen wieder zusammenwachsen. Wir können das hier so lange wiederholen, bis du mir sagst, was ich wissen will. Wie finde ich den Rest deiner Familie?»

Er dreht den Kopf, und ich lasse zu, dass er sein Gesicht direkt vor meines bringt. Die Ähnlichkeit zu Florence ist praktisch nicht mehr erkennbar. Seine Nase ist gebrochen, die Haut auf seiner Wange aufgeplatzt. Ein Auge ist zugeschwollen, das andere blutunterlaufen, wobei das kühle Blau seiner Iris ohnehin einen Kontrast zu Florence’ warmem Braun darstellt. Dennoch erinnert er mich an sie. Vielleicht, weil er mich weiterhin mit dieser unbeugsamen Verbissenheit anfunkelt, die so typisch für die Familie Hawthorne zu sein scheint.

«Fick. Dich», wiederholt er stoßweise und versucht allen Ernstes, mir eine Kopfnuss zu verpassen. Mühelos weiche ich ihm aus, umrunde mit zwei zügigen Schritten den Stuhl und schlage ihm diesmal selbst ins Gesicht. Blut spritzt, doch zu seinem Glück verfehlt es meinen teuren Anzug.

Ich packe Valerian an der Kehle und drücke zu. Er röchelt, das Geräusch ebenso erbärmlich wie er selbst. Sein Blick wirkt verklärt, und es sieht so aus, als hätte ich ihm den Kiefer gebrochen. Zugegeben, das macht das Sprechen schwierig, doch es interessiert mich immer weniger. Mit jeder Minute, die ich hier verschwende, überspannt Valerian den Bogen meiner Selbstbeherrschung weiter. Und wenn er mir ohnehin keine Antworten liefert …

Sein Gesicht läuft allmählich blau an. Wieder verspürt ein Teil von mir bei diesem Anblick Genugtuung. Der andere ist angewidert von mir selbst.

Energisch stoße ich Valerian von mir, und er kippt mitsamt dem Stuhl nach hinten. Keine Ahnung, ob er es schafft, den Kopf so zu heben, dass er nicht auf dem harten Steinboden aufschlägt. Es ist mir egal. Jegliches Mitgefühl für ihn wird von dem Lodern in meiner Brust verschlungen. Er schnappt nach Luft, also lebt er offensichtlich noch. Spätestens in zwanzig Minuten wird er sich wünschen, dem wäre nicht so.

Ich stelle mich über ihn, blicke auf ihn hinab und hole seelenruhig ein Taschentuch aus meinem Sakko, um das Blut von meiner Hand zu wischen. Er soll nicht merken, wie sehr es in mir brodelt. Wie erfolgreich er mit seinem Anschlag war, wenngleich er sein eigentliches Ziel verfehlt hat.

Seit dem versuchten Attentat an der Sommersonnenwende habe ich kein Auge zugetan. Die Familie Hawthorne hat ganz London in Aufruhr versetzt. Die Vampire, die ohnehin schon Abneigungen gegen die Menschen hegten, fordern Konsequenzen. Und der Rote Regen macht sich ihren Unmut zunutze, stachelt sie noch weiter auf. So sehr, dass jegliche Gesetze an Bedeutung zu verlieren scheinen. Und unschuldige Menschen zahlen dafür.

Ich brauche Verantwortliche, wenn ich die Unruhen in der Stadt beenden will. Blut muss fließen, um die wütende Meute an Vampiren in meinem Rücken zu besänftigen. Und es würde nicht reichen, dafür nur Valerian und Florence herzunehmen. Ich brauche die ganze Familie.

«Weißt du eigentlich, was dein lächerlicher Mordanschlag ausgelöst hat?», frage ich ihn kalt. Er blinzelt benommen zu mir hoch. «Ein Dutzend Morde an deinesgleichen, allein gestern Nacht. Unschuldige sterben für deine Verbrechen. Wer ist jetzt das Monster? Du oder ich?»

Trotz seines Zustands entweicht ihm ein heiseres, abgehacktes Lachen. «Dir ist nicht mehr zu helfen», krächzt er und verzieht schmerzerfüllt das Gesicht.

Eines muss man ihm lassen – er ist zäh. Doch das schürt meine Wut nur weiter, und sie ergreift langsam, aber sicher Besitz von mir. Ich trete zurück.

«Setzt ihn auf», befehle ich meinen Wachen, und sie zerren Valerian mitsamt dem Stuhl wieder hoch. Er bleckt seine blutigen Zähne, und ich schüttle schnaubend den Kopf. Meine nächsten Worte verursachen mir selbst Übelkeit, dennoch bringe ich sie mit kühler Souveränität über die Lippen.

«Letzte Chance, mir etwas Brauchbares zu erzählen. Ansonsten muss ich diese Unterhaltung wohl mit deiner kleinen Schwester weiterführen.»

Besorgnis blitzt in seinen Augen auf. Dann reckt er wie ein stures Kind das Kinn. «Bevor oder nachdem du sie gefickt hast?», spuckt er mir entgegen.

Mein Schlag ins Gesicht trifft ihn so hart, dass er laut aufstöhnt. Wieder fliegt sein Kopf zur Seite, Blut rinnt aus seinem halb offenen Mund.

Hasserfüllt starre ich ihn an. Mein Blick wandert über seinen nackten, blutüberströmten Oberkörper, und ich spüre den Rest meiner Selbstbeherrschung in Flammen aufgehen. «Bringt mir ein Messer», fordere ich so ruhig, wie meine Stimme es zulässt. «Ein stumpfes. Wenn er schon nicht spricht, will ich ihn wenigstens schreien hören.»

Florence

Eine modrige Kälte beherrscht den Tower of London und arbeitet sich langsam, aber sicher in jede Faser meines Körpers vor. Hinter dem winzigen Fenster meiner Zelle scheint zwar die Junisonne, doch nichts von ihrer Wärme sickert zu mir durch. Ich zittere immerzu, und obwohl ich mich weit oben in einem der Türme befinde, vermitteln mir die dicken Backsteinmauern das Gefühl, als wäre ich lebendig begraben.

Seit zwei Tagen bin ich hier eingesperrt. Es waren zwei Tage in quälender Ungewissheit, allein mit Scham und Schuld, Wut und Trauer. Mein Kopf hat noch nicht verstanden, was passiert ist. Mein Herz jedoch hängt längst in blutigen Fetzen.

Ich fühle mich so verdammt hilflos. Obwohl mir klar ist, dass mein gesamtes Leben gerade in Scherben liegt, kann ich nichts tun, um das zu ändern. Vermutlich sollte ich schreien, toben, weinen. Doch ich bin seltsam losgelöst von mir selbst, als wäre die echte Florence irgendwo außerhalb dieser Mauern, wo ich sie nicht erreiche.

Meine Finger und Zehen sind taub von der Kälte, mein Kopf ist vernebelt, meine Gefühle sind verheddert. Das Einzige, was klar und deutlich bleibt, wie Salz in einer offenen Wunde, ist die Erinnerung an die letzten Minuten der Sonnenwendfeier. An Benedicts wutentbranntes Gesicht und Vals eiskaltes Lächeln.

Ich muss es nicht verstehen, um zu wissen, was passiert ist. Es gibt nur eine einzige logische Erklärung für das Desaster, das sich an diesem Abend zugetragen hat.

Mein Bruder hat mich verraten.

Valerian hat mir seine Unterstützung zugesichert und im nächsten Atemzug meinen Sekt vergiftet, um an den König heranzukommen. Vermutlich ist der einzige Grund dafür, dass Benedict noch lebt, die Tatsache, dass ich das Glas nur halb ausgetrunken habe. Vielleicht wäre die Betäubung sonst stärker gewesen und der Silberdolch in Vals Hand hätte sein Ziel nicht verfehlt.

Der Gedanke lässt mich erschaudern. Ich bin froh, dass Benedict noch lebt, doch er hat mich kein einziges Mal hier aufgesucht. Ich bin weiterhin eine Gefangene. Und das lässt mich vermuten, dass er mich nie wieder ansehen wird wie früher. Dass alles, was wir hatten, in dieser Nacht zerstört wurde. Dass ich ihn verloren habe, obwohl ich doch eben erst beschlossen hatte, für ihn zu kämpfen.

Ich habe für diesen Mann all meine Überzeugungen hinter mir gelassen. Habe sie schmerzhaft aus meiner Seele seziert, nur für den Hauch einer Chance auf eine Zukunft mit ihm, die mir nun entrissen wurde.

Rückblickend betrachtet schockiert mich nicht mehr, dass ich Benedict liebe, sondern nur, wie lange ich gebraucht habe, um es zu merken. Letztendlich habe ich für ihn nie die Abneigung empfunden, die ich mir eingeredet habe. Ganz im Gegenteil. Und hätte ich nicht bis zur letzten Sekunde an den fehlgeleiteten Überzeugungen meiner Familie festgehalten, wäre vielleicht alles anders gekommen. Dann wäre der König jetzt nicht mein Feind und ich keine Gefangene mit ungewissem Schicksal.

Wenn ich wenigstens wüsste, was sie mit mir vorhaben …

Man sagt, es gibt nur zwei Gründe, aus denen Verbrecher im Tower festgehalten werden statt in einem der moderneren Gefängnisse. Wer hier sitzt, den erwartet entweder Folter oder eine Exekution – nicht selten beides.

Ein weiterer Schauer läuft mir über den Rücken, und ich rolle mich enger auf meiner harten Pritsche zusammen, ziehe mir die dünne Decke über die Schultern. Obwohl ich müde bin, ist an Schlaf nicht zu denken. Meine Gedanken kreisen unaufhörlich, und sobald ich die Augen schließe, holen mich meine Albträume ein.

Mit etwas Glück haben sie keine Beweise gegen mich. Immerhin habe ich nichts getan, außer diesen verdammten Sekt zu trinken. Doch würde Benedict an meine Unschuld glauben, wäre ich nicht hier. Oder …? Vielleicht hat Eris ihn davon abgehalten, mich zu besuchen, bis sie mehr wissen?

Aber selbst wenn dem so sein sollte … Vals Schicksal steht außer Frage. Er wird für seine Taten sterben. Sofern er überhaupt noch lebt.

Der Gedanke an ihn füllt mich mit Wut und Verzweiflung gleichermaßen. Nach allem, was passiert ist, hätte ich jeden Grund, meinen Bruder zu hassen. Dennoch schnürt mir die Angst um ihn die Kehle zu, und bei der Vorstellung, dass er irgendwo innerhalb dieser Mauern leidet, brennen erneut Tränen in meinen Augen. Ich kenne Val. Er wird schweigen wie ein Grab, wenn sie ihn verhören, und das wird ihm vermutlich noch mehr Folter einbringen.

Ich hingegen … Ich weiß nicht, ob ich stark genug wäre, um dichtzuhalten. Zumindest nicht besonders lange. Wie gut, dass meine Familie mir ohnehin stets die wichtigsten Informationen vorenthalten hat. Ich weiß nicht mal, wo sie jetzt sind. Val sollte mich zu ihnen bringen, sobald ich Benedict getötet habe. Und obwohl es die richtige Entscheidung war, das nicht zu tun, bereut ein Teil von mir sie. Denn indem ich Benedicts Leben gerettet habe, habe ich das meiner Familie riskiert.

Auf dem Gang ertönen Schritte, und ich versteife mich unweigerlich. Mir wurde schon vor ein paar Stunden ein Tablett mit Essen gebracht. Sie werden wohl kaum bereits ein weiteres bringen.

Ich widerstehe dem Drang, mich unter meiner Decke zu verstecken, und stehe stattdessen auf. Eine tiefe, unverständliche Stimme ertönt draußen, der Schlüssel klackt im Schloss. Ich straffe die Schultern und recke das Kinn.

Was auch immer jetzt passiert, ich werde mich dem stellen. Etwas anderes bleibt mir gar nicht übrig. Wenn ich mich wehre, schleifen sie mich einfach gefesselt und geknebelt aus dieser Zelle. Aber wenn ich kooperiere, kann ich mir vielleicht Gehör verschaffen und Benedict alles erklären.

Doch als die Tür nun geöffnet wird, fällt all meine Entschlossenheit in sich zusammen. Der Hauch eines vertrauten Dufts umspielt meine Nase. Grüne Augen suchen die kleine Zelle ab. Dann findet Benedicts Blick meinen, und der Schmerz in meiner Brust wird mit einem Mal so heftig, dass er mich beinahe in die Knie zwingt.

Vor mir steht nicht der Mann, den ich kannte, das ist mir sofort klar. Denn hinter seinem so vertrauten Äußeren schimmert etwas gänzlich Fremdes durch. Benedicts Miene ist verzerrt und so hasserfüllt, dass mir kalte Gänsehaut den Rücken emporkriecht. Mein Körper sehnt sich danach, mich in seine Arme zu werfen, doch der König ist zweifelsohne nicht gekommen, um mich zu trösten oder mir gar zu verzeihen.

Im Gegenteil.

Er sieht aus, als wolle er mich verdammt noch mal umbringen.

Ich bleibe regungslos stehen, während sein Blick über meinen Körper wandert. Er mustert das zerschlissene Blutkleid, das ich noch immer trage, und die Abscheu in seinen Augen scheint nur umso heißer zu brennen. Ich kann mir denken, woran es ihn erinnert. An unseren letzten Abend zusammen – und an meinen grausamen Verrat.

Langsam schließt er die Tür hinter sich, macht einen Schritt auf mich zu, und unwillkürlich weiche ich vor ihm zurück.

Ich kann seinen Hass förmlich spüren. Es fühlt sich an, als würde Benedicts Anwesenheit die Luft in Brand setzen und dem Raum sämtlichen Sauerstoff entziehen. Ich kann nicht mehr atmen, wenn er mich so ansieht, also weiche ich seinem Blick aus. Mustere stattdessen sein weißes Hemd.

Die obersten Knöpfe sind geöffnet, so als hätte auch er das Gefühl gehabt, zu ersticken. Doch sonst will der gebügelte Stoff nicht so recht zum Rest seines Erscheinungsbilds passen. Benedict wirkt blass und erschöpft. Er hat sich nicht rasiert, seine Locken sind zerzaust.

Noch vor ein paar Tagen wäre ich zärtlich mit den Fingern hindurchgefahren. Jetzt hingegen kriege ich nicht ein Wort heraus, aus Angst, er könnte die Beherrschung verlieren. Ich stocke, als ich seine Hände bemerke. Ist das … Blut?

Er kommt noch näher, und mein Puls beginnt zu rasen. Mit einem Mal habe ich die kalte Steinmauer im Rücken.

Ich kann nicht anders, als zu ihm hochzusehen. Benedicts Blick erinnert mich unweigerlich an unsere letzte Begegnung. An den Moment, kurz nachdem Val ihm den Dolch in die Brust gerammt hat und ich Benedict angefleht habe, ihn nicht zu töten. Es war das erste Mal, dass er mich mit Abscheu angesehen hat, doch vielleicht wird es von jetzt an immer so sein. Die sanfte Zuneigung, die der König mir so lange entgegengebracht hat, ist in etwas Dunklerem verloren gegangen. Wurde zu Asche verbrannt von meinem Verrat.

«Benedict, ich …», setze ich an, doch er überwindet die letzte Distanz zwischen uns. Seine blutigen Finger umschließen meinen Hals und bringen mich zum Schweigen. Er drückt nicht zu, doch sein Griff ist fest genug, um mich an der Wand zu fixieren. Die Wärme seines Körpers mischt sich mit der Kälte des Steins in meinem Rücken, und sein vertrauter Duft nach Wald hüllt mich ganz ein.

«Du sprichst nur, wenn ich es dir sage», befiehlt er, und sein schneidender Tonfall lässt mich erschaudern. Dennoch kribbeln meine Fingerspitzen. Sehnen sich danach, ihn zu berühren. Ihn näher an mich zu ziehen.

Ich setze zu einem Widerspruch an, doch kaum, dass ich den Mund öffne, verstärkt sich der Griff seiner Finger.

«Ich will es nicht hören!», fährt er mich an, und sämtliche Härchen an meinen Armen stellen sich auf. Er atmet schwer, seine Schultern beben leicht, fast als würde es ihn sämtliche Kraft kosten, sich zu beherrschen.

Ich will nicht daran glauben, dass er mir wehtun könnte. Und gleichzeitig stelle ich mir vor, was passiert, wenn er zudrückt. Wenn er dieser Wut, die offensichtlich in ihm brodelt, freien Lauf lässt.

Ich schlucke, und Benedicts Blick wandert zu meinem Hals. Er atmet tief durch, und sein Daumen streicht kaum merklich über meine Pulsader. Ist er deswegen hier? Für mein Blut? Oder überlegt er nur, wie er mich am besten tötet?

«Willst du von mir trinken?», flüstere ich, und er verzieht das Gesicht.

«Sei still», knurrt er mich an. In seiner tiefen Stimme klingt eine Drohung mit, die mein Herz noch weiter zertrümmert.

«Hör dir doch wenigstens an, was …»

«Das war ein Befehl!», donnert er, und ich zucke zusammen. Er presst mich fester gegen die Wand, und ich spüre seine Brust an meiner, seinen Atem auf meiner Wange. «Vielleicht solltest du dir angewöhnen, sie zu befolgen. Oder willst du mir noch mehr Gründe liefern, dich zu verurteilen? Nur zu, Florence. Schaufel dir dein eigenes Grab.»

Ich hebe die Hände, streife seinen Bauch, doch als seine Finger an meinem Hals zucken, lasse ich sie eilig wieder sinken. Stattdessen balle ich sie an meinen Seiten zu Fäusten, atme gegen den Schmerz an, der meinen gesamten Körper eingenommen hat. «Wie kannst du mich verurteilen, ohne mir auch nur die Chance zu geben, es zu erklären?», flüstere ich.

Er schüttelt nur schwach den Kopf. «Zwing mich nicht, dir wehzutun.»

Ich weiß, dass es eine Drohung ist. Aber warum klingt es dann so sehr wie ein Flehen?

Hoffnung keimt in mir auf. Wenn auch nur ein Bruchteil seiner Gefühle noch besteht, kann ich ihn vielleicht dazu bringen, mir zuzuhören. Mir zu glauben. Denn was auch immer er gerade von mir denkt – es entspricht nicht der ganzen Wahrheit. Und das ahnt sicher auch Benedict, denn ohne mit mir zu reden, fehlt ihm ein großer Teil des Puzzles. Die Beweise gegen mich bilden lediglich den Rand. Wenn überhaupt, denn wie viele kann er denn überhaupt haben?

Vielleicht hat er den Dolch gefunden. Und vielleicht hat er Val befragt. Vielleicht ist es sein Blut an Benedicts Händen.

Mir wird schlecht. Trotzdem presse ich die Lippen zusammen und schweige. Die Stille zerreißt mich innerlich, doch ich ermahne mich zur Geduld. Es bringt mich nicht weiter, ihn wütend zu machen.

Benedict lockert seinen Griff. Sein Blick fällt wieder auf meinen Hals, und nach einer Sekunde des Zögerns lege ich den Kopf schief, biete ihm mein Blut an. Mein Herz schlägt immer heftiger, je länger er mich so mustert. Ich sehne mich nach seiner Nähe. Nach etwas, das sich wie früher anfühlt, egal in welcher Form. Ich will ihn einfach nur spüren. Will, dass er diesen Funken Hoffnung in meiner Brust weiter schürt, mir etwas gibt, woran ich mich festklammern kann. Denn im Moment fühlt es sich viel zu sehr an, als wäre ich im freien Fall. Und als wäre der Boden schon gefährlich nah.

Doch Benedict kommt nicht näher. Er senkt nicht den Kopf, legt nicht seine Lippen auf meine Haut.

Stattdessen lässt er mich los. Bringt wieder Abstand zwischen uns und wendet sich mit einem frustrierten Schnauben der Tür zu.

Meine Brust wird eng. Ich will nicht, dass er geht. Mich allein lässt mit Reue und Ungewissheit. Was hat Val ihm erzählt? Lebt mein Bruder noch oder hat er ihn getötet? Und wie lange, bevor mir das gleiche Schicksal widerfährt, wenn er mich jetzt nicht sprechen lässt?

Verdammt, der Mann, den ich liebe, scheint verschwunden, und ich kann diesen neuen, fremden Benedict nicht einschätzen. Wird er mich foltern? Mich töten? Oder lässt er mich tatsächlich in dieser modrigen Kälte verrotten, so wie er es an der Sonnenwende versprochen hat?

Er durchquert die Zelle, und ohne nachzudenken, folge ich ihm. «Benedict, bitte!»

Er greift nach dem Türknauf.

«Das war’s?», frage ich atemlos und blinzle die Tränen weg, die mir in die Augen steigen. «Was sollte das? Bist du nur hergekommen, um mich zu quälen?»

Er wirbelt zu mir herum, sein Gesicht mit einem Mal wieder wutverzerrt. «Du weißt nicht mal, was dieses Wort bedeutet!», fährt er mich an. «Ich sollte dich auf der Stelle töten lassen, ist dir das bewusst? Die Hölle wäre ohnehin ein weitaus passenderer Ort für dich.»

«Dann tu es doch!», rufe ich aus. «Nur zu, bestraf mich! Mach es dir leicht, indem du dir die Wahrheit nicht mal anhörst!»

«Ich kenne die Wahrheit, Florence.»

«Und wie sieht die deiner Meinung nach aus?»

Er ignoriert mich einfach und wendet sich wieder ab.

«Gib mir wenigstens fünf Minuten, um es dir zu erklären!», flehe ich, doch er umfasst wieder den Türknauf. Ich greife nach seinem Ärmel und will ihn zurückhalten. «Ben!»

Benedict reagiert so schnell, dass ich keine Chance habe, mich zu wehren. Im einen Moment spüre ich den Stoff seines Hemdes unter meinen Fingern, im nächsten hat er mir die Arme auf den Rücken gedreht, fixiert meine Handgelenke mit einer Hand und drückt mich mit dem Gesicht voran gegen die Wand neben der Tür. Mir entkommt ein erschrockenes Keuchen. Unbeholfen drehe ich den Kopf und begegne Benedicts Blick. Sein Griff ist eisern, und in seinen Augen liegt ein Versprechen von Gewalt, das mein ganzes Sein aus dem Gleichgewicht bringt. Mein Herz will mir noch immer einreden, dass er mir nicht wehtun würde. Mein Kopf jedoch realisiert nur allzu deutlich, wie heftig ich gegen die raue Steinmauer geprallt bin und wie schmerzhaft fest er meine Handgelenke fixiert.

Benedict ist mein Feind.

Ob ich es will oder nicht.

Mein Puls rast, und seine Nähe brennt sich wie Feuer unter meine Haut. Wie in Zeitlupe beugt er sich zu mir hinunter. Er hält dabei meinen Blick. Seine Stimme ist nicht mehr als ein Raunen.

«Nenn mich noch einmal so, und ich schneide dir höchstpersönlich deine verlogene Zunge heraus. Verstanden?»

Ich schlucke schwer.

Mein Herz war längst gebrochen, doch nun fühlt es sich an, als würde Benedict die Scherben weiter zertreten. Er zermahlt jede Einzelne von ihnen unter seinen Sohlen zu winzig kleinen Körnern, und sie schürfen dabei wie Schmirgelpapier über meine schmerzende Seele.

Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Gänsehaut überzieht meinen gesamten Körper, und doch kann ich nicht anders, als mich weiter an meiner naiven Hoffnung festzuklammern.

«Das würdest du niemals tun», flüstere ich. «Das bist nicht du.»

Benedict verzieht den Mund zu einem kalten Lächeln.

«Bist du dir sicher?», fragt er leise. «Manchmal sind es diejenigen, die wir am besten zu kennen glauben, die uns am schwersten täuschen.»

Er lässt mich unsanft los, und bevor ich mich wieder zu ihm umdrehen kann, hat er die Zelle bereits verlassen. Mit einem Krachen zieht er die schwere Tür hinter sich zu, seine Schritte entfernen sich draußen auf dem Gang.

Ich stehe da wie versteinert und starre ihm nach. Mein Puls rast noch immer. Mein Atem geht zittrig, und nun laufen mir endgültig Tränen über die Wangen.

Ist das hier das Ende?

Von uns?

Von mir?

Oder doch nur der Anfang meiner Bestrafung?

Ich will es nicht herausfinden.

Kapitel Zwei

White Dove

Benedict

Ich bin mir nicht sicher, wen ich mehr verabscheue – Florence oder mich selbst. Auf dem Weg zu ihrer Zelle habe ich mir geschworen, ihr nicht zuzuhören. Nicht ein einziges ihrer verseuchten Worte zu glauben, nichts davon an mich heranzulassen. Und doch hat sie kaum mehr als meinen Namen gebraucht, um wieder ihre Krallen um mein Herz zu legen. Nur drei Silben, um mich zu zerstören. Und jede weitere hat mich Stück für Stück zerfleischt und die Mauern meiner Selbstbeherrschung weiter zum Bröckeln gebracht.

Vielleicht will ich sie quälen, ja. Ich will, dass Florence genauso leidet, wie ich es tue. Aber das wird sie nie, weil sie nicht diejenige ist, die einer falschen Liebe zum Opfer gefallen ist. Sie wusste, worauf sie sich einlässt. Die ganze Zeit über hatte sie die Fäden in der Hand, und während ich ihr in meiner liebestrunkenen Naivität allmählich meine Seele zu Füßen gelegt habe, hat sie ihr Netz aus Verrat und Intrigen um mich gesponnen. Ich hätte ihr niemals vertrauen dürfen. Und weil ich es dennoch getan habe, liegt die Schuld für unsere momentane Situation auf meinen Schultern.

Eris empfängt mich draußen vor dem Eingang, und ich sehe die Fragen auf ihrem Gesicht schon von Weitem. Meine Motivation, sie ihr zu beantworten, hält sich jedoch in Grenzen. Nach dem fruchtlosen Verhör von Valerian und dem schmerzhaften Wiedersehen mit Florence kocht mein Blut ohnehin schon. Ich will nicht hören, was meine Rechte Hand zu sagen hat.

«Und?», begrüßt sie mich und fällt mit mir in Gleichschritt, als ich an ihr vorbeigehe. Über das Verhör hat man sie zweifelsohne schon in Kenntnis gesetzt. Unschwer zu erraten, was sie nun von mir wissen will.

Ich balle die Hände an meinen Seiten zu Fäusten und lockere sie wieder, um das unangenehme Gefühl auf meiner Haut abzuschütteln. Ich spüre Florence’ Puls noch unter meinen Fingern, und mir ist überdeutlich bewusst, dass Valerians Blut an meinen Knöcheln klebt. Seit Florence’ Blick eben daran hängen geblieben ist, kommt es mir vor, als wäre es ätzende Säure, die sich mir langsam einbrennt. Und schon wieder werde ich beinahe rasend vor Wut.

Zügig steuere ich auf die drei Wagen zu, die uns zurück ins Schloss bringen. Die Wachen begleiten Eris und mich bis zur Limousine in der Mitte und öffnen mir die Tür. Ich spare mir jegliche Höflichkeiten und klettere wortlos auf den Rücksitz. Je schneller ich Abstand zwischen mich und dieses Gefängnis gebracht habe, desto besser.

Die Tür auf der anderen Wagenseite wird geöffnet, und Eris setzt sich zu mir auf die Rückbank, statt vorne einzusteigen. Natürlich lässt sie sich nicht so einfach abwimmeln, wie ich es gern hätte. Ich werfe ihr einen finsteren Blick zu, doch sie klopft nur auffordernd gegen die Trennwand zum Fahrer. Ein paar Sekunden später setzen wir uns in Bewegung und sie wendet sich mir zu.

«Benedict.»

Die gleichen drei Silben, mit denen ich schon vorhin entwaffnet wurde. Nur dass sie stets etwas anderes zu bedeuten scheinen, wenn Florence sie sagt. Es ist, als hätte diese Frau meinem Namen einen neuen Sinn gegeben. Mit dem Klang ihrer Stimme, von ihren sanften Lippen gesprochen, hat er mir von Anfang an das Gefühl gegeben, als würde sie einen anderen Benedict sehen als der Rest dieses Landes. Den Mann hinter der Krone. Den Mann, der ich gern wäre, würden meine Verpflichtungen mich nicht anderweitig binden. Hätte ich gewusst, dass alles nur eine Lüge ist, hätte ich ihr niemals erlaubt, meinen Namen zu benutzen. Ihn derart zu ruinieren …

«Hast du von ihr getrunken?», fordert Eris gereizt. Aus dem Augenwinkel sehe ich sie erwartungsvoll die Brauen heben.

«Nein», knurre ich und hefte meinen Blick aus dem Fenster.

«Warum nicht?»

Ich beiße die Zähne zusammen. Ganz egal, was ich antworte, Eris würde es nicht verstehen. Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich es ja selbst nicht einmal. Aber allein der Gedanke, Florence so nah zu kommen, ihre Haut unter meinen Lippen zu spüren, ihr leises Keuchen zu hören, ihr Blut auf meiner Zunge zu schmecken …

Es geht nicht.

Das vorhin war schon mehr, als ich ertragen konnte. Ich will diese Frau nicht in meiner Nähe. Ich will sie nie wieder sehen, weil mich allein ihr Anblick von innen heraus zerreißt.

Eris atmet tief durch. Auch sie versucht offenbar, Ruhe zu bewahren, doch in den letzten beiden Tagen fiel ihr das merklich schwerer als sonst. «Wir fragen eine der Bediensteten», entscheidet sie schroff. «Die Sache wird diskret behandelt, niemand muss davon erfahren.»

«Wie oft noch?», fahre ich sie an und drehe den Kopf zu ihr. «Ich breche diesen Eid nicht.»

Ihre braunen Augen funkeln aufgebracht. Mir ist klar, dass Eris nur versucht, ihren Job zu machen. Trotzdem habe ich meine Prinzipien. «Die Alternative hast du soeben hinter dir gelassen!», erinnert sie mich.

«Dann ist es eben so. Ich bin nicht auf frisches Blut angewiesen.»

Eris senkt die Stimme, um sicherzugehen, dass uns der Fahrer nicht hört, doch ihr Tonfall ist dadurch nicht weniger eindringlich. «Ist dir entgangen, was hier gerade passiert?», zischt sie. «Der Rote Regen will deinen Kopf!»

«Das ist mir bewusst», knurre ich zurück. «Aber es ist nicht so, als würde ein halbes Jahr einen großen Unterschied machen. Ich trage die Macht von vier Generationen in mir.»

«Deinem Vater hat das auch nicht geholfen!», braust sie auf. «Ich gehe verdammt noch mal kein Risiko ein, Benedict! Und wenn du mich fragst, sollten wir Lyra ebenfalls trinken lassen.»

«Ich habe dich nicht gefragt.»

Eris’ Nasenflügel weiten sich. «Benedict.»

Ich sollte mich mehr zusammenreißen, ja. Aber andererseits schlägt sie gerade derart abstruse Dinge vor, dass ich nicht anders kann, als mit Sarkasmus zu reagieren.

«Du hast recht, das ist eine großartige Idee», erwidere ich. «Lass uns die Verbrechen in der Stadt bekämpfen, indem wir unsere eigenen Gesetze brechen.»

«Es ist eine Ausnahmesituation.»

«Ich sagte Nein.»

Eris’ Miene verfinstert sich. «Dieser Aufstand hat gerade erst begonnen. Du wirst jedes bisschen Kraft benötigen. Und falls dir etwas passiert, ist Lyra die rechtmäßige Thronfolgerin. Es wird Zeit, dass wir sie darauf vorbereiten. Sonst lässt du dieses Königreich irgendwann schutzlos zurück.»

Ich wünschte, ich könnte ihr weitere Argumente entgegenbringen, doch ich habe keine. Vermutlich hat Eris recht. Seit dem Attentat an der Sonnenwendfeier ist London im Aufruhr. Es war unmöglich, die Geschehnisse unter Verschluss zu halten, und der Rote Regen hat seine Chance augenblicklich ergriffen. Noch in derselben Nacht wurden über zehn Morde an Menschen begangen, und die Zahl wächst stetig. Doch vermutlich stecken längst nicht mehr sie allein hinter all den Opfern. Sie haben lediglich das Feuer gelegt, das sich nun durch die Stadt frisst und weitere Vampire dazu bringt, sich aufzulehnen.

Vermutlich hätte ich es ahnen müssen. Meine Beziehung mit Florence war schon lange kein Geheimnis mehr. Wir haben versucht, es möglichst unter Verschluss zu halten, doch es wurden immer wieder empörte Stimmen laut, die sich nun erst recht bestärkt fühlen. Der König mit einem Menschen? Inakzeptabel. Ein Fehler.

Die Hawthornes haben ihresgleichen eigenhändig noch mehr zum Hassobjekt gemacht und erschweren mir gleichzeitig, diesen Hass zu unterbinden. Denn ich habe ohnehin bereits an Autorität eingebüßt. Und wenn ich mich weiterhin für sie einsetze, laufe ich konstant Gefahr, als rückgratlos dazustehen.

Meine eigenen Gesetze zu brechen, ist allerdings auch keine Lösung. Nur dem König ist es erlaubt, von der Vene zu trinken – und zwar ausschließlich von seiner Blutbraut. Mich daran zu halten ist das letzte bisschen Stabilität, das ich meinem Volk noch bieten kann.

«Gibt es neue Erkenntnisse?», wechsle ich das Thema. Eris hat sowohl die königliche Wache als auch die Polizei und den Geheimdienst auf die Aufklärung der Morde angesetzt. Mit mäßigem Erfolg. Ihr Blick sagt alles.

«Drei Verdächtige. Fünf neue Leichen …»

Unruhig fahre ich mir durch die Haare. Es hört einfach nicht auf. «Wir brauchen Verantwortliche», sage ich ihr zum wiederholten Mal. «Jemanden, an dem wir ein Exempel statuieren können. Die Sache darf nicht noch mehr außer Kontrolle geraten.»

«Ich arbeite daran», erwidert sie zerknirscht.

Ich verkneife mir eine Erwiderung, um meinen Frust nicht noch mehr an Eris auszulassen. Sie macht gute Arbeit, aber die Situation raubt mir sowohl den Schlaf als auch den letzten Nerv. Selbst mit der Bestrafung von Verantwortlichen müssten wir vorsichtig sein. Ist sie zu schwach, wirkt sie nicht abschreckend. Ist sie zu heftig, könnte der Rote Regen sie nutzen, um die Leute weiter aufzustacheln. Es würde in einem noch größeren Aufstand enden. Wie wir es auch drehen und wenden – London ist ein Pulverfass, kurz davor zu explodieren.

Es ist erbärmlich. Fünfhundert Jahre war meine Familie an der Macht, und mir gleitet die Krone binnen Tagen förmlich aus den Fingern. All das nur wegen einer guten Schauspielerin und ein paar gehauchten Versprechungen.

«Lyra hat übrigens um eine Eskorte gebeten», lässt Eris mich wissen.

Ich seufze und hefte meinen Blick auf das gegenüberliegende Ufer der Themse, das vor dem Autofenster vorbeizieht. «Ja. Sie hat heute Morgen mit mir darüber gesprochen.»

«Du erlaubst ihr das doch nicht ernsthaft?» Eris klingt ungläubig. Aber was erwartet sie von mir?

«Ich werde es ihr nicht verbieten.»

«Das solltest du aber!»

Gereizt drehe ich mich zu ihr um. «Das wird es auch nicht besser machen!»

Eris hat die Stirn gerunzelt. Sie versteht offenbar wirklich nicht, warum meine Schwester Florence nicht nur sehen will, sondern sehen muss. Wie auch. Sie kennt unseren Schmerz nicht, kann ihn nicht ansatzweise nachvollziehen. Für sie war diese Frau nie mehr als die Rolle, die sie in unserem Schloss verkörpert hat. Für Lyra und mich jedoch war sie so viel mehr. Eine Geliebte, eine Freundin, vielleicht auch so etwas wie eine lang ersehnte Schwester. Für uns war sie alles. Und das war unser Fehler.

«Es würde sie zumindest von Florence’ Lügen fernhalten!», argumentiert Eris weiter. «Bei allem Respekt, aber Lyra ist nicht unbedingt für ihre Rationalität bekannt. Ihre Gefühle verzerren ihre Sicht, und Florence wird das ausnutzen, um euch gegeneinander auszuspielen.»

Ich schüttle den Kopf. «Dieses Problem besteht längst, Eris. Sie hatte ein halbes Jahr Zeit, um sich in Lyras Herz einzunisten. Wenn ich ihr verbiete, sie zu besuchen, wird das Lyras Meinung nicht ändern, sondern sie nur noch weiter von mir entfernen, weil ich sie bevormunde. Ich brauche meine Schwester jetzt auf meiner Seite, und das bedeutet, dass ich ihr einen Vertrauensvorschuss geben muss.» Auch wenn mir nicht wohl dabei ist. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie gefährlich Florence ist.

Eris verzieht das Gesicht. «Es gefällt mir trotzdem nicht. Diese Frau hat schon viel zu viel Macht über euch.»

«Danke für den Seitenhieb», murmle ich und wende den Blick ab. «Möchtest du vielleicht noch einmal betonen, dass du mich gewarnt hast und ich einfach nicht auf dich hören wollte?»

«Würde ich», bestätigt sie kühl. «Aber auch das macht es nicht besser.»

Ich atme tief durch und wende den Blick ab. Vor dem Fenster fließt weiterhin die Themse vorbei. Das Wasser glitzert in der Mittagssonne, die vertrauten Gebäude am anderen Ufer spiegeln sich als verschwommene Kleckse auf der Wasseroberfläche. «Ich hätte auf dich hören sollen», stelle ich leise fest.

«Das Herz folgt nicht immer dem Verstand.» Eris’ Stimme ist ebenso leise wie meine. Die Worte scheinen ihr ernst zu sein. «Ich verurteile dich nicht dafür.»

Mir entweicht ein leises Schnauben. «Ich mich aber.»

Das Wohl dieses Landes liegt in meinen Händen. Wenn Blut fließt, habe ich das zu verantworten. Es war meine Aufgabe, den Frieden zwischen Menschen und Vampiren zu wahren. Und ich habe versagt.

Eris setzt zu einer Erwiderung an, doch ihr Handy klingelt, und sie atmet frustriert aus. «Nicht schon wieder», murmelt sie und hebt es an ihr Ohr. «Ja?»

Eine Stimme ertönt am anderen Ende der Leitung, und meine Rechte Hand versteift sich kaum merklich.

«Wo?»

Ich werfe ihr einen fragenden Blick zu, doch sie weicht ihm aus. Ihre Brauen sind eng zusammengezogen.

«Das ist nicht dein Ernst. Es ist helllichter Tag.»

Ein mulmiges Gefühl macht sich in meiner Magengrube breit. Haben sie noch mehr Tote gefunden? Unwillkürlich richte ich mich auf.

«Ich bin gleich da», verkündet sie ihrem Gesprächspartner, und falls möglich ist ihr Tonfall noch ruppiger als eben mit mir. «Versuch bis dahin, die Presse fernzuhalten.» Sie legt auf, steckt das Handy weg und fährt sich durch die kurzen dunklen Haare. Ich kenne sie lange genug, um zu wissen, dass sie gerade überlegt, wie sie diese Information am besten an mich weitergibt.

«Ich komme mit», beschließe ich kurzerhand.

Ihr Blick schießt zu mir, und sie funkelt mich an. «Auf gar keinen Fall!»

Ich ignoriere ihre Widerworte. «Weih mich ein.»

Eris verzieht unzufrieden das Gesicht, doch sie widerspricht mir nicht. «Vier Leichen hängen an der äußeren Schlossmauer.»

Besorgt hebe ich die Brauen. Ich habe zwar mit Toten gerechnet, aber nicht damit, dass sich jemand die Mühe macht, diese aufzuhängen. Und schon gar nicht an einer derart abgesicherten Stelle. Die Täter lassen jegliche Vorsicht hinter sich, wenn sie ein solches Risiko eingehen. Das kann nichts Gutes bedeuten. «Wie sind sie an unseren Wachen dort vorbeigekommen?», will ich wissen. Wenn wir schon wieder eine Lücke in unserem Wachsystem haben …

«Gar nicht», murmelt Eris. «Ich fürchte, die Opfer sind unsere Wachen.»

Ich stocke. «Du willst mir sagen, dort hängen keine Menschen, sondern Vampire?»

«Offenbar.»

Meine Nackenhaare stellen sich auf, und ich balle die Hände zu Fäusten. Was zur Hölle bedeutet das? Fährt der Rote Regen jetzt härtere Geschütze auf? Sonst haben sie sich immer bedeckt gehalten. Es sieht ihnen gar nicht ähnlich, in der vollen Mittagssonne auf offener Straße zu agieren. Und bisher haben sie nie Vampire aus dem Volk angegriffen. Wieso auch? Damit würden sie sich im Inner District unweigerlich Feinde machen, während es ihnen doch eigentlich darum geht, die Leute auf ihre Seite zu ziehen.

«Bring mich hin», fordere ich.

Eris presst die Lippen zusammen, nickt aber knapp. Sie zückt erneut ihr Handy – vermutlich, um zusätzliche Security anzufordern.

Es dauert nicht lange, bis wir die äußere Schlossmauer erreichen, die das Crimson Heart vom Inner District trennt. Doch statt das Eingangstor zu passieren, das uns in den Red Garden und schließlich zum Palast führt, umrunden wir die Anlage.

Ein heilloses Durcheinander aus Polizeiwagen, Wachpersonal und schaulustigen Passanten empfängt uns an der Hinterseite und erschwert uns die Anfahrt. Als wir mit dem Auto nicht weiter vorankommen, weil die Leute die Straße blockieren, steige ich kurzerhand aus, eine fluchende Eris auf den Fersen. Die Wachen aus den beiden Begleitwagen flankieren uns, und gemeinsam bahnen wir uns einen Weg zum Tatort. Ich schiebe unberührt Vampire beiseite, die mir im Weg stehen, und erst als ich die Absperrung vor der Schlossmauer erreiche, halte ich inne.

Das Bild, das sich uns bietet, ist grotesk. Die vier leblosen Körper unserer Wachen wurden mit regelrechten Bolzen im Gemäuer festgenagelt. Zwar lässt sich nicht sicher sagen, ob sie tot sind – immerhin sind es Vampire –, doch die Einstichwunden zwischen ihren Rippen lassen mich befürchten, dass die Täter vorbereitet waren. Es sind gezielte Stiche ins Herz – vermutlich mit einer Silberwaffe.

Ein beklemmendes Gefühl setzt sich in meiner Brust fest. Zwei von ihnen, Travis und Eve, waren gerade mal Mitte zwanzig und kamen letztes Jahr frisch aus der Ausbildung, ihr ganzes Leben noch vor sich. Die Wache auf der linken Seite hingegen, Margery, hat schon jahrelang treu meinem Vater gedient. Und Dalton am anderen Ende der Reihe hat erst vor ein paar Wochen einen Antrag auf Elternzeit eingereicht. Es waren gute, verlässliche Leute. Die Tatsache, dass sie derart grausam und unerwartet aus dem Leben gerissen wurden, schnürt mir vor lauter Hass die Kehle zu.

Und als wäre ihr Tod nicht genug, prangt über den Köpfen der vier eine blutrote Botschaft, die so groß ist, dass man sie selbst von der anderen Straßenseite aus lesen kann.

Wir sind viele.

Die Drohung ist subtil und doch wirksam. Gänsehaut überzieht meine Arme, und obwohl sich meine Gedanken eigentlich überschlagen müssten, ist mein Kopf seltsam leer. Mein Blick ist erneut an den leblosen Körpern hängen geblieben. Ein winziges Detail sticht mir wie ein Dorn ins Auge. An jeder ihrer schwarzen Uniformen steckt etwas, das dort nicht hingehört. Ein kleines weißes Büschel auf Höhe der Brusttasche.

Ich klettere über die provisorische Absperrung und steuere auf meine ehemaligen Wachen zu. Blut hat sich zu ihren Füßen in Pfützen auf dem Boden gesammelt und rinnt durch die Fugen des Kopfsteinpflasters. Wäre die Menge hinter mir nicht so laut, könnte man es tropfen hören.

Eris weicht mir nicht von der Seite. «Es wurde bereits eine Großfahndung eingeleitet», lässt sie mich wissen. «Sie suchen den gesamten Inner District und das Ufer der Themse nach auffälligen Personen ab.»

«Das war nicht der Rote Regen», murmle ich und bleibe direkt vor Margery stehen. Trotz ihres Alters wirkte sie immer jung und energetisch. Im Tod hingegen ist ihr Gesicht aschfahl und eingefallen. Ihre Augen starren leblos ins Nichts. In meinen Venen beginnt es wieder zu brodeln, noch heftiger als zuvor.

«Wie kommst du darauf?», will Eris wissen.

Mit vor Wut zitternden Fingern ziehe ich das eben noch undefinierbare Büschel aus dem Knopfloch von Margerys Uniformjacke. Es ist ein kleiner Zweig aus dunklem Holz mit lieblichen weißen Blüten daran. Sie ähneln denen einer Kirsche, nur dass die Staubblätter nicht hell, sondern dunkel sind.

Weißdorn.

Es kostet mich alles, den Beweis nicht in meiner Faust zu zerquetschen. Stattdessen drehe ich mich um und halte ihn Eris mit finsterem Gesicht entgegen.

Ihre Augen weiten sich, als sie zu verstehen beginnt. Es gibt nur eine Familie, die sich so zu erkennen geben würde. Nur eine, die den Weißdorn nicht nur in ihrem Wappen, sondern sogar als ihren Namen trägt.

«Die Hawthornes haben uns eine Botschaft geschickt», spreche ich das Offensichtliche aus und lasse zu, dass Eris mir den Zweig abnimmt, um ihn genauer zu betrachten.

Sie mustert die Blüten mit unverkennbarer Sorge. Langsam schüttelt sie den Kopf und schaut zu mir auf. «Ist dir klar, was das bedeutet?», fragt sie kaum hörbar.

Ich atme tief durch und schließe für einen Moment die Augen. Als ich sie wieder öffne, bohrt sich Eris’ Blick mit neuem Nachdruck in meinen, macht mir nur allzu deutlich, was sie mir sagen will.

«Ja», murmle ich. «Das bedeutet Krieg.»

Kapitel Drei

Love into a Weapon

Florence

Ich versuche, einen kühlen Kopf zu bewahren. Noch ist mein Schicksal nicht entschieden, und mich von Benedicts Drohungen einschüchtern zu lassen, würde alles nur noch schlimmer machen. Doch als am Morgen nach seinem Besuch zwei Wachen in der Tür stehen, schnürt mir trotzdem lähmende Angst die Kehle zu. Die beiden Männer legen mir Handschellen an, fassen mich grob an den Armen und geleiten mich aus der Zelle, die Stufen des Towers hinunter bis in den Kerker.

Die Luft hier unten ist modrig, und je tiefer wir kommen, desto kälter wird es. Ein unkontrolliertes Zittern nimmt von mir Besitz, doch es liegt nicht an der Temperatur. Egal, wie stur ich das Kinn oben halte, ich bin nicht bereit für was auch immer gleich geschieht.

Wir erreichen eine verwitterte Eisentür, und ich wappne mich für das Schlimmste. Aber entgegen meinen Erwartungen befindet sich in dem Raum keine Folterkammer. Nur ein Tisch mit einem Stuhl. Und Benedict. Er wartet in dem niedrigen Kellergewölbe und mustert mich mit finsterem Blick. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen.

Die Wachen bugsieren mich weiter in den Raum hinein. Sie drücken mich auf den unbequemen Metallstuhl, und erst jetzt bemerke ich die zweite Person im Raum. Mein Inneres verkrampft sich noch mehr.

Lyra steht in der Ecke des Raumes. Ihr Gesicht ist unlesbar, ihre helle Haut wirkt blasser als sonst. Sie hat ihre dunklen Locken zu einem langen Zopf gebunden und trägt ein grünes Kleid, das unter normalen Umständen sicher ihre Augen betonen würde. Jetzt jedoch wirkt ihr Blick leer, irgendwie leblos. Benedicts Sakko liegt um ihre zierlichen Schultern und lässt sie so noch verletzter wirken als ohnehin schon.

Ihr Anblick schmerzt auf ebenso viele Weisen wie der von Benedict. Weil ich auch sie verraten habe, obwohl sie doch in all den Monaten nichts als freundlich mir gegenüber war. Weil ich auch sie in den letzten Tagen vermisst habe. Weil ich auch sie vielleicht niemals zurückgewinnen kann, auch sie womöglich für immer verloren habe.

Lyra schweigt, und ich wage es nicht zu sprechen. Stattdessen lasse ich widerstandslos zu, dass die beiden Wachen meine Handschellen an einem Haken in der Mitte der Tischplatte befestigen. Erst als die Tür hinter ihnen ins Schloss fällt, schaue ich von meinen gefesselten Händen auf.

Erneut huscht mein Blick zu Benedict. Er lehnt mit verschränkten Armen an der Wand und beobachtet mich. Diesmal ist er ganz in Schwarz gekleidet, und ich frage mich unweigerlich, ob er mir damit etwas sagen will. Er hat das Hemd ordentlich in seinen Gürtel gesteckt, doch die oberen beiden Knöpfe sind offen, die Ärmel hat er zurückgekrempelt. Darüber, was das bedeuten könnte, will ich lieber nicht zu lange nachdenken.

Endlich löst Benedict sich aus seiner Starre. Er tritt näher an den Tisch heran und umrundet ihn, bis er mir direkt gegenübersteht. Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht sehen zu können, doch sein Blick bleibt steinern. Fremd. Es ist, als trüge er eine Maske. Irgendwie schafft Benedict es, dass ich trotz all unserer gemeinsamen Zeit nicht mehr in seiner Mimik lesen kann. Und schon wieder weiß ich nicht, was ich empfinden soll. Reue? Zuneigung? Angst? Allmählich scheint es keine Emotion mehr zu geben, die dieser Mann nicht in mir auslöst, und sie alle gleichzeitig zu fühlen frisst mich langsam, aber sicher auf. Also konzentriere ich mich auf das, was sie alle überlagert. Den Schmerz in meiner Brust und das Bedürfnis, meine Fehler wiedergutzumachen. Wenn das hier ein Verhör ist, muss er mich auch sprechen lassen. Mir eine Chance geben, mich zu verteidigen.

Benedict stützt sich auf der Tischplatte ab und beugt sich zu mir herunter. Es kostet mich all meine Überwindung, seinem Blick standzuhalten. Die Erinnerung an gestern ist noch zu präsent, sitzt mir wie ein Stachel in der Brust, und ich muss meine Finger ineinander verschränken, um ihr Zittern zu verbergen.

«Ich erkläre dir jetzt, wie das hier funktioniert», sagt er leise, und seine vertraute Stimme, die doch so anders klingt als sonst, jagt mir einen Schauer über den Rücken.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, um meine Tränen zurückzuhalten, blinzle vehement gegen sie an. Falls Benedict sie bemerkt, ignoriert er es. Seine Miene bleibt hart. Im Gegensatz zu gestern lodert da nicht mal Zorn in seinen Augen. Er wirkt deutlich gefasster. Aber ist er das wirklich, oder ist es nur Fassade?

«Ich stelle die Fragen», fährt er seelenruhig fort. «Du antwortest. Wenn du die Wahrheit sagst und mir verrätst, was ich wissen will, sind wir in zehn Minuten fertig, ohne dass jemand leiden muss.»

Er lässt den Satz mit einem unheilvollen Unterton ausklingen, und ich schlucke.

«Wenn du mich aber anlügst …» Benedicts Hände auf der Tischplatte ballen sich zu Fäusten. Der einzige Beweis, dass auch ihm diese Situation nahegeht. «Wenn du mich anlügst, verspielst du auch noch das letzte bisschen meiner Gnade», schließt er.

Ich höre den Stoff von Lyras Kleid rascheln, wage es jedoch nicht, zu ihr zu schauen. Stattdessen fixiere ich Benedict, halte seinen Blick. Wir starren uns an, sein Gesicht immer noch so nah vor meinem, dabei kommt es mir vor, als würden wieder Welten zwischen uns liegen. Sechs Monate lang sind wir immer enger zusammengewachsen, und nun hat uns mein Verrat auseinandergerissen, als wäre nie mehr als Hass zwischen uns gewesen.

Der Mann, den ich liebe, droht mir. Und ich will ihm nicht glauben, dass er mir wehtun würde, doch er gibt sich so überzeugend, dass mir nichts anderes übrig bleibt.

«Hast du das verstanden?», fragt Benedict, seine Stimme mit einem Mal sanft. Sofort wird mein Herz weicher, doch ich bin nicht so naiv, ihm diesen Stimmungswechsel abzukaufen. Er versucht mich zu manipulieren. Und leider funktioniert es, obwohl ich mir dessen bewusst bin. Ich schätze, wenn es um ihn ging, war ich noch nie so stark, wie ich sein sollte.

«Verstanden», flüstere ich. Ich habe noch immer keine Ahnung, wie viel Benedict schon weiß. Ob er den Dolch unter den Bodendielen im Schlafzimmer gefunden hat. Ob Valerian nun geschwiegen hat oder nicht. Aber vermutlich ist es egal. Ich werde die Wahrheit sagen, einen anderen Weg gibt es ohnehin nicht. Selbst wenn ich dabei riskiere, mich noch tiefer in mein Verderben zu manövrieren – die Zeit der Lügen ist vorbei.

Doch was, wenn mir auch die Wahrheit nichts bringt? Wenn er mir nicht glaubt, weil er zu sehr in seiner Wut gefangen ist?

Benedict atmet tief durch, als müsste auch er sich hierfür wappnen. Sein Duft steigt mir in die Nase, und mit ihm fluten tausend Erinnerungen meinen Kopf. An seinen Körper unter meinem, an seine Finger auf meiner Haut und seine leise Stimme an meinem Ohr. An Benedicts seltenes Lachen und dieses Lächeln, das nur mir vorbehalten war. An alles, was ich nie wieder haben werde, wenn ich es nicht schaffe, sein Vertrauen zurückzuerlangen.

«Warum wolltest du als Blutbraut ins Schloss?»

Ausgerechnet diese Frage muss er zuerst stellen. Die vielleicht schlimmste von allen, weil ich die Antwort am liebsten selbst nicht mehr wahrhaben würde.

Ich zögere. Benedict starrt mich nieder. Und mit jeder Sekunde, die ich verstreichen lasse, zweifelt er vermutlich stärker an meiner Glaubwürdigkeit.

«Ich wollte dich töten», sage ich schließlich, und Lyra atmet hörbar aus. «Aber …»

«Weshalb?», unterbricht er mich. Es ist nur ein einziges Wort, doch Benedicts Stimme klingt nun anders als zuvor. Wut schwingt in ihr mit. Es ist, als würden meine Geständnisse schon jetzt an seiner Beherrschung zehren, die Fassade wieder zum Bröckeln bringen.

«Weil die Menschen unter der Vampirherrschaft leiden», antworte ich ihm leise.

Sein Gesicht verzieht sich flüchtig zu einer Grimasse, bevor er seine Miene wieder unter Kontrolle bekommt. «Also wolltet ihr mich ersetzen?», schlussfolgert er.

«Ich … weiß es nicht. Du solltest gestürzt werden», weiche ich aus. Unterdessen zieht sich mein Herz bei jedem Wort weiter zusammen.

«Und danach?», fordert er.

Hilflos zucke ich mit den Schultern. «Das weiß ich nicht genau.»

«Verarsch mich nicht. Du hättest nicht dein Leben riskiert, ohne einen Plan für danach zu haben.»

Seine Worte treffen einen wunden Punkt. Mir ist erst in den letzten Tagen klar geworden, wie verdammt naiv ich bisher war. Mein ganzes Leben lang. Ich habe zu wenige Fragen gestellt. Mich mit Vertröstungen statt Antworten zufriedengegeben. Und allein die Tatsache, dass mein Bruder mich derart problemlos hintergehen konnte, zeigt, dass ich meiner Familie zu bedingungslos vertraut habe.

«Bestimmt gab es einen Plan», gestehe ich leise. «Davon gehe ich zumindest aus. Aber ich wurde nie eingeweiht.» Ich hasse mich selbst dafür, dass diese Aussage stimmt. Auf meine Fragen haben meine Eltern immer nur geantwortet, wir würden sehen, was kommt, wenn dieser erste große Schritt hinter uns liegt. Doch je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass sie und Val mehr vor mir geheim gehalten haben, als ich realisiert habe. Zu viel. Alles, was ich nicht wissen musste, haben sie mir verschwiegen, und sicher gehörten dazu auch die Pläne für das, was nach der Sommersonnenwende passieren sollte.

Benedict mustert mich. Sein Mundwinkel zuckt unzufrieden, als wäre er sich nicht sicher, was er mir glauben soll. Dennoch lässt er das Thema vorerst ruhen. «Wie wolltest du deine Aufgabe erfüllen? Was war dein Plan, als du ins Schloss gekommen bist? Erklär es mir.»

Meine Augen beginnen zu brennen. Beinahe bringe ich die Wahrheit nicht über die Lippen, weil ich mich so für sie schäme, doch ich zwinge mich dazu, sie auszusprechen.

«Ich sollte dein Vertrauen gewinnen und dich in der Nacht vor der Sommersonnenwende im Schlaf töten.» Meine Stimme zittert, doch ich rede hastig weiter. Benedict und Lyra müssen alles hören. Nicht nur diesen Bruchteil. «Aber ich konnte es nicht! Bitte glaub mir wenigstens das. Seit ich …»

«Das habe ich nicht gefragt», unterbricht er mich scharf. Sein Gesichtsausdruck ist ihm entglitten. Mit einem Mal wirkt Benedict rasend vor Wut, und ich kann nicht verhindern, dass sich eine Träne aus meinem Augenwinkel löst und mir über die Wange rollt. Ich will sie wegwischen, doch die Handschellen halten mich klirrend zurück. Es ist fast, als wollten sie mich daran erinnern, wie aussichtslos meine Situation ist. Wenn Benedict mich nicht zu Wort kommen lässt, kann ich mich auch nicht verteidigen. Außer ich ignoriere seine Befehle und mache ihn damit noch wütender.

«Woher hattest du den Dolch?», fordert er.

Er weiß also davon. Und nun kommt der Teil, vor dem ich mich schon die ganze Zeit gefürchtet habe. Der, in dem ich nicht mehr nur meinen eigenen Verrat gestehe, sondern auch meinem Bruder noch mehr Schuld zuweise. Vermutlich ist meine Aussage ohnehin nicht mehr als der letzte Nagel in seinem Sarg, aber sie fühlt sich dennoch falsch an. Als wäre ich die schlimmste Schwester der Welt.

«Val hat ihn versteckt», flüstere ich.

«Wann?»

«Ich weiß es nicht genau. Im Winter vermutlich.» Meine Kehle schnürt sich immer enger zu, doch Benedicts Miene bleibt hart.

«Und was hättest du getan, nachdem du mich getötet hättest?»

«Das tut doch nichts zur Sache!», entkommt es mir erstickt, und Tränen tropfen von meinem Kinn auf die raue Tischplatte. «Weil ich es nicht getan habe! Ich konnte – ich wollte dich nicht mehr töten! Ich hatte meinen Plan geändert! Das an der Sonnenwendfeier …»

Benedict schlägt vor mir auf den Tisch und bringt mich so zum Schweigen. «Zwing mich nicht, die Frage zu wiederholen!», fährt er mich an.

Verdammt, wie kann er so kalt bleiben, während ich kurz vorm Zusammenbrechen bin? Ich hasse es, ihn so hasserfüllt zu erleben.

Mit Mühe schlucke ich meine Erklärungen hinunter. Vorerst. Er darf diesen Raum nicht verlassen, ohne sie gehört zu haben. «Val hätte mich rausgeholt», presse ich hervor und unterdrücke ein Schluchzen. Die Erinnerung an meine letzte Nacht mit Benedict ist besonders schmerzhaft. An diesem Abend war es unmöglich zu übersehen, wie er wirklich ist. Wie rücksichtsvoll, wie zärtlich, wie perfekt. Ich habe ihm meine Liebe gestanden, er mir seine. Und nur wenige Stunden später habe ich über ihm gekniet, einen Dolch in der Hand, die Spitze der Klinge zwischen seinen Rippen.

Ich war so kurz davor, es zu tun. So kurz davor, die Ansichten meiner Familie mein Leben zerstören zu lassen. Und als ich schließlich zitternd wieder in seinen Armen lag, die Waffe sicher unter den Dielen verstaut, seinen gleichmäßigen Atem im Ohr, dachte ich, ich hätte soeben den größten Fehler meines Lebens verhindert.

Aber dem war nicht so. Der Schaden war längst angerichtet, mein Schicksal schon lange besiegelt. Schon seit Benedict mich zu seiner Blutbraut gewählt hat, war ein Happy End unmöglich. Unsere Geschichte hätte immer hier geendet, weil nicht ich diejenige war, die die Entscheidungen getroffen hat, sondern meine Familie.

«Wie hätte dein Bruder dich rausholen sollen?», will Benedict wissen. Trotz seiner nun wieder eisernen Fassade meine ich, Schmerz in seinen Augen durchschimmern zu sehen. Oder bilde ich ihn mir nur ein, weil ich ihn sehen will? Weil ich mir so sehr wünsche, dass er noch Gefühle für mich hat?

«Ich weiß es nicht», bringe ich heraus. «Ich sollte eine Kerze ins Fenster stellen und warten.»

Benedict entweicht ein ungläubiges Schnauben, und er schüttelt den Kopf. «Entweder du bist eine furchtbare Lügnerin oder sehr viel naiver, als ich dachte.»

Ich blinzle verwirrt. «Warum?»

«Niemand hätte es geschafft, dich unbemerkt aus diesem Anwesen zu holen. Ich habe sämtliche meiner Wachen darauf angesetzt, dich um jeden Preis zu beschützen. Und du hast ernsthaft gedacht, dein Bruder könne dich retten, nur weil er ein halbes Jahr zuvor, als nur ein Minimum an Wachposten besetzt waren, einen Dolch dort versteckt hat?»

«Ich …» Benedicts Worte ziehen mir den Boden unter den Füßen weg. Weil er recht hat. Ich habe nicht mal in Erwägung gezogen, dass Val scheitern könnte. Er hat es mir mit einer solchen Überzeugung versprochen, dass ich nicht daran gezweifelt habe. Was, wenn auch das Teil des Plans war? Wenn er nie wirklich vorhatte, mich zu retten?