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Er setzt alles daran, das namhafte Gin Unternehmen seiner Familie über Wasser zu halten. Sie verfügt über die Rohstoffe, die er benötigt. Doch ihre Familien sind seit Generationen verbissene Rivalen. Dynastie-Erbe Bastiaan Brouwer kehrt nach Bloem zurück. Die Destillerie steht vor dem Aus, das Band zu seinen Geschwistern ist zerrissen. Dennoch setzt er alles daran, das Vermächtnis zu retten. Als Merel Smit auftaucht, mit Narben, die niemand sieht, erkennt Bastiaan in der Tochter des Konkurrenten jemanden, der seine Seelenschatten nicht fürchtet, sondern teilt. Ihre Nähe ist gefährlich. Ihre Gefühle verboten. Doch das Verlangen ist stärker als jede Warnung. Je näher sie sich kommen, desto tiefer geraten sie in ein Netz aus Schuld, Pflicht und Verrat. Und zwischen alten Wunden und neuen Gefahren lauert ein Geheimnis, das alles zu zerstören droht. In dieser Familie hat jeder etwas zu verbergen. Ein riskanter Plan. Eine verheerende Lüge. Eine explosive Mischung aus Leidenschaft und Konflikt. »The Rivals We Kiss« ist eine Forbidden Love Romance mit einer gehörigen Portion Spice. Alle Bände der New Adult Romance »Brouwen Dynasty«: The Lies We Hide (Band 1) The Secrets We Live (Band 2) The Rivals We Kiss (Band 3) Die drei Bände sind keine Standalones und bauen aufeinander auf.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
ImpressDie Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.
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Kate Corell
The Rivals We Kiss (Brouwen Dynasty 3)
Er setzt alles daran, das namhafte Gin Unternehmen seiner Familie über Wasser zu halten. Sie verfügt über die Rohstoffe, die er benötigt. Doch ihre Familien sind seit Generationen verbissene Rivalen.
Dynastie-Erbe Bastiaan Brouwer kehrt nach Bloem zurück. Die Destillerie steht vor dem Aus, das Band zu seinen Geschwistern ist zerrissen. Dennoch setzt er alles daran, das Vermächtnis zu retten. Als Merel Smit auftaucht, mit Narben, die niemand sieht, erkennt Bastiaan in der Tochter des Konkurrenten jemanden, der seine Seelenschatten nicht fürchtet, sondern teilt. Ihre Nähe ist gefährlich. Ihre Gefühle verboten. Doch das Verlangen ist stärker als jede Warnung. Je näher sie sich kommen, desto tiefer geraten sie in ein Netz aus Schuld, Pflicht und Verrat. Und zwischen alten Wunden und neuen Gefahren lauert ein Geheimnis, das alles zu zerstören droht.
In dieser Familie hat jeder etwas zu verbergen.
Ein riskanter Plan. Eine verheerende Lüge. Eine explosive Mischung aus Leidenschaft und Konflikt. »The Rivals We Kiss« ist eine Forbidden Love Romance mit einer gehörigen Portion Spice. Die Rivals To Lovers-Liebesgeschichte zwischen Bastiaan und Merel ist kein Standalone und der dritte Band der Brouwen Dynasty-Trilogie von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Kate Corell.
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Vita
Gedicht
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Cocktailkarte
Content Note
© privat
Kate Corell liebt Charaktere mit Ecken und Kanten, unvorhergesehene Plottwists und das Umgehen literarischer Regeln. Wenn sie nicht gerade am nächsten Roman schreibt, besucht sie Konzerte, reist durch die Welt oder genießt gutes Essen. Sie lebt mit ihrer Familie sowie zwei verrückten Bulldoggen in der Nähe von Leipzig. Ihre »Never Be«-Romance-Serie machte sie zur SPIEGEL-Bestseller-Autorin.
Zwischen den Zeilen, verborgen im Schatten des Narren, lauert die Wahrheit – kaum hörbar, kaum spürbar, dennoch sichtbar.
Der Gin ist kristallklar, rein wie eine unbedachte Frage, kalt wie eine Lüge, süß wie ein Versprechen. Das Glas wird langsam zu den Lippen gehoben, wo die kühle Flüssigkeit Haut streift, bevor sich ihre Wärme sachte im Inneren ausbreitet. Nicht mehr als ein einsamer Trost in einer Welt voller falscher Sicherheiten. In diesem Moment schwingt besseres Wissen mit, denn jeder Tropfen birgt ein Geheimnis. Jeder Schluck verspricht das Rätsel zu lösen.
Die Geschichte entfaltet sich, so wie der Nebel, der träge über die Grachten von Amsterdam kriecht, schön in seiner Täuschung, doch trügerisch still. In ihren Gassen ist nichts sicher. Gut und Böse spielen keine Rolle. Hier gilt nur das, was jemand bereit ist zu geben, und das, was am Ende verloren geht.
Das Glas wird zweimal geleert, dann abgestellt. Der Blick hebt sich, und dort steht eine Gestalt, bereit, die Erzählung von vorne zu beginnen.
Ein stummer Befehl liegt in der Luft: Setz dich. Trink. Hör zu. Denn alles beginnt mit einem Fehler, der keiner sein sollte, und einer Wahrheit, die niemand auszusprechen wagt. Mit einem Namen, einer Entscheidung, einem Moment, der wie ein Flügelschlag das Unvermeidliche entfesselt. Ein Spiel aus Loyalität und Verrat, Schuld und Begierde nimmt seinen Lauf. Die Regeln bleiben unsichtbar, die Spieler zahlreich, doch am Ende kann nur einer gewinnen: derjenige, der am besten zu lügen versteht.
Die Stimme, dunkel und verführerisch, zieht den Zuhörer tiefer in die Schatten einer Welt aus Macht und Schuld, aus Lügen, die längst zu Wahrheiten geworden sind, und Wahrheiten, die besser im Dunkeln geblieben wären.
Ein weiteres Glas folgt. Ein weiteres Spiel beginnt. Ein weiteres Opfer ist gewiss.
Vor mir liegt ein Buch voller Erinnerungen …
BASTIAAN
Bloem Kasteel, Bloemdaalen
Der Boden unter meinen Füßen fühlt sich fremd an, als hätte ich das Recht verloren, über ihn zu gehen. Es kommt mir vor, als wäre ich eine Ewigkeit nicht hier gewesen, doch auf Bloem hat sich die Erde weitergedreht. Ohne mich. So als wäre ich nicht mehr als eine Schattenfigur. Nicht nötig, um alles aufrechtzuerhalten. Dabei habe ich genau das all die Jahre getan. Nun komme ich mir wie ein Eindringling vor, der hier ist, um die Idylle zu stören, die sich vor ihm erstreckt.
Die letzten Monate haben mich zu einem anderen Menschen gemacht. Eingesperrt in einer Zelle, zwischen Mauern, die nach Schuld und Scham rochen, war ich gezwungen, jede Entscheidung, jedes scharfe Wort, jeden verfluchten Moment mit meinem Vater wieder und wieder zu durchleben. Es war wie ein Gratisticket in die Hölle, ohne Rückfahrschein. Mir war nicht klar, wie sehr man einen Menschen verachten kann, wenn man nur genügend Zeit mit ihm allein verbringt. Und sei es nur, dass er sich durch deinen Verstand frisst.
Vater – dieses Wort fühlt sich befremdlich an. Weil Piet Brouwer nicht mein Vater ist. Uns verbindet nicht mehr als ein Nachname und eine Vielzahl beschissener Erinnerungen und Fehlentscheidungen. Seine. Meine. In Summe haben sie uns dieses Dilemma eingebrockt.
Als ich das Ende der Einfahrt erreiche, nimmt mich niemand in Empfang. Niemand weiß, dass Cliffords Staranwältin heute Morgen tatsächlich meine Freilassung durchgesetzt hat. Sie ist meinem Wunsch nachgekommen, alles ohne großes Aufsehen abzuwickeln.
Ich biege in den Garten, laufe entlang der Hecken, die frisch gestutzt sind, und streiche derweil mein Sakko glatt. Lorena hat mir einen Anzug besorgt, damit ich nicht wie ein Vagabund in Bloem aufschlage.
Mit Blick auf die Szenerie vor mir atme ich kurz durch. Der Anblick trifft mich härter als erwartet. Weiße Stühle, Blumenarrangements, die sich in der sanften Nachmittagsbrise wiegen, und ein blühender Rosenbogen. Ich kann Demy und Leen sehen. Für diesen kurzen Moment kommt die Welt zum Stillstand, damit ich jedes Detail aufnehmen kann – die Farben der Blumen, das Lachen der Gäste, die Stille meiner Gedanken. Ich spüre, wie meine Schritte langsamer werden.
Eine ältere Dame mit rosa Haar entdeckt mich als Erste. Sie verschafft sich bei der Brünetten neben sich Gehör, die in meine Richtung sieht und von ihrem Stuhl aufspringt. Nika. Keine Ahnung, wie viele Jahre wir uns nicht gesehen haben, aber sie geht zu Leen, der sich sofort nach mir umsieht. Das ist der Augenblick, in dem Unruhe entsteht, die den Moment des Glücks zerstört.
Demy bemerkt das Getuschel der Gäste hinter sich und wirft einen Blick über die Schulter.
Ein Teil von mir will sich umdrehen und in die Schatten zurückkehren, aus denen ich gekommen bin. Doch als Demy, gefolgt von Leen, auf mich zueilt, zwinge ich mich, weiterzugehen.
Mit dem Wiedersehen gehen Fragen einher. Fragen, von denen ich keine einzige beantwortet habe.
Bis jetzt.
»Es ist wirklich wahr«, sagt Demy, als sie vor mir stehen bleibt. Ihre Stimme zittert, ihre Augen sind geweitet, so als sähe sie einen Geist. Und vielleicht bin ich genau das – eine Erscheinung, die aus der Vergangenheit heraufbeschworen wurde, um in dieser makellosen Unbeschwertheit Unordnung zu stiften.
»Hallo, Tausendschön.« Meine Stimme ist rauer als beabsichtigt. Worte sind schwer, wenn sie viel zu dicke Mauern durchbrechen müssen. Ich halte ihrem Blick stand, während sie mich mustert. Auf ihre Lippen schiebt sich ein zögerliches Lächeln, das schließlich in ein breites Strahlen übergeht. Und plötzlich werde ich zu dem Wunder, auf das sie nicht zu hoffen gewagt hatte. Aber was, wenn ich der Untergang bin? Wer wird dann die Rettung bringen?
»Baas«, flüstert Demy und macht dann einen Schritt auf mich zu. Ihre Umarmung ist so vertraut, dass mir beinahe die Luft wegbleibt, doch ich lasse sie zu. Mein Herzschlag wird schneller, als mich ihre Wärme umhüllt.
»Hallo, Leen«, sage ich, als er sich zu uns gesellt. Seine Miene ist irgendwas zwischen Freude, Überraschung und einem Hauch von Vorsicht. Doch dann legt er eine Hand auf meine Schulter und zieht mich in eine Umarmung, die fester ist, als ich erwartet hätte.
»Willkommen zurück, Bruderherz«, sagt er, und seine Stimme klingt rau vor Emotionen, die er nicht unter Kontrolle hat. »Ich kann es nicht glauben.«
Kopfschüttelnd löse ich mich von ihm. »Ich auch nicht«, gebe ich ehrlich zu und blicke in ihre Gesichter. Es ist zu viel. Die Wärme in Demys Blick, die Erleichterung in Leens Lächeln. Nichts dergleichen verdiene ich, am wenigsten ihre Vergebung.
Demy wischt sich eine Träne von der Wange und lacht leise, als sie meinen Blick einfängt. »Lorena hat dich nach Hause gebracht. Es ist so schön, dich wiederzuhaben. Baas, du siehst …« Sie hält inne, als würde sie nach den richtigen Worten suchen. »Du siehst gut aus«, endet sie schließlich, obwohl wir beide wissen, dass das nicht stimmt. Aber ich lasse ihr die Lüge durchgehen. »Du kommst genau richtig«, fügt sie hinzu und wirft verstohlen einen Blick über ihre Schulter.
»Sieht aus, als gäbe es etwas zu feiern.« Ich zwinge ein Lächeln auf meine Lippen und nehme das Arrangement genauer in Augenschein. Die weißen Tische, die blühenden Rosensträucher und die Lichterketten, die sanft im Wind tanzen, verwandeln den Ort in einen längst vergessenen Traum. Das Lachen der Gäste, das Klirren von Gläsern und das Summen der leichten Sommerbrise schaffen eine Atmosphäre, die beinahe surreal wirkt. Weil sich alles hieran so verdammt vertraut anfühlt. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter und halte krampfhaft an meinem Lächeln fest.
»Ja, unseren Neuanfang«, sagt meine Schwester hoffnungsvoll. Als wäre es keine Lüge und ich vom Gericht längst freigesprochen.
Mein Blick wandert suchend über die Menge, bis ich ihn mit einem offenen Lächeln und einem Glas in der Hand entdecke. Riek Clifford strahlt eine natürliche Gelassenheit aus, die in anderen Sympathie und Vertrauen weckt. Als er meinen Blick bemerkt, sieht er zu mir, und ein selbstgefälliges Grinsen erscheint auf seinen Lippen. Der Mistkerl hat meine Rückkehr ausgeplaudert und damit maßgeblich zu diesem Spektakel beigetragen. Aber was habe ich erwartet? Lorena Santos arbeitet für ihn, ich bin lediglich ihr Prestigeprojekt, um auf der Karriereleiter noch etwas höher zu klettern. Und doch erwidere ich sein Grinsen für den Moment, bevor ich mich wieder auf meine Geschwister fokussiere.
»Demy hat es sich nicht nehmen lassen, diesen Zauber zu veranstalten«, gibt Leen mir zu verstehen, dass ich dieses abstruse Szenario aus unschuldigem Weiß, gespickt mit Purpur, Azur und Sonnengelb, würdigen sollte.
Ich nicke langsam, während die Erinnerung mich heimsucht. Unsere Mutter hat genau solche Feste veranstaltet, die von ihrer zwanglosen Eleganz lebten. Sie brachte Menschen zusammen, damit sie für einen Weile ihre Sorgen vergaßen. Dabei war sie selbst der einsamste Mensch, der sich unter ihnen befand. Und jetzt sehe ich Demy hier stehen, mit demselben entschlossenen Ausdruck im Gesicht, mit dem unsere Mutter den Schein der perfekten Familie aufrechterhalten hat. Aber ich mache ihr keinen Vorwurf, wir alle haben es nicht anders gelernt.
»Zu viel?«, fragt sie zögernd, vermutlich weil sie weiß, dass ich die Willkommensparty zu meinen Ehren über mich ergehen lassen würde, auch wenn ich nicht um sie gebeten habe.
»Erinnert mich an … früher.« Wir reden nie über unsere Mutter, und in den vergangenen Monaten habe ich mich oft gefragt, warum wir die Erinnerung an sie aus unseren Gesprächen verbannt haben. Aus Selbstschutz oder weil er uns dazu zwang, die Frau zu vergessen, die uns das Leben geschenkt hat. »Mama hätte das hier geliebt«, füge ich hinzu, weil ich nicht vorhabe, länger so zu tun, als hätte sie nie existiert.
Die Welt um uns herum erstarrt, während die Vergangenheit und die Gegenwart sich überlappen. Als müsste sie sich selbst erst noch daran gewöhnen, dass wir drei hier vereint stehen und nichts mehr so ist, wie es einst war. Wir haben uns verändert … jeder für sich. Während mein Bruder befreit wirkt, beunruhigt mich der tief schuldige Ausdruck in den Augen meiner Schwester. Wenn ich in den Spiegel sehe, erkenne ich den Kerl nicht, der mir entgegenblickt. Weil er eine gebrochene Person ist, die mit dem Monster unter seinem Bett einen Pakt geschlossen hat.
Leen sieht zwischen uns hin und her, räuspert sich, um die Stille zu brechen. »Ja, hätte sie, und uns anschließend zum Aufräumen verdonnert, damit wir lernen, Jeffrey wertzuschätzen«, sagt Leen und lacht leise.
Ich kann mich nicht erinnern, wann mein Bruder zuletzt gelacht hat. Ob er es nach dem Tod unserer Mutter jemals getan hat. Demy fällt in sein Lachen ein – ich nicht.
»Na los«, treibt uns Leen an.
Demy lächelt sanft, und in ihrem Blick liegt eine Mischung aus Angst und Melancholie. Auch das kann ich ihr nicht verübeln, die Zukunft dieser Familie ist eher betongrau als rosig.
Der Anblick der Tische, die Gäste, die fröhlich plaudern, und die liebevollen Details in der Dekoration wecken weitere Erinnerungen. Unsere Mutter hätte Demy gelobt, das weiß ich. Sie hätte eine Hand auf ihre Schulter gelegt und gesagt: »Gut gemacht, meine Kleine«, während unser Vater Demy darauf hingewiesen hätte, dass die Hecken nicht akkurat gestutzt sind, die Ausrichtung der Tafel nicht den perfekten Blick auf die Felder von Bloem bietet und den Sonnenuntergang ungenügend einfängt.
Ich hasse mich dafür, dass mir die Unstimmigkeiten auffallen, die diese perfekte Inszenierung Lügen strafen. Weil es mir zeigt, dass ich ihm in meinem Denken viel zu ähnlich bin und er mir wie ein Schatten folgt. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn jemals werde abschütteln können.
Als wir uns der Tafel nähern, entdecke ich unbekannte Gesichter. Keine vermeintlichen Freunde der Familie oder Geschäftspartner, die sich nur deshalb hier eingefunden haben, weil es der Anstand verlangt. Gerade wären die mir allerdings lieber, weil ich mit ihnen umgehen könnte. Im geschäftlichen Händeschütteln und Business-Small-Talk bin ich exzellent, private Konversationen reizen mich hingegen selten.
Ein älterer Herr mit einem Glas Rotwein in der Hand hebt überrascht eine Augenbraue, bevor ein breites Lächeln sein Gesicht erhellt. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer er ist, aber seine Kleidung von der Stange macht deutlich, dass er zur Mittelschicht gehört. Bei genauerer Betrachtung fällt mir auf, dass das auf alle Anwesenden zutrifft. Außer auf den Kerl, der gerade auf uns zukommt. Riek bedenkt mich mit einem unauffälligen Nicken, bevor er neben meine Schwester tritt, einen Arm um ihre Taille legt und sie auf die Schläfe küsst.
Ich presse die Kiefer aufeinander und stelle mich einer Reihe erwartungsvoller Gesichter, lasse meinen Blick über die Menschen gleiten, die mich neugierig beobachten oder vorsichtig, vielleicht auch ein bisschen skeptisch. Mein Herz schlägt schwer in meiner Brust, mir ist klar, dass ich etwas sagen muss. Schließlich bin ich nicht nur irgendein unerwarteter Gast, sondern der verlorene Teil des Puzzles, das sich hier gerade neu zusammensetzt. Ob ich hineinpasse, ist eine andere Frage.
Ich räuspere mich, zögere einen Moment und beginne dann: »Ich nehme an, ich muss mich nicht vorstellen. Hätte ich gewusst, dass mich eine Party erwartet, hätte ich eine Rede vorbereitet. Aber ich hätte damit rechnen sollen, dass Demy mich nicht zur Hintertür hineinschleichen lässt …«
Leises Gelächter, höflich und zurückhaltend. Aber das genügt mir. Schließlich weiß niemand von ihnen, mit wem sie es zu tun haben. Ob ich ein Mörder bin oder nicht. Ich schätze, solange das Gericht niemanden für schuldig erklärt, muss jeder diese Frage für sich selbst beantworten. Denn eins steht fest: Die Wahrheit entspricht dem, was sich beweisen lässt, alles andere bleibt reine Spekulation.
»Um ehrlich zu sein … hatte ich nicht erwartet, heute hier zu stehen.« Ich lasse meine Worte kurz wirken, atme tief durch und zwinge mich, meinem Publikum in die Augen zu sehen. Hinter mir liegen unzählige Meetings, in denen es darum ging, den Namen Brouwer zu verkaufen, aber zum ersten Mal habe ich das Gefühl, er ist nichts wert. Weil ich hier als Mensch und nicht als Marke bewertet werde.
»Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Ich weiß nicht, ob ich hier bin, um zu bleiben, oder nur, um ein paar Dinge …« Ich halte inne, suche nach etwas Unverfänglichem. »… in die rechten Bahnen zu lenken. Aber ich weiß, dass ich heute Abend hier bin. Bei meiner Familie. Und für den Anfang ist das mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte.«
Für einen Moment ist es still, nur das leise Rascheln der Blätter in der Sommerbrise ist zu hören. Leen hebt sein Glas. Nach und nach tun die anderen es ihm gleich.
»Willkommen zurück«, sagt Leen, und kurz darauf ertönen seine Worte im Chor.
Nika kommt mit einem Tablett auf uns zu. Auch wenn es mir nicht zusteht, weil sie die Freundin meines Bruders ist, fällt mir auf, dass sie noch hübscher geworden ist. »Es ist so schön, dass du wieder zu Hause bist. Du wurdest sehr vermisst.« Ihre Worte sind aufrichtig. Nika de Jong hatte schon immer die Eigenschaft, dass man sich in ihrer Nähe wahrgenommen fühlt. Nur leider auch entblößt, weil sie etwas zu genau hinsieht. So wie in diesem Augenblick. Während ich Nika das Glas abnehme, spüre ich, wie sich ein Knoten in meiner Brust bildet und quälend langsam zusammenzieht.
»Und mich freut es, dich nach all den Jahren wieder auf Bloem begrüßen zu dürfen.« Fuck, das klingt wie eine Floskel. Aber ich gebe zu, ich hätte gerne die Möglichkeit gehabt, mich auf einen derartigen Empfang vorzubereiten.
Als Leen mir aufmunternd auf die Schulter klopft, schleicht sich ein Grinsen auf ihre Lippen, und ich wüsste gerne, was genau er mir mit der Geste sagen will. Vielleicht, dass das Schlimmste überstanden ist. Da muss ich ihn allerdings enttäuschen, denn es steht uns erst noch bevor. Lorena hat mich aus der Untersuchungshaft geholt, ein freier Mann bin ich dennoch nicht. Die Entscheidung fällt in neunzig Tagen, bis dahin bin ich auf Bloem nicht mehr als ein Gast auf Zeit.
Die nächste Stunde verbringe ich damit, mich vorzustellen und Hände zu schütteln. So recht weiß ich nicht, was ich von den Anwesenden halten soll. Sie passen nicht in die Welt hinein, die mir anerzogen wurde. Keiner von ihnen hat auch nur den geringsten Nutzen für mich.
»Also, wenn du mal irgendwo hinmusst, ich bin so etwas wie der Chauffeur der Familie«, sagt Rob, der sich vor wenigen Minuten als Taxifahrer geoutet hat. Seine Frau Tara besitzt ein kleines Café in Amsterdam und ist die Schwester von Freya, der älteren Dame mit den rosa Haaren, die mir vorhin schon aufgefallen ist. Ihr gehört ein Mehrfamilienhaus im Szeneviertel De Pijp, in dem ein Großteil der Gäste wohnt. Meinen Bruder eingeschlossen, da er inzwischen bei Nika eingezogen ist. Zusätzlich hat Freya einen Obst-und-Gemüse-Stand auf dem Albert-Cuyp-Markt. Ich glaube, ich war noch nie in diesem Teil von Amsterdam. De Pijp gehört nicht zu den Vierteln, in denen ich mich bewege.
Ich sehe zu der Schwarzhaarigen, die mich noch immer argwöhnisch mustert, also entschuldige ich mich bei der kleinen Gruppe und gehe zu ihr.
»Bastiaan«, stelle ich mich vor und strecke ihr die Hand entgegen. Sie zögert, gleichzeitig neigt sie den Kopf zur Seite. »Es ist seltsam, sich vorzustellen, wenn die ganze Welt weiß, wer man ist, man selbst aber nicht die leiseste Ahnung von seinem Gegenüber hat«, wage ich mich etwas vor, um ihr die Skepsis zu nehmen.
»Mmh, ich finde es seltsam, auf einer Party zu sein, deren Ehrengast sich am liebsten in Luft auflösen will.«
Mit der Antwort entlockt sie mir tatsächlich ein Lächeln. »So offensichtlich?«
»Ja. Demy hat sich so viel Mühe gegeben. Also mach dich locker, niemand von uns verkauft Fotos deiner Willkommensparty an die Presse, damit die eine Schlagzeile haben.«
»Das ist beruhigend«, antworte ich ehrlich. Denn ich würde es gerne noch etwas hinauszögern, dass sich Reporter vor dem Tor positionieren, um ihre Story zu bekommen.
»Selma.« Sie ergreift nun doch meine Hand und schüttelt sie kräftig. »Nikas beste Freundin. Vierundzwanzig, Business-Management-Studentin mit einer Schwäche für Süßkram und einem schlecht bezahlten Nebenjob in einer Parfümerie. Wohnhaft in Amsterdam. Vorübergehend single.«
Fragend hebe ich eine Braue, weil ich nicht ganz schlau daraus werde, was genau das hier wird.
»Es ist kompliziert. Pablo wollte, dass wir zusammenziehen, aber ich –« Als sie meine Verwirrung bemerkt, hält sie inne. »So genau willst du es gar nicht wissen, oder?«
»Nein, die Eckdaten reichen fürs Erste«, erwidere ich und grinse sie an.
»Okay, dann ist nur wichtig, dass ich mit Demy befreundet bin. Leen versuche ich noch zu knacken, damit ich es auf seine Freundesliste schaffe.«
»Viel Glück.« Ich bezweifle, dass mein Bruder eine derartige Liste besitzt. Was auch auf mich zutrifft.
Der Grund, warum hier niemand auf mich wartet, ist, dass ich Lieferanten und Speditionsfirmen auf der Kurzwahltaste habe. Ich hatte schlichtweg nie Zeit, Freundschaften zu knüpfen. Mein Lebensinhalt bestand aus Arbeiten und – ich sehe zu Demy – ihr.
»Du musst nicht antworten, aber hast du deinen –«
»Selma«, sagt Nika, die ich nicht habe kommen sehen, nun neben ihrer Freundin, bevor die ihre Frage an mich richten kann. »Wo ist der Blaubeersaft?«
»Der steht auf dem Tisch«, antwortet Selma, ohne den Blick von mir abzuwenden.
»Nein, da ist er nicht.«
»Klar, ich sehe ihn von hier.«
»Vielleicht kommst du kurz mit und zeigst mir, wo du ihn hingestellt hast.«
»Hey, ich unterhalte mich gerade«, protestiert Selma, als Nika sie in Richtung der provisorisch aufgestellten Bar schiebt. Über die Schulter bedenkt sie mich mit einem entschuldigenden Blick, und ich atme erleichtert auf.
Etwas abseits entdecke ich Riek, der zwischen zwei Rosenbüschen verschwindet. Ich folge ihm um das Haupthaus herum. Beim Brunnen bleibt er stehen und setzt sich auf eine der Steinstufen.
Er bemerkt mich, noch bevor ich näher komme. »Habe gehört, der hier sei einer der Besten der Welt.« Er hält ein Tumbler-Glas in die Höhe, dessen kristallklarer Inhalt das Licht der Abendsonne einfängt und fälschlich golden schimmert.
Einen Augenblick lang bleibe ich vor Riek stehen, sehe auf ihn hinab. Dann ermahne ich mich, dass diese Art von Machtspielchen überflüssig ist. Wir kennen einander vielleicht nicht, aber wir verfolgen dasselbe Ziel. Er will ebenso wenig wie ich das Ansehen eines Namens zerstören, der so viele Türen öffnet. Ob nun für den guten Zweck oder fürs Geschäft. »Und du siehst aus, als könntest du ihn vertragen.«
»Durchaus.« Ich nehme das Glas und fühle das Gewicht des Kristalls in meiner Hand. Dann setze ich mich zu Riek.
Er stößt sein Glas gegen meins. »Aus hundert Kaninchen wird niemals ein Pferd und aus hundert Verdachtsgründen niemals ein Beweis.«
»Hoffen wir, du behältst recht und das Ganze wird nicht zu einer dilettantischen Dostojewski-Imitation«, erwidere ich zynisch.
Erstaunt zieht Riek eine Augenbraue hoch, während er einen Schluck aus seinem Glas nimmt. »Du hast es gelesen?« Sein Blick bleibt an meinem Gesicht haften, als wolle er jede noch so kleine Regung deuten. Aber ich gebe ihm nichts. Noch bin ich mir nicht sicher, auf welcher Seite er steht.
»Ich hatte viel Zeit.« Die Eiswürfel in meinem Glas klirren leise, als ich es an die Lippen führe. Ein Geräusch, das belanglos scheint, sich aber vertraut anfühlt. Genau wie der kräftige Geschmack von Wacholder und Zitrus. Simpel und dennoch ein Meisterwerk in seiner Komposition. Eine Symphonie, die uns nur berührt, solange jede Note stimmt. »Es ist der Beste der Welt«, gebe ich zufrieden von mir, als der Gin meine Kehle hinabrinnt.
»Warum hast du deine Meinung geändert?«
Eine berechtigte Frage, wenn man bedenkt, dass ich ihn zum Teufel gejagt habe, als er mir vor Wochen im Gefängnis einen Besuch abgestattet hat, um mir zu raten, ich solle Ludwig Wolters als meinen Anwalt feuern. Ludwig kannte ich mein Leben lang, Riek keine fünf Minuten, und doch bin ich seiner Bitte nachgekommen, als Demy mir in diesem kahlen, trostlosen Raum gegenübersaß und mich stumm anflehte, die Wahrheit zu sagen.
Für einen Moment lasse ich das Glas in meiner Hand kreisen, beobachte, wie die Flüssigkeit darin sanft herumwirbelt. »Hätte Demy dir nicht vertraut, wärst du nicht mal in ihre Nähe gekommen.«
»Ich dachte, mein Charme hätte dich zur Vernunft gebracht.«
»Und ich kann mich nicht daran erinnern, dich gebeten zu haben, Demy einen Ring an den Finger zu stecken, als ich meinte, du sollst sie beschützen«, erwidere ich bissig, weil mir der Gedanke noch immer nicht gefällt.
»Wir beschützen, was wir lieben, oder nicht?«
Ja, ich habe nie etwas anderes getan. »Auf mich trifft das zu, aber auch auf dich?« Ich wende den Blick ab, richte ihn in die Ferne.
Riek beugt sich leicht vor, stützt die Unterarme auf seine Knie, während er mich eindringlich von der Seite mustert. »Ich bin hier, weil ich sie liebe. Und du, weil ich weiß, dass Leen und Demy dich brauchen. Du bist ihr Bruder. Deswegen hat Lorena dich aus dem Knast geholt. Bring mich nicht dazu, die Entscheidung zu bereuen. Denn ich werde nicht zögern, dich zurückzuschicken, solltest du zur Gefahr werden.«
Darauf erwidere ich nichts, nehme stattdessen einen weiteren Schluck. Die Stille dehnt sich, bis Riek sein Glas leert und aufsteht. »Deine Geschwister haben die vergangenen Monate für all das hier gekämpft. Für dich. Für eure Familie. Die Frage ist, ob du das auch kannst.« Mit diesen Worten lässt er mich allein.
Diese Familie ist ein Kartenhaus, das auf einem Fundament aus Lügen fußt. Ich bin der Sturm, der an den Karten rüttelt, weil er all ihre Geheimnisse kennt.
Und während ich mich vor der Party drücke, ein Glas in der Hand, die Sommerbrise im Gesicht, wird mir klar, dass ich vielleicht nicht hätte zurückkommen sollen.
… ein Märchen, in dem die Guten büßen und die Bösen triumphieren …
BASTIAAN
Bloem Kasteel, Bloemdaalen
NOCH 89 TAGE
Als ich ein leises Klopfen gegen den Türrahmen vernehme, hebe ich den Blick von den Unterlagen.
»Was machst du hier? Demy meinte, du hättest dich hingelegt.«
»Ja, aber ich konnte nicht schlafen.«
Leen betritt das Büro. »Verstehe.« Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich versteht, wie es ist, wenn man zu viele Nächte auf vier Quadratmetern und einer betonharten Pritsche verbracht hat. Wenn die Wände mit Einsetzen der Dunkelheit näher kommen und dein eigener Atem alles ist, was du wahrnimmst, weil es um dich herum totenstill ist.
»Bring mich auf den aktuellen Stand«, bitte ich meinen Bruder und bedeute ihm, sich hinzusetzen.
»Willst du nicht erst mal zur Ruhe kommen, statt dich direkt in Arbeit zu stürzen?«
Ich lehne mich im Schreibtischstuhl zurück. »Ich habe Monate mit Däumchendrehen verbracht, also –«
»Baas«, unterbricht er mich und sieht mich tadelnd an, »ich meine es ernst. Fahr ein paar Tage raus, geh klettern oder was auch immer du tust, um den Kopf freizubekommen, aber halt dich vom Schreibtisch fern.« Demy mag aussehen wie unsere Mutter, aber Leen birgt ihr Wesen in sich. Unweigerlich taucht der Gedanke auf, wessen Gesicht ich trage. Seit ich weiß, dass ich den Namen Brouwer zu Unrecht trage, frage ich mich hin und wieder, welcher mir rechtmäßig zusteht und ob er etwas an meinen Gefühlen ändern würde.
»Leen, hör zu, nur weil ich hier sitze, ist die Anklage nicht vom Tisch. Der Countdown bis zum Prozess läuft. Drei Monate sind kein unendliches Zeitfenster. Mir bleiben demnach zwei Möglichkeiten: zusehen, wie das Schiff untergeht, oder das Ruder herumreißen.«
Mein Bruder schluckt, und der Zug um seine Lippen wird ernst. Ich beneide ihn ein bisschen darum, das Offensichtliche so weit in den Hintergrund schieben zu können, dass es nicht real erscheint.
Gestern haben sie meine Rückkehr gefeiert, als bestünde nicht die geringste Chance, dass ich in das Loch zurückmuss, aus dem sie mich geholt haben. »Deine Entscheidung. Immerhin ist es jetzt dein Unternehmen«, füge ich hinzu und kann den Groll über diese Tatsache nicht verbergen.
»Es gehört unserer Familie«, widerspricht er mir.
»Wenn mich nicht alles täuscht, steht nur dein Name im Register.« Ich sollte ihn nicht so angehen, aber ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, mich auf die Position vorzubereiten, die man letztlich ihm zugeteilt hat.
»Ja, und wie du weißt, habe ich mich nicht um den Job gerissen«, schießt er patzig zurück.
»Und doch stehst du hier, um mir zu sagen, dass ich mich entspannen soll, statt zu arbeiten.«
»Lass den Zynismus, ich mache mir Sorgen um dich.« Der Ausdruck auf seinem Gesicht ist neu, viel zu entschlossen, mir meine Launen nicht durchgehen zu lassen. Anders als früher, denn da war es ihm egal, was in mir vor sich ging, solange ich nur alles fernhielt, was unbequem war.
»Entschuldige, ich muss mich erst daran gewöhnen, dass ich hier nichts mehr zu sagen habe«, lenke ich beschwichtigend ein und ringe mir ein Lächeln ab.
»Sei nicht albern. Alle wissen, du bist die einzige Option für die Position. Wenn du dich nicht vom Arbeiten abhalten lässt, lass mich dich wenigstens als Geschäftsführer einsetzen, um dir die nötigen Befugnisse einzuräumen.«
Ich weiß sein Angebot zu schätzen, aber es ist nicht, was ich will. »Nein. Ich habe eine Mordanklage am Hals. Das Unternehmen muss sich öffentlich von mir distanzieren. Wir können nicht dort ansetzen, wo wir vor Monaten aufgehört haben, und damit die Geschichte umschreiben. Denn das wird nicht funktionieren. Ihr solltet euch ebenfalls von mir distanzieren, um der Destillerie nicht zusätzlich zu schaden«, füge ich hinzu. Dass ich hier bin, hilft niemandem. Er weiß das, ich weiß das und Demy vermutlich auch. Nur wahrhaben will es niemand von uns. Also klammern wir uns an das, was uns verbindet, und hoffen, dass es ausreicht, um das Ganze durchzustehen.
»Wir werden uns nicht von dir lossagen, du bist unschuldig.«
Ich verziehe die Lippen zu einem schiefen Grinsen. »So unschuldig, wie jemand sein kann, der Piet Brouwer verachtet hat.«
»Gott weiß, ich habe ihn gehasst, aber das macht mich nicht automatisch zu einem Schuldigen.«
Ich richte mich auf und betrachte Leen einen Moment lang schweigend. Seine Worte hallen in mir nach. Nicht weil sie falsch sind, sondern weil sie den Kern einer Frage berühren, mit der ich mich seit Wochen auseinandersetze.
»Schuld ist kompliziert«, sage ich schließlich, nahezu tonlos. »Sie ist nicht schwarz oder weiß. Sie ist kein klar umrissener Zustand, sondern eine fließende Masse, die sich in alle Ritzen deines Lebens drängt und dort bleibt, auch wenn du sie nicht sehen willst.«
Leen sieht mich an, wartet darauf, dass ich weiterspreche. Vielleicht hofft er, dass ich etwas preisgebe. Aber ich muss ihn enttäuschen, da ist nichts, was einer Absolution bedarf.
»Du weißt, wovon ich rede, weil du es selbst erlebt hast«, fahre ich fort, den Blick auf eine Stelle am Rand des Schreibtischs gerichtet. »Wie sie sich anfühlt. Wie sie sich anhört. Sie ist ein ständiges Flüstern, ein Begleiter, den man nicht abschütteln kann. Manchmal ist sie leise, kaum wahrnehmbar. Ein andermal schreit sie dich an, bis du dir die Ohren zuhältst, weil du den Klang nicht länger erträgst.« Ich sehe Leen wieder an. »Aber weißt du, was? Schuld interessiert sich nicht für Fakten. Sie ist kein Gericht. Sie ist eine Erfindung deines Geistes, eine moralische Reaktion auf das, was du getan hast.«
»Klingt für mich, als würdest du dich selbst anklagen.«
Mir entfährt ein trockenes Lachen und ich schüttele den Kopf. »Nein, Leen. Ich beschreibe, wie es ist, in einer Welt zu leben, in der alle anderen mit dem Finger auf dich zeigen, während du dir selbst nicht sicher bist, ob sie falschliegen.« Auch das dürfte ihm vertraut sein. Die Schuld am Tod unserer Mutter hat unser Vater Leen zugeschrieben, obwohl sie an ihm selbst klebte.
Mein Bruder presst die Lippen zusammen, schweigt, weil es nichts gibt, was er darauf erwidern kann, ohne dass es eine Lüge wäre.
»Demy will, dass ich mich verteidige«, fahre ich fort. »Du willst dasselbe. Aber was bedeutet das schon? Das Gesetz sagt, ich bin unschuldig, bis meine Schuld bewiesen ist. Und doch habe ich in den Augen der meisten längst verloren, allein durch den Vorwurf. Die Unsicherheit bleibt, selbst wenn ich freigesprochen werde.«
»Bastiaan«, sagt Leen, seine Stimme eindringlich. »Du bist nicht allein damit. Und das hier …«, er deutet auf den Raum um uns herum, »dieses Unternehmen und diese Familie sind nicht dasselbe ohne dich. Wir wissen, dass du kein Mörder bist.«
Ich greife nach dem Wasserglas auf dem Tisch, nehme einen Schluck, um mir Zeit für eine Antwort zu verschaffen. »Das ist genau der Punkt, Leen. Schuld ist nicht nur das, was wir getan haben. Manchmal ist es das, was wir nicht getan haben. Die Gedanken, die uns durch den Kopf gehen. Die Entscheidungen, die wir getroffen oder nicht getroffen haben. Sie ist wie ein unsichtbarer Faden, der alles verbindet. Und bevor du dich’s versiehst, verfängst du dich in einem Netz, das du selbst gesponnen hast.«
Ich hebe die Hand, um Leen daran zu hindern, mir zu widersprechen. »Nimm unseren Vater …« Mein Ton ist ruhiger, fast lehrbuchartig entspannt, obwohl ich mich alles andere als so fühle. »Ich habe ihn verachtet, ja. Aber nicht nur, weil er ein schlechter Mensch war, sondern weil ich wusste, dass er in mir einen Teil von sich hinterlassen hat. Ein Erbe, das ich nicht abschütteln kann. Jeder scharfe Kommentar, jede falsche Entscheidung, jede Linie, die ich überschritten habe, geht auf ihn zurück. Wessen Schuld ist das? Seine, weil er es mich gelehrt hat? Oder meine, weil ich ihn gewähren ließ und mir das Erlernte zu eigen machte?«
»Das ist Erziehung, Baas, das hat nichts mit Schuld zu tun.«
»Bist du dir da sicher?« Ich beuge mich vor und sehe ihn eindringlich an. »Wenn du weißt, dass jemand anderen Schaden zufügt, macht dich das dann nicht mitschuldig an allem, was daraus resultiert?«
Leen schüttelt den Kopf. »Du bist nicht verantwortlich für die Taten unseres Vaters.«
Ich schnaube leise. »Das ist ein hübsches Märchen, Leen. Aber wenn du lange genug in den Abgrund starrst, wie Nietzsche bereits sagte, beginnt er zurückzustarren. Und glaub mir, ich habe oft genug neben unserem Vater gestanden und gemeinsam mit ihm hineingesehen.«
In Leens Gesicht erscheint ein Ausdruck, als wüsste er genau, wovon ich rede. Und bis zu einem gewissen Grad wird das auch so sein, weil ihn die Schuld am Tod unserer Mutter verfolgt hat. Eine, die er nie hätte tragen sollen und vor der ich ihn nicht beschützen konnte.
»Hör zu, wenn wir eine Chance haben wollen, etwas wiederaufzubauen – sei es die Destillerie oder die Familie –, dann musst du mir vertrauen und mich tun lassen, was ich tun muss, um das Schlimmste abzuwenden.« Ich sehe ihn fest an, lasse den Ernst in meinem Blick sprechen. »Das bedeutet, dass ich nicht offiziell zurück ins Unternehmen kann, solange diese Anklage wie ein Damoklesschwert über mir hängt.«
Leen mustert mich einen Moment, sucht nach einem Gegenargument, das er vorbringen könnte. Doch das gibt es nicht, weil er weiß, dass ich recht habe.
Ich stehe auf, blicke aus dem Fenster in den Garten, wo die Sonnenstrahlen sich tapfer gegen die Schatten stellen. Genau in dem Moment klopft es, gefolgt von einem leisen Räuspern.
»Entschuldigen Sie, aber Rechtsanwältin Santos ist gerade eingetroffen.«
Mit einem Nicken gebe ich Jeffrey zu verstehen, dass ich komme, dann sehe ich meinen Bruder an. »Wir reden später weiter.« Ich lasse Leen mit seinen Gedanken zurück. Schuld ist kein Urteil, das ein Gericht fällt. Schuld ist eine Frage, die nur das eigene Gewissen beantworten kann, und meine Antwort bleibt nach wie vor dieselbe: Ich habe keins.
Die Eingangshalle ist lichtdurchflutet, was die glatten Oberflächen der Marmorböden und der kunstvollen Holzarbeiten zum Glänzen bringt. Mitten in diesem Bild steht Lorena Santos, als gehöre sie genau hierher – makellos, scharfkantig und doch unaufdringlich. Sie trägt einen perfekt sitzenden Hosenanzug in einem zarten Blau, der mit ihrem schwarzen Haar und den dunklen High Heels kontrastiert. Ihre Absätze hinterlassen ein leises Echo, als sie näher kommt. Ihre Haltung strahlt Selbstbewusstsein aus, aber in ihrem Blick liegt noch etwas anderes: Berechnung.
»Bastiaan«, sagt sie mit einem Lächeln, das nicht ganz ihre Augen erreicht.
»Lorena.« Ich schüttle kurz ihre Hand und bemerke den festen Griff. Lorena ist eine Frau, die niemals die Kontrolle abgibt, und ich verstehe nur zu gut, warum. Weil es uns angreifbar macht.
»Der Anzug steht Ihnen«, merkt sie an, nachdem sie mich prüfend gemustert hat. »Besser als dieses Baumwoll-Ensemble in Mausgrau«, fügt sie mit dem Anflug eines Lachens hinzu, das tatsächlich aufrichtig wirkt.
»Was führt Sie hierher?«, frage ich, um die Unterhaltung abzukürzen. Da sie kaum auf einen netten Plausch vorbeigekommen sein wird.
Sie hebt eine Augenbraue. »Ich wollte nach meinem Mandanten sehen und sicherstellen, dass Sie sich an die Auflagen des Gerichts halten.«
Ich schnaube leise.
»Die Bedingungen Ihrer Freilassung bis zur Verhandlung sind klar: wöchentliche Meldung bei der Polizei. Keine Auslandsreisen. Keine Interviews. Ich wollte Sie nur persönlich daran erinnern.«
»Ihr Engagement ist bewundernswert.« Meine Stimme trieft vor Sarkasmus, doch sie lässt sich davon nicht beeindrucken.
»Ich nehme meinen Job ernst, Bastiaan. Wenn Sie Ihre Freiheit behalten wollen, sollten Sie das ebenfalls tun.«
Die Worte zeigen Wirkung, auch wenn ich es mir nicht anmerken lasse. Stattdessen schiebe ich die Hände in die Hosentaschen und lehne mich an die Balustrade der Treppe. »Haben Sie auch gute Nachrichten?«
»Nein«, sagt sie und zieht eine Mappe aus ihrer Tasche. »Ich komme gerade vom Verfahrenssteuerungstermin und habe eine aktuelle Zeugen- und Beweismittelliste. Die meisten davon sind schwach, aber es gibt zwei Dinge, die mir Sorgen bereiten.« Sie schlägt die Mappe auf und zeigt auf ein Dokument. »Das Hauptproblem ist das Video aus dem Krankenhaus, Bastiaan. Sie sind zwar nicht eindeutig zu erkennen, aber die Tatsache, dass Sie ein Motiv haben, lässt das Gericht aufhorchen. Und dann gibt es da einen Zeugen, den die Staatsanwaltschaft vorladen möchte, dessen Aussage alles zunichtemachen könnte, sollte sie glaubwürdig erscheinen.«
»Wer ist dieser Zeuge?«
»Ein Vertrauter Ihres Vaters: Ludwig Wolters.«
Ich sehe mir die Unterlagen genauer an, als würde allein das dafür sorgen, dass der Name von der Liste verschwindet. »Er ist der Anwalt meines Vaters und unterliegt der Verschwiegenheitspflicht.«
»Nicht, wenn er zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Destillerie aussagt und die geschäftliche Beziehung zwischen Ihnen und dem Mordopfer beleuchtet.«
Ich lache trocken, ohne den Blick von der Mappe zu nehmen.
»Es würde reichen, um einen Schatten auf Sie zu werfen.« Sie klappt die Mappe wieder zu und sieht mich ernst an. »Das hier ist kein Spiel, Bastiaan. Jeder kleine Fehler könnte Sie viele Jahre Ihres Lebens kosten.«
Das ist nichts, was ich nicht längst weiß. »Sie haben wirklich ein Talent dafür, jemanden aufzumuntern, Lorena.«
»Ich bin nicht gekommen, um Sie aufzumuntern«, macht sie klar, ihre Stimme nun um einiges ernster. »Ich bin hier, um sicherzustellen, dass Sie mich meinen Job machen lassen, ohne ihn mir zu erschweren.«
Einen Moment lang starren wir einander an, während die Spannung in der Luft beinahe greifbar ist. Lorena ist wie ein Spiegel, der die dunklen Kanten meiner Persönlichkeit reflektiert – die Gerissenheit, die Abgeklärtheit, die Bereitschaft, das Notwendige zu tun, koste es, was es wolle.
»Ich weiß, dass Sie mir nur helfen wollen, Lorena«, sage ich, und für den Augenblick ist der Sarkasmus aus meiner Stimme verschwunden.
Sie mustert mich ein letztes Mal, als müsste sie sich vergewissern, dass ich ihre Worte verstanden habe. Dann schiebt sie die Mappe zurück in ihre Tasche und streicht sich das Haar zurück. »Gut. Wir sprechen uns nächste Woche. Vielleicht weiß ich bis dahin mehr. Montag, neun Uhr, auf dem Polizeipräsidium. Kommissarin Diamantis erwartet Sie pünktlich.«
»Ich werde da sein«, verspreche ich, weil Lorena mich einen Kopf kürzer macht, sollte ich fahrlässig handeln.
Sie nickt, wirft mir einen aufmunternden Blick zu und wendet sich dann zur Tür. »Und noch etwas: Halten Sie sich von Ärger fern. Versuchen Sie, die Öffentlichkeit weitestgehend zu meiden, das heißt kein Social Media, keine ausschweifenden Partys, aber vor allem keine verdächtigen Aktivitäten. Jeder Ihrer Schritte wird beobachtet, um Ihnen daraus einen Strick zu drehen.« Mit dieser Warnung verlässt sie die Eingangshalle, doch die unterschwellige Spannung, die sie mitgebracht hat, bleibt zurück.
Ich beobachte, wie sie in ihren Wagen steigt und davonfährt. All das hinter sich lässt. Freiheit ist oft nicht mehr als ein anderes Wort für neue Ketten.
Ein, zwei Mal atme ich tief durch, dann nehme ich die Treppe nach oben zu meiner Wohnung. Obwohl sie aus drei Räumen und einem Badezimmer besteht und sich über weite Teile des Dachgeschosses erstreckt, fühlt sie sich aktuell nicht größer an als die Zelle, in die man mich gesteckt hat.
Ich lasse mich auf der Couch nieder, klappe den Laptop auf. Die Sonne wirft lange Schatten durch die Fenster und das Ticken der Wanduhr wird mit jeder Sekunde lauter. Der Bildschirm meines Computers leuchtet auf, Erinnerungen an vergangene Projekte, Zahlen, Daten. Früher gaben mir diese Dinge ein Gefühl der Kontrolle. Heute beginnen die Ordner auf dem Desktop vor meinen Augen zu flimmern.
Ein Klopfen reißt mich aus den Gedanken, die allesamt ins Leere laufen. Demy steckt den Kopf durch den Türspalt, ein besorgter Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Alles in Ordnung? Ich habe Lorena gehen sehen.«
Ich erzwinge ein Lächeln. »Ja, sie hat mich nur an meinen Termin am Montag erinnert, mehr nicht.«
Ohne meine Erlaubnis abzuwarten, tritt sie ein und schließt die Tür hinter sich. »Möchtest du darüber reden?«
»Es gibt nichts zu besprechen, Demy. Wirklich.«
Sie kommt näher und legt eine Hand auf meine Schulter. »Du musst das nicht allein durchstehen, wir sind für dich da.«
Ich greife nach ihrer Hand, drücke sie leicht. »Ich weiß es zu schätzen, aber gewisse Dinge muss ich mit mir selbst klären. Dabei kann mir niemand helfen.«
Demy seufzt. Das war nicht die Antwort, die sie sich erhofft hatte. »In Ordnung. Vergiss nicht, dass wir hinter dir stehen.« Sie klingt wie Leen, nur dass ihr Lächeln schuldbeladen ist, während seins einer Entschuldigung gleichkommt. Beides sollte nicht der Fall sein.
»Werde ich nicht.« Ich versuche, sie mit einem aufrichtigen Blick zu beruhigen.
»Sehen wir uns später beim Abendessen?«
»Natürlich.« Wenn ich meiner Schwester die Unsicherheit in Bezug auf mein Seelenheil nehmen will, darf ich mich nicht abkapseln.
Nachdem sie mich zum Abschied auf die Wange geküsst hat, kehrt die Stille zurück. Ich lasse mich tiefer in das Sofa sinken und schließe die Augen. Versuche, mich auf mich selbst zu besinnen, statt mich auf Abwege führen zu lassen, sobald der Gedankenlärm die Stille niederringt.
Irgendwie hatte ich gehofft, das Engegefühl in meiner Brust würde verschwinden, wenn ich erst wieder hier bin. Die Wahrheit ist, es schnürt mir die Luft ab. Nur liegt es weniger am Ort, sondern an den Menschen, die mich umgeben. Weil ich ihre Erwartungen an mich spüre, auch ohne dass sie sie aussprechen. Diese unterschwellige Hoffnung, alles möge in Ordnung kommen. Aber dafür gibt es keine Garantie.
Ich öffne die Augen, starre an die Decke, höre das Ticken der Uhr, das sich mit jedem Schlag verhöhnender anfühlt. Hausarrest. Das Wort hallt in meinem Kopf nach, obwohl Lorena es nicht ausgesprochen hat. Aber was sonst soll die Anweisung bedeuten, die Öffentlichkeit zu meiden? Bloem – mein Zuhause – hat sich in ein Gefängnis verwandelt. Und ich weiß, dass ich hier nicht bleiben kann, ohne den Verstand zu verlieren. Also klappe ich den Laptop zu, schnappe mir meinen Schlüsselbund und ziehe eine Jacke über. Die Treppe nach unten nehme ich in hastigen Schritten, und sobald die Haustür hinter mir ins Schloss fällt, atme ich die frische Abendluft ein, die mir wie ein Rettungsanker entgegenschlägt. Mein Audi steht auf dem Kiesweg, im schwarzen Lack spiegeln sich die letzten Sonnenstrahlen der einsetzenden Dämmerung. Kurz zögere ich, bevor ich einsteige und den Motor starte. Das leise Brummen des Wagens hat etwas Beruhigendes an sich.
Die Straßen sind leer, und die Landschaft zieht wie eine träge Filmkulisse an mir vorbei. Ich kenne den Weg zur Destillerie auswendig, habe ihn unzählige Male zurückgelegt. Doch heute fühlt es sich wie ein Fluchtversuch an.
Als ich auf den Hof rolle, wirkt der Ort stiller als sonst. Die Destillerie, die einst vor Leben pulsierte, scheint in eine Art Dornröschenschlaf gefallen zu sein. Ich parke und betrete das Gebäude, dessen kühle, vertraute Atmosphäre mich empfängt. Der Duft von Wacholder und Gerste liegt schwer in der Luft, durchsetzt von einer sanften Zitrusnote. Alles erinnert an die Arbeit, die hier getan wird. Oder getan werden sollte, denn die Geräuschkulisse der Maschinen fehlt.
»Bastiaan?« Eine raue Stimme begrüßt mich, und als ich mich umdrehe, entdecke ich Donald McIntyre, den Chef-Destillateur. Der Ausdruck in seinem Gesicht ist eine Mischung aus Überraschung und Ungläubigkeit. »Mit dir hätte ich nicht gerechnet. Leen meinte, du kommst erst mal auf Bloem an, bevor du dich der Geschäfte annimmst.«
Warum er um die Uhrzeit noch hier ist, vermag ich nicht zu fragen. Vermutlich aus einem ähnlichen Grund wie ich. Das hier ist alles, was wir haben. Ein Leben, das wir Brouwen Gin verschrieben haben.
»Ich halte es zu Hause nicht aus«, gebe ich ehrlich zu und lasse meinen Blick durch die Produktionshalle wandern. Für den Bruchteil einer Sekunde frage ich mich, ob meine Geschwister Donald zu ihrer kleinen Willkommensparty nicht eingeladen haben oder ob er schlichtweg nicht gekommen ist. Ob ich für ihn nur der Kerl bin, den er auf der Kurzwahltaste hatte, für den Fall, dass die Dinge nicht in gewohnten Bahnen verliefen. Alles, was ich über Gin weiß, habe ich von ihm gelernt. In ihm habe ich immer einen Mentor und Freund gesehen, nie einen bloßen Angestellten.
Ein aufrichtiges Lächeln erscheint auf seinen Lippen, dann überbrückt er die Distanz zwischen uns. Bevor ich zurückweichen kann, zieht er mich in eine feste Umarmung. »Es tut verdammt gut, dich zu sehen, Junge. Verzeih, dass ich nicht zur Party gekommen bin. Bernadette hat die Scheidung eingereicht und ist ausgezogen.«
»Das tut mir leid«, sage ich, auch wenn es nicht überraschend kommt. Die Ehe der beiden existiert schon seit einigen Jahren nur noch auf dem Papier. Der Grund dafür ist das, was uns umgibt.
»Lass uns darüber reden, was ich für dich tun kann«, sagt er und lenkt unsere Unterhaltung auf den wahren Grund meines Besuches.
»Ich wollte wissen, wie es läuft.«
Er lacht trocken. »Glaub mir, das willst du nicht.«
»Erzähl es mir trotzdem«, fordere ich ihn auf.
»Die Geschäfte laufen gelinde gesagt beschissen«, erwidert er unverblümt. »Seit … den Vorfällen in deiner Familie haben wir unsere wichtigsten Abnehmer verloren. Niemand will mit einer Destillerie in Verbindung gebracht werden, deren Name die Schlagzeilen beherrscht. Die Absatzzahlen sind katastrophal. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff und arbeiten jetzt für Smit.«
»Kannst du es ihnen verübeln, Donald?«
»Loyalität ist heute nichts mehr wert.«
Loyalität ist ein Konzept, das in der Realität oft genauso zerbrechlich ist wie die Glasflaschen, die hier abgefüllt werden. Ein falscher Schritt, und alles zerbricht.
»Loyalität bezahlt niemandes Rechnungen.«
Schweigend blicken wir auf die ruhenden Maschinen, die wie Relikte einer besseren Zeit wirken.
»Es fühlt sich an, als hätte die Destillerie den Atem angehalten«, murmele ich, mehr zu mir selbst als zu Donald. Die Worte hängen schwer in der Luft, und für einen Moment erwarte ich, dass die Brennblasen mir zustimmen, dass sie sagen: Wir wissen nicht, ob wir je wieder atmen werden.
Donald wendet den Blick ab, steckt die Hände in die Taschen seiner verwaschenen Jeans und deutet mit einem Nicken an, dass ich ihm folgen soll. Wir durchqueren den Produktionsbereich, und ich spüre den harten Betonboden unter meinen Schuhen, höre das leise Echo in der Leere.
Wenig später betreten wir die Probierküche, ein großer Glaskasten, der es einem ermöglicht, die gesamte Produktionskette zu überblicken. Auf dem Tisch steht eine Handvoll Flaschen mit den Abfüllungen der vergangenen Wochen. Daneben liegt ein Stapel Unterlagen. Ich nehme sie zur Hand, um einen Blick darauf zu werfen. Wetterprognosen, Rechnungen, Bestellscheine und eine Lieferantenliste. Viele der Namen sind durchgestrichen, andere mit der Notiz offene Forderung versehen.
»Und das ist nicht alles. Das Wetter spielt nicht mit. Wenn die Sonne nicht bald rauskommt, können wir die Ernte vergessen. Ausgewachsene Körner nimmt uns niemand ab. Ohne neuen Neutralalkohol füllen wir vielleicht noch vier Chargen ab, dann war’s das.«
»Was ist mit Miltenburg?«, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Demy hat bei ihrem Besuch im Gefängnis angedeutet, dass er die Auslieferung des Neutralalkohols zurückhält.
Donald zieht die Augenbrauen zusammen. »Will erst sehen, dass wir unsere Schulden begleichen, bevor er liefert. Und das können wir nicht, wenn wir nicht produzieren.« Er seufzt und fährt sich mit der Hand durch das graue Haar. »Es ist ein Teufelskreis, Bastiaan.«
Ich trete an die Scheibe, starre auf die Maschinen und versuche, die Informationen in meinem Kopf zu ordnen. »Gibt es irgendetwas, das wir tun können?«, frage ich schließlich.
»Du willst das nicht hören, aber du könntest mit Smit reden. Vielleicht kriegen wir von ihm Neutralalkohol, um die Produktion über Wasser zu halten. Denn ehrlich gesagt … stehen unsere Chancen sonst schlecht.«
»Ich soll zu unserem größten Konkurrenten gehen und um Almosen bitten?«, entfährt es mir. So weit kommt es noch, dass ich den Smits diese Genugtuung gönne.
»Falscher Stolz ist in unserer Situation nicht angebracht.«
»Was glaubst du, was Smit als Gegenleistung verlangen würde?«
Donald geht zu seinem Schreibtisch, öffnet die Schublade und holt etwas heraus. »Vielleicht erinnerst du ihn daran, wem seine Familie ihre ersten Schritte im Business zu verdanken hat. Dass jeder hin und wieder eine helfende Hand benötigt.« Er reicht mir ein Foto, das meinen Großvater und den alten Smit zeigt, daneben zwei junge Männer. Einer von ihnen ist Joost Smit, der andere mein Vater. Ich bin nie dahintergekommen, was der Ursprung der Feindseligkeit den Smits gegenüber war. Mein Blick wandert von dem Foto zu Donald, von dem ich immer dachte, er kenne den Grund nicht.
»Warum herrscht diese erbitterte Rivalität zwischen unseren Familien, wenn da, wie du gerade sagtest, mal eine Freundschaft war?«
»Es steht mir nicht zu, über die Angelegenheiten deines –«
»Komm schon, Donald, gib mir etwas, womit ich arbeiten kann. Du bist ihm nicht mehr zu Loyalität verpflichtet. Und ich muss dir auch nicht sagen, dass er sie nie verdient hatte.«
Er atmet tief durch, weil er weiß, dass ich recht habe. Mein Vater hat ihn nie auf die Art geschätzt, die ihm zusteht. Seit über dreißig Jahren ist er Chef-Destillateur. Er hat Brouwen Gin zu seinem unvergesslichen Geschmack verholfen und dafür nie mehr als seine monatlichen Gehaltszahlungen erhalten.
»Was bringt zwei Männer auseinander, die nicht für ihre Nachgiebigkeit bekannt sind?«
»Ihr Patriarchalismus und die Gier nach Macht«, erwidere ich spöttisch, obwohl es mehr als zutreffend ist.
»Nein, das macht sie zu Konkurrenten, nicht zu Feinden.«
Einen Moment lang überlege ich, worauf Donald hinauswill. »Eine Frau«, schlussfolgere ich, weil Eifersucht schon so manchen König in den Krieg hat ziehen lassen.
»Deine Mutter war nicht nur bildhübsch, sondern ihre Familie obendrein wohlhabend und mit den nötigen Kontakten ausgestattet, um die Marke Brouwen in England zu etablieren.«
»Also ging es doch ums Geschäft.«
Er fährt sich nachdenklich durchs Haar.
»Deine Mutter war der Auslöser, aber das Feuer haben die beiden selbst geschürt.«
Um wen es sich dabei handelt, muss er nicht aussprechen. »Und das ist alles?« Mein Gefühl sagt, es steckt weitaus mehr dahinter. Ob er weiß, dass Piet nicht mein leiblicher Vater ist? Bisher ist lediglich bekannt geworden, dass ich nicht im Testament bedacht wurde, der Grund dafür ist nicht durchgesickert. Nur eine Handvoll Menschen kennen die Wahrheit.
»Ich habe schon zu viel gesagt.«
Ich nicke langsam, merke, wie der Druck in meiner Brust zunimmt. »Ich werde mit den Smits reden.«
Er nimmt den Ordner von seinem Schreibtisch, legt zusätzlich die Unterlagen vom Tisch hinein und reicht ihn mir. »Sonst war’s das mit der Destillerie.«
Nach wenigen Minuten verlasse ich das Gebäude, dabei hallen die Worte in meinem Kopf nach. Wenn ich keine schnelle Lösung finde, war’s das mit der Destillerie.
Mit einer Mischung aus Resignation und Erschöpfung steige ich wieder in meinen Wagen. Aber ich fahre nicht direkt los, sondern schlage den Ordner auf und werfe einen genaueren Blick auf die Zahlen, die mir tiefrot entgegenleuchten.
Als ich wenig später das Gelände hinter mir lasse, versinkt die Sonne gänzlich hinter den Hügeln, und ich spüre, wie sich ein Knoten in meiner Brust zusammenzieht, je näher ich Bloem komme.
Ich sollte nach Hause fahren. Sollte mich dem stellen, was dort auf mich wartet, und zwar Demys besorgten Blicken, Leens falschem Optimismus, der Stille, die trotz meiner Gedanken viel zu laut ist. Aber ich kann nicht. Nicht jetzt.
Meine Hände umfassen das Lenkrad fester, und bevor ich mich bewusst dafür entscheide, nehme ich eine andere Abzweigung. Die Straße wird schmaler, und bald taucht ein viel zu bekanntes Gebäude vor mir auf: The Rusty Barrel. Eine unscheinbare Bar, in der man die Welt für ein paar Stunden vergessen kann. Abgeschieden vom Großstadttrubel und in einer Gegend, in der die Menschen sich um ihren eigenen Kram kümmern.
Der Gastraum ist in warmes, schummriges Licht getaucht, die Luft ist schwer von der Mischung aus Alkohol und Zigarettenrauch. Ein paar vereinzelte Gestalten sitzen an den Tischen oder lehnen an der Theke. Im hinteren Bereich ist mehr los. Die Gespräche sind gedämpft, die leise Musik sorgt für eine angenehme Kulisse.
Ich lasse mich gerade auf einen der Hocker sinken, da bemerkt mich Gerrit. Er wirkt nicht überrascht, mich so kurz nach meiner Freilassung hier zu sehen. »Ich will nur was trinken«, sage ich und grinse ihn an.
»Willkommen zurück, alter Freund.«
Das Glas, das der Barbesitzer vor mir abstellt, reflektiert die bunten Lichter über der Theke, und für einen Moment starre ich hinein, als könnte ich darin Antworten finden.
Ich nehme einen Schluck, spüre das Brennen in meiner Kehle. Der Geschmack ist vertraut, bietet jedoch weder Erkenntnis noch Erlösung. Die Gedanken, die ich zu ertränken versuche, treiben immer wieder an die Oberfläche.
… erzählt von einem Narren.
MEREL
Rusty Barrel, Haarlemmermeer, nahe Haarlem
Ich hatte nicht geplant, ihm zu folgen. Ehrlich. Er ist mir auf der Landstraße entgegengekommen, und ich habe ihn sofort erkannt. Er saß hinterm Steuer, die Augen starr geradeaus gerichtet, als hätte nichts für ihn eine Bedeutung. Genau das ist Bastiaan Brouwer: so unnahbar wie unantastbar. Dennoch war es, als hätte er mich in dieser Sekunde in einen unsichtbaren Strudel gezogen, gegen den ich keine Chance hatte. Also habe ich den Wagen in einem riskanten Manöver gewendet und bin ihm hinterhergefahren.
Jetzt stehe ich vor der Tür einer abgelegenen Bar namens The Rusty Barrel. Staub haftet an meinen Stiefeln, während die kühle Abendluft mich frösteln lässt. In meinem Inneren hingegen brodelt es etwas zu hitzig. Die Gefühle, die sich in meiner Brust aufstauen, sind eine verwirrende Mischung aus Groll, Unruhe und … Neugier.
Ich schiebe die Tür auf und trete ein, blinzle in das warme Licht. Der Geruch von Rauch, Holz und schalem Bier schlägt mir entgegen. Die Bar ist besser besucht, als ich erwartet hätte. Gespräche mischen sich mit den Tönen rockiger Hintergrundmusik. In der Ecke spielen zwei Kerle Dart und werden dabei von einer Gruppe angefeuert, als wären wir im Ally Pally und es würde um nicht weniger als den Weltmeistertitel gehen.
Mein Blick wandert nach rechts zu einer Nische, in der ein Billardtisch steht, um den sich ein paar Jugendliche versammelt haben, die mich argwöhnisch mustern. Es dauert nicht lange, bis ich Bastiaan entdecke. Er sitzt am Ende der Bar, ein Glas in der Hand, die Schultern gesenkt, als hätte die Welt ihn in einen viel zu engen Raum gedrängt.
Ich gehe direkt auf ihn zu. Mein Herz schlägt schneller, doch ich ignoriere es. Weil ich keine Ahnung habe, ob ich erneut die Gelegenheit haben werde, meinen Unmut zu äußern.
»Hallo, Bastiaan.«
Kaum merklich dreht er den Kopf in meine Richtung, sein Blick verweilt kurz auf mir, bevor er sich wieder dem Glas in seiner Hand widmet. »Kennen wir uns?« Seine Stimme ist tief, ruhig und trägt dennoch eine Schärfe, die mich innehalten lässt. Natürlich weiß er nicht, wer ich bin, denn dazu hätte er in all den Jahren auch nur ein einziges Mal Notiz von mir nehmen müssen. »Wenn ich dich gevögelt und anschließend nicht angerufen habe, hat sich eine Wiederholung nicht gelohnt.«
»Wow, du bist ein noch größeres Arschloch, als ich angenommen habe«, erwidere ich patzig.
Seine Reaktion ist wie ein Zündfunken: Er hebt den Kopf ruckartig, überrascht, und in seinem Blick flackert etwas auf, das ich nicht ganz deuten kann. Etwas wie Verwunderung, vielleicht auch Neugier. »Dich habe ich nicht gevögelt«, sagt er schließlich, ohne einen Hauch von Spott. »Daran könnte ich mich erinnern.«
»Merel Smit«, helfe ich ihm auf die Sprünge. Und tatsächlich scheint er kurz aus dem Konzept zu geraten. Der Anflug des verschmitzten Lächelns auf seinen Lippen erlischt, und er sieht mich aufmerksam an.
»Und was willst du von mir, Smit?« Natürlich. Kein Vorname, keine Höflichkeit. Nur Smit, als wäre das alles, was ich bin – ein Problem, das es zu lösen gilt.
Ich verschränke die Arme vor der Brust und versuche, ihm nicht zu zeigen, wie sehr mich sein Tonfall trifft. »Überrascht, mich zu sehen?«
»Mehr gelangweilt«, erwidert er und nimmt einen Schluck aus seinem Glas. Seine Stimme hat diesen Hauch von Überlegenheit, der mich dazu bringt, auf der Stelle umdrehen zu wollen. Aber ich bleibe, setze mich auf den freien Barhocker rechts von ihm. »Wir müssen reden.«
»Müssen wir das?« Er sieht mich nicht an, sondern starrt auf sein Glas, als wäre es interessanter als jedes Wort, das ich sagen könnte.
»Ja, verdammt!« Meine Stimme hallt durch die Bar, einige Köpfe drehen sich in unsere Richtung. Also zwinge ich mich, ruhiger zu sprechen. »Du hast meine Ideen gestohlen!«
Endlich hebt er den Blick, und seine stechend blauen Augen durchdringen mich wie ein eisiger Windstoß. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Verarsch mich nicht, Bastiaan!« Ich hole mein Handy hervor und zeige ihm ein Foto von Annie. »Erinnerst du dich an sie?«
Nicht länger als für den Bruchteil einer Sekunde sieht er auf das Display. »Was wird das hier?«
»Meine Freundin hat dir einen Stick gegeben, auf dem sich der erste Entwurf meiner Masterarbeit befand. Und weißt du, was passiert ist? Wochen später stelle ich fest, dass ihr meine Marketingstrategie benutzt, um ein neues Produkt zu promoten.«
Seine Augen verengen sich, und für einen Moment herrscht Stille zwischen uns. Dann lehnt er sich zurück, die Schultern gestrafft, seine Miene angespannt. »Falls du es nicht mitbekommen hast: Ich hatte in den letzten Monaten andere Probleme.«
Ich will darauf kontern, aber irgendetwas in seiner Stimme hält mich zurück. Es ist nicht nur der Zynismus. Es ist die Müdigkeit. Die Schwere. Und plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich recht habe oder nur eine Schuld auf ihn projiziere, die er vielleicht gar nicht verdient. Bastiaan atmet sichtlich tief durch, wendet sich mir ganz zu, dabei stößt sein Knie versehentlich gegen meins. Er korrigiert seine Sitzposition nur so weit, dass wir einander nicht länger berühren. »Merel, richtig?«
Die intensive Art, mit der er mich ansieht, und die leise Drohung in seiner Stimme jagen einen Schauer durch meinen Körper. »Ich schenke dir jetzt fünf Minuten meiner wertvollen Zeit, also mach was draus.«
Bastiaan gibt dem Barkeeper ein Zeichen. »Was trinkst du?«
»Danke, nichts«, lehne ich ab, weil es sich seltsam anfühlt, sich von ihm auf einen Drink einladen zu lassen.
»Du bist in einer Bar, man kommt hierher, um etwas zu trinken und Gespräche zu führen. Gerrit bestreitet damit seinen Lebensunterhalt. Wenn du dich mit mir unterhalten möchtest, bestell etwas.«
Warum fühlt es sich an, als hätte Bastiaan Brouwer mich gerade getadelt?
Abwartend sieht der Barkeeper mich an. »Ich nehme, was er hat«, sage ich schließlich.
Stille breitet sich aus, während der Barkeeper, der höchstwahrscheinlich besagter Gerrit ist, verschwindet und ich überlege, wie ich das Gespräch mit Bastiaan fortführe. Mit diplomatischem Feingefühl kommt man bei ihm vermutlich weiter, als wenn man mit Anschuldigungen um sich wirft.
Nachdem der Barkeeper ein Glas vor mir abgestellt hat, nippe ich vorsichtig an dem Inhalt. Gin, pur auf Eis, und eine simple Gurkenscheibe, die in der kristallklaren Flüssigkeit schwimmt. Die Marke muss ich nicht erraten, es ist offensichtlich, was sich in dem Tumblerglas befindet.
»Ich schätze, auf den Konsum von Brouwen steht im Hause Smit Hochverrat«, merkt er mit einem Schmunzeln an.
»Dann haben wir wohl jetzt beide etwas gegen den anderen in der Hand«, erwidere ich und führe das Glas erneut an meine Lippen. Sein Blick folgt der Bewegung und verharrt für einen Augenblick auf mir, bevor er entschlossen geradeaus sieht.
»Also gut. Deine Freundin hat mir einen Stick gegeben, auf dem sich deine Masterarbeit befand. Darf ich fragen, warum?«
»Weil du dir nicht die Mühe gemacht hättest, sie dir anzusehen, wenn ich dich darum gebeten hätte. Deswegen habe ich Annie vorgeschickt.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob mich so viel Arglist schockiert oder fasziniert.« Er grinst verschmitzt, nimmt einen Schluck aus seinem Glas. »Warum ich?«, fügt er hinzu und sieht mich dann mit offener Neugier an.
